Christoph Straßer
Semesterferien
Impressum
1. Auflage Juni 2011
©opyright 2011 by Autor
Titelbild: Glass doors © terex
Closed sign in a shop showroom with reflections © c
(www.fotalia.de)
Umschlaggestaltung: [d] Ligo design + development
Satz: Fred Uhde (www.buch-satz-illustration.de)
ISBN(epub): 978-3-942920-55-1
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Semesterferien
Platons Laune bewegte sich mit Schallgeschwindigkeit dem Nullpunkt zu.
Erst seit fünf Minuten kämpfte er sich durch die Fußgängerzone im Zeichen des Schlussverkaufs, dennoch wurde er bereits schon unzählige Male angerempelt, geschubst, gebremst oder giftig angesehen, weil er es gewagt hatte, sich entweder zu schnell oder zu langsam zu bewegen.
Immer wieder kniff er die Augen zusammen, da ihn unvermittelt die grellen Lichtreflexe aus den Schaufenstern oder irgendwelchen Spiegeln trafen.
Beschissenes Pack, dachte Platon und stieß eine Frau zur Seite, die gerade zwei MediaMarkt-Tüten trug, die beinahe bis zum Platzen mit irgendwelchem Elektroschrott gefüllt waren.
Die Schimpfkanonade, die ihm nun einige Meter lang folgte, besserte seine Stimmung auch nicht, ebenso wenig die Hitze, die seine Jeans und sein Hemd an seinem Körper kleben ließ.
Was brachte Menschen dazu, sich freiwillig in überfüllte Innenstädte zu begeben, in denen es denselben Krempel gab wie an jedem anderen Tag auch, nur möglicherweise einige Prozent günstiger? Das konnte doch unmöglich den Ärger und den Stress aufwiegen. Gab es tatsächlich nicht einen einzigen Menschen in dieser Stadt, der gerade jetzt auf seinem Sofa saß und dachte: »Schlussverkauf? Ist mir scheißegal.«
Außer Platon selbst natürlich.
Aber auch er hockte nicht gemütlich auf der Couch, sondern war auf dem Weg in das Café, in dem Lakai arbeitete.
Endlich dort angekommen, ließ er sich in einen der Korbstühle fallen und hielt nach seinem Freund Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken. Vermutlich stand er gerade hinter der Theke und bereitete irgendwelche Getränke für die Gäste zu, die sich im inneren, klimatisierten Teil des Lokals von den Einkaufsstrapazen erholten.
Mit dem Fuß zog Platon einen der anderen Stühle zu sich heran, legte seine Beine darauf und beobachtete die Menschenmassen, die an ihm vorbeizogen wie ein großer, widerlicher Wurm, der sich durch einen viel zu schmalen Kanal zwängte und dabei Plastiktüten, Luftballons und Werbefähnchen mit sich riss. Und der dabei offenbar unzählige Handys verschluckt hatte, denn aus dem Inneren des Wurms waren immer wieder Gesprächsfetzen zu hören.
»Hi Schatz. Nein, bin gerade mit der Sandra beim Shoppen.«
»Ich muss jetzt zur Videothek wegen der DVD. Bis gleich.«
»Ja, hab die Grafikkarte gekriegt. Voll Glück gehabt, war die letzte.«
»Sorry, Süße. Meine Pause ist gleich um.«
»Ey, übelst fett die Playsi. Die kaufschmir, Alter.«
Platon hörte dem schwitzenden Wurm nicht mehr zu.
Stattdessen zog er sein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin.
»Na, wieder beim Schreiben?«, hörte Platon nach kurzer Zeit jemanden hinter sich fragen.
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Nö, ich überlege, ob ich ein paar meiner Körperflüssigkeiten auf dem Tisch verteile und dir beim Wegwischen zusehe. Ist ja schließlich dein Job.«
»Arschloch«, sagte Lakai, schubste Platons Beine vom Stuhl und setzte sich zu ihm.
Platon schob sein Buch zurück in die Hosentasche.
»Wie auch immer«, sagte er dann. »Was macht die Uni?«
Lakai schüttelte lachend den Kopf.
»Wie lange willst du denn noch überlegen, Mann?«, fragte sein Freund. »Seit einem Jahr bist du schon von der Uni weg. Und auf dem blöden Campus laufen so viele Beknackte rum, die nicht halb so viel draufhaben wie du. Ist doch echt albern, sein Leben als Kellner zu verballern.«
»Studieren ist zu teuer, zu albern, zu scheiße. Okay? Thema beendet?«
Platon nickte grinsend.
»Vorläufig. Aber ich werd dir so lange auf den Sack gehen, bis ich dich wieder an der Uni sehe. Und wenn nicht, werd ich dich misshandeln und mir viel Zeit dafür nehmen.«
»Ja, dein Gewaltproblem ist ja bekannt«, lachte Lakai. »Kaffee?«
»Jap. Groß, schwarz und böse.«
»Kommt sofort. Übrigens war Jim vorhin schon da. Ist ein paar Stunden früher draußen als gedacht. Meinte, er will heute Abend so um Acht bei dir sein.«
»Ach was? Das ging ja flott«, sagte Platon erstaunt.
Lakai verschwand wieder ins Innere des Cafés und Platon zog erneut sein Buch aus der Tasche. An Schreiben war jetzt nicht mehr zu denken, dafür hatte Jim mit seinem Termin gesorgt. Platon hasste es, Termine zu haben. Sie harpunierten seine Konzentrationsfähigkeit. Wenn er morgens um Neun wusste, dass er um zweiundzwanzig Uhr des selben Tages einen Termin hatte, brachte er den ganzen Tag über nichts Vernünftiges mehr zustande.
Trotzdem freute er sich natürlich, Jim wieder zu sehen.
Und vielleicht reichte seine Konzentration ja noch dafür, einige seiner Gedichte ins reine zu schreiben.
»Da, der Kaffee«, sagte Lakai und stellte eine Tasse vor Platon ab.
Der klappte sein Buch erneut zu und schob es endgültig zurück in die Tasche.
»Ich kann aber jetzt nicht mit dir spielen, drinnen ist die Hölle los«, lachte Lakai und klopfte seinem Freund auf die Schulter.
»Schon okay. Jetzt hast du mir was verkauft, und schon bin ich dir nicht mehr gut genug, du neoliberaler Sack.«
»Klar, Mann. Ich bin eindeutiger Gewinner der Globalisierung.«
»Kaffee wird imma jetrunken, wa?«
Lakai lachte und verschwand wieder hinter seiner Theke.
Platon schüttelte lächelnd den Kopf und trank einen Schluck aus seiner Tasse.
Lakai war so kurz davor gewesen, sein Studium zu beenden. Und hatte es hingeschmissen.
Wie auch Platon war Lakai gezwungen, sein Studium selbst zu finanzieren, da er wegen seiner diversen Nebenjobs die Regelstudienzeit ein wenig überschritten hatte.
Ein völlig wahnsinniges System, dachte Platon. Man musste arbeiten, um zu studieren, konnte aber wegen der Arbeit nicht zur Uni. Und zur Belohnung machte man das Studium noch teurer, während die Stundenlöhne sanken, so dass man noch mehr arbeiten musste, um auf die Uni gehen zu können, die man sich sowieso nicht leisten konnte.
»Was soll’s«, sagte Platon zu sich selbst.
Vermutlich war er heute Vormittag nur deswegen so mürrisch, weil ihm einige Rechnungen ins Haus geflattert waren und er noch nicht einmal eine vage Idee hatte, wie er sie begleichen sollte. Zusätzlich hatte ihn gestern abend sein Vermieter auf dem Weg zum Müllcontainer abgefangen und Platon auf den »Buchungsfehler« angesprochen, der ja ganz offensichtlich vorlag, da er nur zwei Drittel der Miete erhalten hatte. Platon hatte den Überraschten gespielt und versprochen, sich darum zu kümmern.
Platon leerte seine Tasse und legte etwas Kleingeld auf den Tisch.
Wenn der liebe Jim sagte, dass er um Acht bei ihm sein wollte, würde er zwar unmöglich vor neun Uhr da sein, aber Platon konnte jetzt unmöglich hier in Ruhe sitzen und an seinen Gedichten herumwerkeln.
Soweit wie möglich versuchte er den Menschenwurm zu umgehen, als er sich auf den Heimweg machte. Nach einigen Minuten erreichte er endlich eine der kleinen Seitenstraßen, die aus der Fußgängerzone herausführten, so dass Platon ein wenig durchatmen konnte.
Zu Fuß würde er etwa eine Viertelstunde bis nach Hause brauchen, was er als akzeptabel empfand, gerade wenn man bedachte, dass seine Reise-Alternative eine mit schwitzenden Konsumenten überfüllte Straßenbahn war.
Kurz bevor Platon seine Straße erreichte, kam ihm in einem kleinen Park ein junger Mann entgegen.
Platon ballte die Fäuste.
Kahlrasierter Schädel, Armyhose, Springerstiefel und zu allem Überfluss noch ein durchgeschwitztes T-Shirt, auf dem Rudolf Hess abgebildet war.
Platon sah sich um. Dieser kleine Idiot konnte doch unmöglich alleine unterwegs sein. Aber außer ihm war niemand in der Nähe.
»Oh happy day«, lächelte Platon und stellte sich dem Skinhead, der einen guten Kopf kleiner war als er selbst, in den Weg.
»Na, Kamerad. Weit weg von der Heimat, was?«
»Ey, verpiss dich bloß«, zischte der Kleine und zog ein Messer aus seiner Hosentasche.
Platons Faust schoss nach vorne und traf den Mann hart unter dem Kinn, so dass er sein Messer fallen ließ, rückwärts taumelte und schließlich auf den Ascheweg fiel.
Platon sprang ihm nach, drehte den Nazi auf den Rücken und hockte sich mit einem Knie auf seinen Nacken.
»Was soll die Scheiße?«, schrie der Mann, spuckte Blut aus und zappelte unter Platon.
Der drückte sein Knie fester auf das Genick, das dies mit einem leichten Knacken quittierte.
Der Skin schrie auf.
Platon zog ihm das Portemonnaie aus der Gesäßtasche und nahm den Personalausweis heraus.
»Ronny Marx?«, las Platon lächelnd. »Findest du das nicht auch irgendwie ironisch?«
»Verpiss dich, Arschloch!«
Platon holte aus, und seine Fäuste trafen immer wieder hart die Nierengegend des Mannes. Mit jedem Schlag wurden sein Geschrei und seine Gegenwehr weniger.
Schließlich stand Platon von dem Nazi auf, der sich augenblicklich gekrümmt auf die Seite rollte.
Platon wedelte mit dem Ausweis des Mannes.
»Ich weiß, wo du wohnst. Ich weiß, wo du wohnst …«, sang er.
Der Skinhead erwiderte etwas, das Platon nicht verstand.
»Schönen Tag noch und Sieg Heil und so«, sagte Platon schnaufend, steckte Messer und Ausweis ein und machte sich auf den Weg zum Ausgang des Parks.
Als er wieder vollständig zu Atem gekommen war, zündete er sich eine Zigarette an und bog in die Straße ein, in der er wohnte.
Vielleicht hatte er in der Tat ein Gewaltproblem, dachte er. Aber er kanalisierte es immerhin gemeinnützig. Zudem hatte er nun bessere Laune.
***
Es war kurz vor Mitternacht, als Lakai seine Wohnungstüre hinter sich schloss.
Weder Jim noch Platon hatten noch einmal von sich hören lassen, was bedeuten konnte, dass Jim entweder etwas dazwischen gekommen war, oder dass er und Platon ganz einfach irgendwo versackt waren.
Beides wäre ihm im Moment ganz recht gewesen.
Lakai wusch sich im Badezimmer die Hände, die noch immer nach Kleingeld und Gott weiß was rochen.
Im Schlafzimmer zog er seine Tuchhose und sein Hemd aus, seine Kellnerverkleidung, und streifte sich seine alte Jogginghose über.
Mit einem Bier, das er sich aus dem Kühlschrank geholt hatte, hockte sich Lakai auf sein Sofa.
Dieser Job machte ihn fertig. Das konnte so nicht weitergehen, überlegte er.
Jeden Abend dasselbe Spiel: nach Hause kommen, Hände waschen und mit ein bis fünf Bier vor dem Fernseher verrotten. Vielleicht duschen vorher.
Seit über einem Jahr ging das schon so. Vielleicht war es wirklich ein Fehler gewesen, von der Uni abzugehen. Aber was hätte er Anderes tun sollen?
Platon hatte leicht reden. Zurück zur Uni. Natürlich, einfach so. Kein Problem.
Dafür musste Lakai ja nicht viel tun. Nur in eine kleinere Wohnung umziehen und alles Wertvolle verkaufen, das er besaß, um sich diesen Umzug überhaupt leisten zu können. Dann einen Job finden, der ihm einerseits das Leben finanzieren konnte, andererseits aber nicht zeitintensiv war.
Realistisch betrachtet ein Ding der Unmöglichkeit.
Lakai trank einen großen Schluck aus der Bierflasche.
Vielleicht würde es ihm ja einfach schon helfen, wenn er sich einen anderen Beruf suchte.
Das eigentlich Grässliche an seinem Kellnerjob war, dass er ihn erschöpfte, ohne ihn müde zu machen. Jeden Abend kam er nach Hause und ihm taten die Füße, Beine und Rücken weh. Man hätte meinen sollen, dass Lakai todmüde ins Bett fiel, aber genau das gelang ihm eben nicht. Unzählige Male war er wieder ins Wohnzimmer gewankt, nachdem er sich stundenlang im Bett hin und her gewälzt hatte. Bis er darauf gekommen war, dass er am besten und schnellsten einschlief, wenn er betrunken vor dem Fernseher saß.
So würde er es auch heute Abend wieder machen. Er schaltete den Fernseher ein und ging die Kanäle durch: Verkaufsshows, fürs TV zurechtgeschnittene Pornos, Anrufsendungen, bei denen man »ein Becken voller Geld« gewinnen konnte, wenn man ein Tier mit »H« kannte, und Actionfilme, für die sich sogar Chuck Norris in Grund und Boden schämen würde.
Lakai hockte sich vor den kleinen Schrank, auf dem sein Fernseher stand, und ging seine DVD-Sammlung durch. Da die Sender ihn wie üblich im Stich ließen, musste er selber für seine Unterhaltung sorgen.
Lakai entschied sich für den ersten Indiana Jones und robbte zurück auf das Sofa.
Er öffnete eine weitere Flasche und schaltete den Film an.
Wieder an die Uni … So ein Schwachsinn.
Lakai erinnerte sich an den Abend vor seiner Exmatrikulation.
Er war mit Irina verabredet gewesen. Zum Essen. Ein schöner Abend. Bis Irina vorgeschlagen hatte, in einer Cocktailbar noch etwas zu trinken.
Draußen hatte es in Strömen geregnet, aber für ein Taxi hatte es bei beiden nicht gereicht, so dass sie völlig durchnässt in der Bar angekommen waren.
Kurz danach hatte Irina eine Grippe und später einen festen Freund, der sie mit seinem Wagen von der Uni abholte.
Der Moment, in dem Lakai mit zehn Euro in der Tasche und verzweifeltem Lächeln versucht hatte, vor Irina dem Abend noch etwas Romantisches abzuringen, hatte ihn zu der Erkenntnis kommen lassen, dass Armut nicht unbedingt sexy machte.
Am Morgen danach hatte er sein Studium abgebrochen und den nächstbesten Job angenommen, der sich ihm geboten hatte.
Lakai trank einen weiteren Schluck und beobachtete die Gänsehaut, die sich auf seinen Armen bildete.
In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so geschämt wie an diesem Abend, an dem er seine Verabredung durch einen Wolkenbruch geführt hatte.
Nur mit Platon hatte Lakai einmal über den Auslöser seines Abbruchs geredet. Und er hatte ihn verstanden, wenn auch erst nach einer Debatte über Lakais Frauenbild.
Lakai öffnete eine dritte Flasche.
Vielleicht musste er sich nur einen anderen Job suchen. Vielleicht war es ja wirklich so einfach. Die Hirngespinste eines Studiums vergessen und sich einem Beruf widmen, der ihm Freude machte und gleichzeitig ein gutes Leben ermöglichte.
»Sollte doch kein Problem sein für einen fünfundzwanzigjährigen Berufsanfänger mit Erfahrung als Kellner«, lachte Lakai.
Er beschloss, sich nicht weiter mit dem Thema zu beschäftigen. Ändern konnte er an seiner Situation heute Abend sowieso nichts mehr.
Nach ein paar weiteren Bieren flimmerte Indiana Jones über den Bildschirm, der gerade in einer Schiffskoje eingeschlafen war.
Lakai war ihm um wenige Minuten voraus.
***
»Aha, der Graf von Monte Christo«, rief Platon Jim entgegen, der die Stufen hinaufsprang.
»Jawoll, endlich wieder frei. Sorry, hat’n bisschen gedauert, musste noch meine Karre holen.«
Jim fiel ihm in die Arme, und beide torkelten in Platons Hausflur.
»War denn wenigstens schön im Knast?«, fragte Platon schließlich.
Jim schüttelte den Kopf, warf seinen Rucksack auf den Wohnzimmerboden und setzte sich im Schneidersitz daneben.
»Echt, Alter. Da rennen nur Kaputte rum. Ich hab mir mit nem Schwarzfahrer ne Zelle geteilt. Das muss man sich mal vorstellen. Die buchten echt Leute ein wegen Schwarzfahren.«
»Kein Scheiß?«
»Kein Scheiß.«
»Krass«, sagte Platon und setzte sich seinem Freund gegenüber.
»Aber echt. Ich hab sogar ein Andenken. Guck mal.«
Jim kramte in seinem Rucksack und zog ein Schreiben heraus, in dem stand, dass er seine einwöchige Haftstrafe abgesessen hatte und nun wieder entlassen war.
Platon hielt ehrfürchtig den Brief in den Händen.
»Wahnsinn. Bist ja jetzt ein richtiger Verbrecher.«
Jim nickte und holte ein Tabakpäckchen aus der Tasche.
»Yeah man. I’m a motherfuckin gangster from da … äh, in welcher Himmelsrichtung wohn ich?«
»Süden, glaub ich.«
»Yeah bitch. I’m a motherfuckin gangster from da motherfuckin southside.«
»Schwätzer. Jetzt erzähl doch mal«, lachte Platon.
Jim streute behutsam Marihuana in den Tabak und rollte die Mischung vorsichtig in einem Blättchen hin und her.
»Da gibt’s gar nicht so viel zu erzählen. War im Grunde wie ne Jugendherberge, nur dass man da nicht raus durfte.«
»Darf man in Herbergen ab zehn auch nicht mehr, glaub ich.«
Jim zuckte mit den Schultern.
»Dann war’s wie ne scheiß Herberge. Nur dass das Essen echt geil war. Allein für die Lasagne hat es sich schon gelohnt, mal ne Woche da rumzuhängen.«
»Bist du wenigstens vergewaltigt worden, wie sich das gehört?«
Jim zündete sich den Joint an und inhalierte tief.
»Zählen Finger und Gegenstände?«, fragte er dann.
»Nein.«
»Dann zweimal Ja und vierzehn Mal Nein.«
Platon lachte wie Jim laut los und nahm den Joint entgegen.
»Aber wir feiern meine Entlassung heute noch, oder?«, fragte Jim schließlich, als er wieder zu Atem gekommen war.
Platon nickte heftig.
»Klar, Mann. Wir sammeln gleich den Lakaien zuhause ein und machen uns auf.«
Platon hielt Jim den Joint hin. Der nahm ihn nickend entgegen.
»Irgendwo hier in der Gegend wär schön. Hab keinen Bock, ewig weit zu fahren.«
»Du langweiliger Stadthocker. Was haben sie mit dir im Gefängnis angestellt?«, lachte Platon.
»Gar nix. Die haben alle einen großen Bogen um mich gemacht. Schließlich bin ich der Hyper-Verbrecherkönig.«
»Du hast Ronald McDonald auf die Klamotten gekotzt. Das ist nicht mal moralisch ein Vergehen.«
Platon kicherte bekifft. Und auch Jim fiel das Sprechen schon deutlich schwerer.
»Was ist denn da so knacklustig? Ich bin für meine Überzeugung ins Gefängnis gegangen. Da müssen andere Leute erst mal hinkommen. Nelson Mandela, Jesus … äh, Nelson Mandela. Die sind alle wie ich unschuldig im Gefängnis gewesen, nur weil sie zu ihrer Überzeugung gestanden haben.«
»Aber Jesus war nicht im Gefängnis, den haben sie gekreuzigt«, stellte Platon fest.
Jim legte sich auf die Seite.
»Natürlich war der vorher im Knast. Oder meinst du, die Römer haben den zuhause abgeholt? Entschuldigung, sind Sie Herr Jesus? Verzeihen Sie bitte, aber wir kommen, um Sie zu töten. Eine Zahnbürste brauchen Sie nicht einzupacken …
»Hm«, machte Platon. »Das ergibt Sinn auf eine groteske Art.«
»Siehst du. Also wenn du das nächste Mal an Jesus denkst, denk auch an mich.«
»Weil du dich so gerne an Kreuze festmachen lässt?«
»Alter, erzähl doch nicht so ne Scheiße. Aus so was entwickeln sich rubbeldiekatz unschöne Gerüchte.«
»Rubbeldiekatz«, wiederholte Platon und lachte in sich hinein.
»Was?«, fragte Jim.
»Rubbeldiekatz«, lachte Platon nun laut los.
Jim rollte sich auf den Rücken und zog grinsend an seinem Joint.
»Mit dir red ich doch gar nicht mehr, du bekiffter Hooligan.«
***
Irgendwie schien sich in die Indiana Jones Melodie des DVD Menüs ein weiterer, störender Ton eingeschlichen zu haben.
Lakai wälzte sich schmatzend auf seinem Sofa und versuchte das Geräusch zu ignorieren.
Wieder ließ ihn der Ton aufwachen.
Lakai öffnete die Augen und sah sich in der Ecke des Wohnzimmers um, aus der das Klingeln zu kommen schien.
Das Telefon.
»Scheiße …«, knurrte Lakai und wankte dem Apparat entgegen.
»Was denn?«, fragte er in den Hörer.
Wer auch immer ihn weckte, konnte unmöglich damit rechnen, dafür auch noch freundlich begrüßt zu werden.
»Na, Rocker. Alles frisch?«
»Jim, ach so. Was gibt’s denn?«
»Nix Besonderes. Platon und ich kommen dich gleich abholen, wir müssen doch meine erfolgreiche Resozialisierung begehen.«
»Was? Habt ihr Alkis mal auf die Uhr geguckt?«
»Mach dich parat, aber rubbeldiekatz«, plärrte ihm plötzlich Platons Stimme ins Ohr.
Er und Jim lachten Lakai nun synchron ins Ohr, so dass er den Hörer ein Stück von sich weg hielt.
»Is gut«, sagte er dann. »Ich bin in ner Viertelstunde transportfähig.«
»Sauber«, lachte Jim. »Dann mach noch mal Pipi und geh dir durch die Haare, wir sind gleich da.«
Lakai ließ den Hörer wieder auf den Schreibtisch sinken und torkelte, noch immer nicht ganz wach, zurück aufs Sofa.
Warum sich gegen Dinge wehren, auf die man sowieso keinen Einfluss hatte, überlegte er.
Der Gedanke an ein Zechgelage mit seinen Freunden versetzte ihn zwar jetzt nicht in Ekstase, aber Platon und Jim würden ja doch keine Ruhe geben, bis sie ihn überredet hatten.
Lakai ging ins Schlafzimmer, zog sich erneut um und wusch sich im Bad noch schnell das Gesicht.
Wenn sein eigener Schlaf schon nicht mehr zu retten war an diesem Abend, dann zumindest der seiner Nachbarn. Er musste also nach Möglichkeit schon unten auf der Straße seine Freunde abfangen, wollte er verhindern, dass sie das ganze Haus aufweckten.
Lakai zog die Wohnungstüre hinter sich zu und ging die Stufen hinab. Draußen vor der Haustüre starrte er bereits in zwei grelle Scheinwerfer, die sich schnell auf ihn zu bewegten.
»Fuck!«, entfuhr es Lakai automatisch, als er ein Stück von der Haustüre wegsprang.
Der Wagen kam kurz vor der kleinen Mauer zum Stehen, die das Grundstück von der Straße trennte.
Die Lichter gingen aus, und Lakai erkannte Jim grinsend hinter dem Steuer sitzend.
»Hast du’n Arsch auf?«, fragte Lakai.
Die Beifahrertüre des Polos öffnete sich, und Platon fiel noch immer im Sicherheitsgurt hängend auf das kleine Stück Wiese.
»N’Abend. Sie hatten ein Taxi bestellt«, lachte er und befreite sich schließlich von dem Gurt.
Lakai stieg kopfschüttelnd über ihn hinweg auf den Rücksitz des Autos.
»Tach auch«, begrüßte Jim ihn fröhlich durch den Rückspiegel.
»Ihr habt ja echt Nerven, hier um die Zeit so anzurauschen. Und dann auch noch auf den scheiß Rasen. Wenn das der scheiß Hausmeister sieht, kriegt der nen scheiß Herzkasper.«
Jim drehte sich zu Lakai herum.
»Scheiß, scheiß, scheiß … Wo lernst du eigentlich so hässliche Wörter, junger Mann?«
Lakai lachte und stupste Jim vor den Hinterkopf.
»Ja, das ist wieder deine Lösung für alles. Draufhauen«, grinste der.
Platon schaffte es schließlich zurück in den Sitz.
»Verdammte Gurte«, ächzte er und schloss die Türe. »Also, wissen wir schon, wo’s hingehen wird?«
»Noch nicht so richtig«, antwortete Jim. »Der Lakai war gerade im Begriff, mich zu verprügeln.«
»Muss ich mir das angucken? Ich werd dann immer so traurig.«
»Nein, ich bin auch schon fertig«, sagte Lakai. »Und wohin denn jetzt?«
»Euch Steckrüben fällt ja doch nichts ein. Ich fahr dann erst mal in die City«, sagte Jim und ließ den Wagen an.
»Sehr gut, Kutscher. Eile er sich und spare er nicht mit der Peitsche«, sagte Platon.
»Schnauze, der Beifahrer soll gesehen und nicht gehört werden.«
Platon wandte sich Lakai zu.
»Und du lässt zu, dass der Langhaarige so mit mir redet?«
Lakai gähnte und zuckte mit den Schultern.
»Der könnt jetzt noch ganz andere Sachen mit dir veranstalten, mir wär’s egal. Ich schlaf noch halb.«
»Du wirst schon noch wieder fit. Musst morgen ran?«, fragte Jim.
Lakai nickte.
»Aber erst gegen Nachmittag. Ein bisschen darf ich also noch raus zum Spielen.«
»Fantastisch. Dann haben wir ja Zeit.«
Jim hielt an einer roten Ampel.
Neben ihnen kam nach einer Sekunde lautstark auch ein Sportwagen zum Stehen.
Der Fahrer grinste die drei an.
Jim machte ein ernstes Gesicht und trat im Leerlauf immer wieder das Gaspedal seines Kleinwagens durch.
»So blöd kann der doch unmöglich sein«, lachte Platon und wartete auf die Reaktion des Ampelnachbarn.
Der lächelte schief und ließ nun ebenfalls seinen ungleich lauteren Motor aufheulen.
Platon, Jim und Lakai lachten laut los, so dass über das Gesicht des Sportwagenfahrers kurz ein Hauch von Unsicherheit huschte.
Platon kurbelte sein Fenster herunter, ebenso wie der Mann neben ihnen.
»Ey, willst’n Rennen, Homie?«, fragte Platon.
»Aber immer«, antwortete der Typ kaugummikauend.
»Hundert Euro, wer zuerst an der Ampel da vorne ist. Okay?«
Wieder ließ der andere Fahrer seinen Motor aufheulen und nickte dabei.
Platon wandte sich zu Jim.
»Startklar, Dicker?«
»Meine 45 Pferdchen sind bereit, seine Seele zu fressen.«
Die Ampel sprang auf Gelb und der Sportwagen schoss mit quietschenden Reifen wie ein Pfeil über die Kreuzung. Nur zwei Sekunden später konnten die drei nur noch die Rücklichter des Autos erkennen.
»Krasser Vollidiot«, sagte Jim und bog links ab.
»Aber schnell ist er«, bemerkte Lakai.
»Und wir haben wieder was für den Mittelstand getan«, sagte Platon. »Der Affenmann braucht morgen nen Satz neuer Hinterreifen.«
Nach kurzer Fahrt erreichten sie einen Parkplatz am Rande der Innenstadt.
Unter einem Plakat, auf dem von Hilfe bei Erektionsstörungen die Rede war, stellte Jim seinen Wagen ab.
»Geiler Parkplatz«, lachte er. »Wenn ich morgen früh nicht mehr weiß, wo die Karre steht, muss ich einfach nur an euch denken.«
»Keine Ahnung, wovon du redest«, sagte Platon und stieg aus dem Auto. »Man nennt mich die steirische Eichel.«
Lakai kletterte am Beifahrersitz vorbei ins Freie.
»Ich dachte, dein Spitzname wäre Old Firehand.«
Jim rückte seine Hose zurecht.
»Und nun?«, fragte Platon und warf die Autotüre zu.
»Da gibt’s nen kleinen Schuppen hinten an der Ecke. Die haben zu Öffnungszeiten ein eher unverkrampftes Verhältnis«, sagte Jim.
Lakai und Platon sahen sich an und zuckten mit den Schultern.
»Kommt einfach mit«, sagte Jim und überquerte die Straße.
Seine Freunde folgten ihm. In einer kleinen Seitenstraße lag die Bar, von der Jim gesprochen hatte.
Lakai bestaunte einen riesigen Haufen Erbrochenes, der auf dem Gehweg davor lag.
»Äh … Was genau für ein Laden ist denn das?«, fragte er dann.
»Ist nicht so schlimm, wie’s jetzt aussieht. Ich war da schon ein paar Mal drin. Ist echt okay. Außerdem«, Jim deutete auf den gigantischen Fleck, »kann ja jedem mal schlecht werden.«
»Alter … Guck mal, da liegt sogar noch ne halbe Tomate drin.«
»Igitt, hörst du auf, mit fremder Leute Kotze zu spielen«, sagte Lakai und zog Platon zu sich.
Jim ging voran in die Bar, in der sich für diese Uhrzeit relativ viele Menschen befanden.
»Ach, hier hängen also die ganzen Penner rum, die man woanders rausschmeißt«, lachte Platon.
»Sieht so aus«, sagte Lakai.
Die drei kämpften sich quer über die kleine Tanzfläche in den hinteren Bereich des verrauchten Ladens.
An einem Tisch an der hinteren Wand nahmen sie Platz, und Jim hielt sofort nach der jungen Frau Ausschau, die sich mit Getränken in der Hand zwischen den Gästen bewegte.
»Was kann ich euch bringen?«, fragte sie, als sie den Tisch erreicht hatte.
»Wir nehmen zwei schöne große Pils und einen Whisky. Kein Eis oder Wasser«, sagte Jim.
»Okay«, sagte die Frau und machte sich auf den Weg zurück zur Theke.
Jims Blick klebte förmlich an ihrem Hintern.
»Ey, du Satyr. Kannst du nicht mal warten, bis wir das erste Bier getrunken haben«, sagte Platon.
»Was denn? Ich war im Gefängnis und brauche Zärtlichkeit.«
»Gab’s denn da keine?«, lachte Lakai.
»Abgesehen von meinem Zellengenossen, der zwanzig Stunden am Tag geheult hat, nicht.«
»Das wird ihm eine Lehre sein«, sagte Platon. »Der fährt nie wieder schwarz.«
Jim zog die Augenbrauen hoch.
»Ich glaube nicht, dass der überhaupt noch mal das Haus verlässt. Der hat mit Sicherheit nen Riss fürs Leben gekriegt.«
»Trotzdem muss Recht Recht bleiben. Wir müssen die Schwarzfahrer vom Angesicht der Erde tilgen. Und wer keinen gültigen Fahrschein besitzt, muss zum Wohle der Volksgemeinschaft in unseren schönen deutschen Gefängnissen verrotten.«
Lakai und Jim sahen amüsiert Platons Hitlerparodie zu.
»Trotzdem«, sagte Jim schließlich. »Da kommt man echt ins Grübeln, wo wir leben. Stecken die so’n halbes Kind in den Knast.«
»Wer war im Gefängnis?«, fragte die Kellnerin und stellte die Getränke auf dem Tisch ab.
»Der da«, lachte Lakai und zeigte auf Jim.
»Und warum?«, fragte die Frau interessiert.
»Ich hab nen Blauwaal erdrosselt. Im Zoo. Ich red eigentlich nicht so gerne darüber.«
Missmutig nahm die Kellnerin Lakais und Platons Lachen zur Kenntnis.
»Nein, er hat auf nem Kindergeburtstag bei Mäckes den Clown Ronald vollgereihert«, sagte Platon schließlich.
Die junge Frau nahm nun ebenfalls am Tisch Platz.
»Wie jetzt?«, fragte sie. »Was machst du auf nem Kindergeburtstag?«
Jim nippte an seinem Glas.
»Na ja, ich war zufällig da, als der Geburtstag war. Und an dem Tag hatte ich … ein bisschen zuviel getrunken. So hat sich das halt ergeben.«
»Und dafür kommt man ins Gefängnis?«
Jim nickte.
»Ja, leider. Aber nur ein paar Tage.«
»Wahnsinn. Und die richtigen Verbrecher laufen draußen frei herum.«
Die Frau erhob sich kopfschüttelnd und machte wieder ihre Runde.
»Ein bisschen polemisch aber süß, oder?«, fragte Jim.
Seine Freunde nickten.
»Aber dass du den Clown absichtlich vollgeröhrt hast, war dir gerade entfallen, oder?«, fragte Lakai.
»Und dass du gar nicht in den Knast gemusst hättest, wenn du nicht besoffen bei der Verhandlung darauf bestanden hättest, vom Richter als Clit-Commander angesprochen zu werden?«, ergänzte Platon.
Jim trank noch einen Schluck.