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Roger Graf · Die Frau am Fenster

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Für Ruth

In einem Waldstück in der Nähe von Zürich wird ein junger Bankangestellter ermordet aufgefunden. Kurz darauf geschieht ein weiterer Mord. Als einziges Indiz dient der Fahndungsgruppe eine Plastikuhr, die der Täter an beiden Tatorten zurückgelassen hat, eingestellt auf 11 Uhr 15. Eine Mitteilung vom Täter? Aber wie ist sie zu deuten?

Roger Graf wurde1958 geboren und lebt als Schriftsteller in Zürich. Er ist Autor der erfolgreichen Hörspielserie „Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney“ sowie einiger Kriminalromane, darunter „Zürich bei Nacht“ und „Kurzer Abgang“. Von Roger Graf werden weitere Krimis bei Pendragon erscheinen. (Der Autor im Internet: )

Roger Graf

Die Frau am Fenster

PENDRAGON

Handlung und Personen sind frei erfunden. Der Roman spielt in Zürich und Umgebung. Der Autor hat sich die Freiheit genommen, Orte, Plätze und Straßen teilweise umzubenennen, zu verändern oder frei zu erfinden. Die im Buch geschilderten polizeilichen Ermittlungen sollten nicht mit der realen Polizeiarbeit verwechselt oder verglichen werden.

Unsere Bücher im Internet:

Veröffentlicht im Pendragon Verlag

Günther Butkus, Bielefeld 2008

© Copyright by Pendragon Verlag 2008

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Günther Butkus, Markus Eberwein

Umschlag: Uta Zeissler ()

Herstellung: Michael Baltus

Foto: Erwin Altmeier

Satz: Pendragon Verlag auf Macintosh

Gesetzt aus der Adobe Garamond

ISBN 978-3-86532-995-0

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

1

Die Vögel trillerten den Tag ein, und selbst die alte Buche am Wegrand schien ein wenig zu strahlen, als er lockeren Schrittes an ihr vorbeiging. Bei der Parkbank blieb er wie immer stehen und machte ein paar Dehnübungen. Nichts deutete darauf hin, dass er an diesem Morgen dem Tod begegnen würde. Hätte man ihn gefragt, er hätte sich in diesem Augenblick für unsterblich gehalten. Erfolgreich im Beruf, verheiratet, Vater einer 5-jährigen Tochter, keine 40 und schon ein Eigenheim im Grünen. Den Kopf voller Pläne und der Körper athletisch und gesund. Mir geht es gut, dachte er. Einen Satz, den er in Gedanken oft wiederholte, weil er gelesen hatte, dass erfolgreiche Menschen ständig solche Sätze im Kopf haben. Ich schaffe es. Ich bin der Größte. Mir geht es gut. Er hob seinen Kopf und hielt ihn der Sonne entgegen. Noch war die Strahlung schwach, doch es tat gut, die echte Sonne zu spüren, nachdem er wochenlang hatte mit der Höhensonne vorlieb nehmen müssen. Trübe, kühle und regnerische Wochen. Ein Frühling, der noch im Winterkleid steckte. Nächsten Winter fliegen wir zwei Wochen in die Karibik, dachte er. Das half sicherlich auch gegen die Gemütsschwankungen seiner Frau, die einen unzufriedenen Eindruck machte und manchmal überfordert schien, wenn die Tochter sich stur stellte. Er schaute auf seine Armbanduhr und drückte den Knopf, der die Stoppuhrfunktion startete. Er wollte es langsam angehen an diesem Morgen, das Tempo kontinuierlich steigern und schließlich mit einem Schlussspurt seine bisherige Bestzeit unterbieten. Ich schaffe es, dachte er und begann loszulaufen.

Die Turmuhr schlug sieben Mal, als Frau Bannwart ihren Nachbarn zum letzten Mal lebend sah. Wie immer winkte er ihr zu, und wie immer bellte Frau Bannwarts Hund zwei Mal laut, bevor sie ihn durch ein ruckartiges Ziehen an der Leine zum Verstummen brachte. Ein herrlicher Tag, dachte sie und ging in Gedanken die Besorgungen durch, die sie für das Abendessen benötigte.

Vier Gänge wollte sie kochen und damit ihrem Mann den Abend mit ihren Eltern schmackhaft machen. »Ausgerechnet heute«, hatte er ihr beim Frühstück vorwurfsvoll gesagt und ihr dazu den Sportteil der Tageszeitung unter die Nase gehalten. »Soll ich mein ganzes Leben nach dem Sportteil der Zeitung ausrichten«, hatte sie ihm entgegnet, worauf er nur mit einem Grunzlaut antwortete. Ihr Hund zog an der Leine und beschnupperte die Gräser. Ein Glück, dass sich Hunde nicht für Fußballspiele interessierten. Sie hielt eine Hand an die Stirn, weil die Sonne sie blendete. Einen Moment dachte sie, eine Gestalt zu sehen, die sich am Waldrand hinter einem Baum zu verstecken schien. Als sie aber beim zweiten Hinsehen nichts erkennen konnte, wandte sie sich ab, denn ihr Hund schien an diesem herrlichen Tag eine andere Route zu bevorzugen. Sie sah, wie ihr Nachbar zum Aussichtspunkt hoch rannte, und sie dankte in Gedanken dem Herrgott für den herrlichen Tag.

Schon nach wenigen Hundert Metern spürte er den Stich im Oberschenkel. Er fluchte und verlangsamte sein Tempo zu einem leichten Traben. Der Schmerz ging weg, doch sobald er beschleunigte, stach es in der Muskulatur. Mist, dachte er, hoffentlich keine Zerrung. Er blieb stehen und massierte den Muskel. Ausgerechnet an einem solch schönen Morgen. Wochenlang war er bei bitterer Kälte oder durch Nieselregen gerannt, ohne dass dies seinen Muskeln etwas anhaben konnte. Und jetzt, als endlich wieder die Sonne schien, kam der Schmerz. Er hasste Schmerzen. Er hasste es, nicht vollständig fit zu sein. Beim kleinsten Anflug von Kopfschmerzen schluckte er drei Schmerztabletten, zuviel, wie ihm seine Frau vorhielt, aber der Schmerz ging rasch weg. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte sich zu Hause mit einer Salbe den Muskel eingerieben, doch etwas hielt ihn zurück. War es sein Ehrgeiz, war es die Sonne oder war es sein Schicksal, das ihn am Waldrand erwartete? Es gab keinen Grund, mit schmerzendem Muskel weiterzurennen, und trotzdem tat er es. Er schaute sich um und sah Frau Bannwart, die mit ihrem Hund auf dem schmalen Feldweg ging, den er nicht mochte, weil er mit kleineren und größeren Steinen gespickt war. Er ging zum Startpunkt zurück und stellte seine Stoppuhr neu ein. Verhalten rannte er los. Als er den am Wegrand geparkten Wohnwagen passierte, schmerzte der Muskel nicht mehr. Na also, dachte er. Alles entscheidet sich im Kopf. Jetzt lief er in jenem gleichmäßigen Trab, der alle Gedanken verdrängte. Die Landschaft zog wie eine Diaschau an ihm vorbei, und die Geräusche entfernten sich, bis er nur noch seinen Atem und seinen Herzschlag zu hören schien. Ja, seinen Herzschlag, auch wenn das nur Einbildung war. Er lief wie eine perfekt geölte Maschine, gleichmäßig und fast von selbst. Ganz auf sich selbst konzentriert rannte er die Stufen hinauf, die in die Feuerstelle und den Aussichtspunkt mündeten, den Spaziergänger sonntags bevölkerten, weil er einen schönen Rundblick bot. Steil ging es bergan, kurz nur, aber heftig. Seine Muskeln übersäuerten, sein Atem wurde kürzer. Als er die Parkbank sah, wusste er, dass er es geschafft hatte. Der schwierigste Teil lag hinter ihm, jetzt konnte er sich auf die Schlussphase konzentrieren. Er wagte einen Blick auf die Uhr und sah, dass er gut unterwegs war. Ich schaffe es, dachte er. Nichts konnte ihn aufhalten. Dachte er. Als er die ersten Bäume des Waldes passierte, fröstelte ihn ein wenig. Die Bewegung nahm er zuerst ganz instinktiv war. Ein Tier, dachte er, doch dann sah er die Gestalt, die sich ihm in den Weg stellte. Er lächelte unsicher und versuchte auszuweichen, ein Grußwort auf den Lippen. Da traf ihn auch schon der erste Schlag.

2

Damian Stauffer schlürfte eine Tasse Kaffee und schaute zufrieden aus dem kleinen Büro. Nach mehreren Wochen aufreibender Diskussionen, Eingaben und unzähligen Sitzungen hatte er erreicht, was ihm schon seit Jahren vorschwebte, was aber wegen bürokratischer Hindernisse lange unmöglich schien. Er war der Chef der neuen Ermittlungsgruppe Kapitalverbrechen, die bei Tötungsdelikten zum Einsatz kam. Er war direkt der Staatsanwaltschaft unterstellt, und er konnte sich seine Truppe selber zusammenstellen. Bei dem Gedanken musste er schmunzeln. Freiwillig hatte er zwei Kollegen in die Gruppe geholt, die als schwierig galten, kaum teamfähig und deshalb im Kriminalkommissariat nicht sehr beliebt waren. Urs Holzer, 55 Jahre alt, ein knorriger Geselle, meist schlecht gelaunt und mit schlechten Manieren, was vor allem einige junge Polizistinnen bemängelten, die Holzer unverhohlen einen Sexisten nannten. Stauffer hatte einige Male mit Holzer zusammengearbeitet und diesen als zwar schwierigen, aber guten Polizisten kennen gelernt, der wenig sagte, aber oft die richtigen Fragen stellte. Holzer war in den Innendienst versetzt worden, was den persönlichen Umgang nicht erleichterte. Zuletzt hatte es sogar Stimmen gegeben, die ihm eine vorzeitige Pensionierung nahe legten, was Holzer aber kategorisch ablehnte. Stauffer wusste, warum. Holzer gehörte zu den Menschen, für die Arbeit alles war, was im Leben zählte. Je mehr man ihn forderte, umso besser wurde er. Doch weil man ihn zuletzt kaum noch forderte, galt er als schlechter Polizist. Ganz ähnlich und doch völlig verschieden waren die Gründe, weshalb Lukas Bolliger im Polizeikorps unbeliebt war. Ein junger Draufgänger, der oft schneller handelte als dachte und der deshalb schon einige Disziplinarverfahren am Hals hatte. Stauffer hatte bislang erst einmal mit Bolliger zusammengearbeitet. Dabei war er ihm als übereifriger Polizist aufgefallen, der ständig unter Druck zu stehen schien. Ein Mann, der nicht stillsitzen konnte. Stauffer wusste, worauf er sich einließ. Holzer und Bolliger waren beide Außenseiter, was aber noch schwerer wog war die Tatsache, dass sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Als er ihnen eröffnete, dass er sie beide in seiner Truppe haben wollte, hatten sie ihn angestarrt und einige Sekunden kein Wort herausgebracht. »Von jetzt an seid ihr Kollegen«, hatte Stauffer ihnen gesagt. »Freunde müsst ihr nicht werden, aber zusammenarbeiten müsst ihr.« Er wusste nicht, ob die Zusammenarbeit funktionieren würde. Die Praxis wird es weisen, dachte er und öffnete die Schubladen seines Schreibtisches. Bis auf die oberste waren alle leer. Es ist wie ein Neuanfang, dachte er. Die kleinsten Büros auf der Hauptwache und die beiden schwierigsten Charaktere des gesamten Polizeikorps unter seinen Fittichen. Wie einfach es doch manchmal war, Skeptiker zu überzeugen.

Stauffer stand auf und ging zur Ablage. Ein Dutzend Ordner stand nebeneinander, jeder mit einer Nummer und einer Jahreszahl versehen. Ungelöste Tötungsdelikte. Zwei davon hatten sich vor bald 16 Jahren ereignet. Vier Jahre noch bis zur Verjährung. Vier Jahre, und die Täter kamen ungeschoren davon. Es gab nicht viele Staaten, in denen Tötungsdelikte verjährten. Die Schweiz gehörte dazu. Es war eines jener Gesetze, die Damian Stauffer sofort geändert hätte. Doch er war kein Politiker, und er wollte auch nie einer werden. Er strich mit der Hand über die Ordner. Zu jedem gehörten noch mindestens zwanzig weitere, gelagert irgendwo im Keller. Er wusste, dass man ihn und seine Leute auch daran messen würde, ob ihnen die Aufklärung zumindest eines ungelösten Tötungsdeliktes gelingen würde. In diesem Jahr noch, so rasch wie möglich. Dies konnte einige der Privilegien rechtfertigen, die seine Leute genossen. Wenig Bürokram, keine eigentlichen Dienstpläne und finanzielle Mittel, die zwar nicht üppig waren, aber ausreichend, um Kollegen neidisch zu machen. Doch was hieß das schon? Neid hatte ihn stets auf seinem Weg begleitet. Wo kein Neid ist, ist kein Erfolg. Und erfolgreich war er, das bestritt niemand.

Er ging zum Fenster und schaute in den Hof. Die Sonne beleuchtete die Wagen, und eine Polizistin schaute zu ihm hoch und winkte ihm zu. Tanja Locher, die ab sofort seine engste Mitarbeiterin war. Zusammen mit Walter Wenger und ihm bildeten sie den inneren Kern der Gruppe. Beide kannte er gut, und auf beide konnte er sich verlassen. Dazu kamen Anna Herold, eine junge ehrgeizige Polizistin, und Manuele Fontini, ein Computerspezialist und technikverrückter Tüftler, der als einziger auf der Hauptwache in der Lage war, einen abgestürzten Computer wieder zum Laufen zu bringen und in verständlichen Worten zu erklären, was für ein Problem den Absturz verursacht hatte. Stauffer schaute auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Er wunderte sich, dass Tanja Locher noch nicht an die Tür geklopft hatte. Er vermutete, dass sie noch in ihr altes Büro gegangen war, vielleicht auch in die Kantine. Wenger würde in einer halben Stunde kommen. Die Arbeit konnte beginnen.

Stauffer hatte sich schon zurechtgelegt, mit welchem Ordner sie beginnen würden, aber er wollte zuerst hören, was Locher und Wenger dazu sagten. Stauffer hatte sich ganz bewusst den Samstag ausgesucht als ersten offiziellen Arbeitstag seiner Gruppe Kapitalverbrechen. Der Samstag war in der Regel ein ruhiger Tag auf der Hauptwache, und der Samstag war ein Symbol dafür, dass seine Gruppe neben Privilegien auch Pflichten hatte. Zu diesen Pflichten gehörte es, auch am Wochenende und nachts zu arbeiten, wenn es sein musste. Es ging Stauffer darum, seinen Mitarbeitern zu zeigen, dass die Ordner mit den ungeklärten Tötungsdelikten genauso wichtig waren wie ein Mord, der sich am Vortag ereignete. Als Tanja Locher anklopfte, räusperte sich Stauffer, bevor er sie hereinbat.

»Morgen Chef«, sagte sie lächelnd und schaute sich im Büro um.

»Enttäuscht?«, fragte Stauffer und zeigte auf die beiden Schreibtische.

»Nicht gerade luxuriös. Und wo arbeitet Walter?«

Stauffer zeigte auf die Verbindungstür.

»Noch zwei Büros, beide kleiner als dieses.«

»Wir sind also in den Abstellkammern der Hauptwache gelandet?«, fragte sie und setzte sich in den Drehstuhl.

»Verbrechen werden nicht im Büro aufgeklärt«, sagte Stauffer. »Aber das weißt du ja.«

Sie nickte und schaute aus dem Fenster.

»Immerhin«, sagte sie mit dem Blick nach draußen auf den Himmel.

»Gute Fernsicht kann die Gedanken beflügeln«, sagte Stauffer lächelnd.

»Und was ist mit den Computern?«

»Kommen am Montag. Ich hoffe, du hältst es solange ohne Kartenspiel aus.«

Stauffer wusste, dass Tanja Locher leidenschaftlich gerne Patiencen legte und dies wahrscheinlich der einzige Grund war, weshalb sie ihren Computer vermisste.

»Wie lange wird es dauern, bis wir uns in einen der Fälle eingelesen haben?«, fragte sie und zeigte auf die Ordner.

»Lange«, sagte Stauffer. »Aber es lohnt sich.«

»Als das geschah, war ich eine junge Polizistin.«

»Ich weiß«, sagte Stauffer.

»Und jetzt bin ich eine nicht mehr ganz so junge Polizistin.« »Das Leben spielt uns übel mit«, sagte Stauffer ironisch. »Der Tod aber löscht alles aus.« Der Satz kam ernster über seine Lippen, als er es gewollt hatte.

»Was ist mit Walter? Hat er verschlafen?«

»Er muss seinen Alltag anders planen als wir. Daran müssen wir uns gewöhnen.«

Walter Wenger war mit 50 noch einmal Vater geworden, seine Tochter war jetzt drei Jahre alt. Stauffer hatte es ihm freigestellt, deswegen auf sein Aufgebot für die Gruppe Kapitalverbrechen zu verzichten. Doch Wenger sagte sofort zu. Er war selber im Gespräch gewesen, als es darum ging, Stauffers Posten zu besetzen. Kein anderer hatte so viel Erfahrung mit Tötungsdelikten wie Walter Wenger.

Wenger hatte viele der ungelösten Fälle bearbeitet und er war mit dem Chef des wissenschaftlichtechnischen Dienstes befreundet. Stauffer ging davon aus, dass viele der ungeklärten Fälle nur mit Hilfe modernster Technik und der besten Leute zu klären waren.

»Könntest du dir vorstellen, mit 50 noch einmal Vater zu werden?«, fragte Locher und schaute Stauffer auffordernd an.

»Muss ich mir das vorstellen?«, fragte Stauffer. Tanja Locher hatte eine Tochter, die bereits erwachsen war, Stauffer hatte keine Kinder.

»Das Mädchen, das vor 16 Jahren getötet wurde, hätte meine Tochter sein können«, sagte Locher und betrachtete ihre Fingernägel.

»Niemand weiß, ob sie tatsächlich getötet worden ist.« »Niemand zweifelt daran, dass es so war.« Stauffer nickte.

»An uns ist es, Beweise zu finden. Eine Leiche und einen Täter.« »Wenn eine Leiche nicht gefunden wird, dann sagt das schon etwas über die Tat aus«, sagte Locher.

Ohne es auszusprechen, hatte sie damit bereits einen Hinweis gegeben, welchen der beiden alten Mordfälle sie zuerst angehen würde.

»Es ist der schwierigere Fall«, sagte Stauffer.

»Soll uns das hindern?«, fragte Locher herausfordernd.

»Nein. Es sollte aber auch nicht das wichtigste Kriterium sein.« »Ist es auch nicht.«

»Gut. Lass uns nachher darüber reden, wenn Walter da ist.

« Er schaute auf die Uhr. Stauffer hatte mit Wenger vereinbart, dass er ihn umgehend anrufen sollte, wenn er wegen des Kindes nicht weg konnte. Tanja trommelte auf dem Schreibtisch den immer gleichen Rhythmus. Stauffer fiel der zappelige Lukas Bolliger ein. Ich muss für die beiden Baldriantabletten kaufen, dachte er. Als Stauffers Handy klingelte, schaute er zuerst auf die angezeigte Nummer. Es war nicht Wenger. Stauffer meldete sich kurz angebunden.

»Worum geht es?«

»Im Eschenwald wurde eine Leiche gefunden. Ein Mann, wahrscheinlich erschlagen.«

»Wer ist vor Ort?«, fragte Stauffer und kramte einen Notizzettel aus der obersten Schreibtischschublade. Locher reichte ihm einen Filzschreiber.

»Frick.«

Stauffer kannte Frick nicht besonders gut, und es dauerte einen Moment, bis ihm dessen Vorname einfiel. Stauffer fragte nach dem genauen Leichenfundort und notierte sich die Angaben.

»Und?«, fragte Locher, nachdem Stauffer das Gespräch beendet hatte.

»Vergiss das Mädchen. Wenigstens vorläufig.«

Sie begriff sofort und stand auf.

»Soll ich Wenger anrufen?«, fragte sie, als sie bereits an der Tür waren.

»Ja, vom Wagen aus. Er soll auch gleich zum Eschenwald kommen.«

»Es geht also los«, sagte Locher, beinahe beschwingt.

»Sieht so aus«, sagte Stauffer ernst.

3

Tanja Locher blätterte auf dem Beifahrersitz im kleinen Gemeindeatlas des Kantons Zürichs, während Stauffer zügig, aber nicht zu schnell über die Landstraße fuhr. Nur wenige Fahrzeuge kamen ihnen entgegen, einige fuhren mit offenem Verdeck. Es war der erste Tag in diesem Jahr, an dem es sich wirklich lohnte, das Cabrio aus der Garage zu steuern. Stauffer stellte die Klimaanlage so ein, dass sie kühlte und nicht mehr heizte. Neben ländlich wirkenden Abschnitten fuhren sie auch durch Industriezonen. Stauffer staunte über die vielen neuen Reihenhaussiedlungen, die an den Rändern der Dörfer wie Wucherungen entstanden. Locher setzte zu einer Wegbeschreibung an, hielt aber inne, als das Grollen eines Jets ohrenbetäubend laut wurde. Stauffer sah im Rückspiegel die Maschine, die wie ein großer träger Vogel aussah. Er kannte sich in der Gegend um den Flughafen nicht sehr gut aus. In Rümlang bog er bei einem Kreisel versehentlich in eine Straße ein, die ihn ins Zentrum brachte. Als er wieder daraus hinausgefunden hatte, suchte er nach einem Hinweisschild.

»Da vorne nach rechts abbiegen, Richtung Oberglatt«, sagte Locher und zeigte auf die nächste Abzweigung.

Stauffer nickte und stellte wenig später befriedigt fest, dass am Straßenrand tatsächlich ein Pfeil in Richtung Oberglatt wies. Einmal in den Wohnquartieren angekommen, fuhr er betont langsam durch die engen Straßen. Er wusste, dass Tanja Locher in einem höheren Gang unterwegs gewesen wäre, und er hatte deswegen auch schon eine heftige Auseinandersetzung mit ihr gehabt. Polizisten, so hatte er ihr vorgehalten, sollten keine Gefahr für die Bevölkerung und auch nicht für Hunde und Katzen darstellen. Insgeheim wartete er auf einen ihrer bissigen Kommentare, doch sie beschränkte sich darauf, ihm den Weg zu weisen. Die Straße führte am Bahngleis entlang. Auf der rechten Seite standen Fabriken, dazwischen viel Grün. Stauffer hatte das Gefühl, dass von allen Seiten Flugzeuge starteten und landeten, kleine Privatflugzeuge genauso wie große Jets.

»Da vorne dann links«, sagte Locher.

»Bist du sicher?«, fragte Stauffer, der vergeblich nach einem Wald Ausschau hielt. Er drehte seinen Kopf, sah, dass sie wieder in dem Gemeindeatlas vertieft war und bog nach links ab. Zuerst sah es aus, als würde die Straße durch Ödland führen, doch dann sah er rechterhand eine Siedlung mit kleinen Reihenhäusern und Gärten. Er fuhr geradeaus weiter.

»Die nächste rechts abbiegen.«

»Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte er verwundert. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals in dieser Gegend gewesen zu sein. Locher nannte ihm den Namen einer Gemeinde, von der er lediglich wusste, dass sie existierte. Wahrscheinlich gibt es griechische Inseln, die ich besser kenne, als einige der Gemeinden rund um Zürich, dachte er.

»Wenn die Gotthelfstraße kommt, links rauffahren.«

Jetzt sah er die Bäume. Langsam rollte der Wagen an den Vorgärten vorbei. Eine Katze sonnte sich auf einer Gartenmauer. Als sie sich dem Waldrand näherten, sah Stauffer schon von weitem die Kollegen, und er sah auch Schaulustige, die sich gestenreich über die Ereignisse zu verständigen schienen.

Das Gelände um den Tatort war großzügig abgesperrt worden, und zusätzlich durch Polizisten gesichert, die zufällig vorbeikommende Spaziergänger und Jogger davon abhielten, den Waldweg zu betreten. Stauffer parkte seinen Wagen hinter einem Einsatzfahrzeug und ging zusammen mit Tanja Locher am Wasserreservoir und der mit einem Kinderspielplatz versehenen Aussichtsplattform vorbei zum Tatort.

Ein wenig erstaunt sah er, wie sich Walter Wenger bereits mit dem Einsatzleiter unterhielt und sich dabei Notizen machte. Dann aber fiel Stauffer ein, dass Wenger in Rümlang wohnte und er deshalb nicht weit bis zum Tatort hatte. Die Kollegen vom Erkennungsdienst und ein junger Mann von der Kriminalfotoabteilung waren genauso am Tatort wie ein bärtiger Mann vom Wissenschaftlichen Dienst sowie ein Team des Institutes für Rechtsmedizin. Locher ging auf die Mediziner zu, während Stauffer etwas abseits blieb und den Tatort auf sich wirken ließ.

Die Leiche lag mitten auf dem Weg. Stauffer sah die seltsam verdrehten Beine und die modischen Turnschuhe. Er wandte sich um. Obwohl sich der Tatort nur wenige Meter im Wald befand, konnten der oder die Täter davon ausgehen, unerkannt zu bleiben. Er entdeckte blühenden Holunder und am Boden Bingelkraut. Die gelben Blüten unmittelbar neben der Leiche konnte er zuerst nicht richtig einordnen, doch als er etwas näher herantrat, glaubte er sie als Scharbockskraut zu identifizieren, dessen Vitamin-C-haltige Blätter früher als Salat aufgetischt wurden. Ein kühler Windhauch ließ Stauffer frösteln, doch er wusste sofort, dass es nicht nur der Wind war, der ihn ein wenig erschaudern ließ. Es war die Atmosphäre am Tatort, die fröhlich zirpenden Vögel, der Frühling, der sich in seiner ganzen Pracht zu erkennen gab. All das wollte nicht zu dem toten Körper passen. Stauffer sah, wie Wenger dem Einsatzleiter die Hand drückte und auf ihn zeigte. Frick nickte Stauffer zu, dieser hob die Hand zum Gruß und ging auf ihn zu.

»Können wir uns nachher sehen?«, fragte Stauffer, während sie sich die Hand schüttelten.

»Ich bin wahrscheinlich noch bis Mittag hier.«

»Viele Spuren?«

»Wie man’s nimmt«, sagte Frick und zeigte entschuldigend auf sein Handy, das die Melodie eines Schlagers intonierte.

Stauffer drückte ihm seine Visitenkarte in die Hand. Er wusste, dass Frick jetzt keine Zeit hatte, um Fragen zu beantworten, deshalb ging er einige Schritte zurück und wartete auf Wenger, der auf ihn zukam.

Stauffer sah, dass Wenger unrasiert war. Wenger zeigte in Richtung Leiche.

»Ein Spaziergänger hat ihn entdeckt. Er kann nicht lange da gelegen haben, vermutlich geschah die Tat zwischen 6 und 8 Uhr.«

»Weiß man schon, um wen es sich handelt?«

Wenger nickte und öffnete sein Notizbuch.

»Stefan Bruggisser. Ein Bankangestellter, 35 Jahre alt, der nur ein paar Hundert Meter von hier wohnt.«

Wenger drehte sich um und deutete in eine Richtung, doch Stauffer konnte keine Häuser entdecken.

»Verheiratet?«, fragte Stauffer.

»Eine Ehefrau und eine Tochter, 5 Jahre alt.«

Stauffer atmete hörbar ein und aus. Ein wunderbarer Samstagmorgen, und der eigene Mann liegt erschlagen im Wald.

»Wurde die Frau schon benachrichtigt?«

Wenger nickte und reichte Stauffer einen Zettel, auf dem er die Adresse der Familie Bruggisser notiert hatte.

»Jemand von der Opferhilfe kümmert sich um die beiden.« »Wir müssen so rasch wie möglich mit ihr sprechen. Was ist mit den Nachbarn und den Spaziergängern? Hat jemand etwas gesehen oder gehört?«

»Sieht nicht danach aus.«

Stauffer schaute Wenger verwundert an.

»Die Befragung der Nachbarn ist noch nicht abgeschlossen.

Aber wie es aussieht, haben viele noch geschlafen. Es ist Samstag. Die wenigsten Leute stehen am Samstag vor 8 Uhr auf.«

Stauffer glaubte einen leisen Vorwurf aus Wengers Feststellung herauszuhören. Was hat er mir vorzuwerfen?, dachte er. Ich habe die Leiche schließlich nicht herbestellt.

»Möchtest du ihn sehen?«

Stauffer nickte. Gemeinsam gingen sie zurück zum Tatort. Tanja Locher stand neben einer Ärztin, beide hatten den Blick von der Leiche abgewandt. Wenger ging auf den Mann zu, der die Spurensicherung leitete.

»Was könnt ihr zur Todesursache sagen?«, fragte Stauffer und nickte der Ärztin und Locher zu.

»Vermutlich mehrere Schläge auf den Kopf«, sagte Locher. »Heftige Schläge«, ergänzte die Ärztin. »Die Schädeldecke ist zertrümmert worden.«

Stauffer betrachtete die Leiche. Der Kopf war eine dunkle Masse aus Blut, Haaren und Knochenteilen.

»Dazu kommt mindestens ein Schlag auf Brusthöhe«, sagte Locher und hielt die rechte Hand vor ihren Busen.

»Ein Ast?«, fragte Stauffer und schaute sich nach einem geeigneten Stück Holz um.

»Eher nicht«, sagte Locher.

»Wurde die Tatwaffe nicht gefunden?«

Locher schüttelte den Kopf. Die Ärztin zündete sich eine Zigarette an und verabschiedete sich. Stauffer sah, dass sich Wenger erneut Notizen machte.

»Konnten Spuren gesichert werden? Schuhabdrücke?«

»Der Boden ist ziemlich fest. Und leider ist der Spaziergänger, der die Leiche gefunden hat, hier herum getrampelt. Sein Hund muss ausgeflippt sein, als er das Blut gerochen hat.«

»Wo ist der Mann jetzt?«, fragte Stauffer.

»In ärztlicher Behandlung. Er hat einen leichten Herzanfall erlitten.«

»Ich möchte später mit ihm reden, wenn das möglich ist.«

»Viel hatte er nicht zu sagen.«

»Du weißt, wie das ist. Plötzlich fällt den Leuten etwas ein. Ich möchte, dass du mit den Nachbarn sprichst. Jenen, die hier unmittelbar am Waldrand wohnen. Auch wenn schon ein Kollege mit ihnen gesprochen hat. Interessant sind auffällige Geräusche, ein geparkter Wagen, ein Motorrad, Schritte. Du weißt schon.«

Locher nickte und machte sich an die Arbeit. Stauffer winkte Wenger zu sich. Der Einsatzleiter fragte Stauffer, ob die Leiche nun abtransportiert werden könne. Stauffer hatte nichts dagegen. Zusammen mit Wenger ging er aus dem Wald zu dem Kinderspielplatz. Neben der Feuerstelle blieb er stehen.

»Was meinst du?«, fragte er Wenger.

Wenger schaute auf seine Notizen, als ob darin eine Meinung zu finden wäre.

»Ein Mann rennt am Samstagmorgen durch den Wald und wird erschlagen. Vermutlich mit einem Metallgegenstand. Einem Haken, einem Schraubenschlüssel oder etwas anderem. Raubmord kann so gut wie ausgeschlossen werden. Bruggisser trug eine Lendentasche mit sich, darin etwas Kleingeld, Ausweise, Kreditkarten und ein Handy.«

»Man muss den Wald, die angrenzenden Grundstücke und Gärten nach der Tatwaffe absuchen«, sagte Stauffer.

Wenger nickte.

»Das gefällt mir nicht«, sagte er.

»Was gefällt dir nicht?«, fragte Stauffer.

»Eigentlich alles.«

Stauffer runzelte die Stirn, doch er ahnte, was Wenger ihm sagen wollte.

»Der Mann hat einen heftigen Schlag auf den Brustkasten abbekommen. Gehen wir mal davon aus, dass dies der erste Schlag war. Dass er danach zusammengebrochen ist und die Schläge auf den Kopf anschließend erfolgt sind.«

»Das würde heißen, dass er von vorne oder von der Seite angegriffen wurde.«

»Er ist wahrscheinlich auf seinen Mörder zugerannt.« Stauffer sah, wie der Bestattungswagen langsam die Straße hochfuhr.

»Das könnte heißen, dass er den oder die Täter gekannt hat«, sagte er.

»Könnte. Muss aber nicht«, sagte Wenger. »Wer rechnet schon damit, dass im Wald ein Verrückter mit einer Brechstange auf einen wartet?«

»Du glaubst, wir haben es mit einem Verrückten zu tun?«

»Du hast die Leiche doch gesehen, oder?«

Stauffer wusste, worauf Wenger hinauswollte. Wer derart brutal zuschlug, musste ungeheuren Hass, eine nicht zu bremsende Wut in sich haben.

»Wenn es kein Verrückter war, dann war es jemand mit einem verdammt guten Motiv«, sagte Wenger.

Zwei Männer trugen den Sarg an ihnen vorbei. Sie grüßten freundlich.

»Ich hoffe, dass wir nach der Obduktion wissen, womit er erschlagen wurde«, sagte Stauffer.

»Die Ärzte legen sich nicht gerne fest, aber so wie die Wunden aussehen, könnte es ein Feuerhaken gewesen sein.«

»Wir suchen also nach jemanden, der mit einem Feuerhaken im Wald spazieren geht?«

»Und der den blutverschmierten Feuerhaken, oder was immer es war, danach seelenruhig wieder mitnimmt«, ergänzte Wenger.

»Wir wissen nicht, ob er ihn seelenruhig wieder mitgenommen hat. Vielleicht ist er in Panik geraten, vielleicht hat er jemanden kommen hören.«

»Vielleicht«, sagte Wenger.

»Ich möchte, dass Tanja dabei ist, wenn ich mit der Ehefrau spreche.«

»Ich habe kein Problem damit.«

»Gut«, sagte Stauffer. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu dritt mit der jungen Witwe zu sprechen. Zu viele Polizisten wirkten in solch einer Situation einschüchternd.

»Ich würde mich gerne ein wenig im Wald umsehen«, sagte Wenger.

»Tu, was du für richtig hältst«, sagte Stauffer. Wenger nickte und ging zurück in den Wald.

Stauffer schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Er wollte sich die Wohnsiedlung ansehen und einen ersten Eindruck bekommen von Stefan Bruggisser. Die Gegend, in der jemand lebte, sagte viel über die Person aus. Ihren Status, ihren Charakter, ihre Lebensgewohnheiten. Stauffer hatte dies schon als jungen Mann fasziniert. Damals war er ziellos durch die Städte gestreift, manchmal betrat er die Vorgärten und Hochhäuser. Immer wollte er etwas über die Menschen erfahren, wissen, was das für Menschen sind. Wie sie lebten, wie sie dachten. Jedes Haus, jede Wohnung eine Ansammlung menschlicher Schicksale. Dabei hatte er gelernt, auf Details zu achten. Sie machten das Individuum aus, sie waren die Manifestation des Einzelnen in der grauen Masse. Während die Wohnungen, die Möbel, Teppiche, Bilder eine Innenansicht der Menschen zeigten, war das, was man auf den Fensterbänken, Balkonen, Vorplätzen, in den Garagen und den Gärten sah, oft genug der Eindruck, den die Menschen nach außen vermitteln wollten; die Fassade. Als Kriminalist hatte er schon verblüffende Kombinationen von außen und innen gesehen. Penibel geputzte Vorplätze und Balkone und in der Wohnung, im Haus, ein unbeschreibliches Chaos und Elend. Und umgekehrt. Langsam schlenderte Stauffer die Straße entlang. Längst hatte sich die Kunde der Bluttat herumgesprochen. Fenster standen offen, Nachbarn unterhielten sich im Garten, Polizisten notierten Aussagen. Die Einfamilienhäuser waren, bis auf ein paar wenige Ausnahmen, älteren Datums und sehr unterschiedlich gebaut. Neben schlichten Betonhäusern standen verschnörkelte Backsteingebäude, und auch ein mit Holztäfelung isoliertes Haus, das höher war als die anderen und das über einen großzügigen Wintergarten verfügte. Stauffer fiel auf, dass die Größe des Rasens offenbar in einem Verhältnis zur Einsicht in die Gärten stand. Je größer die Rasenfläche, umso offener war der Garten angelegt. Ein Beweis, dass tadellose Rasenflächen für die Nachbarn gemacht werden, dachte Stauffer. Er stellte sich vor, dass diese Menschen viel Sport trieben, ihre Muskeln stählten und wenig Kleidung trugen, um die schönen Muskeln zeigen zu können. Wie bestellt erschien ein Mann, der Stauffers These ad absurdum führte. Dickbäuchig und in einem viel zu warmen Pullover schlurfte er über den Rasen und hielt die Hand zum Gruß hoch. Als Stauffer einen Moment stehen blieb, kam der Mann erstaunlich behende ans Gartentor.

»Ist etwas passiert?«, fragte er.

»Ja«, sagte Stauffer kurz angebunden.

»Ein Unfall?«

»War noch kein Polizist bei Ihnen?«

»Es hat geklingelt, als ich unter der Dusche stand. Etwas Ernstes?«

Er klang nicht sehr besorgt.

»Kein Einbruch«, sagte Stauffer.

»Gott sei Dank«, sagte der Mann.

»Es wird gleich jemand zu Ihnen kommen.«

»Ich muss noch einkaufen«, sagte der Mann und schaute auf seine Armbanduhr.

»Es dauert nicht lange«, sagte Stauffer. Er hob die Hand zum Gruß und setzte seinen Weg fort. Zwei Häuser weiter sah er Locher, die sich von einer älteren Frau verabschiedete. Stauffer ging auf sie zu. Sie sprach leise und schaute dabei immer wieder zurück zu dem Haus, aus dem sie gerade gekommen war.

»Die Frau hat Krebs. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten, aber sie weigert sich, aufzugeben.«

»Hat sie das so gesagt?«

»Sie wollte mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählen.«

»Hat sie etwas gesehen oder gehört?«

Locher schüttelte den Kopf.

»Es hat sie nicht einmal interessiert, dass einer ihrer Nachbarn ermordet worden ist.«

Sie gingen langsam weiter.

»Da vorne ist es«, sagte Locher und zeigte auf ein unauffälliges Haus mit einem kleinen Garten, in dem eine Kinderschaukel stand.

»Irgend jemand muss doch etwas bemerkt haben«, sagte Stauffer.

Sie blieben einen Moment vor dem Haus stehen, öffneten das Gartentor und gingen langsam zur Haustür. Stauffer bemerkte, dass der Garten keinen besonders gepflegten Eindruck machte. Dafür sahen die Fenster aus, als wären sie am Tag zuvor geputzt worden. Stauffer drückte die Klingel. Tanja Locher atmete tief ein, als von innen das Türschloss geöffnet wurde.

4

Walter Wenger saß auf einem Baumstrunk und schaute sich um. Langsam und stetig wie ein Kameraobjektiv wanderte sein Blick, bis er das ganze Panorama erfasst hatte. Er schloss die Augen und atmete tief durch die Nase. Es roch nach feuchter Erde und nach Kot. Ein Hund musste ganz in der Nähe sein Geschäft verrichtet haben. Vom Baumstrunk aus war der Tatort nicht zu sehen, da sich der Weg wie eine Schlange durch den Wald wand. Wenger stand auf und ging in die Wegmitte.

»Er ist von hier gekommen«, sagte er leise, den Blick auf den Boden gerichtet. Er bückte sich, suchte vergeblich nach Fußspuren. Weit weg hörte er eine Autotür, die zugeschlagen wurde. Er richtete sich auf und bewegte sich langsam Richtung Tatort. Als er sich dem Absperrband näherte, kam eine junge Polizistin auf ihn zu. Wenger lächelte und zupfte seinen Ausweis aus der Manteltasche.

»Wenger, Kripo«, sagte er und hielt der Polizistin den Ausweis entgegen. Die junge Frau nickte, und Wenger sah, dass sie Sommersprossen im Gesicht hatte. Hübsch, dachte er, auch jetzt wieder erstaunt darüber, dass ihm die jungen Frauen heute besser gefielen als früher, als er selber jung war.

»Haben Sie mich gehört, bevor sie mich gesehen haben?«, fragte er die Polizistin.

»Nein, die Vögel sind so laut«, sagte die Frau mit einer überraschend tiefen Stimme.

Wenger schaute nach oben und nickte. Der Geräuschpegel war sehr hoch; wenn jemand bemüht war, sich lautlos zu nähern, dann konnte er dies problemlos tun.

»Vorhin habe ich geglaubt einen Fuchs zu sehen, aber als ich genauer hinschaute, war es nur ein Baumstrunk.»

Wenger sah, dass viele Äste herumlagen. Er erinnerte sich daran, dass es zwei Wochen zuvor heftig gestürmt hatte und in der Straße, in der er wohnte, ein Baum gefällt werden musste, weil er vom Wind geknickt worden war.

»Dauert es noch lange?«, fragte die junge Polizistin und wies Richtung Tatort.

»Die Absperrung bleibt vorläufig.«

»Ich friere«, sagte die Polizistin.

»Wenn Sie einen Menschen erschlagen wollten. Wo würden Sie auf ihn warten? Da vorne oder dort hinten, an der Wegbiegung?«

Die Polizistin blickte ihn überrascht an. Sie schaute sich kurz um und deutete in die Richtung, aus der Wenger gekommen war.

»Da hinten würde ich auf ihn warten. Da kann er mich nicht sehen.«

»Gut«, sagte Wenger nachdenklich. Die Polizistin lächelte. »Er kann Sie nicht sehen, und Sie können ihn nicht sehen«, sagte er.

»Genau«, sagte die Polizistin.

»Deshalb hat er da vorne auf ihn gewartet«, sagte Wenger mit Blick Richtung Tatort.

»Damit er gesehen wird?«, fragte die Polizistin irritiert. »Nein«, sagte Wenger. »Damit er sehen konnte, wer in den Wald gerannt kam.«

Die Polizistin nickte. Wenger fuhr fort mit dem, was er gerne ein erweitertes Selbstgespräch nannte.

»Er wollte nicht gesehen werden, als er den Wald betrat. Deshalb ist er wahrscheinlich von hier hinten gekommen. Genau wie ich jetzt. Aber er wollte sehen, wer auf ihn zukam. Deshalb hat er da vorne gewartet.«

»Er hat ganz sicher da vorne gewartet«, sagte die Polizistin. »Sonst würde die Leiche nicht dort liegen.«

Kluges Kind, dachte Wenger, verkniff sich aber die Bemerkung, weil er wusste, dass junge Frauen auf Ironie manchmal allergisch reagierten.

Wenger bedankte sich bei ihr, und sie nickte eifrig, die Kälte schien ihr nichts mehr anhaben zu können. Morgen wird sie sich vielleicht bei der Kripo bewerben, dachte er.

Er ging langsam weiter, suchte mit den Augen den Waldboden und den Waldrand ab, ohne zu wissen, wonach er suchte. Er sah, dass zwei Männer noch immer damit beschäftigt waren, Spuren zu sichern. Um sie nicht bei der Arbeit zu stören, ging er über die zwei Holzbretter, die behelfsmäßig auf den Waldboden gelegt worden waren, um allenfalls vorhandene Abdrücke im Boden nicht zu zerstören. Die Leiche war mittlerweile abtransportiert worden, und im Waldboden rund um den Tatort waren die Spuren nummeriert. Es gab über ein Dutzend Spuren, die meisten davon Blutspritzer. Wenger verließ den Tatort und ging zum Aussichtspunkt. Er setzte sich auf eine Parkbank und zückte seinen Notizblock. Wenger schrieb.

Er hat auf ihn gewartet. Er wusste, dass er kommen würde. Er kannte sich aus. Er wollte ihn töten.

Wenger hob das Wort ihn hervor, in dem er es mehrmals unterstrich.

5

Das Wohnzimmer war überraschend groß und hell. Ein Sofa, zwei Sessel, eine Glasvitrine, ein kleiner Salontisch, ein Fernseher. In einer Ecke Spielzeug und an einer Wand ein gerahmter Druck eines bekannten Schweizer Malers, der früher Zirkusclown war. Laura Bruggisser war eine zierliche Frau um die dreißig. Die Haare rötlichbraun und mittellang, auffällige Wangenknochen und ein Muttermal über der Oberlippe. Sie wirkte einigermaßen gefasst, noch schien die Tragweite der Ereignisse nicht ganz bis zu ihr vorgedrungen zu sein. In den nächsten Stunden und Tagen, und vor allem in den Nächten, werden die Trauer und die Fassungslosigkeit einkehren wie eine Krankheit, gegen die es keine Medikamente gibt. Stauffer wusste, was es hieß, von einem Augenblick zum nächsten einen geliebten Menschen zu verlieren. Jedes Mal, wenn er Hinterbliebenen gegenübersaß, kam die Erinnerung in ihm hoch. Keine Gedanken, nur intensive Gefühle, die Wiederkehr des Entsetzens. Laura Bruggisser rauchte eine Zigarette. Ihre Hand zitterte, sie wirkte fahrig, aber ihre Stimme war fest.

»Er ging aus dem Haus wie jeden Samstag. Er fragte mich, ob ich nicht mitkommen wollte. Das fragte er jedes Mal, wenn die Sonne schien, aber er wusste, dass ich mir nichts aus Joggen mache.«

»Ging er jeden Samstag zur gleichen Zeit aus dem Haus?«, fragte Locher und starrte auf ihren Notizblock, ohne jedoch etwas darin einzutragen. Wir halten uns alle an etwas fest, dachte Stauffer und betrachtete die Fernbedienung, die er in der Hand hielt, ohne sich daran zu erinnern, sie vom Tisch genommen zu haben. Er legte sie neben die Programmzeitschrift.

»Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf. Am Samstag und Sonntag etwas später als unter der Woche, aber immer zur gleichen Zeit.«

»Und er ging jeden Morgen in den Wald joggen?«, fragte Stauffer. Laura Bruggisser schaute kurz zu ihm auf und nickte, senkte den Blick wieder und zog zweimal heftig an der Zigarette.

»Er stoppte die Zeit. Das war ihm wichtig. Er sagte, man muss sich Ziele setzen. Immer.«

»Das heißt, er rannte immer die gleiche Strecke?«

»Ich glaube schon.«

Locher machte sich eine Notiz.

»Ist Ihnen in den vergangenen Tagen und Wochen etwas aufgefallen? War Ihr Mann ungewöhnlich nervös? Gab es Vorkommnisse, die Sie irritiert haben? Anrufe, Besuche?«

Laura Bruggisser dachte nach. Sie drückte die Zigarette aus und zündete sich gleich eine neue an. Stauffer bemerkte, wie sich Locher im Wohnzimmer umsah. Ihm fiel auf, dass ihr Blick lange in der Ecke mit dem Kinderspielzeug verharrte.

»Ich weiß nicht«, sagte Laura Bruggisser. »Mir ist nichts aufgefallen.«

»Gab es vielleicht Schwierigkeiten im Beruf?«

Die Frage ließ ihren Kopf hochschnellen, Stauffer wusste sofort, dass er einen Punkt berührt hatte, über den sich die junge Witwe offenbar Gedanken gemacht hatte.

»Es gab, glaube ich, Probleme mit einem Arbeitskollegen.« Locher schaute zu Stauffer, dieser nickte unmerklich. »Wissen Sie, wie der Kollege heißt und welche Probleme ihr Mann mit ihm hatte?«

»Ingold«, sagte sie. »Stefan hat sich nicht mit ihm verstanden.

« Locher versuchte nachzuhaken, aber es stellte sich heraus, dass Stefan Bruggisser seiner Frau nur wenig über seine Arbeit erzählt hatte.

Stauffer wusste, dass jetzt der unangenehme Teil der Befragung kam.

»Wir wissen zurzeit nicht, ob ihr Mann zufällig das Opfer eines Verbrechens wurde oder ob ihr Mann gezielt attackiert wurde. Wir müssen deshalb beides in Erwägung ziehen. Bei einer gezielten Attacke ist die Suche nach einem Motiv sehr zentral. Das Motiv kann dem beruflichen, aber auch dem privaten Umfeld entspringen.«

Stauffer ärgerte sich ein wenig darüber, dass die Sätze in seinen Ohren gestelzt klangen. Er liebte einfache, direkte Formulierungen, auch wenn sie ihm nicht immer gelangen. Doch jetzt wäre Direktheit unangebracht gewesen, brutal beinahe wie die Tat, die sich im Wald ereignet hatte. Stauffer wartete und ließ die Sätze nachwirken. Er wusste, dass Tanja Locher bereit war, die delikate Frage zu stellen, die Stauffer vermied, weil er hoffte, dass die junge Frau von selber auf das Thema zu sprechen kam.

»Ich kann mir kein Motiv denken«, sagte Laura Bruggisser, doch Stauffer glaubte eine Unsicherheit herauszuhören.

»Sie lebten harmonisch zusammen?«

Stauffer staunte über Lochers Frage. Sie kommt auf den Punkt, ohne aufdringlich zu werden, dachte er.

»Es ist nicht immer einfach«, sagte Laura Bruggisser und wandte sich jetzt ganz Locher zu.

»Kinder sind nie einfach«, sagte Locher lächelnd. Wieso Kinder? Stauffer runzelte die Stirn. Eine Ehe ist nicht einfach, da musst du ansetzen. Doch er schwieg, als er sah, dass sich Laura Bruggissers Gesichtszüge entspannten.

»Sie ist sehr fordernd. Sehr aktiv. Sie will alles wissen und alles ausprobieren.«

»War ihr Mann oft außer Haus?«

»Er war immer da, wenn ich ihn brauchte. Aber die Arbeit war ihm sehr wichtig. Er wollte weiterkommen. Er hat ein Darlehen aufgenommen, damit wir uns dieses Haus leisten können. Er wollte, dass wir glücklich sind.«

Eine Frau, ein Kind, ein Haus, eine Karriere. Die simple Formel für ewiges Glück.

»Ihr Mann hat Schulden gemacht?«, fragte Stauffer.

»Ein Darlehen bei einem Onkel.«

Locher schaute Stauffer vorwurfsvoll an. Er hatte ihre Strategie durchkreuzt. Er entschuldigte sich, in dem er die Hand leicht hob.

»Haben Sie ihrem Mann vertraut?«

Ein Fragezeichen mitten ins Herz. Die beiden Frauen sahen sich einen Moment wortlos an. Laura Bruggisser nickte schließlich. Langsam, dann schneller.

»Ich muss Sie das jetzt fragen«, sagte Locher, ohne die Frage tatsächlich auszusprechen. Laura Bruggisser nickte, schüttelte dann aber bestimmt den Kopf.

»Es gibt keinen anderen Mann«, sagte sie. »Und ich glaube nicht, dass er mich betrogen hat. Wir hatten Probleme. Wie alle anderen auch. Es ging alles so schnell.«

Sie senkte den Kopf und zündete sich wieder eine Zigarette an. Stauffer ahnte, dass die Frau an die Grenze ihrer Belastbarkeit gekommen war. Ein kurzer Seitenblick zeigte ihm, dass Locher ähnlich dachte. Betont sachlich erkundigte er sich nach dem Arbeitsort von Stefan Bruggisser, nach Freunden, Verwandten und dem Namen des Onkels. Locher notierte sich die Angaben und fragte abschließend, ob Laura Bruggisser Hilfe benötigte.

»Meine Eltern sind unterwegs. Sie holen mich und die Kleine zu sich.«

»Und die Eltern Ihres Mannes?«

»Sie leben in Spanien. Werden Sie sie benachrichtigen?« Stauffer nickte und stand auf.

6

Vor dem Haus blieben sie stehen. Laura Bruggisser hatte ihnen einen Schlüssel ausgehändigt. Sie wollte die nächsten Tage nicht in dem Haus bleiben, vielleicht wollte sie überhaupt nicht mehr in dem Haus leben, was Stauffer durchaus verstehen konnte. Vor der Garage stand ein schwarzer Audi, gepflegt, neben dem Wagen ein Eimer voll Wasser. Auch das gehörte offenbar zur samstäglichen Routine des Stefan Bruggisser. Joggen und danach den Wagen waschen.

»Männer und ihr Auto«, sagte Locher.

»Was sagt uns das?«, fragte Stauffer und zeigte auf den Wagen. »Sieht ziemlich neu aus. Und teuer. Wie ich das verstanden habe, hatte Bruggisser einen guten Job bei der Bank, aber keinen sehr guten. Er hat Schulden gemacht.«

»Die halbe Welt lebt auf Pump«, sagte Stauffer.

»Du auch?«

Er dachte an sein altes Häuschen und an das Darlehen, ohne das er sich das Haus niemals hätte leisten können.

»Es gibt verschiedene Arten, sich zu verschulden. Für ein Haus, für Luxus, für Frauen, fürs Spielen.«

»Und für den schönen Schein«, sagte Locher und zeigte in die Umgebung.

»Lass uns etwas trinken gehen. Danach setzen wir uns mit Wenger zusammen.«

Sie gingen schweigend zum Wagen. Beide ließen ein letztes Mal die Umgebung auf sich wirken, schauten noch einmal zum Tatort rauf und zurück zu dem Haus, in dem eine Frau und ein Kind darauf warteten, abgeholt zu werden in eine ungewisse Zukunft.

Stauffer fuhr langsam an den Häusern vorbei. Überall waren jetzt Menschen zu sehen, und Stauffer glaubte in den Gesichtern lesen zu können. Erstaunen, Entsetzen, aber auch Erleichterung darüber, dass der Tod nicht in ihrem Garten, in ihrem Haus zu Besuch war. In den nächsten Tagen und Wochen würden sie das Leben anders sehen, die Sorgen, die kleinen Streitereien, die persönliche Unzufriedenheit. Sie würden sich vornehmen, ihr Leben zu ändern, ihre Einstellung dazu. Doch schon bald würde der Alltag wie ein Schleier alles wieder zudecken, bis zum nächsten Ereignis, dem nächsten Unglück, dem nächsten Tod.

Locher telefonierte mit Wenger, der bereits zu Hause war, sie konnte im Hintergrund das Kind hören. Sie sagte ihm, dass sie sich um drei Uhr auf der Hauptwache treffen würden.

»Nein, nicht auf der Hauptwache«, sagte Stauffer viel zu laut. »Bei mir. Wir treffen uns bei mir zu Hause.«

»Hast du gehört?«, fragte Locher in das Handy, und Stauffer glaubte Wenger lachen zu hören. Was ist daran komisch?, dachte er. Er bog in die Hauptstraße ein und suchte nach einem Café oder Restaurant. Das erste gefiel ihm nicht, weil es miefig aussah, das zweite war eine Pizzeria, die ihm ebenfalls nicht zusagte.

»Was machst du eigentlich, wenn er fragt, ob er die Kleine mitbringen darf?«, fragte Tanja Locher und verstaute ihr Handy.

»Hat er das gefragt?«

»Nein.«

»Gut«, sagte Stauffer.

»Wonach suchst du?«, fragte sie, als sie bemerkte, wie er sich umschaute und dabei ganz langsam auf der Hauptstraße fuhr.

»Gibt es auf dem Land keine Landgasthöfe mehr?«

»Landgasthof? Was ist das?«, fragte Locher lachend. »Löwen, Hirschen, Engel, Kreuz, ganz normale Restaurants. Keine Pizzerien, keine Neonbars.«

»Da vorne. Ein Sternen-Gasthof«, sagte sie und zeigte auf eine Tafel.

»Immerhin«, sagte Stauffer und bog auf den Parkplatz ein.

Als er den Wagen abstellte, sah er, dass der Gasthof spanische Küche anbot.

»Ist doch egal«, sagte Locher. »Oder willst du was essen?« Sie schaute auf die Uhr, es war kurz vor zehn Uhr morgens.

Sie setzten sich an einen der hintersten Tische. Vorne bei der Tür saßen vier Jugendliche bei Orangensaft, zwei Tische dahinter eine alte Frau vor einem Kaffee. Am Fenster saß ein Mann der frühstückte und Zeitung las. Stauffer bestellte sich einen Kaffee, Locher eine Cola. Sie warteten, bis die Getränke serviert wurden, ehe sie sich über den Mordfall unterhielten.

»Wir wissen noch nicht sehr viel«, sagte Stauffer. »Aber in ein paar Stunden werden wir die ersten Erkenntnisse von der Spurensicherung und der Obduktion haben. Jetzt geht es darum, unsere Eindrücke zu ordnen. Was ist uns aufgefallen, was für Fragen stellen sich, was für Gefühle lösen die Tat und die Umstände der Tat aus?«

»Du willst mit mir über Gefühle sprechen?«, fragte Locher grinsend.

»Ja. Ich möchte wissen, was du für Gefühle hast, wenn du an die Tat denkst. Oder an die Frau, das Haus, den Wald.«