Titel
Prolog
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Impressum
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Beate Bauer
Prolog
»Wer etwas über das Schicksal der Dämonen erfahren will, der muss diese Prophezeiungen zurate ziehen …
… weil Magie wieder zu einer Bedrohung geworden ist, weil der Friede des Dämons nach Wahnsinn giert …
Wir müssen stärker werden mit der Zeit. In Zeiten der Rebellion von Erde und Himmel, wenn Feuer und Wasser die Länder verwüsten werden, wird der Älteste unter uns sich eine Gemahlin nehmen, und das erste Kind des Elements Raum wird geboren werden, Spielkamerad vom ersten Kind der Zeit, das den Vollstreckern geboren wurde …«
Auszüge aus
Die verlorene Prophezeiung der Dämonen
»Kes … was machst du?«
»Mir die Haare waschen, was sonst«, kam leise die beißende Antwort über die knisternde Verbindung. »Was denkst du denn?«
Jim kicherte leise, bevor er das Mikro seines schnurlosen Headsets berührte, nur um sie mit dem Lärm zu ärgern. »Ich meine, ich wollte wissen, in welchem Raum du bist«, erklärte er.
»Im Billardzimmer«, sagte sie, »mit einem ungewöhnlich schweren Kerzenhalter in der Hand.« Sie hielt inne, und Jim konnte sie über die Verbindung leise grummeln hören. Er beugte sich in seinem Stuhl ein wenig vor, um auf seinen Computermonitor zu starren. »Ich bin im Maschinenraum. Wo sollte ich denn sonst sein?«
»In Ordnung.«
Wieder entstand eine Pause, die von leisem Knistern erfüllt war.
»Warum fragst du eigentlich?«, wollte sie wissen.
»Ach, nur so. Ich habe nur diesen riesigen roten Klecks auf meinem Infrarotbildschirm, der verdächtig nach einem Wachmann aussieht und in deine Richtung geht«, teilte er ihr mit und ließ übers Mikrofon seinen Kaugummi in ihr Ohr knallen.
Kestra fluchte mit zusammengebissenen Zähnen, blickte sich aufmerksam suchend um und wandte dann ihr Gesicht ganz instinktiv nach oben. Nach kurzer Berechnung schlich sie hastig durch den großen Maschinenraum direkt auf eine der Kühlturbinen zu. Sie nahm Anlauf und sprang auf den Rand der Anlage und setzte mit ihrer geschmeidigen dunklen Gestalt zum Sprung an.
Es gab ein klingendes Geräusch, als ihre Hände gerade noch zwei Rohre zu fassen bekamen, die nebeneinander an der hohen Decke verliefen. Augenblicklich begann sie hin und her zu schaukeln, bis sie ihre Beine über die Rohrleitungen schwingen konnte. Ohne ein weiteres Geräusch zu machen, zog sie sich in der Dunkelheit an den eng stehenden Rohren hoch. Sie streckte sich darauf aus, als wäre es eine bequeme Baumwollhängematte und nicht lange Leitungen, die sich heiß und kalt an ihren Körper schmiegten.
Sobald sie sich in der Dunkelheit an einem Platz in Sicherheit gebracht hatte, wo neun von zehn privaten Sicherheitskräften nicht nachschauen würden, blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten. Sie hielt den Ohrstöpsel in ihrem Ohr mit der Hand zu, weil sie nicht wollte, dass Jim oder ein zufälliges Knistern verriet, wo sie sich befand.
Der Wachmann ließ nicht lange auf sich warten. Kes rollte kurz die geschlossenen Augen bei dem Gedanken, dass Jim seine halbherzige Warnung ziemlich knapp an sie abgesetzt hatte.
Der Wachmann hatte keinen Grund, sein Kommen zu verbergen, weshalb sie seine Schritte von dem Moment an hören konnte, als er das Treppenhaus betrat, das zu dem Raum führte. Die Tür schwang geräuschvoll auf und fiel wieder zu, als der Wachmann den metallenen Türgriff losließ. Trotz des Lärms sorgte Kestra dafür, dass ihr Atem nie lauter war als ein kaum hörbares Flüstern.
Der Wachmann stampfte über den Betonboden geradeaus an den Turbinen auf der einen Seite und an den Wasserboilern auf der anderen vorbei. Er knipste eine Taschenlampe an und schwenkte den Lichtkegel durch den dunklen Raum. Kestra schloss einen Moment die Augen und betete zu dem Teil des Universums, welcher immer das auch war, der Leute wie sie beschützte. Dann suchte sie den herannahenden Mann aufmerksam nach Anzeichen dafür ab, ob er die winzigen grünen Lichter an der Unterseite der Hälfte der Gasboiler bemerkte, die dort ganz bestimmt nicht hingehörten.
Doch nein. Er ging zur gegenüberliegenden Wand, drehte sich um und ging denselben Weg wieder zurück. Zweimal ging er in einem Abstand von nur dreißig Zentimetern an ihr vorbei, doch er blickte nicht nach oben. Mit einem geräuschvollen Knall verschwand er hinter der Kellertür, und seine schweren Schritte hallten wider, als er die Treppe hinaufstieg.
Kestra seufzte erleichtert auf. Nachdem sie sicher war, dass sich der Wachmann weit genug entfernt hatte und bestimmt so bald nicht zurückkommen würde, zwängte sie sich aus ihrem provisorischen Versteck hervor. Sie legte ihre Unterarme auf zwei schmale Rohre, und indem sie diese wie zwei parallele Holmen benutzte, schwang sie die Beine herunter. Sie ließ los, machte einen Überschlag und landete sicher auf dem staubigen Boden des Lagerhauses.
Sie widerstand der Gewohnheit, eine Verbeugung zu machen wie ein Turner, und wischte sich über die schweißbedeckte Stirn, wobei sie Staub und Schmutz von den Rohren darauf verschmierte, und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf ihr Kommunikationssystem und ihren besserwisserischen Partner.
»Danke für die Warnung, James«, sagte sie mit unterdrückter Wut.
»Gern geschehen.« Er versuchte frech zu klingen, doch sie spürte, dass er froh war, ihre Stimme zu hören.
»James, hast du nicht gesagt, dass da niemand auf dem Grundstück ist?«, fauchte sie.
Jim fuhr zusammen, weil ihm augenblicklich klar wurde, dass er wegen dieser Fehlinformation eine Menge Ärger bekommen würde. »Sollte es jedenfalls nicht. Der Typ steht nicht auf dem Dienstplan. Ich sag dir Bescheid, wenn er zum nächsten Gebäude geht.«
»Das reicht nicht. Ich will ihn ganz aus meiner Umgebung raushaben.«
»Wie soll ich das anstellen? Ihn kidnappen?«
»Ich hab eine Idee«, erwiderte sie und kniete sich vor die Turbine, dank derer der Wachmann sie nicht bemerkt hatte. Sie schnallte ihren Rucksack ab und holte ihre letzten beiden rechteckigen Päckchen heraus.
Kestra ließ den Rucksack da und huschte geduckt zum nächsten Gasboiler. Vorsichtig legte sie sich auf den Rücken und griff unter das Gerät. Es gab ein deutlich zu hörendes Geräusch von Metall auf Metall, als der starke Magnet auf der Rückseite des Päckchens an der Unterseite des Boilers haften blieb. Sie legte den Hebel auf der Vorderseite um und wartete, bis die Lichter von Gelb auf Grün umsprangen.
»Der Punkt ist«, fuhr sie fort, während sie unter dem Boiler hervorrollte und sich vorsichtig zum nächsten weiterbewegte, »dass ich extra gesagt habe, keine Zivilisten in der Todeszone. Es war deine Aufgabe, dich darum zu kümmern. Deshalb habe ich einen Monat damit zugebracht, diese Operation genau zu timen.«
»Es ist nicht mein Fehler, wenn der Typ von seinen Gewohnheiten abweicht, Kestra.«
»Mach es zu deinem Fehler, James«, gab sie zurück, während sie neben dem letzten Boiler innehielt. »Übernimm die Verantwortung dafür. Du hast zwanzig Minuten, um ihn aus der Todeszone zu lotsen. Es ist mir egal, wie du das machst, aber mach es! Und wehe, da ist noch jemand.«
»Da ist niemand mehr. Du und der Wachmann seid die einzigen Wärmequellen auf dem gesamten Lagerhausgelände, bis auf ein oder zwei Ratten.« Eine Pause entstand. »Hast du einen Vorschlag, wie ich den Zivilisten schützen kann, ohne verhaftet zu werden?«
Kestra dachte einen Moment lang darüber nach, während sie das letzte Gerät am hintersten Boiler anbrachte.
»Wie lange braucht er normalerweise, um das Grundstück abzugehen, wenn er bei den Docks anfängt?«
»Auf dem Grundstück gibt es drei Gebäude. Deins ist das erste. Wenn er nach Vorschrift vorgeht, dauert es noch eine gute Stunde. Und wenn er an den Docks entlanggeht, wird er dich bemerken. Es ist mir egal, wie gewieft du bist, Kes, er sollte dir jedenfalls auf der Flucht nicht in die Quere kommen.«
»Verdammt.« Kestra glitt unter dem Boiler hervor und stand auf. Sie klopfte sich den Hintern fester ab, als nötig gewesen wäre, und ging zu ihrem Rucksack.
Dann blieb sie stehen, legte den Kopf schräg, und ihre unglaublich hellen Augen strahlten noch ein bisschen heller, als sie glaubte, eine Lösung gefunden zu haben.
»Oh, James?«
»Ja, Kes?«
»Gibt es in einem der Gebäude gegenüber dem Grundstück ein Alarmsystem?«
»In allen. Du kannst es dir aussuchen.«
»Und gehören sie zum Zuständigkeitsbereich unseres unterbezahlten Wachmanns?«
»Warum, ja, tun sie!« Jim stöhnte übertrieben auf, weil er wusste, dass sie ihren Plan bereits fertig hatte.
»Na ja, halt mich für verrückt, aber wenn du ein Wachmann wärst und in einem der Gebäude der Alarm anginge, dann würdest du doch hinrennen und schauen, was los ist, oder?«
»Du bist wirklich verrückt«, sagte Jim mit einem Grinsen. »Und du hast natürlich recht. Aber wie willst du einen Alarm auslösen, ohne erwischt zu werden? Machen wir das normalerweise nicht genau andersherum? Weißt du überhaupt, wie man einen Alarm auslöst?«
»Das kann ja nicht so schwer sein.«
»Und ohne erwischt zu werden?«
»Mmm.«
»Und ohne dabei das Grundstück in die Luft zu sprengen …?«, fügte Jim hinzu.
»Jawohl.«
»Und ohne erwischt zu werden«, wiederholte er wichtigtuerisch.
»Jaaa.«
Fast genau zwanzig Minuten später sprang Kestra vom Dock in das Heck eines Schnellboots, das dort befestigt war. Sie machte die Leine los und drückte den Startknopf. Der Motor erwachte brummend zum Leben; das einzige Geräusch, das wahrscheinlich noch lauter war, war das Heulen des Alarms in der Ferne.
Kestra steuerte das Boot direkt aus dem Hafen auf die offene See hinaus. Sie blickte hinab zur Kabine, als James seinen Kopf aus der Luke steckte.
»Du hast vergessen, die Lagerhäuser in die Luft zu sprengen.«
»Ja, ich weiß.«
In diesem Moment gingen die Lagerhäuser in die Luft.
1
Die unglückliche Prinzessin
Ein Dämonenmärchen
Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte eine Prinzessin. Diese Prinzessin brauchte einen Ehemann, jedenfalls dachte ihr Vater so. Es war ihre Pflicht, einen rechtschaffenen Gemahl zu ehelichen, der womöglich eines Tages König des ganzen Volkes werden würde. Es war ihre Pflicht, Kinder zu gebären, die einmal bedeutende und einflussreiche Mitglieder der Gesellschaft werden sollten. Das war es, wozu Prinzessinnen damals, vor langer, langer Zeit, verpflichtet waren.
Und obwohl diese Prinzessin freundlich und gutherzig war, wollte sie diese Pflichten nicht erfüllen, sie ließ sich nicht gern etwas vorschreiben und wollte vor allem keinen Ehemann.
Eines Tages sah sich die Prinzessin, die Sarah hieß, dazu verpflichtet, sich einen Wettkampf zwischen den Mannen ihres Vaters anzusehen. Sie wollte nicht, doch ihr Vater ließ ihr mitteilen, dass er im Falle ihres Fernbleibens einen Ehemann für sie aussuchen würde und sie sich mit seiner Wahl zufriedengeben müsste. Er würde auf ihre Einwände nicht mehr eingehen, weil er die Geduld mit seiner starrköpfigen Tochter verloren hatte.
Die Prinzessin begab sich also zur königlichen Loge und ließ sich mit finsterer Miene auf ihrem Platz nieder. Sie musste zwar da sein, doch sie brauchte nicht auch noch so zu tun, als ob sie glücklich wäre. Ihr Vater hatte nichts davon gesagt, dass sie glücklich oder nett zu sein habe.
Prinzessin Sarah blickte mit ihren kornblumenblauen Augen gelangweilt über den Wettkampfplatz. Nachlässig strich sie sich die goldenen Locken zurück und seufzte. Das war jetzt der dritte Wettstreit, den ihr Vater ausgerichtet hatte. Die Prinzessin wusste, dass er hoffte, irgendeiner der Dämonen auf dem Feld dort draußen würde schließlich ihre Aufmerksamkeit erregen. Es gab keinen wirklichen Grund, warum das nicht geschehen sollte, denn die Dämonen waren so unglaublich attraktiv, wie die Dämoninnen atemberaubend schön waren. Gewiss waren sie umgänglich, galant und hatten nach so vielen Jahrzehnten unsterblichen Lebens die besten Umgangsformen.
Die Prinzessin war allerdings erst hundertzehn Jahre alt. Sie fand, sie war noch viel zu jung, um sich an einen Mann zu binden, der wahrscheinlich Babys und Gehorsam erwartete. Dämonen waren berühmt für ihre Arroganz und für ihr Bedürfnis nach totaler Kontrolle über alles, was sie kontrollieren zu dürfen glaubten. Die Prinzessin brauchte niemanden, der ihr sagte, was sie zu tun hatte. Sie wollte selbst entscheiden, wann sie sich dazu bereit fühlte und wann sie einen Mann gefunden hätte, der sie als gleichwertig betrachtete und nicht als Dienstmagd, der man Anweisungen geben musste.
Sarah erschauerte bei ihren eigenen Gedanken.
Trotz ihrer Selbstherrlichkeit waren die Männer aus ihrem Volk viel besser als menschliche Sterbliche, wenn es ums Heiraten ging. Die Vorstellung, wie ein Eigentum behandelt zu werden, der Besitz eines Mannes zu sein, über den dieser nach eigenem Gutdünken verfügen konnte, war ein Albtraum.
Was Ephraim betraf, den anfangs erwähnten König der Dämonen, wusste sie, dass er große Hoffnungen darauf setzte, dass sie zu den wenigen Dämonen gehören würde, die das Glück hatten, der Prägung teilhaftig zu werden.
Die Prägung war das Verschmelzen von Herz, Geist und Seele eines Mannes und einer Frau, die vollkommen zueinanderpassten. Es war eine Verbindung, die über die Vielschichtigkeit und die Tiefe bloßer Liebe weit hinausging. Es war eine machtvolle Verbindung, von der ihr Vater hoffte, dass sie eines Tages in ihrem Leib verschmelzen und die mächtigen Anlagen eines zukünftigen Königs aller Dämonen hervorbringen würde.
»Noah, was um alles in der Welt liest du ihr da vor?«, fragte Isabella flüsternd.
Sie hatte gerade das Zimmer ihrer Tochter betreten und sah das zweijährige Mädchen faul im Schoß des Dämonenkönigs liegen. Leahs Rücken war in Noahs Armbeuge und auf seinen Unterarm gebettet, die Arme mit den schlaff herunterhängenden Handgelenken weit von sich gestreckt, während sie leise schnarchte und auf seine seidenbedeckte Brust sabberte.
Der König blickte auf zu seiner Vollstreckerin, sein weibliches Gegenstück, und lächelte auf eine Weise, die sowohl verschämt als auch betörend war. Er zwinkerte ihr mit einem graugrünen Auge zu, und der Schalk gab seinen vornehmen Zügen eine gewisse Weichheit.
»Es ist doch nur ein Märchen«, erklärte er mit leiser Stimme, schloss das kleine Buch und legte es auf den Boden.
Er berührte den schlaffen Körper des Kindes in seinem Schoß sanft mit den Fingerspitzen. Bei der vorsichtigen Berührung verwandelte sich Isabellas Tochter langsam von einem Wesen aus Fleisch und Blut in eine leichte Rauchwolke. Die junge Mutter hielt den Atem an, als Noah die kleine Wolke geübt in ihr Gitterbett trieb, wo sie zu ihrer natürlichen Gestalt zurückkehrte.
Isabella hatte Noah ähnliche Verwandlungen Dutzende Male vollbringen sehen, sie selbst eingeschlossen. Er war ein Meister des Elements Feuer, und sie vertraute ihm bedingungslos. Aus Erfahrung wusste sie, dass es nur ein harmloser Trick war, bei dem er nur ganz wenig von seinen Fähigkeiten brauchte.
Als Mutter allerdings, eine Mutter, die bis vor drei Jahren ein Mensch gewesen und wie die meisten Menschen nichts von diesen Dingen gewusst hatte, kam sie nicht gegen das flaue Gefühl in der Magengrube an, wenn sie bemerkte, dass ihr Kind auf molekularer Ebene manipuliert wurde. Im Stillen lachte sie einen Augenblick später über ihre dummen Ängste. Noah war geübt und erfahren, die Mindestanforderung, welche die Dämonen an ihren gewählten König stellten. Alles an ihm strahlte aus, dass er von Natur aus dazu bestimmt war. Er stammte aus einem mächtigen Dämonengeschlecht, und er hatte die ehrfurchtgebietende Geduld, Weisheit und Bildung einer großen Führungspersönlichkeit.
Selbst seine sitzende Haltung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie groß er war und dass sein Körper genauso edel ausgeprägt war wie sein Geist. Er war zwar kein geborener Krieger, doch er blieb nicht auf seinem bequem gepolsterten Thron sitzen, während die anderen für ihn in den Kampf zogen. Isabella hatte an seiner Seite gekämpft, und sie wusste, wie stark er war, wie gerissen und vor allem wie gnadenlos er sein konnte, wenn er einem Feind gegenüberstand, der das bedrohte, was ihm am meisten am Herzen lag.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sie ihn so besser kannte, mit ihrer Tochter schmusend in seiner Rolle als Patenonkel, der wahrscheinlich genauso viel Zeit mit dem süßen kleinen Mädchen verbracht hatte wie die biologischen Eltern. Bella hatte kaum entbunden, da war schon klar, dass Noah und Leah ein Herz und eine Seele und unzertrennlich waren. Er überschüttete sie mit Liebe und Aufmerksamkeit und bevorzugte sie ganz offen. Und das, obwohl er mehr blutsverwandte Nichten und Neffen hatte, als Isabella zählen konnte.
Bella schenkte der Bewunderung des Königs für ihr Kind nicht allzu viel Beachtung. Wie bei allem gab es auch hier verborgene Schichten, hauptsächlich dass er hier Gefühle zeigen konnte, die ein Mann in so einer Machtposition sonst nicht zeigen konnte. Isabella musste feststellen, dass sie gelegentlich noch zu der menschlichen Furchtsamkeit neigte, eine reflexartige Reaktion, die eigentlich eher eine Gewohnheit war. Doch gelang es ihr stets rasch, ihre Ängstlichkeit zu überwinden. Sie musste nur an die hohen ethischen Ansprüche ihres Dämonengatten denken, an seinen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und daran, dass genau diese Anlagen viele Dämonen in hohe Positionen brachten, eine Kategorie, unter die auch Noah fiel. Er ging mit gutem Beispiel voran, mit dem Wunsch, dass alle anderen folgen sollten.
»Nun, dein Märchen ist anscheinend sehr wirkungsvoll«, flüsterte Isabella und bückte sich neugierig nach dem Buch.
Plötzlich drehte Noah sich um, packte ihr Handgelenk und entwendete es ihr geschickt.
»Danke«, sagte er und steckte das Buch wie zum Schutz in die Innentasche seiner Jacke.
Isabella runzelte leicht die Stirn und rieb sich das Handgelenk, an dem er sie ein bisschen zu fest gepackt hatte. Es machte ihr nichts aus, wirklich. Im Grunde genommen war sie kein menschliches Wesen mehr. Nun, zum größten Teil jedenfalls. Sie war ein Mischwesen aus Genen alter Druiden und modernen Menschen, und weil sie mit ihren anderen, jüngst erworbenen Fähigkeiten eine bemerkenswerte Stärke erlangt hatte, nahm sie auch durch den rauen Umgang des Königs keinen Schaden. Doch wenn sie ausschließlich menschlich gewesen wäre, hätte dieser Griff ihr das Handgelenk gebrochen, und es sah Noah gar nicht ähnlich, dass er so rücksichtslos war.
»Ich muss gehen«, sagte Noah, der sich rasch erhob und ihr einen Kuss auf die Wange drückte.
Mit einer Drehung verwandelte sich der Feuerdämon in eine Rauchsäule. Die Säule kippte um und breitete sich über dem Boden aus, auf der Suche nach irgendwelchen Ritzen und Spalten, die aus dem Anwesen hinausführten.
Er war kaum eine Sekunde weg, als eine gewaltige Staubwolke in den Raum gefegt kam und um Isabellas winzige Gestalt herumlief. Im nächsten Augenblick verwandelte sie sich in die Gestalt ihres Gatten, der bereits seine Arme fest um sie gelegt hatte und sofort ihr Handgelenk in Augenschein nahm.
»Was zum Henker ist in ihn gefahren?«, bellte Jacob und verbarg sein Missfallen über den groben, rücksichtslosen Umgang des Königs mit seiner Angetrauten nicht.
Seit Isabella vor drei Jahren seine Gemahlin geworden war, war Jacob nicht sehr tolerant gegenüber anderen Männern, die sie anrührten, auch wenn sie ihr so gut wie keinen Schaden zufügten. Sein besitzergreifendes Temperament war ein wesentlicher Teil ihrer besonderen Prägung.
Bevor Bella gekommen war und sich tief auf Jacobs facettenreiche Seele eingelassen hatte, war diese Prägung nur noch in Dämonenmärchen vorgekommen, wie dem, das Noah Leah vorgelesen hatte. Das Wissen darum, was für einen Schatz sie teilten, führte dazu, dass der Vollstrecker sich manchmal beinahe irrational überbehütend verhielt. Doch er hatte sich schon gebessert. Zu sehen, wie verzweifelt und enttäuscht seine Frau immer war, wenn es wieder so einen Zwischenfall gegeben hatte, hatte dazu beigetragen.
»Ich weiß nicht«, murmelte Isabella auf die Frage, die eigentlich rhetorisch gemeint war. »Jacob«, sagte sie plötzlich und klammerte sich an den Stoff seines burgunderroten Hemds, das sich fest um seine schlanke Taille legte. »Ich habe Angst.« Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Brust, bis sie das warme Pulsieren an ihrer Wange spürte. »Ich habe Angst, dass unsere Freundschaft zu Noah bald auf unschöne Art auf die Probe gestellt wird.«
Jacob machte ein noch düstereres Gesicht, und sein Ausdruck verriet einen dunklen Ansturm heftiger Emotionen. Auch über sein Herz jagten dunkle Wolken hinweg.
Er tat nicht so, als würde er sie nicht verstehen. Er war der Vollstrecker. Das war er seit über vierhundert Jahren, vom König selbst ernannt, damit die Dämonengesetze auch strikt eingehalten wurden. Jedes Mal, wenn die Heiligen Monde Samhain oder Beltane bevorstanden, konnte es geschehen, dass ein Dämon, der keinen seelenverwandten Partner hatte, dazu getrieben wurde, sich einem schwachen Menschen oder einem anderen verletzlichen Geschöpf zu nähern. So ein unschuldiges, nichtsahnendes Wesen würde es wahrscheinlich nicht überleben, wenn ein Dämon versuchen sollte, sein dunkles, nagendes Verlangen zu befriedigen, das so tief war wie das Bedürfnis nach Essen, nach Wasser und nach Luft.
Und die Intensität dieses Einflusses nahm mit jedem Jahr zu. Bei jedem Mond, der herannahte, gab es welche, egal wie stark und selbstdiszipliniert sie sonst auch waren, die in die rücksichtslosere und animalischere Natur zurückfielen, mit der die Dämonen vor langer Zeit geboren worden waren. Wenn diese Art von Chaos heraufzog, war es die Pflicht des Vollstreckers, darauf zu achten, dass es sich nicht gegen einen Unschuldigen richtete, und falls doch, den Täter hart zu bestrafen.
Bella und Jacob waren die einzigen Vollstrecker. Das bedeutete, dass unangemessenes Verhalten stets zu einer Konfrontation mit einem von ihnen oder gar mit beiden führte, dass die zeitweise unzurechnungsfähigen Dämonen stets verloren, wenn die klugen, gut organisierten Vollstrecker sie verfolgten und schließlich fassten.
Dann folgte die schreckliche Bestrafung. Diese Pflicht oblag allein Jacob. Isabella hatte nicht das robuste, gepanzerte Herz, das man brauchte, um die Bestrafung durchzuführen, und er hoffte, sie würde es auch nie bekommen. Es war eine Verantwortung, die er gern übernahm, weil er wollte, dass ihr Herz weich und unbeschwert blieb. Die Bestrafung war für einen Dämon eine unerträgliche Sache, und die damit verbundene Demütigung führte dazu, dass derjenige, der sie erfuhr, für lange Zeit stigmatisiert war.
Letztlich bedeutete es, dass keiner von ihnen so tun konnte, als würde er die Anzeichen nicht sehen, wenn ein Dämon unzurechnungsfähig wurde und wenn sein zivilisiertes Verhalten und seine moralische Urteilsfähigkeit, je weiter der Mond zunahm, immer mehr abbröckelten. Es gab ein paar Anzeichen und ein gewisses abweichendes Verhalten, das ihnen verriet, dass ein Dämon gegen seine eigene wankelmütige Natur ankämpfte. Die Funken, die darauf hindeuteten, dass eine Lunte brannte und dass eine tödliche Explosion bevorstand.
Offensichtlich sah Isabella diese Anzeichen beim Dämonenkönig. Und wenn er aufrichtig gewesen wäre, hätte Jacob ihr zustimmen müssen, obwohl ihm der bloße Gedanke Magenschmerzen bereitete. Wenn sie gezwungen wären, gegen einen so geachteten und mächtigen Mann vorzugehen, einen Freund, den sie so liebten …
Isabella blickte mit traurigem und wissendem Blick zu ihm auf. Sie war seine geistige Gefährtin, und so hatte sie auch telepathischen Zugang zu all seinen Gedanken, doch selbst wenn sie nicht ohnehin hätte lesen können, was er sich wünschte, hätte sie gewusst, worum Jacob betete.
Dass Noah seine ihm zugedachte Gemahlin bald finden würde.
Das wäre das Einzige, was verhindern konnte, dass es zu einer Konfrontation zwischen dem König und seinen Vollstreckern kam. Das Schicksal, das alle Dämonen wegen seiner Geradlinigkeit und wegen seines launenhaften Sinns für Humor und Ironie verehrten, sah die Prägung als Rettung des Dämonenvolkes vor. Jacob würde nie wieder Angst haben müssen davor, dass ihn während der Heiligen Monde der Wahnsinn überfiel. Diese Anlage war schlagartig verschwunden, als ihm Bella und die Dämonenprophezeiung über Druiden wie sie in den Schoß gefallen waren. Damals hatten sie erfahren, dass es möglich war, seinen Seelenverwandten bei den Druiden zu finden, die unerkannt und verborgen unter den Menschen lebten. Es hieß, dass eine altes Volk gerettet werden konnte, das zitternd kurz vor der Auslöschung stand.
Und das hieß auch, dass der Bedarf an Vollstreckern verringert werden konnte. Eines Tages würden sie Heim und Herd mehr Zeit widmen können und müssten nicht mehr nur Verfolger und Vorboten der Bestrafung sein. Trotzdem hatten sich in den letzten drei Jahren nur sehr wenige Paare gefunden, und das war sicherlich kein Ausgleich für die vielen Jahrhunderte, in denen so gut wie nie eine Prägung stattgefunden hatte. Die Beziehung von Bella und Jacob war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man bedachte, welcher Aufruhr während der heiligen Festtage drohte.
Jacob beugte sich über seine kleine Frau und presste seine Lippen sanft auf die Innenseite ihres geschwollenen Handgelenks. Weil sie eine Druidin war, würde es so schnell heilen, dass sie es schon am nächsten Tag wieder vergessen hätte, doch als ihr Gemahl spürte Jacob selbst den kleinsten Schmerz von ihr so durchdringend, dass er es nur schwer ignorieren konnte. Und obwohl er wusste, dass sie seine Gedanken lesen konnte, wollte er ihr sorgenvolles Herz beruhigen.
»Ich glaube, du quälst dich zu sehr«, rügte er sie sanft und lächelte, während sie abwesend mit den Fingerspitzen über seine Wangen strich. »Noah ist angespannt, das stimmt, aber man erkennt ganz deutlich, dass er weiß, was er tun muss, um sich abzulenken. Er hat die Heiligen Monde sechseinhalb Jahrhunderte lang überlebt, ohne aus der Reihe zu tanzen. Noah braucht wohl kaum so ein kleines Ding wie dich, das kaum drei Jahrzehnte alt ist, damit es ihn bemuttert.«
Ihre violetten Augen weiteten sich bei dieser Beleidigung, und sie öffnete leicht den Mund, bevor ihr Blick verstehend aufleuchtete.
»Du willst … dass ich mir keine Sorgen mache«, erwiderte sie. Die dunklen Wimpern senkten sich, um ihren Blick zu verbergen, und sie lehnte sich an ihn und legte ihre Wange auf sein pochendes Herz. »Ich liebe dich dafür«, sagte sie und seufzte tief.
Jacob legte die Hand auf ihr dichtes schwarzes Haar und streichelte es in dem Wissen, dass es sie beruhigen würde. Sie entspannte sich und gab einen genüsslichen Laut von sich. »Wir können beide die Anspannung in Noahs Geist sehen, kleine Blume«, sagte er unendlich sanft, »aber wir setzen unsere Freundschaft mit dem König aufs Spiel, wenn wir nur abwarten und zusehen, wie er sich selbst zerstört.«
Isabella nickte ernst und streckte sich dann, um mit ihren sich öffnenden Lippen seinen Mund zu berühren, während sie ihre Finger in seinem graubraunen Haar vergrub, das ihm über den Nacken fiel.
»Du hast recht«, seufzte sie und küsste ihn sanft. »Du hast vollkommen recht.«
Der Geruch war süß wie gesponnener Zucker, der bei einer Kirmes in Fetzen durch die Luft flog. Das kindlich Unschuldige an diesem Duft strafte das unglaublich erwachsene Empfinden von Erregung und animalischem Verlangen Lügen, das ihn durchströmte. Es war eine Begierde, die er kannte, die er jedoch noch nie in solcher Intensität verspürt hatte. Er war geblendet davon, und er krampfte sich zusammen, als wäre sein Körper ein einziger erwartungsvoller Muskel.
Sie hatte ihn bei jedem Schritt abgewehrt. Das tat sie stets. Manchmal dachte er, dass sie das nur tat, um ihn zu ärgern, doch meistens konnte er spüren, dass ihre Feindseligkeit Teil eines Machtkampfs war, den sie glaubte gewinnen zu müssen, egal um welchen Preis. Er fand, sie war zu jung, um so abgebrüht zu sein, obwohl es im Widerspruch zu der Art stand, mit der sein Kommen immer begrüßt wurde. Das immerhin war gewiss, wenn auch nichts sonst außer ihrem Zuckerwatteduft und ihrem langen, makellosen hellen Haar.
Doch sie war für ihn bestimmt, vom Schicksal erwählt, ob sie wollte oder nicht. Dieser emotionale Widerstand würde schließlich brechen, wenn sie von anderen Gefühlen überwältigt wurde, die zu ihrer Seele sprachen und die über ihr erlerntes Verhalten und ihre geistigen Barrieren hinweggingen. Er nutzte das rücksichtslos aus, unterlief ihr Streben nach Macht, bis sie begreifen würde, dass die Prägung eine Kraft war, der sich keiner von ihnen widersetzen konnte.
Seine Finger und Hände strichen über ihr festes weibliches Fleisch, das von einer übernatürlichen Beschaffenheit war. Sie fühlte sich an wie Blumenblüten, aber noch viel seidiger und lebendiger. Sie übertraf das vereinfachende Wort »zart« in jeder Hinsicht. Doch es konnte nicht darüber hinwegtäuschen, welche Stärke sich unter dieser seidigen Haut verbarg. Was war es nur, fragte er sich, was sie so stark machte? Wie würde es aussehen, wenn sein sinnlicher und emotionaler Krieg gegen sie sie unweigerlich dazu zwingen würde, sich zu ergeben?
Er suchte nach Antworten auf all diese Fragen, während er hörte, wie sie enttäuscht den Atem ausstieß, der langsam und schwer wie eine dunstige Hochsommerbrise in Louisiana über ihn hinwegstrich. Er spürte ihr Haar, das sich in wirren Strähnen über seine erhitzte Haut ergoss wie schweres Wildwasser und ihn zu fesseln schien.
Sosehr er es auch versuchte, mit welcher Macht auch immer, er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Er wollte sie nach ihrem Namen fragen, doch er war stumm. Die Lähmung seiner Stimmbänder erfasste manchmal alle seine Extremitäten. Er konnte fühlen, doch nicht berühren. Dann konnte er wieder berühren, doch nur ihre Reaktion wahrnehmen. Er konnte schauen, doch nicht richtig sehen. Da war nichts außer dem schimmernden Weißblond ihres endlos langen Haars. Er knirschte aus unglaublicher Enttäuschung mit den Zähnen, kämpfte gegen die geheimnisvolle Bindung an, die seinen starken Willen gefangen hielt.
Alles, was er wollte, war, ihr Gesicht zu sehen.
Noah schrak aus dem Schlaf hoch und rang nach Luft.
Er setzte sich jäh auf, die langen, kräftigen Finger in die Laken gekrallt, die um seine nackten Hüften und Beine geschlungen waren. Während er versuchte, weiter Sauerstoff in seine Lungen zu pumpen, rann ihm der Schweiß über seine aristokratisch geformte Nasen und tropfte herab … Sein dunkles Haar war triefend nass. Das trommelnde Geräusch von Tropfen, die aus den leicht gelockten Haarenden auf steife Laken fielen, glich dem Regen, der auf ein Dach fiel.
Als er wieder bei sich war, wischte sich der Dämonenkönig mit einem Laken den Schweiß vom Gesicht, der ihn beinahe blind machte. Da erst bemerkte er, dass der Stoff verbrannt und steif war, so als hätte jemand ein Bügeleisen zu lange darauf stehen lassen.
Und trotz dieses verbrannten Zustands trug es noch immer den süßlichen Duft von Zuckerwatte.