Inhalt

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Impressum

Cover

Ilona Andrews

Andrews_Finsternis.tif

DIE NACHT DER MAGIE

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Jochen Schwarzer

 

Für meine Töchter,

Anastasia und Helen

Kapitel 1

Ich saß in meiner schattigen Küche, eine Flasche Boone’s Farm Hard Lemonade vor mir auf dem Tisch, als es zu einer Magieschwankung kam. Meine Wehre erloschen und ließen mein Haus schutzlos zurück. Der Fernseher sprang plötzlich an und lärmte in die Stille hinein.

Ich hob eine Augenbraue und wettete mit der Flasche, dass es wieder eine Eilmeldung gab.

Die Flasche verlor.

»Eilmeldung!«, verkündete Margaret Chang. »Das Justizministerium warnt die Bevölkerung: Mit versuchten Beschwörungen oder anderen Aktivitäten, die zum Erscheinen übernatürlicher Wesen führen könnten, gefährden Sie sich und Ihre Mitbürger.«

»Was du nicht sagst«, wandte ich mich an die Flasche.

»Die Polizei ist angewiesen, derartige Umtriebe unter Einsatz aller erforderlichen Mittel zu unterbinden.«

Margaret Chang redete weiter ihren Schmus, und ich biss derweil von meinem Sandwich ab. Wem wollten die was vormachen? Keine Polizei der Welt konnte hoffen, jede einzelne Beschwörung zu unterbinden. Es brauchte einen gut ausgebildeten Magier, um eine Beschwörung überhaupt zu bemerken. Andererseits brauchte es nur irgendeinen Schwachkopf mit einem Fünkchen Macht und einer sehr vagen Vorstellung, wie er sie einsetzen sollte, um so etwas zu versuchen. Und ehe man sich versah, verwüstete ein dreiköpfiger Slawengott die Innenstadt von Atlanta, oder es regneten geflügelte Schlangen vom Himmel herab, während den Spezialeinheiten der Polizei ganz schnell die Munition ausging. Wir lebten in gefährlichen Zeiten. Doch wären sie weniger gefährlich gewesen, hätte ich mir einen neuen Job suchen müssen. In der sicheren Technikwelt von ehedem wäre eine der Magie kundige Söldnerin wie ich nicht sonderlich gefragt gewesen.

Wenn man Probleme magischer Art hatte, Probleme, bei denen die Polizei nicht helfen konnte oder wollte, rief man bei der Söldnergilde an. Und wenn die Sache mein Revier betraf, rief die Gilde anschließend bei mir an. Ich rieb mir die Hüfte und verzog das Gesicht. Ich hatte immer noch Schmerzen vom letzten Einsatz, auch wenn die Wunde besser verheilt war, als ich erwartet hatte. Das war das erste und letzte Mal gewesen, dass ich mich darauf eingelassen hatte, ohne irgendeinen Schutz gegen den Impala-Wurm vorzugehen. Beim nächsten Mal würde ich auf einen Schutzanzug der Kategorie vier bestehen.

Plötzlich packten mich Angst und Abscheu. Mein Magen krampfte sich zusammen. Es lief mir eiskalt über den Rücken, und meine Nackenhaare stellten sich auf.

Etwas Böses war in mein Haus eingedrungen.

Ich legte das Sandwich weg und stellte den Fernseher stumm. Auf der Mattscheibe gesellte sich ein Mann mit versteinerter Miene zu Margaret Chang. Er hatte kurz geschorenes Haar und schiefergraue Augen. Ein Polizist. Wahrscheinlich von der Paranormal Activity Division. Ich ergriff den Dolch, der auf meinem Schoß lag, und blieb reglos sitzen.

Ich lauschte. Wartete.

Kein Laut durchbrach die Stille. Ein Wassertropfen perlte an der feuchten Flasche hinab.

Etwas Großes schlich über die Decke der Diele in die Küche. Ich tat, als würde ich es nicht bemerken. Es hielt links hinter mir inne, daher musste ich mir keine allzu große Mühe geben.

Der Eindringling zögerte, wandte sich um und ging dann in der Ecke vor Anker. Dort hing er nun mit mächtigen gelben Klauen an der Täfelung, stumm und reglos wie ein Wasserspeier, und das am helllichten Tag. Ich trank einen Schluck aus der Flasche und stellte sie so ab, dass ich darauf das Spiegelbild des Wesens sehen konnte. Es war nackt und unbehaart und schien kein einziges Gramm Fett am Leib zu haben. Die Haut war über den Muskelsträngen zum Reißen straff gespannt, wie eine dünne Wachsschicht auf einem Anatomiemodell.

Der nette Herr Spiderman von nebenan.

Der Vampir hob die linke Hand. Die messerscharfen Klauen durchschnitten die Luft. Er drehte den Kopf hin und her wie ein Hund und betrachtete mich mit Augen, in denen eine ganz besondere Art von Wahnsinn leuchtete, geboren aus bestialischer Blutgier und von keinerlei Rücksicht gehemmt.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung wirbelte ich herum und schleuderte den Dolch. Die schwarze Klinge traf das Wesen in den Hals.

Der Vampir erstarrte. Seine gelben Klauen regten sich nicht mehr.

Dickes, dunkles Blut rann von der Klinge über Hals und Brust des Vampirs und tropfte von dort zu Boden. Seine Gesichtszüge zuckten, versuchten sich zu verwandeln. Er öffnete das Maul und entblößte zwei Fangzähne, die wie kleine, elfenbeinerne Sicheln geformt waren.

»Das war sehr unbedacht, Kate«, sprach Ghasteks Stimme aus der Kehle des Vampirs. »Jetzt muss ich ihn füttern.«

»Das ist ein Reflex, da kann ich nichts machen. Du hörst ein Glöckchen, und du kriegst Futter. Du siehst einen Untoten, und du wirfst ein Messer. Es ist echt genau dasselbe.«

Das Gesicht des Vampirs zuckte, als versuchte der Herr der Toten, der ihn lenkte, einen Blick auf etwas zu werfen.

»Was trinkst du da?«, fragte Ghastek.

»Boone’s Farm.«

»Du kannst dir doch was Besseres leisten.«

»Ich will aber nichts Besseres. Ich mag Boone’s Farm. Und geschäftliche Dinge bespreche ich lieber am Telefon. Und mit dir am liebsten gar nicht.«

»Ich will dich nicht engagieren, Kate. Das hier ist lediglich ein privater Besuch.«

Ich sah den Vampir an und wünschte, ich könnte Ghastek selbst ein Messer in die Kehle rammen. Es wäre ein sehr schönes Gefühl. Doch leider saß er meilenweit entfernt in einem gesicherten Raum.

»Es macht dir Spaß, mir auf die Nerven zu gehen, nicht wahr, Ghastek?«

»Oh ja.«

Die große Frage war, was dahintersteckte. »Was willst du? Mach schnell, mein Boone’s Farm wird warm.« Mir war längst nicht so unbesorgt zumute, wie ich tat.

»Ich habe mich bloß gefragt«, sagte Ghastek mit einer trockenen Neutralität, die eines seiner Markenzeichen war, »wann du deinen ehemaligen Vormund das letzte Mal gesehen hast.«

Die Unbekümmertheit seines Tons jagte mir einen Schauder über den Rücken. »Wieso?«

»Nur so. Es war mir wie immer ein Vergnügen.«

Der Vampir löste sich von der Wand, flog zum offen stehenden Fenster hinaus und nahm meinen Dolch mit sich.

Ich griff zum Telefon und fluchte dabei leise vor mich hin. Ich wählte die Nummer des Ordens der Ritter der mildtätigen Hilfe. Kein Vampir konnte meine Wehre durchbrechen, wenn die Magie in vollem Schwange war. Ghastek konnte nicht wissen, wann die Magie abebben würde, und daher musste er mein Haus schon eine ganze Weile ausgespäht haben, darauf lauernd, dass sich in meinem Abwehrzauber eine Lücke auftat. Ich trank einen Schluck aus der Flasche. Das bedeutete, dass sich, als ich am Vorabend nach Hause kam, ganz in der Nähe ein Vampir versteckt und ich ihn weder gesehen noch gespürt hatte. Wie überaus beruhigend.

Es läutete einmal, zweimal, dreimal. Weshalb hatte er mich nach Greg gefragt?

Am anderen Ende meldete sich eine strenge Frauenstimme: »Der Orden, Sektion Atlanta. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern mit Greg Feldman sprechen.«

»Wie ist Ihr Name?«

Die Stimme klang ein wenig angespannt.

»Ich muss Ihnen meinen Namen nicht nennen«, sagte ich. »Ich möchte den Wahrsager des Ordens sprechen.«

Nach kurzer Pause meldete sich eine Männerstimme. »Nennen Sie uns bitte Ihren Namen.«

Sie wollten Zeit schinden. Wahrscheinlich versuchten sie den Anruf zurückzuverfolgen. Was, zum Teufel, war hier los?

»Nein, das werde ich nicht«, sagte ich mit Entschiedenheit. »Seite sieben Ihrer Satzung, dritter Absatz von oben: ›Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht, sich von einem Wahrsager des Ordens beraten zu lassen. Diese Beratung erfolgt auf Wunsch anonym.‹ Und als Bürgerin verlange ich, dass Sie mich jetzt sofort mit dem Wahrsager des Ordens verbinden oder mir mitteilen, wann ich ihn erreichen kann.«

»Der Wahrsager ist tot«, sagte die Stimme.

Die Welt blieb mit einem Ruck stehen. Ich rutschte noch ein Stück weiter, verängstigt und aus dem Gleichgewicht. Die Kehle tat mir weh. Ich hörte mein Herz pochen.

»Wie das?« Meine Stimme klang ganz ruhig.

»Er wurde bei einem Einsatz getötet.«

»Wer war es?«

»Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Schauen Sie, wenn Sie mir einfach Ihren Namen nennen würden …«

Ich legte auf. Dann blickte ich zu dem Stuhl auf der anderen Seite des Tischs hinüber. Zwei Wochen zuvor hatte Greg auf diesem Stuhl gesessen und in seinem Kaffee gerührt. Sein Löffel hatte sich in exakt kreisförmigen Bahnen bewegt, ohne je den Becher zu berühren. Und die Erinnerung sorgte dafür, dass ich ihn einen Moment lang tatsächlich dort sitzen sah.

Greg sah mich aus seinen dunkelbraunen Augen an. Mit ihrem traurigen Blick glichen sie den Augen einer Ikone. »Bitte, Kate. Vergiss deine Abneigung gegen mich mal für einen Moment und hör dir an, was ich dir zu sagen habe. Es ist durchaus vernünftig.«

»Ich habe keine Abneigung gegen dich. Das wäre eine grobe Vereinfachung.«

Er nickte, mit jenem überaus geduldigen Gesichtsausdruck, mit dem er Frauen um den Verstand brachte. »Natürlich. Ich wollte mich keinesfalls kränkend oder vereinfachend über deine Gefühle äußern. Ich möchte nur, dass wir uns auf den Kern dessen konzentrieren, was ich zu sagen habe. Könntest du mir bitte zuhören?«

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Ich höre.«

Er griff in seine Lederjacke, zog eine Schriftrolle hervor, legte sie auf den Tisch und entrollte sie langsam.

»Das ist die Einladung des Ordens.«

Ich hob die Hände. »Das war’s. Ich bin dann mal weg.«

»Lass mich bitte ausreden«, erwiderte er. Er wirkte nicht ärgerlich. Er sagte mir nicht, dass ich mich wie ein kleines Kind aufführte, obwohl mir klar war, dass ich genau das tat. Das machte mich nur noch wütender.

»Also gut«, sagte ich.

»In ein paar Wochen wirst du fünfundzwanzig. Das will für sich genommen nichts besagen, ist aber, was die Wiederaufnahme in den Orden angeht, durchaus bedeutsam. Es ist sehr viel schwieriger, dort aufgenommen zu werden, wenn man erst mal fünfundzwanzig ist. Nicht unmöglich. Nur schwieriger.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Sie haben mir Broschüren geschickt.«

Er ließ die Schriftrolle los, lehnte sich zurück und schlang die langen Finger ineinander. Das Schriftstück regte sich nicht, obwohl es sich sämtlichen physikalischen Gesetzen zufolge hätte wieder zusammenrollen müssen. Greg nahm es mit den physikalischen Gesetzen manchmal nicht so genau.

»Dann bist du dir also auch der Altersbußen bewusst.«

Es war keine Frage, aber ich antwortete dennoch darauf. »Ja.«

Er seufzte. Es war eine winzige Regung, die nur bemerkte, wer ihn gut kannte. An der Art, wie er dort saß, ganz reglos, und den Hals ein wenig reckte, erkannte ich, dass er schon wusste, wie ich mich entschieden hatte.

»Ich wünschte, du würdest es dir noch einmal überlegen«, sagte er.

»Nein, daraus wird nichts.« Einen Moment lang sah ich die Frustration in seinem Blick. Wir wussten beide, was hier unausgesprochen blieb: Der Orden bot Schutz, und Schutz war bei jemandem von meiner Herkunft von größter Wichtigkeit.

»Darf ich fragen, wieso?«

»Das ist nichts für mich, Greg. Ich kann diese Hierarchien nicht ertragen.«

Für ihn war der Orden ein Ort der Zuflucht und der Sicherheit, eine Stätte der Macht. Die Mitglieder orientierten sich ganz und gar an den Werten des Ordens und dienten ihm mit solcher Hingabe, dass der Orden nicht mehr als Zusammenschluss einzelner Personen erschien, sondern als eigenständiges Gebilde, das überaus mächtig war. Greg hatte sich dem angeschlossen, und es ernährte ihn. Ich hatte mich dagegen gesträubt und beinahe alles verloren.

»Jeden Augenblick, den ich dort verbracht habe«, sagte ich, »hatte ich das Gefühl, als würde ich zusammenschrumpfen, dahinschwinden. Ich musste da raus, und ich werde nicht dorthin zurückkehren.«

Greg sah mich mit einem sehr traurigen Blick aus seinen dunklen Augen an. Im schummrigen Licht meiner kleinen Küche war seine Schönheit geradezu betörend. Auf verquere Art war ich froh, dass meine Sturheit ihn dazu gebracht hatte, mich zu besuchen, und er mir nun direkt gegenübersaß, wie ein altersloser Elfenprinz, elegant und traurig. Ach Gott, wie ich mich für diese Kleinmädchenfantasie hasste.

»Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest«, sagte ich.

Er blinzelte, verblüfft ob meiner Förmlichkeit, und erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. »Selbstverständlich. Vielen Dank für den Kaffee.«

Ich brachte ihn noch zur Tür. Es war schon dunkel, und der Mond tauchte meinen Vorgartenrasen in seinen silbernen Schein. An der Veranda leuchteten die weißen Hibiskusblüten wie ein Sternhaufen vor dem dunklen Gesträuch.

Ich sah zu, wie Greg die drei Stufen der Eingangstreppe hinabging.

»Greg?«

»Ja?« Er wandte sich um. Seine Magie wallte um ihn wie ein Umhang.

»Nichts.« Ich schloss die Tür.

Das ist meine letzte Erinnerung an ihn: vor dem mondbeschienenen Rasen und in seine Magie gehüllt.

Oh Gott.

Ich schlang die Arme um mich, wollte weinen. Doch die Tränen kamen nicht. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Die letzte Verbindung zu meiner Familie war gekappt. Jetzt war niemand mehr übrig. Ich hatte keine Mutter und keinen Vater und jetzt auch keinen Greg mehr. Ich biss die Zähne zusammen und ging packen.