Ulrike Herwig

Martha im Gepäck

Roman

Marion von Schröder

 

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Marion von Schröder ist ein Verlag

der Ullstein Buchverlage GmbH

ISBN 978-3-8437-0080-1

© 2011 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

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Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

1 Karen sah aus dem Fenster auf die Straße hinunter, wo ihr Mann Bernd gerade den letzten Koffer in den Van wuchtete und sich zufrieden die Hände rieb. Sie schloss das Fenster und ließ ein letztes Mal ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Die Blumen waren gegossen, der Wohnungsschlüssel bei der Nachbarin Frau Wachowiak. Alles war leidlich aufgeräumt, damit die Wachowiak nicht in Ohnmacht fiel. Das Zimmer ihres Sohnes Mark zugeschlossen, damit die Wachowiak gar nicht erst hineinkonnte. Der Hamster war bei einer Kindergartenfreundin ihrer Tochter Teresa. Die letzte Milch hatte Karen gerade in den Ausguss gekippt, damit sie bei ihrer Rückkehr aus dem Urlaub kein Geruch nach altem Käse erwartete.

Es konnte losgehen.

Sonnenbrillen, Wasserflaschen, Autoatlas von Deutschland und Großbritannien und das nötige Kleingeld hatte Bernd vorn im Auto. Und natürlich seinen heißgeliebten Reiseführer. Wahrscheinlich suchte er darin schon nach einem lauschigen Plätzchen fürs Abendessen. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie in den letzten Wochen die Worte »Dann gönnen wir uns aber mal ein leckeres englisches Roastbeef« aus seinem Mund gehört hatte.

Karen seufzte und ging in den Flur. Ein letzter Blick in den Spiegel, der ihr eine urlaubsreife Bankangestellte Anfang vierzig zeigte, die kastanienbraun gefärbten Haare nachlässig zum Pferdeschwanz zusammengezwirbelt, dazu ein dunkelblaues T-Shirt und hellgraue Dreiviertelhosen. Im Laden hatten sie noch schmeichelhaft ausgesehen, zu Hause verwandelten sie Karen auf heimtückische Weise in eine Art zweibeinigen Kartoffelsack. Egal. Sie fuhren nicht zur Modenschau, sondern in die schottischen Highlands. Der Urlaub würde ihr guttun. Sie hatte ihn jedenfalls dringend nötig.

»Karen!«, rief Bernd ihr unten auf der Straße entgegen, als sie mit einer Kühlbox aus dem Haus trat. »Leg doch mal die Sonnencreme gleich vorne ins Auto, die Sonne sticht ja jetzt schon.«

Die Hitzewelle hatte vor einer Woche begonnen und war mittlerweile völlig außer Kontrolle geraten. Die Leute lagen wie narkotisiert am Badestrand oder suchten erschöpft Zuflucht unter schattigen Bäumen. Glückspilze wie die Thiemes hingegen durften ins herrlich kühle schottische Hochland fahren. Während sich die Deutschen in Dampf auflösten, würde Familie Thieme an frischer, klarer Luft am Loch Ness stehen und Ausschau nach dem Ungeheuer halten – ja, sich am Abend vielleicht sogar eine Jacke anziehen müssen.

»Mama«, rief Teresa aus dem Autofenster. »Hast du mein Schlafschwein?«

Karen hastete wieder hoch in die Wohnung. Wo war das blöde Schwein? Sie kroch auf Knien durch Teresas Zimmer und fand es unter dem Bett. Sie konnte hören, dass Bernd unten kontrollierte Hupsignale entsandte. Sonst kamen sie nie vom Fleck, behauptete er immer. Er musste ja auch nicht jedes Mal in letzter Minute noch irgendwas finden. Karen hetzte wieder runter, vorbei an der alten Frau Zinsler aus dem Erdgeschoss, die gerade ihre Post holte.

»Wo soll’s denn hingehen?«, rief sie neugierig.

»Schottland«, rief Karen zurück und stieg in den Van. Im Rückspiegel erblickte sie Mark, ein verkabeltes Wesen, dem elektronische Geräte wie zusätzliche Körperteile anhafteten. Er hatte etwas aus dem Kofferraum geholt und schleppte sich mit letzter Kraft wieder zum Rücksitz, auf den er sich stumm fallen ließ. Bernd trommelte bereits mit den Fingern aufs Lenkrad.

»Okay«, sagte Karen. »Wir können.« Sie warf im Fahren einen Blick auf ihren Wohnblock, vor dessen Haustüre die Zinsler jetzt stand und ihnen stirnrunzelnd hinterhersah. Wie Bienenwaben, dachte Karen. Die Fenster sind wie Bienenwaben, hinter denen lauter emsige, neugierige Arbeitsbienen lauerten. Irgendwann würden sie hier ausziehen. In ein eigenes Haus. Wenn Bernd sich einen besseren Job gesucht und Karen im Lotto gewonnen hatte, wenn sie nämlich Tante Marthas Erbe … Nein, so etwas sollte sie nicht denken. Das war pietätlos. Tante Martha lebte schließlich noch und wartete wahrscheinlich gerade in diesem Moment auf sie. »Wir müssen nur noch schnell bei Tante Martha vorbei und uns verabschieden«, sagte Karen.

Von dem bisschen Fahren durch die Stadt war das Auto bereits so bullig warm geworden, dass Karens Schenkel an den Ledersitzen festklebten. Nachdem sie zehn Minuten durch die Hitze gegondelt waren, hielten sie vor Tante Marthas Haus. Mit einem schmatzenden Geräusch befreite Karen sich vom Sitz und stieg aus.

»Lass um Gottes willen die Klimaanlage an«, sagte sie zu Bernd. »Ich beeil mich.«

»Das sagst du jedes Mal. Und dann dauert es doch drei Stunden. Ist bei Frauen immer so, wirst du auch noch merken«, sagte Bernd in Richtung Mark. Der reagierte nicht, sondern wackelte nur rhythmisch mit dem Kopf zu den gedämpften Bässen, die aus seinen Kopfhörern wummerten.

Karen verdrehte die Augen. »Ja, ja.« Warum musste Bernd ständig alle so antreiben? Sie waren doch hier nicht auf seiner Baustelle, wo er irgendwelchen Maurern Beine machen musste.

»Nichts ja, ja. Sie ist verrückt und berechnend, und du lässt dich immer wieder von ihr einwickeln.«

»Was soll ich denn machen? Sie ist die Schwester meiner Oma und meine einzige lebende Verwandte, von meiner abwesenden Mutter mal abgesehen!«

»Ach so? Ich wusste gar nicht, dass hier im Auto drei Leichen mit dir rumfahren.«

»Also, Bernd, nun lass das doch, ich …«

»Sind wir schon da?«, unterbrach sie Teresa.

»Nein, mein Schatz. Mama sagt nur schnell Tante Martha Tschüss. Bin gleich wieder zurück«, erwiderte Karen und betrat das dunkle Mietshaus. Drinnen roch es zwar nach altem Kohl, es war aber angenehm kühl. Einen Moment lang erwog sie, sich kurz auf die unterste Treppenstufe zu legen und ihr Gesicht auf die kalte Steintreppe zu pressen, doch dann siegte die Vernunft, und sie ging in den zweiten Stock hinauf. Sie klingelte und setzte eine feierliche, herzliche Miene auf. Die Tür öffnete sich.

»Na, Tante Martha, wollte nur schnell Tschüss sagen, weil wir doch …« Verwirrt hielt sie inne. Tante Martha hatte einen Regenschirm in der Hand, neben ihr stand ein Köfferchen. Sie trug trotz der Hitze einen rotgrün karierten Wollrock, an dem seitlich ein kleines goldenes Glöckchen baumelte. Aus der Wohnung drang Dudelsackmusik.

Eine dunkle Vorahnung überkam Karen. »… zwei Wochen wegfahren«, beendete sie schließlich ihren Satz.

»Eben.« Tante Martha knickste anmutig und griff nach dem Koffer. »Wir fahren weg, du sagst es.«

»Martha … ich weiß nicht, da hast du irgendwas falsch verstanden. Bernd und ich und die Kinder fahren.« Karen schluckte. »Nicht, dass wir dich nicht gern mitnehmen wollen, aber so was muss geplant werden, und dein Arzt …«

»Mein Arzt ist ein Idiot! Der kann sich nicht mal meinen Namen merken. Und wenn du glaubst, dass ihr mich hier einfach alleine lassen könnt, dann hast du dich geschnitten!«

»Aber, Martha, du hast es doch so gemütlich hier.« Karen deutete vage in Richtung Wohnzimmer, das Martha mit selbstgeknüpften Makramee-Deckchen und kitschigen Landschaftsgemälden dekoriert hatte. Sie stutzte. Auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa lag heute eine karierte Decke, die, wenn sie nicht alles täuschte, aus demselben Stoff hergestellt worden war wie Marthas Rock. Schottenkaros.

»Gemütlich findest du es hier also? Kommst du deshalb nur alle vierzehn Tage vorbei?«

»Aber das stimmt doch gar nicht, ich …« Karen brach irritiert ab. Auf dem Tisch stand eine Flasche Whisky. Halbvoll!

»Du trinkst Whisky?«

»Selbstverständlich. Aber jetzt lass uns endlich mal losfahren.«

»Wohin?«, fragte Karen verwirrt.

»Nach Schottland natürlich!«

»Aber, Martha, was willst du denn dort?«

»Das könnte ich dich genauso gut fragen! Da ist es schön. Und kühl. Und vielleicht habe ich ja dort etwas zu erledigen.«

»Du hast in Schottland etwas zu erledigen?«

»Jawohl. Und es ist wichtig!«

»Wichtig.« Karen schluckte. »Trägst du deshalb einen Schottenrock?«

»Du hast es erfasst.«

»Den tragen doch dort nur Männer, Martha. Das hat dir wahrscheinlich noch nie jemand gesagt. Ich weiß, es ist ein bisschen eigenartig, schließlich heißt es Rock, aber …«

»Ich bin nicht blöd«, unterbrach Martha sie. »Natürlich weiß ich, dass ein Schottenrock für Männer gedacht ist. Aber ich bin zufälligerweise der Meinung, dass ich anziehen kann, was ich will. Bin ja schließlich alt genug.« Sie lachte schallend.

»Alt genug«, wiederholte Karen fassungslos.

Martha nickte. »Im Übrigen wollte ich dich auch gerade fragen, was du dir da für seltsame Hosen angezogen hast. Die tragen unheimlich auf. Und wirken so kindisch. Ehrlich gesagt, siehst du damit aus wie Pinocchio.«

Karen schluckte erneut. Ein Schauder überkam sie. Bernd hatte recht: Martha war verrückt. Sie war eindeutig senil, und Karen ließ sich wie eine Idiotin von ihr herumkommandieren, weil sie nicht nein sagen konnte. Warum musste Karen immer alles alleine regeln? Zwar konnte sie jederzeit auf der Arbeit mit einem Lächeln einen Kredit verweigern, aber gegen alte Damen wie Martha kam sie nicht an. Wahrscheinlich, weil Karen hoffte, dass sie dadurch auf mysteriöse Weise Pluspunkte sammeln und als Dank dafür in vierzig Jahren genauso nachsichtig behandelt werden würde. In der Wohnung roch es nach Apotheke. Die Dudelsackmusik hatte aufgehört, stattdessen sang jetzt ein Männerchor von den »bonny, bonny banks of Loch Lomond«. Sie konnte Martha doch nicht einfach mitnehmen. Gab es nicht diese jugendlichen Hippies, die herumfuhren und sich um Alte und Kranke kümmerten? Für wen arbeiteten die? Das Rote Kreuz? Die Grauen Panther? Zögernd griff sie nach dem Handy in ihrer Hosentasche. »Martha«, begann sie wieder leutselig. »Es ist doch nur für zwei Wochen.«

»Das kannst du vergessen!«, sagte Tante Martha. Sie reichte ihr gerade mal bis zum Kinn, Karen konnte die rosa Kopfhaut unter den drahtigen weißen Löckchen durchschimmern sehen. Und doch brach ihr der kalte Angstschweiß aus, als Martha fortfuhr. »Du weißt, wen ich in meinem Testament begünstige, nicht wahr? Dafür erwarte ich auch was. Schöne Sommerreisen zum Beispiel. Sonst werde ich da wohl einiges ändern müssen.«

Das war nicht fair! Tante Marthas Testament war der einzige Lichtblick am desolaten Finanzhimmel der Thiemes. Deswegen kam Karen doch dauernd hierher und kümmerte sich um Martha, kaufte ein, fuhr sie zur Fußpflege und so weiter. Na gut, nicht dauernd, aber ziemlich oft. Doch von gemeinsamen Urlauben war bislang nie die Rede gewesen. Und wer sollte eigentlich die Extrakosten bezahlen? Die Ferienkasse war ohnehin schon ziemlich mager, womit sie wieder beim Thema war. Sie konnte es sich nicht mit Tante Martha verscherzen.

Listig sah diese zu Karen hoch, die kleinen Äuglein kalt und berechnend wie die eines Reptils. »Ich bezahle natürlich meinen Anteil«, sagte sie, als ob sie Karens Gedanken lesen könnte.

Entsetzt betrachtete Karen ihre Großtante, und dann, getrieben von Panik und Eile, rutschte es ihr fast ohne ihr Zutun heraus: »Ja, Herrgott noch mal, dann komm halt mit!«

Augenblicklich verwandelte sich Martha wieder in eine harmlose alte Frau.

»Ja, sag mal, du hast sie wohl nicht mehr alle!«, zischte Bernd, als sie ihm unten auf der Straße im Telegrammstil von Tante Marthas Plänen berichtete. »Die Frau ist über achtzig!«

Karen hob beschwichtigend die Hände. Warum stellte er sich so an? Er hatte ja keine Ahnung, wie störrisch Martha sein konnte.

»Sie ist körperlich total fit«, sagte sie, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob das stimmte.

»Das ist mir scheißegal. Sie ist verrückt, hast du das schon vergessen? Senil! Plemplem!«

Karen zischte jetzt ebenfalls. »Sie streicht mich aus ihrem Testament, Bernd. Was soll ich denn machen?«

Bernd grummelte unzufrieden. »Wie soll denn das gehen? Soll sie etwa mit auf den Ben Nevis steigen, hm? In ihren orthopädischen Schuhen? Mit ihren Herztropfen im Rucksack?«

»Nein, sicher nicht. Dann bleibt sie halt im Hotel und trinkt Tee. Oder Whisky.« Letzteres entfuhr Karen bei der Erinnerung an die Flasche in Marthas Wohnzimmer. »Und außerdem, verrückt oder nicht – sie hat einen Haufen Geld, schon vergessen? Das könnten wir gut gebrauchen. Oder willst du ewig zur Miete wohnen? Außerdem bezahlt sie ihren Anteil.«

»Weißt du das mit dem Haufen Geld denn so genau? Das behauptet sie doch immer nur. Hast du jemals einen Kontoauszug gesehen, hm? Was, wenn das auch nur Hirngespinste sind? Vielleicht sind es ja noch D-Mark, die sie unter ihr Kopfkissen gestopft hat.«

Karen lehnte sich ans Auto. Ihr vor wenigen Stunden angezogenes T-Shirt klebte am Körper. Eine Sekunde lang dachte sie voller Neid an ihre Kollegin Bettina, die heute ebenfalls ihren Urlaub antrat und in eine Wellness-Oase fuhr. Alleine!

»Wann sind wir endlich da?«, fragte Teresa.

Karen gab sich einen Ruck. »Sie kommt mit, oder wir fahren nicht«, beschloss sie.

Bernd gab einen undefinierbaren Laut der Entrüstung von sich und starrte zur anderen Straßenseite. Karen legte Tante Marthas kleines Köfferchen auf all den anderen Krempel im Kofferraum und ging zur Haustür, wo Martha bereits wartete, den aufgespannten Schirm in der Hand. Vorsichtig trippelte sie los. Karen öffnete die Autotür und signalisierte ihrem Sohn, sich auf den dritten Sitz der Rückbank zu verziehen. Mark nahm langsam seine Kopfhörer ab und kehrte nur widerwillig in das Universum seiner Familie zurück.

»Spinnt ihr?«, fragte er.

Bernd blätterte demonstrativ in seinem Reiseführer. »Der Ben Nevis ist der höchste Berg Großbritanniens«, las er vor. »1344 Meter hoch. Seine Besteigung ist für schlecht ausgerüstete Wanderer nicht ungefährlich. Schon so mancher ist im Nebel abgerutscht und in den Tod gestürzt.«

»Hallo, Bernd«, grüßte Martha freundlich. »Dann sei bloß vorsichtig.«

Bernd brummte einen Gruß zurück.

»Teresa kann sowieso nicht auf den Ben Nevis steigen«, wandte Karen ein. »Sie ist erst sechs.«

»Warum hast du einen Schirm, Tante Martha? Es regnet doch gar nicht«, sagte Teresa.

»Das ist ein Sonnenschirm.« Die alte Dame rutschte erstaunlich behände auf den Sitz und brachte einen Schwall des medizinischen Geruchs aus ihrer Wohnung mit ins Auto.

»Na dann, der Thieme-Clan kann los«, verkündete Karen mit aufgesetzter Heiterkeit. »Auf in die herrlichen Highlands!« Sie lachte überschwänglich und als Einzige.

2 Als sie die Autobahn entlangfuhren, breitete sich Tante Marthas Hustensaftgeruch so penetrant im Auto aus, dass Karen gezwungen war, diskret ein Fenster zu öffnen.

Sofort kroch die Hitze wie eine unsichtbare Qualle ins Innere des Autos. Der Lärm draußen machte jetzt jede Unterhaltung unmöglich, aber das war auch gut so, denn es hatte sowieso niemand Lust auf ein Gespräch. Teresa klebte Glitzeraufkleber in ein kleines Album, Bernd starrte konzentriert auf die Fahrbahn, Mark hatte seine Sneakers weggekickt und die Augen geschlossen. Karen konnte im Rückspiegel einen Blick auf Tante Martha werfen, die kühl und trocken wie ein Ast auf ihrem Platz saß. Trotz ihres Wollrocks. Wieso schwitzte die nicht? Das regte Karen auf. Ehrlich gesagt, machte es sie neidisch. Ihr Make-up hatte sich schon halb aufgelöst, und sie waren noch nicht mal in Belgien. Sie hätte sich doch dieses Puderzeug kaufen sollen, von dem Bettina immer so schwärmte. Zugegeben, deren Haut sah auch noch ziemlich gut aus für eine Frau Mitte vierzig. Was aber wahrscheinlich mehr damit zu tun hatte, dass Bettina alleine wohnte und ihre freie Zeit mit Körperpflege, Sauna, gemütlichen Leseabenden und gelegentlichen Dates mit jüngeren Männern verbringen konnte, während Karen damit beschäftigt war, nach der Arbeit den Hamsterkäfig zu reinigen, mit Mark Englisch zu üben (was jedes Mal zum Streit führte), mit Teresa Barbies Cocktailtasche unter dem Klavier zu suchen, Berge von Wäsche zu waschen (allein Marks Sportklamotten waren ein Ganztagsjob), die Familie einigermaßen gesund zu ernähren und dabei trotzdem Bernds Vorliebe für Wurst und Fleisch zu berücksichtigen und sich in der wenigen Freizeit, die ihr blieb, Häuser in Magazinen anzugucken, die sie sich sowieso nie im Leben würden leisten können. Sie sah kurz in den Außenspiegel und wischte die verschmierte Wimperntusche unter den Augen weg. Wozu eigentlich?, dachte sie dann. Es fiel Bernd sowieso nicht auf. Zu ihrer schicken neuen Haarfarbe hatte er ja auch nichts gesagt. Dabei hatte die ein Vermögen gekostet. Erst nachdem sie ihn direkt darauf hingewiesen hatte. Seinen überraschten Gesichtsausdruck hätte sie glatt fotografieren sollen … Manchmal überlegte Karen, ob es ihm auffallen würde, wenn sie plötzlich rote Haare und blaue Punkte im Gesicht hätte, wie das Sams aus Teresas Lieblingsbuch.

Im Rückspiegel erblickte sie Martha, die friedlich zum Fenster rausguckte. Obwohl Karen vor Bernd getan hatte, als sei das alles kein Problem, verspürte sie jetzt doch einen leichten Anflug von Panik. Keine Sekunde Ruhe würden sie im Urlaub haben. Mit alten Leuten war doch dauernd irgendwas. Sie brauchten Schatten, Mittagsschlaf, ungewürztes Essen und was nicht sonst noch alles. In gewisser Weise hatte sie sich gerade ein drittes Kind aufgehalst. Ein viertes, wenn man Bernd mitzählte, denn um den musste sie sich auch immer irgendwie kümmern. Und wie sollte das überhaupt alles gehen? Konnte Martha wirklich den Tag im Hotel verbringen, während sie alle wanderten? Dem Geruch nach zu urteilen, brauchte sie Medikamente. Vielleicht sogar noch diese entsetzlichen Sanitärprodukte? Hatte sie nicht neulich in Marthas Wohnung so etwas herumliegen sehen?

»Ich muss mal Pipi«, meldete sich Teresa. »Und Mark hat Stinkefüße.«

»Mach den Kopf zu«, brummte Mark.

»So redest du nicht mit deiner Schwester, Mark!«, wies Karen ihn zurecht. »Und zieh deine Schuhe wieder an.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Martha interessiert.

Mark gab ein amüsiertes Grunzen von sich. »Sie soll die Klappe halten«, erklärte er dann aber. »Sie nervt.«

»Mark!« Karen fuhr energisch herum.

»Letzter Halt vor Belgien kommt in drei Kilometern«, verkündete Bernd in diesem Moment.

Wenig später fuhren sie auf den Parkplatz der Raststätte.

Bernd fand eine Lücke direkt vor dem Restaurant. Doch beim Aussteigen schlug Tante Martha die Autotür an einen dicht daneben geparkten BMW. Der korpulente Besitzer kroch wie ein zorniger Hirschkäfer aus seinem Panzer und fing an zu brüllen.

»Ja, ham Sie denn keine Augen im Kopf! Da muss man doch mal aufpassen! Der ganze Lack ist zerkratzt!«

»Es ist nichts zerkratzt«, erwiderte Bernd freundlich.

»Na freilich! Gucken Sie doch mal richtig hin!«

»Entschuldigung«, sagte Karen mit hochrotem Kopf. »Unsere Tante ist über achtzig und kommt nicht mehr so einfach aus dem Auto raus.« Was war das denn für ein cholerischer Typ? Ein bisschen erinnerte er sie an ihren Chef in der Bank, den launischen Dr. Albrecht.

»Davon kann ich mir auch nichts kaufen«, meckerte der Mann und sah sie wütend an. Schweißflecken breiteten sich in bizarren Mustern unter seinen Armen aus.

»Es tut uns leid«, gab Bernd zurück. »Aber ich kann wirklich nichts sehen.«

»Ja, sind Sie denn blind? Ich …« Der Mann setzte zu einer neuen Beschwerde an, wurde aber überraschend von Tante Martha unterbrochen.

»Mach den Kopf zu, du nervst«, sagte die alte Dame.

Der aufgebrachte Mann sackte in sich zusammen und schüttelte verwirrt den Kopf, wie jemand, dem gerade ein Ufo an der Nase vorbeigeflogen war. Da niemand etwas sagte, glaubte er schließlich selbst, dass diese Bemerkung unmöglich dem altersschwachen kleinen Mund der greisen Frau entschlüpft sein konnte, und stieg wie ferngesteuert wieder in sein Auto ein.

»Auf Wiedersehen«, sagte Bernd höflich.

Der Mann warf ihnen einen letzten ängstlichen Blick zu und startete das Auto.

Mark musterte seine Familie mit neuerwachtem Interesse.

Diese kleine Episode hatte die Stimmung erheblich verbessert, und obwohl sich immer noch niemand dazu äußerte, gab es doch erste Anzeichen der Entspannung. Als sie auf der Fähre nach Dover einen ungenießbaren Kaffee tranken, beschwerte Bernd sich nicht mehr über den neuen Fahrgast, sondern kicherte nur immer wieder leise in sich hinein. Mark hatte seine Ohren entstöpselt, denn was immer man auch von dieser Reise halten mochte, so schien es sich doch zu lohnen, nichts zu verpassen. Tante Martha marschierte zu Karens unendlicher Erleichterung völlig selbstständig auf die Toilette und bahnte sich wie eine eingeschrumpfte Mary Poppins mit ihrem Regenschirm den Weg.

»Na, siehst du«, meinte sie zu Bernd. »Das wird schon.« Sie folgte der alten Frau mit ihren Blicken. Absolut bizarr, wie sie den Mann auf dem Parkplatz zusammengestaucht hatte. Eigentlich beneidenswert. Oder einfach nur ein Anzeichen von Demenz? War es ihr egal, was die Leute von ihr dachten, weil sie es sowieso nicht mehr mitbekam? Obwohl, von diesem Punkt aus betrachtet, litt Dr. Albrecht mit seinen fünfunddreißig Jahren ebenfalls an Demenz. Martha verschwand um die Ecke.

»Aber was hat das eigentlich zu bedeuten – sie hat in Schottland was zu erledigen?«, fragte Bernd, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden.

Karen zuckte mit den Schultern. Sie hatte keinen blassen Schimmer. Martha hatte nicht mal in Köln was zu erledigen, sie verließ ja kaum das Haus.

»Na, dass Tante Martha total balla balla ist«, meinte Mark. »Einfach völlig verpeilt.« Das Kabel seines weißen Ohrsteckers schlängelte sich am Hals herunter.

»Sag das nicht so. Das ist respektlos«, wies Karen ihn zurecht.

»Aber wahr. Hast du vergessen, wie sie Tommy mal ihre Krücke in die Eier gerammt hat, als wir sie besuchen mussten?«

Karen verzog den Mund. »Mark! Sie ist ausgerutscht, weil sie ein Gipsbein hatte, und ist mit der Krücke ein bisschen an ihn … rangekommen. Und außerdem hat er in ihren Sachen herumgewühlt. Das macht man ja auch nicht.« Mit der Krücke an ihn rangekommen … Das war die Untertreibung des Jahrzehnts. Karen wurde es immer noch ganz flau im Magen bei der Erinnerung an diesen unschönen Vorfall. Tante Martha hatte eiskalt zugeschlagen. Die Eltern von Marks Kumpel Tommy waren damals kurz davor gewesen, Tante Martha anzuzeigen. Aber eigentlich fand Karen, dass dieses verwöhnte Balg nur bekommen hatte, was es verdiente. Wenn man seinem Kind mit neun Jahren einen eigenen Laptop schenkte, brauchte man sich eben nicht zu wundern.

»Tante Martha ist nett«, sagte Teresa. »Sie kann auch ganz toll singen.«

»Ach?«, sagte Karen schwach. »Kann sie das?«

»Ja. Von einer Seefahrt, die lustig ist und wo man nackte Weiber in der Badewanne sehen kann.«

»Na klasse«, murmelte Karen.

»Vielleicht singt sie es dir mal vor, Mama.«

»Vielleicht.« Karen schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass dies nie der Fall sein würde.

Die Fähre brachte keine Abkühlung. Ganz im Gegenteil – die Hitze hatte mittlerweile ein geradezu infernalisches Ausmaß erreicht. Die Passagiere lagen schlaff wie Opfer einer tropischen Epidemie auf dem ganzen Schiff herum und ließen immer mehr Hüllen fallen.

»Heatwave to continue«, verkündete eine britische Tageszeitung.

»In Schottland ist es kühl, das verspreche ich euch«, tat Bernd feierlich kund, als sie etwas später einen Platz in der plüschigen Bar ergattert hatten.

»Wann sind wir denn endlich da?«, quengelte Teresa. Sie war kurz eingenickt und gerade mit verschwitzten Haaren wieder aufgewacht.

Karen strich ihr eine Strähne aus dem runden Kindergesicht. »Noch ein paar Stunden. In einigen Tagen kannst du vielleicht schon Nessie, das Ungeheuer, sehen.«

»Na klar«, meldete sich Mark aus einer Ecke, wo er sich besseren Handyempfang erhoffte. »Und die Erde ist eine Scheibe.«

»Nun hör aber mal auf«, sagte Karen verärgert.

»Ich habe Nessie mal gesehen«, erklärte Tante Martha, die unvermutet hinzugetreten war. Ihr Schottenrock sah immer noch aus wie frisch gestärkt.

»Wie bitte?« Die Thiemes starrten sie entgeistert an. Mark begann laut zu lachen.

»Wann warst du denn in Schottland?«, fragte Karen.

»Vor langer Zeit«, erwiderte Tante Martha vage. »Kommt jemand mit aufs Oberdeck?«

Bernd warf Karen einen »Hab ich’s dir nicht gesagt«-Blick zu. Die eben noch entspannte Atmosphäre schien sich durch die offensichtliche Vernebelung in Marthas Gehirn wieder anzuspannen.

»Ich komme mit«, sagte Karen entschlossen und fürsorglich.

»Ich auch«, meinte Bernd.

Tante Marthas Regenschirm weckte den Neid aller Passagiere, die sich in Scharen auf dem Oberdeck drängten und sich vom Fahrtwind ein wenig Erfrischung erhofften. Die Sonne knallte erbarmungslos auf die Köpfe, und mehrmals wurde Tante Martha von wildfremden Menschen gelobt, dass sie an einen Sonnenschirm gedacht hatte.

»Great idea, that umbrella«, bemerkte eine Engländerin, die in einem weißen Hängekleid an der Brüstung stand, die Arme zum Auslüften vorgestreckt wie eine viktorianische Schlafwandlerin. Nur, dass sie noch ein Glas Gin Tonic in der Hand hielt. Am Horizont zeichneten sich bereits die Kreidefelsen von Dover ab. Eine Möwe hatte sich auf dem Geländer der Fähre niedergelassen und rückte erst zur Seite, als Karen hinzutrat. Irgendwie erinnerte sie der störrische Vogel an Tante Martha.

»Sie sagen es, die Dame macht es richtig.« Ein Mann mit norddeutschem Akzent war stehen geblieben und blickte neidisch auf Marthas Schirm.

Die Tatsache, dass Tante Marthas Narretei auf einmal gesellschaftliche Huldigung erfuhr, brachte Karen erneut ins Grübeln, ob die alte Frau einfach nur harmlos und rührend oder, wie Bernd ja immer behauptete, vielleicht doch komplett übergeschnappt war.

»Was für eine verdammte Hitze. Wenn wir erst mal bei Nessie sind, ist es garantiert kühler.« Karen schielte kurz zu Tante Martha hinüber, um zu prüfen, inwiefern die Erwähnung von Nessie einen erneuten geistigen Aussetzer provozieren würde. Aber Tante Martha schwieg und fächelte sich Luft zu.

Karen atmete auf. Vielleicht verlief die Reise ja doch noch in den erholsamen, entspannenden und mit kleinen landschaftlichen Reizen durchsetzten Bahnen, die ihr seit Monaten vorschwebten. Der Gedanke an den Urlaub hatte sie nervende Kunden, nervende Kollegen und ihren nervenden Chef ertragen lassen, mitsamt den nervenden Selbstbeurteilungen, die er ihnen alle paar Monate aufdrückte. Wie tragen Sie persönlich zum Wohl der Bank bei, Frau Thieme? Indem ich nicht so ein Idiot bin wie Sie, Dr. Albrecht. – Wo sehen Sie sich in fünf Jahren, Frau Thieme? Hoffentlich nicht hier, Dr. Albrecht, sondern in meinem luxuriösen Haus am Rande der Stadt, wo ich in meiner eigenen Sauna sitze, zehn Kilo abgenommen habe und mit einem Glas Sekt anstoße. Mit … Mike. Karen biss sich auf die Lippe. Dabei hatte sie doch nur gedacht. Denken war ja wohl erlaubt. Bernd saß ihr gegenüber und las zum zehnten Mal die Speisekarte des Fähren-Cafés. Er sah nicht mal hoch. Natürlich nicht. Spiegeleier mit Speck waren ja auch wichtiger. Mike dagegen … Der Gedanke an ihren witzigen und charmanten Kollegen ließ Karen keine Ruhe. Neulich waren sie mal zusammen in der Mittagspause einen Kaffee trinken gegangen. Er hatte ihr die Tür aufgehalten und ihren Rock gelobt. Und natürlich hatte Mike ihre neue Haarfarbe bemerkt, ohne dass sie ihn darauf hinweisen musste. Bernd sah plötzlich auf. Karen fühlte sich ertappt. Er war ja ein netter Kerl, nur so … unaufregend. Und in letzter Zeit ließ er sich so gehen. Sein Polohemd spannte ganz schön über dem Bauch. Dann schämte sie sich. Wer im Glashaus saß, sollte nicht mit Steinen werfen. Erst neulich hatte Mark ein Babyfoto von sich selbst angesehen und seine eigene Mutter darauf nicht erkannt. »Bist du das? Die dünne Frau da bist du? Echt?«

Karen seufzte. Sie sollte den Urlaub dazu nutzen, Bernd wieder näherzukommen. Zeit mit der Familie zu verbringen. Zu relaxen. In Edinburghs Läden nach ein paar schicken Sachen zu stöbern. Vielleicht gab es ja in den Highlands auch eine Wellness-Oase. Mit Heidekrautpackung und Highlander-Massage. Wandern und dabei magisch abnehmen. Raue und gewaltige Natur erleben. Die Kinder glücklich auf den Spuren von Harry Potter. Tante Martha glücklich bei … Ja, wobei eigentlich? Was hatte sie bloß in Schottland vor? Karen merkte, wie sie wieder unruhig wurde. Wo war Martha? Karen drehte sich um. Da! Martha ließ gerade ihren Schottenrock von zwei genauso alten Frauen bewundern. Drehte eine kleine Pirouette!

»Und trägt man denn da nun was drunter?«, hörte sie die eine fragen. Die drei lachten meckernd, und Martha lüpfte ihren Rock. Oh Gott! Karen wandte sich ab. Sie wollte das nicht wissen. Sie wollte das nicht sehen!

»Voll krass«, sagte Mark neben ihr. Ein klickendes Geräusch erklang. »Das muss auf YouTube.«

3 Der Hafen in Dover war offenbar von Sadisten konzipiert worden, die mittlerweile irgendwo bei einer Tasse Tee in einem Büro saßen und unter brüllendem Gelächter das irrwitzige Treiben auf einem Monitor beobachteten. Bernd fuhr nun schon die dritte Runde im Kreisverkehr herum.

»Die erste Ausfahrt müssen wir nehmen, wie oft soll ich es dir noch sagen«, erklärte Karen. Warum hörte er nur nicht auf sie?

»Die erste Ausfahrt geht nach Dover rein. Wollen wir vielleicht nach Dover? Nein, wir wollen nach Schottland.« Bernd lehnte sich wie ein Rennfahrer nach rechts.

»Das macht Spaß, Papa!«, jubelte Teresa.

»Diese blöden Schilder kann doch kein Mensch so schnell lesen«, schimpfte Bernd.

»Ich kann sie lesen«, sagte Karen so gelassen wie möglich. »Deswegen sage ich dir doch die ganze Zeit, dass wir die erste Ausfahrt nehmen müssen.« Am liebsten hätte sie ihm ins Lenkrad gegriffen, zwang sich aber, ruhig zu bleiben. Es war jedes Mal dasselbe, wenn sie zusammen irgendwohin fuhren. Männer waren so stur, so sinnlos dickköpfig und von dem prähistorischen Wahn besessen, sich besser orientieren zu können. Wenn Karen nicht wusste, wo es langging, dann hielt sie an und fragte jemanden, ganz einfach. Für Bernd war das ein Zeichen von Schwäche. »Als wir Höhlenmenschen waren, haben wir auch keinen nach dem Weg gefragt«, behauptete er immer. »Es liegt in unserer Natur, uns orientieren zu müssen. Das dürfen wir nicht verlernen.« Er guckte eindeutig zu oft Ausgesetzt in der Wildnis auf dem Discovery Channel. Er konnte ihr stundenlang erklären, welche Baumrinden im Dschungel essbar waren und wie man mit zwei Steinen ein Feuer entfachen konnte. Das war ja auch überlebenswichtig in Köln.

Bernd wurde immer langsamer. Jemand hupte hinter ihnen. »Ja, ja, ist ja gut. Man wird doch wohl noch im Kreis herumfahren dürfen.« Er fluchte leise.

»Da!«, schrie Martha so unvermittelt, dass Bernd vor lauter Schreck in die zweite Ausfahrt einbog.

»Mensch, Martha, mach das bitte nicht noch mal. Da kann ganz schnell ein Unfall passieren, und außerdem weiß ich jetzt erst recht nicht, wo wir sind, jetzt fahren wir nach …« Er duckte sich, um ein über ihm hängendes Schild an der Ampel zu lesen.

»Nach Norden«, sagte Karen.

»Nach … also was?«

»Norden. Schottland liegt ja im Norden, oder etwa nicht?« Karen grinste.

»Sag ich doch. Nach Norden müssen wir«, brummelte Bernd.

Durch den Spiegel in der Sonnenblende warf Karen einen amüsierten Blick auf Tante Martha. Hatte die doch tatsächlich rein zufällig die richtige Ausfahrt erwischt. Karen hätte schwören können, dass die erste Ausfahrt die richtige gewesen wäre. Nun ja. In diesem Moment bremste Bernd scharf, um nicht auf einen Wagen mit französischem Kennzeichen aufzufahren.

»Wenn du willst, kann ich auch mal ans Steuer«, bot Karen an.

»Oder ich«, ließ Tante Martha von hinten verlauten.

»Lieber nicht«, rutschte es Bernd und Karen gleichzeitig raus.

»Meine Güte, wo bleibt euer Humor«, sagte Tante Martha. »Glaubt ihr wirklich, dass ich Lust darauf habe, auf der falschen Straßenseite zu fahren?«

»Für die Engländer ist es die richtige Seite.« Bernd hielt an der nächsten Ampel an. »Aber mit dem Linksverkehr ist nicht zu spaßen, da hast du recht. Da muss man sich erst mal dran gewöhnen.«

»Du musst dich doch auch erst dran gewöhnen.« Karen schnaubte belustigt. Glaubten Männer eigentlich, dass sie eine Spezialabteilung für Straßenverkehr im Großhirn hatten und Frauen nicht? »Du willst nicht, dass ich fahre – das ist es, nicht wahr?«

Bernd gab einen undefinierbaren Laut von sich.

Sie hatte ins Schwarze getroffen, natürlich. Nach fünfzehn Jahren Ehe war er für sie schließlich ein offenes Buch. Sie wusste, was er dachte: Ja, ich will nicht, dass du fährst, denn du fährst so ruckartig, mal zu schnell und mal zu langsam, was mir egal ist, wenn du zu Hause in deinem Mini herumschrammelst, aber das hier ist mein Van, auch wenn er jetzt leider als Familienauto herhalten muss. Dabei war Bernd derjenige, der vor einem Jahr einen Unfall verursacht hatte. Karens Führerschein hingegen war jungfräulich rein und makellos.

»Wenn wir aus diesem Labyrinth hier raus sind, vielleicht«, lenkte Bernd jetzt ein. »Du siehst ja selbst, dass es nicht so einfach ist, die Schilder zu entziffern.«

»Aber Tante Martha kann das«, sagte Teresa.

Darauf wussten weder Bernd noch Karen etwas zu erwidern, und so fuhren sie eine Weile lang stumm weiter – vorbei an Industriekomplexen und Supermärkten, an roten Telefonzellen und Briefkästen und an weißen Häusern mit rotbraunen Dächern.

»Ich habe Hunger«, machte Martha sich nach einer Weile bemerkbar. »Mein Blutzuckerspiegel sinkt, wenn ich nicht bald was esse. Und außerdem wird es langsam dunkel.«

»Unsere erste Übernachtung ist im Woodland House, in ungefähr 30 Meilen. Das schaffen wir locker, wir liegen ganz gut in der Zeit.« Bernd warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr.

»Ich brauch aber auch was zu futtern. Die Salzbrezeln sind alle, und die matschigen Bananen hier will ich nicht.« Mark hielt etwas Braunes hoch und verzog das Gesicht.

»Und ich muss mal«, sagte Karen. »Wer weiß, ob wir im Woodland House was bekommen. Lass uns doch mal irgendwo anhalten.«

Bernd kämpfte sichtlich mit sich selbst. »Also gut, wir machen eine Pause und essen was«, stimmte er dann zu. »So ein feines englisches Roastbeef, das wäre doch jetzt das Richtige. In so einem urigen Pub mit zweiundvierzig Sorten Bier.« Er leckte sich die Lippen. »Vielleicht was Historisches, wo Heinrich der Achte schon eingekehrt ist. Soll ich mal im Reiseführer nachsehen?«

»Ach, wir finden schon was«, sagte Karen schnell. Bloß nicht der Reiseführer. Nachher stellte sich noch raus, dass hier in der Nähe irgendein Keltengrab zu finden war, und sie würden in der Abenddämmerung bewundernd um einen Haufen Steine herumstehen müssen.

»Na gut. Dann lassen wir uns eben überraschen«, sagte Bernd.

Das urige Pub ließ auf sich warten. Die Sonne färbte den Himmel blutrot und vermischte ihre letzten flimmernden Strahlen mit dem Staub der Landstraße zu einem undurchdringlichen Dunst. Sie fuhren durch eine Art Waldstück, und Karen bemerkte, dass Bernd sich immer öfter wie eine kurzsichtige Eule nach vorn beugte und die Augen zusammenkniff. Total übermüdet. Auf gar keinen Fall würde sie ihn nach der Pause wieder ans Steuer lassen. Plötzlich nahm sie vor sich einen Schatten wahr, es gab einen Knall, und ein harter Aufprall brachte das Auto ins Schlittern. Es drehte sich wie auf Rollschuhen nach rechts, und Bernd stemmte sein gesamtes Körpergewicht auf die Bremse. Es war erneut ein dumpfer Schlag zu hören, dann kam das Auto quietschend in einer Staubwolke zum Stehen.

»Oh, mein Gott!«, rief Karen und presste die Hände vors Gesicht.

»Shit«, fluchte Bernd.

Karen drehte sich um. »Seid ihr alle in Ordnung?«

Teresa hatte die Augen weit aufgerissen, Mark nickte und war kreidebleich. Tante Martha zitterte am ganzen Körper, nickte aber auch.

»Was war das?«, fragte Mark. »Hast du jemanden überfahren?«

Tante Martha öffnete ihr Fenster. »Ein Reh«, sagte sie. »Ein Reh ist uns vors Auto gelaufen.«

Teresa fing an zu schluchzen, und Mark tätschelte ihr unbeholfen den Arm. Bernd stieg aus.

Neben dem Auto lag ein riesiges Reh, unter dem sich eine kleine Blutlache bildete.

»Das arme Reh«, stieß Teresa zwischen zwei Schluchzern hervor. »Du sollst Tieren nicht weh tun!«

»Blödes Vieh«, sagte Mark. »Ist es tot?«

»Natürlich ist es tot.« Karen stieg ebenfalls aus. »Wir sollten es von der Straße ziehen«, meinte sie zu Bernd, der den Schaden am Auto inspizierte.

»So ein Mist«, fluchte Bernd. Die Motorhaube hatte eine Delle, und Lampensplitter lagen auf dem Boden.

»Müssen wir den Unfall melden?«, fragte Karen unsicher. »Ist das …« Sie zögerte. »Ist das irgendwie strafbar?« Das fehlte ihr gerade noch zu ihrem Glück, verschwitzt, staubig und hungrig auf einem englischen Polizeirevier herumsitzen und sich gegen eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung verteidigen zu müssen.

»Keine Ahnung«, sagte Bernd und beugte sich über das Reh. Auf einmal machte das totgeglaubte Tier einen Satz und versetzte Bernd einen Tritt an die Schulter. Mit einem Aufschrei fiel er zu Boden, wo das Reh, strauchelnd und in Todesangst, nach allen Seiten trat und strampelte. Bernd versuchte, sich zur Seite zu rollen, und Karen streckte sinnloserweise ihre Hand aus. Sie stand viel zu weit weg, fühlte sich wie gelähmt, wie versteinert, zum hilflosen Zusehen verdonnert.

»Bernd!«, rief sie. In diesem Moment nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, wie Tante Martha in der offenen Kühlbox neben sich nach einer vollen Glasflasche griff und sie in Richtung Reh warf. Die Flasche zerschmetterte am Kopf des Tieres, und es sackte tot in sich zusammen.

Bernd lag neben dem Auto auf dem Bauch und sah sich verwundert um. Karen und Mark starrten Martha sprachlos an.

»Sie hat es gekillt. Ich fasse es nicht«, flüsterte Mark. »Das muss ich gleich Tommy simsen.«

»Alles in Ordnung, Bernd?« Karen ging auf ihn zu. Vergessen war ihre Wut über das Theater am Steuer, über seine Fresssucht und die Tatsache, dass es gefühlte drei Jahre her war, seit er ihr das letzte Mal ein Kompliment gemacht hatte. Da war nur noch ihr Bernd, der blutverschmiert auf dem Boden lag. »Hast du dich verletzt?«

»Geht schon, geht schon.« Bernd rappelte sich hoch und hielt sich dabei den Arm. Er verzog schmerzhaft das Gesicht.

»Ist dein Arm etwa gebrochen?«

»Nee, nur verstaucht, glaube ich.«

»Armes kleines Reh.« Teresa näherte sich dem leblosen braunen Tier.

»Weg da!« Karen hielt sie zurück. »Mark, du hilfst mir, es von der Straße zu ziehen. Martha?« Sie sah sich um. Martha rieb sich gerade Hände und Gesicht mit einem Erfrischungstuch ab. »Martha, du bleibst mit Teresa auf der Rückbank. Das Kind hat schon genug gesehen.«

»Aber das arme Reh.« Teresa stampfte trotzig mit dem Fuß auf. In ihren Augen schimmerten immer noch Tränen, und ihre Zöpfchen lösten sich auf.