Autorenvita

Both

 

© Thienemann Verlag GmbH

 

Sabine Both, Jahrgang 1970, lebt und arbeitet als freie Autorin in Neuss. Eine rabaukige Kindheit, eine rebellische Pubertät und ein paar turbulente Jahre als Sozialarbeiterin haben genügend Stoff für jede Menge frecher Jugendromane angehäuft. Wenn Sabine Both gerade nicht auf den Spuren frisch verliebter Mädchen oder hormongesteuerter Jungen ist, küsst sie ihren Mann, beackert ihren Garten und bekocht ihre Freunde.

Buchinfo

 

Das kann doch nicht wahr sein! Ellen soll für das kleine Ziegen-Waisenkind die Ersatzmama spielen? Keine Sekunde darf sie das Zicklein aus den Augen lassen. Dabei hat Ellen in ihren Ferien eigentlich so viel zu tun: shoppen, mit ihren Freundinnen ins Freibad gehen, und dann ist da auch noch der Jugendball – sie kann ja wohl schlecht mit Ziege Stehblues tanzen. Und vor allem, was soll ihr Schwarm Thomas von ihr denken, wenn sie nur noch im Zweierpack anzutreffen ist?

IT

 

Für Kiara und Jamie

 

1.

 

Während Mama und ich Müsli, das geschmacklich an eingemottete Lumpen erinnert, mampfen, öffnet Papa einen Briefumschlag.

»Was bietet er uns diesmal?«

Ich erkenne an Mamas Frage, Papas Gesichtsausdruck und am Wappen auf dem Briefbogen, von wem der ist. Vom Bürgermeister.

»Er bietet nichts«, erklärt Papa verwundert. »Er … nein … das darf er nicht …« Papa wirft Mama einen vielsagenden Blick zu und verabschiedet sich, den Brief in der Hosentasche, unter fadenscheinigem Grund. »Ich geh in den Stall und guck, ob sie was braucht.«

Papa hastet aus der Küche, um unsere Oberziege, die seit Wochen einen kugelrunden Bauch mit sich herumschleppt, zu begutachten. Wenn das Zicklein kommt, will er unbedingt dabei sein. Und vorher wird das Vieh verwöhnt, als wäre es eine Prinzessin. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so eine Vorzugsbehandlung in dieser Familie erhalten zu haben.

»Was darf der Bürgermeister nicht?«, frage ich, aber Mama hat selbst keinen Schimmer.

Sie vertreibt Papas panische Schwingungen mit einer, wie sie glaubt, echt indianisch und schamanisch getauften Adlerfeder und setzt ein entspanntes Lächeln auf. »Es geht wieder um die Mühle.«

Das hab ich mir gerade noch selbst zusammenreimen können. Seit Monaten geht es um nichts anderes als um unsere olle Mühle. Der Bürgermeister will, wie er findet, am idyllischsten Ort der Stadt irgendeinen Wellnesstempel errichten, in dem gestresste Großstädter sich verwöhnen lassen können. Wollte er schon, bevor uns dieses Hutzelmännchen vor eineinhalb Jahren seinen Hof verkauft hat. Für einen absolut lächerlichen Preis, weil er den Wunsch hatte, dass jemand sein Werk weiterführt. Dass er in erster Linie jemanden gesucht hat, der an seiner Stelle dem Bürgermeister die Stirn bietet, das haben meine Eltern beim Kauf noch nicht gewusst.

Jetzt haben sie den Salat. Für den Wellnesstempel sollen wir weg. Und unsere Ziegen. Und unser Selbstversorger-Ökoanbau. Und unsere naturbelassene Wildnis drum herum. All das stört nämlich das Auge von Großstädtern.

Wie gut ich sie verstehen kann. Und wie wenig ich verstehen kann, dass Papa noch auf keins der Angebote eingegangen ist. Ein Vermögen will uns der Bürgermeister für die Bruchbude zahlen. Ein Vermögen, von dem man eine schicke Wohnung mitten im Ort kaufen könnte. Mit Dachterrasse. Und Aufzug. Und chrom-blitzender Küche. Ein Vermögen, das Papa nicht interessiert, weil ihn nur das Prinzip interessiert. Und die Natur. Die will er retten. Mich rettet niemand aus dieser Einöde.

»Was ist das?« Ich halte Mama etwas Hartes, Kantiges hin, das ich gerade in meinem Mund gefunden habe.

»Roggen, Weizen oder Dinkel. Alles frisch geschrotet.« Mama strahlt, als hätte sie das Einmaleins des Müslimachens neu erfunden.

»Das ist steinhart!«

»Hart ist gut für die Verdauung. Es gibt Leute, die essen alle Lebensmittel naturbelassen. Die kochen nichts. Das soll sehr gesund sein. Das …«

»Mama!«

»Heidi!«, verbessert mich Mama. »Mein Name ist Heidi. Du bist Ellen, ich bin Heidi. Wir sind auf Augenhöhe. Du musst mich nicht Mama nennen. Das weißt du doch.«

»Mama!«, versuche ich es noch einmal. »Das ist hundertpro unverdaulich!«

Ich halte ihr den Minifelsen aus meinem Mund wieder unter die Nase. Endlich schaut sie hin.

»Hm.« Sie nimmt das Teil, staunt und runzelt die Stirn. »Mach mal den Mund auf.«

Ich gehorche.

»Da!« Mama schiebt den Zeigefinger zwischen meine Zähne. »Da fehlt was. Abgebrochen.«

»Mein Schahn isch awgebroschen?«, nuschle ich durch Mamas Finger hindurch und füge, wieder Herr über meinen Mund, empört hinzu: »Das hast du nun von deinem blöden Dreikornscheiß, Mama!«

»Heidi!«

»Zahnkillerin!«

Mama seufzt. »Das ist nicht schlimm.« Sie wendet sich prompt der alten Truhe zu. »Da nimmst du einfach …«

»Nein, Mama, da nehme ich ganz sicher keine Globuli. Da geh ich zum Zahnarzt, wie jeder normale Mensch auch!«

»Aber …«

»Im Ernst, Mama. Du glaubst doch wohl nicht, dass deine homöopathischen Dinger da meinen Zahn nachwachsen lassen?«

Mama zuckt mit den Schultern. »Hast du in den letzten Tagen etwas Auffälliges geträumt?«

»Nein!«

»Überleg mal gründlich. Irgendwas mit …«

»Mama! Deine Traumdeuterei interessiert mich kein bisschen! Das hab ich dir schon tausend Mal gesagt! Ich glaub nicht dran, dass Träume irgendwas über die Zukunft, die Vergangenheit, das Innenleben oder sonst was aussagen!«

Mama zuckt wieder mit den Schultern. »Es hatte bestimmt seinen Grund, dass er abgebrochen ist. Die Natur …«

»Jaja.« Ich winke ab. Auch die Leier kenne ich in- und auswendig. Die Natur weiß, was richtig ist. Egal, ob es der fette Mitesser auf meiner Nase am Abend der Schulfete ist. Egal, ob es die schwarzen störrischen Haare unter meinen Achseln sind. Egal, ob es die mit den Jahren entstandene Lücke zwischen meinen Schneidezähnen ist. Alles so gewollt. Von der Natur. Aber nicht von mir!

»Wenn ich zum Zahnarzt gehe, frage ich auch gleich nach einer Klammer wegen der Zahnlücke«, erkläre ich.

Mama macht ein Gesicht, als wollte ich mir die Nase richten lassen. »Die ist so süß, deine Lücke. Die Natur …«

»Hat auch Stechmücken und Giftschlangen produziert. Also bitte, lass mich in Ruhe mit der Natur!«

 

Wenn das mal nicht der perfekte Start in die Sommerferien ist. Statt mich mit Tine und Bine im Freibad zu treffen, muss ich in den Ort radeln. Fünfzehn Kilometer bis zum Freibad, das ist streckenmäßig schlimm genug, aber immerhin stimmt das Ziel. Bei fünfzehn Kilometern bis zum Zahnarzt sieht die Rechnung anders aus. Ich hasse es, schwitze schon nach wenigen Metern wie verrückt und schimpfe vor mich hin.

Wieso müssen ausgerechnet meine Eltern auf die Idee kommen, dass das Einsiedlerleben gut für ihre und zu allem Überfluss auch noch gut für meine Entwicklung ist? Das ist nicht nur total dämlich, das ist obendrein total peinlich. Wenn ich selbst, mein Internetanschluss und mein Kleiderschrank nicht wären, wir würden eine wunderbare Vorlage für eine von diesen Wir-leben-wie-im-Mittelalter-Dokus abgeben. Mama trägt seit unserem Umzug ständig Kopftuch und weite Röcke. Papa hat sich einen meterlangen Bart wachsen lassen und spielt mit einem Geigenbogen auf einer deformierten Gitarre. Unser Auto ist so klapprig, dass es wirklich nur noch für das taugt, auf das mein Vater nicht verzichten kann: die Ware zum Markt fahren. Wir haben Viecher, die zehn Meilen gegen den Wind stinken und dauernd versuchen, meine Haare zu essen, um noch mehr widerliche Milch zu produzieren, aus der meine Eltern noch mehr widerlichen Käse herstellen können.

Halbzeit. Ein paar Hundert Meter von der Straße entfernt liegt der Grenzhof. Auch so ein Müsliunternehmen. Mutter, Vater, drei Kinder. Hab die mal mit Tine und Bine in der Stadt gesehen. Die sahen aus wie die Kelly Family. Die standen im Pulk im Drogeriemarkt vor den Damenbinden, wahrscheinlich weil die Mutter sich überlegt hat, dass Ziegenhaartampons oder Ähnliches doch nicht so dicht halten. Tine, Bine und ich haben uns gefragt, wo die sich sonst immer rumtreiben. Auf unsere Schule jedenfalls geht keins von den Kindern. Auch in der Sonntagsdisco ist noch keiner aufgetaucht. Und im Freibad nicht. Nicht mal beim Feuerwehrfest. Nur Mama und Papa haben ab und zu Kontakt zu denen. Die treffen sich kollegenmäßig auf dem Markt oder tauschen privat Ziegenkäse gegen Obstallerlei. Und letztens hat Papa zwei Hühner mitgebracht, die er gegen eine Ziegenwolldecke getauscht hatte. Diese ganze Tauscherei ist auch dunkelstes Mittelalter! Dabei haben wir Kohle. Papa schreibt neben seinem Bauerndasein immer noch Artikel für Informatikfachblätter und Mama verdient etwas mit esoterischer Beratung und Traumdeutungen. Ist ihnen aber peinlich, das Geldverdienen. Am liebsten würden sie mit dem schnöden Mammon nichts mehr zu tun haben. Wie ich dann bitte schön Schulhefte, Glitzernagellack und Downloads bezahlen soll, das kommt in ihren Hippiefantasien selten vor.

Ich gebe noch mal alles. Immerhin trainiert man beim Fahrradfahren 300 Kalorien pro Stunde ab. Beim Schwimmen 400. Und beim Küssen 100. Aber wer küsst schon eine ganze Stunde lang. Es kann jedenfalls nicht schaden, ein bisschen abzunehmen. Der Jugendball vom Schützenverein steht an. Wenn ich da eine gute Figur machen will, sollte ich vielleicht noch einen Umweg fahren.

Geschafft! Ich habe so viel in mich hineingeschimpft, dass die fünfzehn Kilometer fast wie im Flug vergangen sind. Ich radle in den Ort und bekomme beim Anblick von Geschäften, Ampeln und jeder Menge Menschen spontane Glücksgefühle. Der Ort ist für eine, die in der Wildnis lebt, die große weite Welt. Zuallererst hole ich aus dem Rucksack die Sandalen mit dem kleinen Absatz und tausche sie gegen die dreckverschmierten Turnschuhe, dann steuere ich den Kiosk an, decke mich mit Zeitschriften über die noch größere, noch weitere Welt ein, mache halt beim Bäcker und genehmige mir trotz bevorstehendem Zahnarztbesuch und Jugendball erst mal drei Teilchen aus Weißmehl, Weißzuckerguss und unglaublich unbiologisch angebautem Apfelmus. Anschließend stürme ich die Boutique und renne wie immer bis zu den hinteren Ständern durch.

Es ist noch da! Glitzernd und strahlend begrüßt es mich, schmiegt sich, als ich es von der Stange nehme, an mich und raschelt verführerisch synthetisch, während ich mich mit ihm in einer der Umkleiden verschanze.

Ich streichle über Pailletten und Stickereien und schlüpfe hinein. Ein vertrautes Gefühl überkommt mich. Das Kleid und ich, wir kennen uns bereits. Es weiß, dass es zu mir gehört, ich weiß, dass ich zu ihm gehöre. Wir wissen, dass wir unbedingt zusammen zum Jugendball gehen sollen. Nur mein Taschengeld weiß das irgendwie nicht!

Ich drehe mich von links nach rechts, schließlich im Kreis. Ich nehme die Spange aus den Haaren und lasse sie lang über die Schultern fallen. Die Radtour hat den Ziegenmief aus mir herausgepustet, meine Mähne duftet nach Sonne. Ich finde mich wirklich wunderschön!

Ritsch, ratsch. Aus der Traum. Die Verkäuferin hat, ohne zu fragen, den Kabinenvorhang aufgerissen. »Du schon wieder«, mault sie.

»Ich ziehe es gleich aus«, knurre ich zurück.

Die Verkäuferin macht ein mürrisches Gesicht. Sie weiß ganz genau, dass ich das Kleid nicht kaufen werde. Heute nicht, all die Male zuvor nicht und auch in Zukunft nicht! Ich habe keine 175 Euro! Die alte Schrulle kann einfach nicht verstehen, dass ich es trotzdem brauche wie die Luft zum Atmen. Um mich wenigstens alle paar Tage wie eine Frau von Welt zu fühlen.

 

»Ellen Merkenich. Ich hab mir einen Zahn abgebrochen.«

»Bist du nicht die Kleine, die mit ihren Eltern in der alten Mühle wohnt?« Die Sprechstundenhilfe vergisst, dass sie für Zahnprobleme zuständig ist, und mustert mich wie eine exotische Pflanze. So viel zu Frau von Welt.

Ich knurre eine undefinierte Zustimmung und die Sprechstundenhilfe spult die Fragen ab, die jeder abspult, wenn er weiß, wer ich bin.

»Und ihr seid wirklich Selbstversorger? Ihr kauft gar nichts ein?«

»Genau. Auch dieses T-Shirt und diese Jeans hier haben wir selbst aus Ziegenwolle hergestellt«, antworte ich spitz.

Sie zieht die Nase kraus, lässt sich aber nicht abschrecken.

»Und bei euch leben auch noch andere Leute? Also, ab und zu. Jeder kann bei euch wohnen, oder?«

»Jaja, letzte Woche noch war Angela Merkel da. Die wollte mal eine Auszeit nehmen vom Regieren. Und davor hat Britney Spears bei uns gewohnt. Um sich auszukurieren.«

Sie schnaubt ärgerlich, fragt aber trotzdem weiter. »Wie ist das denn so da unten? Ich meine, habt ihr nicht Angst nachts, so ganz alleine.«

»Och!« Ich winke ab. »Mit den Werwölfen haben wir ein Abkommen geschlossen. Wir werfen ihnen alle paar Wochen eine unbefleckte Jungfrau zum Fraß vor und sie lassen uns in Ruhe. Und die Vampire bekommen immer einen Schluck Blut von den Ziegen, wenn sie vorbeischneien.«

Jetzt merkt auch sie, dass ihre Neugierde hier keine Befriedigung finden wird.

Ich nutze den Moment, um mein Anliegen noch mal vorzutragen. »Zahn abgebrochen!«

»Das kann dauern«, erklärt sie und deutet voller Schadenfreude zum überfüllten Wartezimmer.

Ich seufze. Warten und dabei auch noch stehen. Vielleicht sollte ich die Hochhackigen doch wieder gegen die Dreckverschmierten austauschen.

Ich lehne mich an die Wand, krame meine Zeitschriften hervor, versinke im Anblick von Stars und Sternchen, die allesamt ganz sicher niemals in einer Schrottmühle wohnen, Ziegenmist wegkehren und Knorpelkirschen entsteinen mussten, und ignoriere die zunehmenden Schmerzen in meinen Fußballen.

Jedes Mal wenn ein Platz frei wird, wartet schon irgendeine gehbehinderte Omi oder eine Mutti mit einem halben Dutzend plärrender Kleinkinder, um sich von der Jugend den Vorrang geben zu lassen.

Zu allem Überfluss laure ich nach einer Weile nicht mal mehr alleine auf den nächsten freien Platz. Ein Junge, etwas älter als ich, lehnt sich mir gegenüber an die Wand, holt eine Kickerzeitung hervor, lugt aber genau wie ich in regelmäßigen Abständen über seine Lektüre hinweg auf die Wartenden. Er hat verdammt lange Beine und sieht aus, als könnte er von Null auf Hundert durchstarten. Angenommen, er hat noch nie etwas von Ladys first gehört, wird er ein ernst zu nehmender Konkurrent im Hinblick auf einen Stuhl.

Ich schätze, ich muss ihn davon überzeugen, dass es sich lohnt, mir den Vortritt zu lassen.

»Zahnschmerzen?« Ich klimpere mit den Wimpern, ganz wie ich es von Tine abgeguckt habe.

»Zahn abgebrochen«, erklärt er und streckt mir seine Beißerchen entgegen.

»Bei mir auch, aber weiter hinten, kann ich nicht zeigen. Müsli?«

Er guckt mich irritiert an und ich könnte mir selbst eine Ohrfeige geben. Wieso sage ich nicht gleich, dass ich die Kleine bin, die mit ihren Eltern in die einsame Mühle gezogen ist? Müsli, das ist DAS Stichwort für blöde Fragen.

»Ne, Knochen«, sagt er und grinst.

Keine blöden Fragen. Die Frau von Welt in mir schöpft Hoffnung, dass er tatsächlich ein Gentleman ist, und ich muss innerlich über seine Antwort seufzen. Knochen! Wann hab ich das letzte Mal einen Knochen im Mund gehabt? Ich ess Blumen, denn Tiere tun mir leid, singt Mama immer irgendeinen verstaubten Song, und der bestimmt unseren Speiseplan.

»Rind?«, frage ich und merke, wie mir der Speichel im Mund zusammenläuft.

»Ziege!«

Ich schlucke. So gerne ich auch ab und zu einen Knochen im Mund hätte und sosehr ich auch die stinkenden Zicken zu Hause verfluche, sie in der Pfanne zu sehen, bereitet mir doch einen Würgereiz.

Dem Jungen scheint unsere Konversation lang genug gewesen zu sein. Er wendet sich wieder seiner Zeitung zu und mir fällt nichts mehr ein, um ihn in Sachen Ladys first zu manipulieren.

Ist auch gar nicht mehr nötig. Eine der Sprechstundenhilfen gibt ihm ein Zeichen und er verschwindet, unter dem Murren der anderen Wartenden, wie ein VIP ohne Termin im Behandlungszimmer.

 

2.

 

Mit einem nagelneuen Stück Zahn im Mund radle ich zum Freibad und entdecke Tine und Bine an unserem Stammplatz im Halbschatten. Zwischen Frittenbude und Fünfmeterbrett. Der ultimative Ort. Jungsdichte maximal.

Ich will meinen Mund aufklappen, um das Neueste zu präsentieren und von meiner geplanten Lücken-Klammer zu berichten, aber ich komme nicht dazu.

»Guck mal da drüben, aber unauffällig.« Tine deutet nach links. Auf Julian, ihren neuen Angebeteten, in den sie, wie sie sagt, noch viel unsterblicher verliebt ist, als sie es in Marco, Sören, Hilmar, Kai, Thorsten und all die anderen war.

Er steht in der Schlange vor dem Imbiss, die schlabbrige Badehose ist so weit über die dürren Hüften gerutscht, dass man eine Andeutung vom Ritz sehen kann. Keine Ahnung, was Tine an dem findet. Er sieht aus wie einer von den Typen aus ihrer Lieblingsband. So ein hohläugiger Strich in der Landschaft. Je dürrer sie aussehen, desto schärfer findet Tine sie. Und ist immer sofort bis über beide Ohren verliebt. So richtig mit den ganzen Tag dran denken und nicht schlafen können und keinen Appetit haben und Schmerzen in der Herzgegend.

»Hast du mittlerweile mal mit ihm gesprochen?«, frage ich.

Bine schüttelt an Tines Stelle den Kopf. »Sie sucht noch nach den richtigen Worten. Hier!« Sie drückt mir einen Zettel in die Hand.

»Die Top Ten der ultimativen Sprüche, um Julian anzugraben«, lese ich. »Platz zehn: Kennen wir uns nicht von irgendwoher?«

Ich werfe Tine einen fragenden Blick zu. »Du siehst ihn jeden Tag in der Schule. Er ist in der Parallelklasse.«

»Aber er tut immer so, als hätte er mich noch nie gesehen!«

»Du tust immer so, als hättest du ihn noch nie gesehen! Wenn du mal nicht weggucken würdest, wenn du an ihm vorbeigehst, hätte er auch eine Chance, Hi zu sagen.«

Tine zieht eine Schnute, Bine tätschelt ihr tröstend die Schulter, ich lese weiter. »Platz neun: vorher einen Euro fallen lassen und dann fragen: Ist das deiner?« Ich seufze. »Platz acht: so tun, als ob man sich wehgetan hat, und sagen: Kannst du mich mal stützen, ich glaub, ich hab mir den Fuß verstaucht. In Klammern: Kann sogar sein, dass er einen dann trägt.« Ich schüttle den Kopf. »Der Typ bricht zusammen, so dünn, wie der ist. Platz sieben: im Schwimmbecken zum richtigen Zeitpunkt tauchen und einen Zusammenstoß herbeiführen. Text dann improvisieren.« Ich improvisiere sofort: »Och, das tut mir aber leid, dass ich dir aus Versehen deine schlabbrige Badehose runtergerissen habe. Aber keine Sorge, ich hatte beim Tauchen die Augen zu.«

Bine schüttelt hinter Tines Rücken warnend den Kopf.

»Du weißt ja nicht, wie das ist, verliebt zu sein«, motzt Tine, wendet sich Bine zu und fragt spitz: »Nicht wahr, Ellen ist die Einzige von uns, die noch nie verliebt war?«

Bine nickt gequält und ich bekomme schlechte Laune. Muss Tine so drauf rumreiten? Was kann ich dafür, dass ich mich noch nie verliebt habe, sie sich dafür wie am Fließband verknallt und Bine schon seit zwei Jahren mit ihrem zwar viel zu weit weg lebenden, dafür aber wahnsinnig schreibfreudigen E-Mail-Freund Kristian zusammen ist.

»Die Liste ist trotzdem nicht gerade hitverdächig«, erkläre ich.

»Na ja, sie kann sich ja noch steigern. Platz sechs bis eins haben wir schließlich noch nicht«, versucht Bine gutes Wetter zu machen. »Vielleicht hilfst du uns.«

»Später.« Ich winke ab, zeige endlich die Neuigkeiten aus meiner Mundhöhle und erkläre: »Und dann bekomme ich auch noch eine feste Klammer. Das dauert nur ein bis zwei Jahre, sagt der Zahnarzt, dann ist die Lücke zu. Morgen macht er Abdrücke.«

»Hast du die Klammer dann schon, wenn der Jugendball ist?«, fragt Tine schockiert.

»Ich denke schon.«

»Na toll. Dann wird das wieder nichts.«

»Was?«

»Na, so ein Jugendball, das ist der ultimative Ort, um sich endlich zu verlieben.«

»Hm.«

»Manchmal denke ich, du legst es regelrecht darauf an, dir die Chancen zu versauen.«

»Gar nicht.«

»Wer lässt sich bitte schön kurz vor dem Jugendball eine feste Klammer verpassen, wenn er ernsthaft dran interessiert wäre, einen Freund zu finden.«

Ich schaue Hilfe suchend zu Bine, aber die sieht nicht aus, als wollte sie heute auf meine Seite springen. Sie senkt die Augen und ich beschließe, das Thema einfach zu beenden, werfe die Zeitschriften aus dem Kiosk auf die Handtücher und verordne meinen Freundinnen eine Runde Starcheck.

Sie sind zum Glück einverstanden. Wir blättern synchron und kündigen jeweils mit einem spitzen Schrei oder einem verächtlichen Schnauben Sensationen und Peinlichkeiten an. Das Kleid von der Einen, der neue Toyboy von der Anderen, die gespritzten Lippen von der Dritten. Alles wird haarklein diskutiert und begutachtet.

»Die Männermodels auf der ›Dolce & Gabbana‹-Modenschau sehen irgendwie krank aus«, findet Bine.

Tine runzelt verärgert die Stirn. »Die sehen voll gut aus!«

»Findste? Die sind so dünn. Die haben gar keine Muskeln. Und irgendwie, das könnten auch Frauen in Männerklamotten sein.«

Bine merkt nicht, dass sie gerade eine ziemlich genaue Definition von Julian zum Besten gibt, und zuckt erschrocken zusammen, als Tines Ton schärfer wird.

»Das nennt man androgyn! Du hast echt keinen Geschmack!«, faucht Tine und fügt gedehnt hinzu: »Erzähl doch mal, wie sieht denn dein Kristian aus? Hm?«

Bine guckt verzweifelt, beißt sich auf der Unterlippe rum und verkündet schließlich: »Stimmt. Irgendwie ist androgyn schon super. Kristian ist auch irgendwie ein bisschen androgyn.«

Ich ziehe fragend die Augenbrauen hoch. Der Typ, den Bine uns auf dem Foto gezeigt hat, war alles andere als hohlwangig!

Tine allerdings ist mit Bines Antwort erstaunlich zufrieden.

»Creme mir mal den Rücken ein«, befiehlt sie und Bine gehorcht prompt.

Das geht jetzt schon seit Tagen so. Tine gibt den Ton an und Bine macht Männchen. Keine Ahnung, was in sie gefahren ist, aber es nervt gewaltig. Die Stimmung zwischen uns drei ist dauernd explosiv, gar nicht so wie sonst. Und das, wo doch Ferien sind.

Während Tine und Bine gleichgeschaltet von den Vorzügen androgyner Typen palavern, mache ich einen Alleingang und träume mich in die reich bebilderte Szene einer amerikanischen Charityparty hinein. Jeans und Shirt tausche ich kurzerhand mit einem Neckholderkleid, das ich von Gwyneth ausleihe, kombiniere die Schuhe von Jessica und die Handtasche von Drew dazu und beende mein Styling mit dem neuen Haarschnitt von Kate. Ich bin der Glanzpunkt der Veranstaltung. Ein gefeierter Filmstar. Oder noch besser ein absolutes Topmodel. Das Topmodel schlechthin. The German Wonder. Die Designer reißen sich um mich. Aber ich stolziere nur über den Laufsteg, der mir passt. Dates mit Hinz und Kunz? Nein danke! Ich treffe nur die reichsten, schönsten und angesagtesten Herren. Interviews? Nur nach meinen Regeln. Fragen, die mir nicht passen, werden nicht beantwortet. Etwas über meine Herkunft wollen Sie wissen? Ein Wink zu meinen Bodyguards: Raus mit dem Kerl!

»Raus mit welchem Kerl?« Bine schaut mich irritiert an, Tine kichert. Da habe ich wohl laut geträumt.

»Ähm, raus mit … keine Ahnung wem!« Ich springe auf und verkünde, dass ich ins Wasser möchte.

Tine will nicht mitkommen, weil Julian schon wieder am Imbiss steht. So viel, wie der verdrückt, müsste er eigentlich fett und schwabbelig sein.

»Lasst mich nicht alleine«, jammert sie. »Wie sieht das denn aus, wenn ich hier so einsam in der Gegend rumliege. Wie eine, die keinen kennt.«

Ich verdrehe nur die Augen, aber Bine ist ihrem neuen Image als Tines höriges Hündchen treu. »Ich bleib bei dir«, sagt sie und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.

Dann eben ein Soloschwimmgang.

Ich besteige das Dreimeterbrett und stelle mir vor, wie das Fußvolk meinem Astralkörper nachschaut. Ist sie das? Ist das dieses berühmte Topmodel? The German Wonder? Jaja, das ist sie. Wunderschön! Ich habe gehört, sie hatte früher eine scheußliche Zahnlücke! Und ich habe gehört, ihre Eltern sind völlig verrückte Ökoterroristen! Dass sie bei all dem Leid so wundervoll werden konnte …

Oben angekommen, halte ich die Hand über die Augen. Ach, immer diese Paparazzi. Nicht mal auf einem Dreimeterbrett ist man vor ihrem Blitzlichtgewitter sicher. Ich nehme Schwung und springe. Erst schießt die Luft an meinem Körper entlang, dann das kühle Wasser. Ich lasse mich bis zum Grund sinken, stoße mich ab und tauche mit dem Rest Luft, der noch in meinen Lungen ist, zum anderen Ende des Beckens.

»Ist er das?«, höre ich, als ich auftauche.

»Ja, das ist er!«

Neben mir kichern zwei Badenixen hinter vorgehaltener Hand und starren zum Beckenrand. Ich folge ihrem Blick und entdecke einen Jungen, umrahmt von einer ganzen Horde Mädchen. Sie sitzen neben ihm, sie dümpeln vor ihm im Wasser, sie stehen hinter ihm und strecken ihre Brüste über seinen Scheitel.

Ich brauche einen Moment, um ihn mit nass am Kopf klebenden Haaren und nichts an außer einer ziemlich knappen Badehose zu erkennen. Erst als er lauthals berichtet, dass er heute ohne Spritze einen abgebrochenen Zahn versorgt bekommen hat, kombiniere ich die langen Beine zum Gehörten.

»Er ist soooo süß!«, findet Nixe Nummer eins neben mir.

»Meine Mutter sagt, er ist die beste Partie im ganzen Ort«, erklärt die andere, »aber ich finde, er ist einfach nur total schnuckelig.«

So schnuckelig ist er nun wirklich nicht, denke ich und frage mich, was er wohl an sich hat, dass all die Mädchen ihn umlagern. Auf den ersten Blick jedenfalls ist er nichts Besonderes. Nicht mal androgyn ist er. Einfach nur ein Junge. Ob all diese Mädchen den ganzen Tag an ihn denken und nicht schlafen können und keinen Appetit haben und Schmerzen in der Herzgegend?

Plötzlich flammt wieder Blitzlichtgewitter auf. Aber in meinem Kopf sind gar keine Paparazzi am Werk. Ich schaue mich nach realen Quellen um, aber auch die Groupies bei Langbein haben keine Kameras gezückt. Die Badenixen neben mir ergreifen panisch die Flucht. Die Horde um Langbein zerstreut sich. Ich sehe Bine und Tine mit Sack und Pack das Weite suchen und Langbein im Haus des Bademeisters Unterschlupf finden. Und dann raffe auch ich, was los ist. Kleine Geschosse, die Kreise ziehen, prasseln auf die Wasseroberfläche. Es regnet. Es blitzt. Und es donnert.

 

»Du bist ja nass bis auf die Haut!«, stellt Mama fest, als ich, einen Bach hinterlassend, in die Küche stapfe.

»Bis auf die Knochen!«, verbessert Papa.

»Bis auf die Eingeweide! Bis in die letzten Ritzen!«, schimpfe ich und klappere dabei mit den Zähnen. Vor Wut und vor Kälte. Fünfzehn Kilometer durch ein gigantisches Sommergewitter zu radeln, nachdem man sowieso gerade im Schwimmbecken war, hat ungefähr den Effekt von einem viel zu langen Vollbad in eiskaltem Wasser. Meine Haut ist absolut verschrumpelt und bläulich angelaufen.

Papa schmeißt den Kachelofen an und Mama wendet sich zum zweiten Mal an diesem Tag der alten Truhe zu. Diesmal lege ich kein Veto ein. Gegen bis auf die Knochen nass und erfroren sein hat Mama bestimmt wirklich ein Zaubermittel parat.

»Einen Tee und ein paar Globuli«, erklärt sie, während ich die nassen Sachen ausziehe und mich in eine Ziegenwolldecke hülle.