MIT JEDEM SCHLAG
DER STUNDE
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Uwe Anton
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MIT JEDEM SCHLAG
DER STUNDE
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Uwe Anton
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Uwe Anton
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Hour Game
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2004 by Columbus Rose, Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2005 by by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Wolfgang Neuhaus
E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
Alle Rechte, auch die der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe, vorbehalten
ISBN 978-3-8387-1716-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Diesen Roman widme ich
Harry L. Carrico,
Jane Giles
und dem Gedenken an Mary Rose Tatum –
drei der großartigsten Menschen,
die ich je gekannt habe.
Der Mann in der Regenjacke ging leicht gebückt. Er atmete schwer, und sein Körper war verschwitzt. Das Gewicht, das er auf der Schulter trug, war nicht übermäßig, doch die Last war sperrig und der Boden uneben. Es war nie einfach, mitten in der Nacht eine Leiche durch den Wald zu schleppen. Der Mann wechselte das zusammengeschnürte Bündel auf die linke Schulter und stapfte weiter. Seine Schuhsohlen wiesen kein charakteristisches Muster auf, was im Grunde auch gar keine Rolle spielte, da der Regen binnen kürzester Zeit jeden Fußabdruck fortgewaschen hätte. Der Mann hatte den Wetterbericht verfolgt; er war hier, weil es regnete. Das unfreundliche Wetter war der beste Freund, den er sich wünschen konnte.
Abgesehen von der Leiche auf seiner kräftigen Schulter wies der Mann eine weitere Auffälligkeit auf: Er trug eine schwarze Sturmhaube, die mit einem esoterischen Symbol bestickt war, einem Kreis mit einem Fadenkreuz. Jeder über fünfzig hätte das Zeichen vermutlich sofort wiedererkannt. Einst hatte es Angst und Schrecken verbreitet, doch mit den Jahren war diese Wirkung verblasst. Es spielte auch keine Rolle, dass kein Lebender ihn mit der Sturmhaube sehen würde; die tödliche Symbolik verschaffte dem Mann sogar eine gewisse Befriedigung.
Nach zehn Minuten hatte er die Stelle erreicht, die er bei einem früheren Besuch sorgfältig ausgewählt hatte. Dort legte er die Leiche mit einer Ehrfurcht ab, die im Widerspruch zu dem gewaltsamen Tod stand, den die Person erlitten hatte. Er holte tief Luft und hielt den Atem an, als er den Knoten im Telefonkabel löste, mit dem das Bündel umwickelt war. Dann schlug er die Plastikfolie auseinander. Die Frau war jung, und ihre Züge waren vor zwei Tagen noch sehr hübsch gewesen. Nun bot sie keinen schönen Anblick mehr. Das blonde Haar fiel aus dem Gesicht mit der grünlichen Haut, den geschlossenen Augen und den gedunsenen Wangen. Wären die Augen geöffnet gewesen, hätte noch der Ausdruck maßlosen Erstaunens darin gestanden, den die Frau im Augenblick ihres gewaltsamen Todes gezeigt hatte – eine Erfahrung, die in den USA jedes Jahr ungefähr dreißigtausend Menschen machten.
Der Mann entfernte die Plastikfolie und legte die Frau auf den Rücken. Er stieß den Atem aus und kämpfte gegen den Würgereiz an, den der Gestank der Leiche auslöste, als er seine Lungen erneut füllte. Im Licht der Taschenlampe suchte er nach dem kleinen gegabelten Ast, den er zuvor im Gestrüpp bereitgelegt hatte, und drückte ihn in die Erde. Er zog seine Handschuhe straff, packte den Unterarm der Frau, legte ihn in die Astgabel und richtete den Arm der Toten so aus, dass er zum Himmel zeigte. Die Leichenstarre erschwerte ihm die Arbeit, aber der Mann war kräftig und schaffte es schließlich, den steifen Arm in den gewünschten Winkel zu biegen. Er zog eine Armbanduhr aus der Tasche, überzeugte sich mittels seiner Taschenlampe, dass sie auf die richtige Zeit eingestellt war, und legte sie um das Handgelenk der Toten.
Obwohl er kein gläubiger Mensch war, kniete der Mann vor der Leiche nieder und murmelte ein kurzes Gebet, wobei er sich Mund und Nase mit einer Hand zuhielt.
»Du warst nicht direkt verantwortlich, aber du warst alles, was ich hatte. Du bist nicht umsonst gestorben. Und ich glaube, du bist jetzt besser dran.«
Glaubte er wirklich, was er da gerade gesagt hatte? Vielleicht ja, vielleicht nein. Vielleicht spielte es auch gar keine Rolle.
Er blickte ins Gesicht der Toten, musterte eingehend ihre Züge, wie ein Wissenschaftler, der ein faszinierendes Experiment beobachtet. Er hatte nie zuvor einen Menschen getötet. Er hatte es schnell und, wie er hoffte, schmerzlos getan. Im matten, dunstigen Licht schien die Frau von einer gelblichen Aura umgeben zu sein, als wäre sie bereits zu einem Geist geworden.
Der Mann suchte die Umgebung ab, ob er Spuren hinterlassen hatte, die Hinweise auf seine Person geben konnten. Er fand nur ein Stückchen Stoff von seiner Sturmhaube, das sich in der Nähe der Leiche an einem Ast verfangen hatte. Eine solche Nachlässigkeit darfst du dir nicht erlauben. Er steckte den Stofffetzen in die Tasche und suchte weiter, verbrachte mehrere Minuten damit, mit nahezu mikroskopischem Blick nach anderen verräterischen Spuren Ausschau zu halten.
Oft waren es fast unsichtbare Details, die der Spurensicherung den Täter verrieten. Ein einziger Tropfen Blut, Sperma oder Speichel, ein verwischter Fingerabdruck, ein Haarbalg mit ein paar Wurzelzellen, die eine DNA-Analyse erlaubten – mehr brauchte es nicht, und schon wurde man von der Polizei über seine Rechte belehrt, während die Staatsanwälte hungrig in der Nähe lauerten. Leider bot es einem nur wenig Sicherheit, wenn man sich dieser Gefahren bewusst war. Ein Verbrecher konnte noch so vorsichtig sein, er hinterließ an jedem Tatort Spuren, die ihn belasten konnten. Deshalb hatte der Mann sorgsam darauf geachtet, jeden körperlichen Kontakt mit der Leiche zu vermeiden, als bestünde die Gefahr, sich bei der kleinsten Berührung mit einer tödlichen Krankheit anzustecken.
Der Mann legte die Plastikfolie zusammen und steckte das Telefonkabel ein, blickte noch einmal auf die Uhr und machte sich dann langsam auf den Rückweg zu seinem Wagen.
Hinter ihm lag die Tote und reckte die Hand zum verregneten Himmel. Ihre Armbanduhr schimmerte in der Dunkelheit und markierte ihren neuen Ruheplatz. Sie würde nicht lange unbemerkt bleiben. Leichen, die nicht vergraben waren, wurden fast immer nach kurzer Zeit gefunden, selbst an abgelegenen Orten wie diesem.
Bevor der Mann losfuhr, zeichnete er mit dem Finger das Fadenkreuz-Symbol auf der Sturmhaube nach, das sich auch auf der Uhr befand, die er der Toten angelegt hatte. Das müsste genügen, um sie aufzurütteln. Er atmete tief durch und verspürte Erregung und Furcht zugleich, als er den Motor anließ und losfuhr. Seit Jahren hatte er geglaubt, dieser Tag würde nie kommen. Seit Jahren hatte ihn immer wieder der Mut verlassen. Nachdem er nun den ersten Schritt getan hatte, empfand er ein überwältigendes Gefühl der Macht und Befreiung.
Er legte den Gang ein und gab Gas. Die Reifen griffen auf dem feuchten Straßenbelag; dann verschluckte die Dunkelheit die Rücklichter seines blauen VW. Er wollte sein Ziel so schnell wie möglich erreichen.
Er musste einen Brief schreiben.
Michelle Maxwell steigerte das Tempo. Sie hatte den ebenen Teil ihrer Joggingstrecke durch die Hügel um Wrightsburg, Virginia, hinter sich gelassen; nun wurde das Gelände steiler. Michelle war Olympiateilnehmerin im Rudern gewesen und hatte anschließend neun sehr intensive Jahre beim Secret Service gearbeitet. Deshalb war die eins fünfundsiebzig große Frau in hervorragender körperlicher Verfassung. Allerdings herrschte an diesem Frühlingstag eine ungewöhnlich hohe Luftfeuchtigkeit, denn über dem Mittelatlantik hatte sich ein Hochdrucksystem festgesetzt. Michelle spürte die Belastung in den Muskeln und Lungen, als sie eine Steigung hinauflief. Nach einem Viertel der Strecke hatte sie ihr schulterlanges schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden; dennoch fanden widerspenstige Strähnen immer wieder den Weg in ihr Gesicht.
Sie hatte den Secret Service verlassen, um sich als Privatdetektivin in dieser kleinen Stadt in Virginia selbstständig zu machen. Ihr Partner war Sean King, Rechtsanwalt und ebenfalls einstiger Mitarbeiter des Secret Service, der sich in Wrightsburg eine neue Existenz aufgebaut hatte. Michelle und King hatten sich erst im vergangenen Jahr zusammengetan, als Michelle noch für den Service gearbeitet hatte und King mit einer Serie von Morden in der näheren Umgebung beschäftigt gewesen war. Nachdem der Fall erfolgreich abgeschlossen war und beide zu trauriger Berühmtheit gelangt waren, hatte Michelle den Vorschlag gemacht, eine Detektei zu eröffnen. King hatte sich nach einigem Zögern einverstanden erklärt.
Beide waren erstklassige Ermittler, sodass die Detektei anfangs großen geschäftlichen Erfolg verbuchen konnte. Dann war es zu einer Flaute gekommen, doch Michelle war beinahe dankbar dafür. Sie liebte es, sich im Freien aufzuhalten, und eine Trekkingtour oder ein Marathonlauf verschaffte ihr genauso viel Befriedigung, wie eine Fälscherbande hochgehen zu lassen oder einem Wirtschaftsspion die Daumenschrauben anzulegen.
Es war still im Wald; nur das Rascheln der Zweige und der toten Blätter des vergangenen Winters, die eine feuchte Brise zu Mini-Zyklonen verwirbelte, war zu vernehmen. Plötzlich weckte das Knacken von Ästen Michelles Aufmerksamkeit. Sie hatte gehört, dass man in dieser Gegend gelegentlich Schwarzbären sah, aber wenn ihr tatsächlich ein Tier über den Weg lief, war es eher ein Hirsch, Eichhörnchen oder Fuchs. Sie dachte nicht weiter darüber nach, beruhigte sich allerdings mit dem Gedanken, dass eine Pistole im Halfter am Gürtel ihrer Bauchtasche steckte. Schon als Agentin des Secret Service hatte sie ihre Waffe überall dabeigehabt, sogar auf der Toilette. Man konnte nie wissen, wann sich die SIG mit ihren vierzehn Neun-Millimeter-Patronen als praktisch erweisen mochte.
Augenblicke später hörte Michelle ein weiteres Geräusch – das von schnellen Schritten. Während ihrer Dienstzeit hatte sie gelernt, auf die unterschiedlichsten Schrittgeräusche zu achten. Manche verrieten Angst oder Panik, andere Vorsicht oder Verstohlenheit, wieder andere Entschlossenheit oder Aggressivität. Michelle war sich noch nicht sicher, wie sie die Schritte einordnen sollte, die sie nun hörte. Waren sie harmlos, oder verhießen sie Gefahr? Michelle lief ein wenig langsamer und schirmte die Augen mit einer Hand vor dem Sonnenlicht ab, das durchs Blätterdach fiel. Ein paar Sekunden herrschte völlige Stille, dann waren wieder die raschen Schritte zu hören, diesmal wesentlich näher. Jetzt erkannte Michelle, dass es nicht die rhythmischen Schritte eines Joggers waren: Sie klangen eilig und unregelmäßig und verrieten Angst. Der oder die Unbekannte schien sich jetzt links von ihr zu befinden, doch sicher war Michelle sich nicht. Der Wald streute sämtliche Geräusche, sodass die Richtung schwer zu schätzen war.
»Ist da jemand?«, rief Michelle und zog ihre Pistole aus dem Halfter. Sie rechnete nicht mit einer Antwort und erhielt auch keine. Ein Anflug von Furcht überkam sie, als die Geräusche, die zweifellos von einem Menschen stammten, immer näher kamen. Rasch ließ sie den Blick in die Runde schweifen, da es sich um eine Falle handeln konnte: Eine Person lenkte ihre Aufmerksamkeit ab, sodass eine zweite sie von hinten attackieren konnte.
Michelle lächelte verzerrt. Wenn das der Fall war, würde es den Typen verdammt Leid tun. Dann hatten sie sich die Falsche ausgesucht.
Sie blieb stehen, als sie die Quelle der Geräusche nun deutlich ausmachen konnte. Sie kamen von rechts, von der Rückseite des kleinen Hügels genau vor ihr. Wer immer dort rannte – sein Atem ging keuchend, und seine schnellen Schritte durchs Unterholz verrieten Hektik. In wenigen Sekunden würde der Unbekannte hinter der Kuppe aus Erde und Fels erscheinen.
Michelle entsicherte ihre Waffe und brachte sich hinter einem dicken Eichenstamm in Stellung. Wider besseres Wissen hoffte sie, dass es doch nur ein Jogger war; er würde nicht einmal bemerken, dass sie ihn mit einer Waffe in der Hand erwartete. Erde und Steinchen rieselten über die Hügelkuppe. Jede Sekunde würde der Unbekannte erscheinen. Michelle wappnete sich, beide Hände fest um den Griff der Pistole gelegt und bereit, dem Ankömmling nötigenfalls eine Kugel zwischen die Augen zu jagen.
Ein kleiner Junge kam über die Hügelkuppe gerannt, machte einen langen Satz durch die Luft und purzelte dann mit einem Schrei den steilen Abhang hinunter. Bevor er am Fuß des Hügels war, tauchte ein zweiter, etwas älterer Junge auf. Er konnte rechtzeitig abbremsen und rutschte den Abhang auf dem Hosenboden hinunter, bis er neben dem kleineren Jungen zu liegen kam.
Michelle hätte erleichtert aufgeatmet, hätten die Gesichter der Kinder nicht einen Ausdruck nackten Entsetzens gezeigt. Der Jüngere, dessen Gesicht mit Dreck und Tränen verschmiert war, schluchzte. Der Ältere zog ihn am Hemdkragen hoch; dann rannten beide Jungen weiter, genau in Michelles Richtung, die Gesichter vor Angst und Anstrengung gerötet.
Michelle steckte ihre Waffe ins Halfter, trat hinter dem Baum hervor und hob eine Hand. »Halt, ihr beiden!«
Die Jungen schrien vor Schreck und huschten in panischem Entsetzen rechts und links an ihr vorbei. Michelle wirbelte herum und griff nach einem der Jungen, verfehlte ihn aber. »Was ist denn?«, rief sie ihnen nach. »Ich will euch helfen!«
Sie überlegte kurz, ob sie die Verfolgung aufnehmen sollte, war aber nicht sicher, ob sie die Jungen, deren Beine offensichtlich von nackter Angst angetrieben wurden, trotz ihrer olympischen Vergangenheit einholen konnte. Sie drehte sich wieder um und blickte zur Hügelkuppe hinauf. Was konnte den beiden einen solchen Schrecken eingejagt haben? Oder wer?
Michelle schaute sich noch einmal in die Richtung um, in die die Jungen geflüchtet waren. Dann bewegte sie sich vorsichtig zum Hügel. Okay, jetzt wird es riskant. Sie überlegte, ob sie per Handy Hilfe herbeirufen sollte, beschloss dann aber, sich die Sache zuerst genauer anzusehen. Sie wollte nicht die Polizei alarmieren, wenn sich herausstellte, dass die Jungen bloß einen Bären gesehen hatten.
Oben auf dem Hügel erkannte Michelle sofort, welchen Weg die Jungen genommen hatten. Sie folgte dem schmalen Pfad durch den Wald, den die zwei sich bei ihrer panischen Flucht gebahnt hatten. Nach etwa dreißig Metern stieß Michelle auf eine kleine Lichtung. Von hier aus war die Spur nicht mehr so deutlich zu erkennen; dann aber entdeckte sie einen Fetzen Stoff, der am untersten Ast eines Hartriegelstrauchs hing. Also drang sie an dieser Stelle wieder in den Wald ein. Nach fünfzehn Metern kam eine weitere Lichtung, größer als die erste, auf der sich die Reste eines erloschenen Lagerfeuers befanden.
Michelle fragte sich, ob die Jungen hier gelagert hatten und von einem Tier aufgeschreckt worden waren. Aber sie hatten keine Campingausrüstung dabeigehabt, und auch hier auf der Lichtung war nichts zu sehen. Außerdem hatte das Feuer schon vor längerer Zeit gebrannt.
Nein, hier geht etwas anderes vor sich.
Unvermittelt änderte sich die Windrichtung und trieb Michelle den Geruch tief in die Nasenhöhlen. Sie würgte, und ein Ausdruck des Entsetzens erschien in ihren Augen. Sie kannte diesen unverwechselbaren Geruch genau.
Es war verwesendes Fleisch.
Menschenfleisch.
Michelle zog sich ihr T-Shirt über Mund und Nase und konzentrierte sich darauf, ihren eigenen Schweißgeruch einzuatmen, um den üblen Gestank einer in Fäulnis übergegangenen Leiche zu überdecken. Sie hatte die Lichtung zu ungefähr einem Drittel umrundet, da fand sie es. Beziehungsweise sie. Im Gestrüpp am Rand der Lichtung sah sie die ausgestreckte Hand, als würde die Tote ihr zur Begrüßung winken – oder in diesem Fall zum Abschied. Selbst aus dieser Entfernung konnte Michelle erkennen, dass die grünliche Haut bereits ein Stück vom Armknochen heruntergerutscht war. Sie bewegte sich zur Windseite der Leiche und füllte ihre Lungen wieder mit frischer Luft.
Dann sah sie sich die Leiche genau an, hielt dabei jedoch die Waffe bereit. Obwohl der Gestank sowie die Verfärbung und Auflösung der Haut erkennen ließen, dass die Frau schon seit einiger Zeit tot war, konnte es sein, dass sie erst vor kurzem hier deponiert worden war und der Mörder sich noch in der Nähe aufhielt. Und Michelle legte keinen Wert darauf, dass ihr das gleiche Schicksal widerfuhr wie dieser Frau.
Das Sonnenlicht spiegelte sich auf etwas, das sich am Handgelenk der Toten befand. Michelle ging einen Schritt näher heran und sah, dass es eine Armbanduhr war. Sie schaute auf ihre eigene Uhr: Es war halb drei. Sie ging in die Hocke und vergrub ihre Nase in der Armbeuge. Dann rief sie die 911 an und erklärte dem Mitarbeiter der Notrufzentrale, was sie gefunden hatte und wo genau sie sich befand. Anschließend wählte sie die Nummer von Sean King.
»Kannst du die Frau erkennen?«, fragte er.
»Ich glaube, nicht einmal ihre eigene Mutter würde sie wiedererkennen, Sean.«
»Bin schon unterwegs. Pass auf dich auf. Wer das getan hat, könnte zurückkehren, um sein Werk zu bewundern. Ach ja, noch was, Michelle.«
»Ja?«
»Wäre es nicht besser, wenn du im Fitnessstudio auf dem Laufband joggen würdest?«
Michelle trennte die Verbindung und suchte sich eine Stelle, möglichst weit von der Leiche entfernt, von der aus die Tote aber immer noch zu sehen war. Sie behielt die Umgebung aufmerksam im Auge. Der schöne Tag, der Endorphin spendende Lauf in der malerischen Hügellandschaft – alles hatte plötzlich eine düstere Stimmung angenommen.
Seltsam, wie sehr ein Mord die Wahrnehmung verändern konnte.
Auf der kleinen Lichtung herrschte ungewöhnliche Aktivität. Ein großer Bereich war von der Polizei mit gelbem Plastikband abgesperrt worden, das sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte. Ein zweiköpfiges Spurensicherungsteam suchte in unmittelbarer Umgebung des Tatorts nach Hinweisen und analysierte Dinge, die viel zu klein erschienen, um irgendeine Bedeutung besitzen zu können. Andere Ermittler beschäftigten sich mit der Frauenleiche, während wieder andere den Wald und das Unterholz durchkämmten, da der Mörder auf dem Weg zum Tatort und zurück möglicherweise irgendetwas zurückgelassen hatte. Ein Polizist in Uniform hatte die gesamte Umgebung zuerst fotografiert und dann auf Video aufgenommen. Alle Polizeibeamten trugen Masken, die sie vor dem Gestank schützten. Trotzdem wechselten sie sich damit ab, tiefer in den Wald zu flüchten, um ihren Magen zu entleeren.
Alles wirkte geordnet und eingespielt, doch für einen erfahrenen Beobachter wurde rasch deutlich, dass es eins zu null für den Täter stand. Bislang war kein Hinweis gefunden worden.
Michelle schaute sich alles aus einiger Entfernung an. An ihrer Seite stand Sean King, ihr Partner in der Detektei King & Maxwell. King war in den Vierzigern, einen halben Kopf größer als Michelle, gut gebaut und breitschultrig, mit kurzem schwarzem Haar, das an den Schläfen bereits ergraut war. Er hatte ein steifes Knie und eine Schussverletzung in der Schulter, wo ihn vor Jahren eine Kugel getroffen hatte, als bei einer Verhaftung etwas schief gegangen war, während er als Agent des Secret Service in einem Fälschungsfall ermittelt hatte. Eine Zeit lang hatte er als Deputy Sheriff in Wrightsburg gearbeitet, dann aber gekündigt und dem bewaffneten Polizeidienst ein für alle Mal abgeschworen.
Sean King war im Laufe seines Lebens von mehreren Tragödien heimgesucht worden. Er war in Ungnaden aus dem Secret Service entlassen worden, nachdem jemand, dem man King als Personenschützer zugeteilt hatte, vor seinen Augen ermordet worden war. Dann war seine Ehe gescheitert und nach einem erbitterten Prozess geschieden worden. Und erst vor kurzem war er zum Opfer einer Verschwörung geworden, als man ihm eine Serie von Morden in die Schuhe schieben wollte, wobei einige unangenehme Einzelheiten aus seinen letzten Diensttagen beim Secret Service ans Licht gekommen waren. Nach diesen Ereignissen war King zu einem vorsichtigen und misstrauischen Menschen geworden – bis das Leben ihm Michelle Maxwell vor die Füße geworfen hatte. Obwohl ihre Beziehung unter ziemlich ungünstigen Bedingungen ihren Anfang genommen hatte, war sie mittlerweile der einzige Mensch, auf den er sich zu hundert Prozent verlassen konnte.
Michelle hatte ihr Leben mit Vollgas gestartet. Sie hatte in drei Jahren das College absolviert, eine olympische Silbermedaille im Rudern gewonnen und war in Tennessee, ihrem Heimatstaat, Polizistin geworden, bevor sie zum Secret Service gewechselt war. Genau wie bei King war ihr Ausstieg aus dem Service unerfreulich verlaufen, nachdem sie bei einer hinterhältigen Entführung einen Schützling verloren hatte. Damals war sie zum ersten Mal im Leben gescheitert, und diese neue und bittere Erfahrung hätte sie beinahe aus der Bahn geworfen.
Während der Ermittlungen in dem Entführungsfall war sie Sean King begegnet. Anfangs war er ihr unsympathisch gewesen; dann aber hatte sie Kings Stärken erkannt. Von allen Ermittlern, mit denen sie je zu tun gehabt hatte, war er mit Abstand der klügste Kopf. Mittlerweile war er ihr Partner und bester Freund.
Doch es gab kaum zwei Menschen, die unterschiedlicher hätten sein können. Während Michelle adrenalinsüchtig war und ihren Körper durch physische Anstrengungen immer wieder bis an seine Grenzen trieb, zog King es vor, seine Freizeit mit der Suche nach guten Weinen für seine Sammlung zu verbringen, die Werke von Künstlern aus der näheren Umgebung zu erwerben, gute Bücher zu lesen und mit seinem Boot zum Angeln auf den See hinter seinem Haus hinauszufahren. Er war von Natur aus ein in sich gekehrter Mann, der erst gründlich nachdachte, bevor er handelte. Michelle hingegen neigte dazu, sich mit Warpgeschwindigkeit zu bewegen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Diese Partnerschaft zwischen einer Supernova und einem Gletscher hatte sich als äußerst fruchtbar erwiesen.
»Hat man die beiden Jungen gefunden?«, fragte Michelle nun.
King nickte. »Sie sind traumatisiert.«
»Traumatisiert? Wahrscheinlich brauchen sie eine Dauertherapie, mindestens bis zum College.«
Michelle hatte bereits eine ausführliche Aussage gemacht, die von Todd Williams aufgenommen worden war, dem Polizeichef der Stadt. Williams’ Haar war sichtlich weißer geworden, seit Michelle und King ihr erstes Abenteuer in Wrightsburg erlebt hatten. Heute lag ein resignierter Ausdruck auf Williams’ Gesicht, als hätte er sich damit abgefunden, dass in seiner kleinen Stadt Mord und Totschlag nun an der Tagesordnung waren.
Michelle beobachtete, wie eine schlanke, attraktive rothaarige Frau Ende dreißig eintraf. Sie hatte einen Arztkoffer dabei. Die Frau kniete sich vor der Leiche hin und begann mit der Untersuchung.
»Das ist die Rechtsmedizinerin, die für diese Gegend zuständig ist«, erklärte King. »Sylvia Diaz.«
»Diaz? Sie sieht eher wie Maureen O’Hara aus.«
»George Diaz, ein bekannter Chirurg, war ihr Ehemann. Er ist vor ein paar Jahren gestorben. Ein Autounfall. Sylvia war früher Professorin für Rechtsmedizin an der UVA. Jetzt führt sie eine private Arztpraxis.«
»Und nebenbei ist sie Rechtsmedizinerin. Eine sehr beschäftigte Frau. Hat sie Kinder?«
»Nein. Ich glaube, die Arbeit ist ihr Leben«, sagte King.
Michelle hielt sich die Nase zu, als der Wind wieder die Richtung wechselte und den Leichengestank zu ihnen trug. »Ein tolles Leben«, sagte sie. »Mein Gott, sie trägt nicht mal eine Maske, und ich halte es schon in dieser Entfernung kaum aus.«
Zwanzig Minuten später erhob sich Diaz, unterhielt sich mit den Polizisten, zog ihre Gummihandschuhe aus und machte Fotos von der Leiche und der Umgebung. Als sie damit fertig war, verstaute sie die Kamera und wollte gehen, als sie King bemerkte. Sie lächelte und kam zu ihm und Michelle herüber.
»Hast du vergessen, mir zu sagen, dass ihr mal was miteinander hattet?«, flüsterte Michelle.
King warf ihr einen überraschten Blick zu. »Wir sind vor längerer Zeit ein paar Mal zusammen ausgegangen. Woher weißt du davon?«
»Wenn jemand sich einige Zeit in unmittelbarer Nähe einer Leiche aufgehalten hat und dann so strahlend lächelt, muss eine frühere Beziehung im Spiel sein.«
»Danke für die scharfsinnige Beobachtung. Aber sei nett zu ihr. Sylvia ist eine wunderbare Frau.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber erspar mir nähere Einzelheiten.«
»Zu diesem Thema wirst du kein Sterbenswörtchen von mir hören, solange ich atme.«
»Der typische Virginia-Gentleman, was?«
»Nein, ich möchte nur keine Kritik hören.«
Sylvia Diaz begrüßte King mit einer Umarmung, die für Michelles Geschmack ein bisschen inniger ausfiel als zwischen bloßen Freunden. Dann machte King die beiden Frauen miteinander bekannt.
Sylvia bedachte Michelle mit einem Blick, den diese als ausgesprochen unfreundlich empfand.
Dann wandte sie sich wieder King zu. »Wir haben uns lange nicht gesehen, Sean.«
»Michelle und ich haben bis über beide Ohren in Aufträgen gesteckt, aber jetzt hat die Lage sich ein wenig beruhigt.«
»Haben Sie schon einen Hinweis auf die Todesursache?«, meldete Michelle sich zu Wort.
Erstaunt blickte Sylvia sie an. »Ich glaube nicht, dass ich mit Ihnen darüber reden sollte.«
»Es hat mich nur interessiert«, sagte Michelle mit Unschuldsmiene, »da ich zufällig die erste Person am Tatort war. Ich nehme an, Sie können es erst mit Sicherheit sagen, wenn Sie die Obduktion vorgenommen haben?«
»Machst du die Autopsie?«, fragte King.
Sylvia nickte. »Ja. Obwohl verdächtige Todesfälle früher immer von den Kollegen in Roanoke übernommen wurden.«
»Warum jetzt nicht mehr?«, fragte Michelle.
»Früher gab es vier offizielle Einrichtungen, die in diesem Staat Autopsien vornehmen durften: Fairfax, Richmond, Tidewater und Roanoke. Aber dank der Großzügigkeit von John Poindexter, einem sehr wohlhabenden Gentleman, besitzen wir hier jetzt ein weiteres forensisches Zentrum.«
»Ein bisschen seltsam, ein Leichenschauhaus zu stiften«, sagte Michelle.
»Poindexters Tochter wurde hier vor Jahren ermordet. Wrightsburg liegt genau auf der Grenze zwischen der Zuständigkeit des Rechtsmediziners in Richmond und der Verwaltung des westlichen Distrikts in Roanoke. Deshalb kam es zum Streit, welche Stelle die Autopsie vornehmen sollte. Schließlich setzte Roanoke sich durch. Aber während der Überführung der Leiche wurde das Fahrzeug in einen Verkehrsunfall verwickelt, und wichtige Spuren gingen verloren, was zur Folge hatte, dass der Mörder des Mädchens nie gefasst wurde. Wie Sie sich vorstellen können, war Poindexter gar nicht glücklich darüber. Deshalb verfügte er in seinem Testament, nach seinem Tod eine hochmoderne Einrichtung zu bauen, was dann auch geschehen ist.« Sylvia blickte kurz zu der Leiche. »Aber selbst mit den modernsten Geräten dürfte es schwierig sein, in diesem Fall die Todesursache zu ermitteln.«
»Hast du eine Ahnung, wie lange sie schon tot ist?«, fragte King.
»Das hängt sehr von individuellen Faktoren, Umwelteinflüssen und dem Verwesungszustand ab. Wenn der Todeszeitpunkt schon so lange zurückliegt wie in diesem Fall, können wir durch die Obduktion nur einen ungefähren Zeitrahmen erhalten.«
»Ich habe gesehen, dass der Toten ein paar Finger fehlen«, sagte King.
»Eindeutig von Tieren abgenagt.« Nachdenklich setzte Sylvia hinzu: »Trotzdem hätte die Leiche schlimmer zugerichtet sein müssen. Die Kollegen versuchen gerade, Identifikationsmerkmale zu ermitteln.«
»Was hältst du von der Position, in der die Hand fixiert wurde?«, fragte King.
»Ich fürchte, das ist nicht mein Metier, sondern Sache der offiziellen Ermittler. Ich sage denen nur, wie das Opfer starb, und sammle während der Obduktion weitere Beweise, die nützlich sein könnten. Zu Anfang habe ich mal Sherlock Holmes gespielt, wurde aber schnell in meine Schranken verwiesen.«
»Es kann doch nicht falsch sein, wenn Sie Ihr Fachwissen einsetzen, um bei der Aufklärung eines Verbrechens zu helfen«, bemerkte Michelle.
»Das sollte man meinen, nicht wahr?« Sylvia wandte sich wieder der Toten zu. »Nun, der Arm wurde absichtlich auf dem Ast in dieser Position fixiert. Mehr kann ich nicht dazu sagen.« Sie wandte sich an King. »Es hat mich gefreut, dich wiederzusehen, auch wenn die Begleitumstände nicht gerade angenehm waren.« Dann reichte sie Michelle die Hand, die den Händedruck erwiderte.
Als Sylvia davonging, sagte Michelle: »Hast du nicht gesagt, du hättest vor einiger Zeit etwas mit ihr gehabt?«
»Ja. Das ist jetzt über ein Jahr her.«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Botschaft bei ihr angekommen ist.«
»Vielen Dank für diese Erkenntnis. Vielleicht könntest du mir als Nächstes aus der Hand lesen. Kommst du mit? Oder möchtest du deine Joggingrunde fortsetzen?«
»Ich glaube, das war für heute Anregung genug.«
Als sie an der Leiche vorbeikamen, blieb King plötzlich stehen und starrte auf die Hand, die immer noch in den Himmel zeigte.
»Was ist?«, fragte Michelle, der Kings angespannte Miene nicht entgangen war.
»Die Uhr«, sagte er.
Erst jetzt erkannte Michelle, dass der Zeiger auf ein Uhr eingestellt und offenbar stehen geblieben war. »Was ist damit?«
»Es ist eine Zodiac-Uhr.«
»Zodiac?«
»Irgendetwas sagt mir, dass wir nicht das letzte Mal mit diesem Täter zu tun haben«, sagte King.
Die abgelegene Stelle an der Böschung über einem der Hauptzuflusskanäle des Cardinal Lake war schon seit längerer Zeit ein bevorzugter Treffpunkt für die Teenager Wrightsburgs. Hier konnten sie Dinge tun, mit denen ihre Eltern gar nicht einverstanden gewesen wären. An diesem Abend war der Himmel bedeckt, Wind rauschte durch die Bäume, und gelegentlich nieselte es. Deshalb stand heute nur ein einziger Wagen an der Böschung, doch die Insassen trieben es umso lebhafter.
Das Mädchen war bereits nackt. Ihr Kleid und die Unterwäsche lagen ordentlich zusammengelegt neben den Schuhen auf dem Rücksitz. Der junge Mann war hektisch damit beschäftigt, sich das Shirt über den Kopf zu ziehen, während das Mädchen seine Hose öffnete, was in der Enge nicht leicht war. Endlich hatte er das Hemd ausgezogen, während ihm von der schwer atmenden jungen Dame gleichzeitig Hose und Slip heruntergerissen wurden. Geduld schien – zumindest in dieser Situation – nicht ihre Stärke zu sein.
Er schob sich zur Mitte des Vordersitzes, nachdem er sich ein Kondom übergestreift hatte; dann hockte das Mädchen sich auf ihn. Rasch beschlugen die Wagenfenster vom keuchenden Atem der Teenager. Der Blick des Jungen schweifte ganz kurz hinaus in die Nacht hinter der Windschutzscheibe, bis er vor Lust die Augen schloss. Es war sein erstes Mal; seine Partnerin dagegen schien bereits über mehr Erfahrung zu verfügen. Der junge Mann stöhnte, als das Mädchen nun keuchend auf ihm ritt.
Dann öffnete er die Augen – und erstarrte.
Die Gestalt unter der schwarzen Sturmhaube blickte ihn durch die beschlagene Windschutzscheibe an. Verschwommen sah der junge Mann, wie der Lauf der Schrotflinte sich hob. Er wollte das Mädchen von sich herunterstoßen, um den Wagen zu starten, schaffte es aber nicht mehr. Das Glas explodierte nach innen. Die Schrotladung traf das Mädchen in den Rücken und schleuderte es auf den jungen Mann, der durch ihren Körper vor den Kugeln abgeschirmt wurde. Sein Nasenbein brach, als ihr Kopf gegen sein Gesicht prallte. Ihm wurde schwarz vor Augen, doch er blieb bei Bewusstsein. Feucht vom Blut des Mädchens, aber nicht ernsthaft verletzt, drückte er die Tote an seine Brust, als wäre sie ein Schutzschild, stark genug, um den Tod von ihm fern zu halten. Er wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Schließlich ließ er das Mädchen los und schob sich auf die Fahrerseite. Er war benommen, seine Bewegungen unbeholfen. Er wusste nicht, ob er selbst angeschossen war, hatte aber einen Schock erlitten, sodass sein Blutdruck verrückt spielte und seinen Körper zusätzlich unter Stress setzte.
Der junge Mann wollte gerade den Zündschlüssel drehen, als die Fahrertür aufgerissen wurde und die schwarze Sturmhaube wieder auftauchte. Hilflos beobachtete der Teenager, wie sich der Lauf der Schrotflinte auf ihn zuschob, einer tödlichen Schlange gleich. Der Junge flehte, schrie und jammerte, während ihm das Blut aus der gebrochenen Nase lief. Er wich vor dem Mann mit der Waffe zurück, bis er gegen die Leiche des Mädchens stieß.
»Bitte nicht. Bitte, bitte nicht!«
Die Schrotkugeln schlugen mit der Wucht eines Vorschlaghammers in seinen Kopf, und er wurde neben das tote Mädchen geschleudert. Die Vorderseite ihres Körpers war völlig unversehrt. Ein Betrachter hätte keinen Hinweis entdeckt, wodurch die junge Frau zu Tode gekommen war. Bei ihrem Freund dagegen war es offensichtlich: Er hatte kein Gesicht mehr.
Der Mörder lehnte die Schrotflinte gegen den Wagen, befestigte eine Armbanduhr am Handgelenk des jungen Mannes und klemmte den Arm des Toten zwischen Armaturenbrett und Tür fest. Als Nächstes fummelte er an der Uhr des toten Mädchens herum. Dann zog er ihr den billigen Amethystring vom Finger und steckte ihn sich in die Tasche. Dort verschwand auch der Christophorus-Anhänger, den er vom Hals des Jungen nahm.
»Tut mir Leid«, sagte er dann zu der Leiche des Jungen. »Dich persönlich trifft keine Schuld, aber du warst Teil der ursprünglichen Sünde. Dein Tod war nicht umsonst. Du hast einen Fehler wieder gutgemacht, der vor langer Zeit begangen wurde. Das ist ein Trost für dich, nicht wahr?«
Er machte sich nicht die Mühe, auch ein paar Worte an das Mädchen zu richten. Stattdessen nahm er einen Gegenstand aus der Tasche und legte ihn in den Fußraum des Wagens. Dann schlug er die Tür zu und stapfte davon. Als der Regen durch die zerborstene Windschutzscheibe drang, schien es, als würden sich die beiden nackten, toten Teenager aneinander klammern.
Auf dem Boden des Wagens lag der Gegenstand, den der Mörder zurückgelassen hatte.
Es war ein Hundehalsband.
Todd Williams hielt vor dem Büro von King & Maxwell, das sich in einem zweistöckigen Klinkerhaus im Herzen der kleinen, aber feinen Innenstadt von Wrightsburg befand. In diesem Haus hatte auch Kings Anwaltskanzlei ihren Sitz gehabt, bevor er die Juristerei an den Nagel gehängt hatte. Der Polizeichef setzte sich, legte seine Mütze in den Schoß und informierte King und Michelle mit verquollenen Augen und abgespannten Gesichtszügen über die grausigen Einzelheiten des Doppelmordes.
»Ich bin aus der Polizeitruppe von Norfolk ausgeschieden, weil ich nicht mehr mit dieser Scheiße zu tun haben wollte«, fügte Williams hinzu. »Meine Exfrau hat mich überredet, hierher zu ziehen, wo es ruhig und friedlich ist. Eine ziemliche Fehleinschätzung, was? Kein Wunder, dass unsere Ehe kaputtgegangen ist.«
King reichte ihm einen Becher Kaffee und nahm ihm gegenüber Platz, während Michelle auf der Kante einer Ledercouch sitzen blieb. »Warten Sie mal ab, bis die Zeitungen Wind von der Sache bekommen«, fuhr Williams fort. »Und die arme Sylvia. Kaum hat sie die Autopsie der Toten aus dem Wald abgeschlossen, bekommt sie zwei neue Kunden auf den Tisch.«
»Wer waren die beiden?«, fragte King.
»Sie gingen zur Wrightsburg High School. Steve Canney und Janice Pembroke. Dem Mädchen wurde in den Rücken geschossen, der Junge hat eine Ladung ins Gesicht gekriegt. Mit einer Schrotflinte. Kaum hatte ich die Wagentür aufgemacht, hab ich mein Frühstück ausgespuckt. Verdammt, ich werde noch Monate von diesem Anblick träumen.«
»Keine Zeugen?«
»Zumindest sind uns keine bekannt. Es war eine Regennacht. Die einzigen Reifenspuren stammten von dem Wagen der Teenager.«
Michelle wurde hellhörig. »Ja, stimmt, es hat geregnet. Wenn es also keine weiteren Reifenspuren gibt, muss der Mörder zu Fuß gekommen sein. Haben Sie Spuren von ihm gefunden?«
»Das meiste wurde vom Regen weggespült. Im Fußraum des Wagens stand das blutige Wasser drei Zentimeter hoch. Ich begreife das nicht. Steve gehörte zu den beliebtesten Jungen der Schule. Mädchenschwarm, viele Kumpels, Star der Footballmannschaft…«
»Und das Mädchen?«, fragte Michelle.
Williams zögerte. »Janice Pembroke hat sich einen ziemlichen Ruf bei den Jungs erworben.«
»War sie leicht zu haben?«, fragte King.
»Ja.«
»Wurde irgendetwas mitgenommen? Könnte es Raubmord gewesen sein?«
»Unwahrscheinlich, obwohl tatsächlich zwei Gegenstände vermisst werden. Ein billiger Ring, den Janice die meiste Zeit trug, und Steves Christophorus-Anhänger. Aber wir wissen nicht, ob der Mörder beides mitgenommen hat.«
»Sie sagten, Sylvia wäre mit der Autopsie fertig. Ich nehme an, Sie waren dabei.«
Williams wirkte verlegen. »Ich hatte ein kleines Magenproblem, als die Tote aus dem Wald obduziert wurde. Und als Sylvia mit den anderen beiden beschäftigt war, hatte ich zu tun«, sagte er. »Ich warte auf Sylvias Bericht. Tja, wir haben keinen offiziellen Mordspezialisten in unserer Truppe, deshalb dachte ich mir, dass ich mal vorbeischaue und Sie frage.«
»Gibt es weitere Hinweise?«, wollte Michelle wissen.
»Nicht zum ersten Mordfall. Wir haben die Tote noch nicht mal identifizieren können, obwohl es uns gelungen ist, Fingerabdrücke zu nehmen, die zurzeit überprüft werden. Und wir haben ihr Gesicht am Computer rekonstruiert. Das Bild wird gerade rausgegeben.«
»Gibt es Hinweise, dass eine Verbindung zwischen beiden Morden besteht?«, fragte Michelle.
Williams schüttelte den Kopf. »Bei Janice Pembroke und Steve Canney werden wir vermutlich bald auf irgendeine Dreiecksgeschichte stoßen. Heutzutage ballern die Kids los, ohne sich was dabei zu denken. Zu viel Mist im Fernsehen.«
King und Michelle tauschten einen Blick. Dann sagte King: »Im ersten Fall hat der Mörder die Frau entweder in den Wald gelockt oder sie gezwungen, ihn dorthin zu begleiten. Oder er hat sie anderswo getötet und anschließend in den Wald gebracht.«
Michelle nickte. »Wenn Letzteres stimmt, ist er ein kräftiger Mann. Bei dem Mord an den Teenagern könnte der Täter den beiden gefolgt sein oder auf der Böschung gewartet haben.«
»Die Stelle ist allgemein als Knutschecke bekannt, falls man so was heute noch so nennt«, sagte Williams. »Beide Opfer waren nackt. Der Täter könnte ein Junge gewesen sein, den Janice abserviert hatte oder der auf Steve eifersüchtig war. Die Unbekannte aus dem Wald ist vermutlich der schwierigere Fall. Deshalb könnte ich Ihre Hilfe gut gebrauchen.«
King überlegte einen Moment; dann sagte er: »Haben Sie sich die Uhr im ersten Mordfall mal genauer angeschaut, Todd?«
»Sie kam mir zu klobig für eine junge Frau vor.«
»Sylvia sagte, der Arm, an dem sich die Uhr befand, wäre absichtlich in diese ungewöhnliche Stellung gebracht worden.«
»Das kann sie doch nicht mit Sicherheit wissen.«
»Ich habe gesehen, dass die Zeiger auf ein Uhr eingestellt waren«, fuhr King fort.
»Richtig, aber die Uhr ist stehen geblieben, oder das Rädchen wurde herausgezogen.«
King warf Michelle einen kurzen Blick zu. »Ist Ihnen die Marke der Uhr aufgefallen?«
William sah ihn neugierig an. »Die Marke?«
»Es war eine Zodiac. Ein Kreis mit Fadenkreuz.«
Williams hätte beinahe seinen Kaffee verschüttet. »Zodiac!«
King nickte. »Außerdem war es eine Männeruhr. Ich glaube, der Mörder hat sie der Frau angelegt.«
»Zodiac«, wiederholte Williams. »Wollen Sie damit sagen…?«
»Der ursprüngliche Zodiac-Killer hat 1968 und 1969 in der Bay Area gemordet, in San Francisco und Vallejo«, sagte King. »Dieser Täter dürfte inzwischen viel zu alt sein. Aber es hat mindestens zwei Nachahmer gegeben, einen in New York und einen weiteren in Kobe, Japan. Der Zodiac-Killer von San Francisco trug eine schwarze Henkerkapuze oder Sturmhaube, die mit einem weißen Fadenkreuz im Kreis versehen war – das gleiche Symbol wie auf einer Zodiac-Uhr. Auch er ließ bei seinem letzten Opfer, einem Taxifahrer, eine Uhr zurück, obwohl es eine andere Marke war. Doch der Mann, der als Killer von San Francisco verdächtigt wurde, besaß eine Zodiac-Uhr. Die Psychologen vermuten, dass diese Uhr ihn dazu angeregt hatte, das Fadenkreuz-Symbol zu benutzen, dem er seinen Spitznamen ›Zodiac-Killer‹ verdankte. Der Fall wurde nie gelöst.«
Williams beugte sich vor. »Das alles ist ziemlich weit hergeholt.«
Michelle blickte ihren Partner an. »Glaubst du wirklich, dass es ein Nachahmungstäter ist, Sean?«
King zuckte mit den Schultern. »Wenn zwei Personen das Original kopiert haben, warum nicht auch ein Dritter? Der Zodiac-Killer von San Francisco schrieb kodierte Nachrichten an die Zeitungen, bis der Kode schließlich geknackt wurde. Die Briefe zeigten, dass der Mörder sich durch einen Film mit dem Titel Graf Zaroff, Genie des Bösen inspirieren ließ. In dem Film geht es um die Jagd auf Menschen.«
»Ein Massenmörder, der auf Menschenjagd geht«, sagte Michelle leise.
»Trug eine der Leichen im Auto eine Armbanduhr?«, fragte King.
Williams runzelte die Stirn. »Moment mal, Sean. Wie ich bereits sagte, sind es zwei völlig unterschiedliche Morde. Einmal mit einer Schrotflinte und… Okay, wir wissen immer noch nicht, wie die Unbekannte gestorben ist, aber es war keine Schrotladung, so viel steht fest.«
»Und was ist mit den Uhren?«
»Beide Jugendliche trugen Armbanduhren. Na und? Ist das ein Verbrechen?«
»Und Sie haben nicht darauf geachtet, ob es Zodiac-Uhren waren?«
»Nein. Bei der Unbekannten habe ich auch nicht darauf geachtet.« Plötzlich wurde er nachdenklich. »Obwohl Steve Canneys Arm ein bisschen seltsam am Armaturenbrett lehnte…«
»Als wäre der Arm absichtlich so fixiert worden?«
»Schon möglich«, sagte Williams. »Andererseits wurde der Junge mit einer Schrotflinte erschossen. Niemand kann vorhersagen, in welcher Körperhaltung ein Opfer liegen bleibt, wenn es eine volle Ladung ins Gesicht bekommt.«
»Liefen beide Uhren?«
»Nein.«
»Wie spät war es auf Janice Pembrokes Uhr?«
»Zwei.«
»Punkt zwei?«
»Ich glaube, ja.«
»Und auf Steves Uhr?«
Williams zog seinen Notizblock hervor und blätterte darin, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. »Die stand auf drei«, sagte er nervös.
»Hat die Uhr etwas von der Schrotladung abbekommen?«
»Da bin ich mir nicht sicher«, erwiderte Williams. »Ich nehme an, Sylvia kann es uns sagen.«
»Und die Uhr von dem Mädchen?«
»Es scheint, als wäre sie von einem Splitter der Windschutzscheibe getroffen worden.«
»Trotzdem steht ihre Uhr auf zwei und Steves auf drei«, sagte Michelle. »Wenn Janices Uhr um zwei stehen geblieben ist, als das Mädchen getötet wurde, wie kann die Uhr des Jungen dann um drei stehen geblieben sein, obwohl sie nicht getroffen wurde?«
»Kommen Sie«, sagte Williams, »bis auf diese Uhrensache, die nicht besonders überzeugend klingt, gibt es nicht die geringste Verbindung.«
Michelle schüttelte störrisch den Kopf. »Das erste Mordopfer war die Unbekannte, Janice Pembroke das zweite, und Steve Canney war Nummer drei. Das kann kein Zufall sein.«
»Sie müssen unbedingt nachsehen, ob auch Steve und Janice Zodiac-Uhren getragen haben«, sagte King eindringlich.
Der Polizeichef machte ein paar Anrufe per Handy. Als er die Verbindung schließlich unterbrach, wirkte er verwirrt.
»Die Uhr, die an Janices Arm gefunden wurde, war ihre eigene – eine Casio. Ihre Mutter hat bestätigt, dass es die Armbanduhr ihrer Tochter war. Steve Canneys Vater sagte mir, dass sein Sohn überhaupt keine Uhr getragen hat. Tja, und gerade erfahre ich, dass an Steves Leiche eine Timex gefunden wurde.«
King legte die Stirn in Falten. »Also keine Zodiac. Aber die Uhr wurde Steve möglicherweise vom Mörder angelegt, vermutlich genauso wie beim ersten Fall. Und ich kann mich erinnern, dass auch der Killer von San Francisco ein Liebespaar im Auto ermordet hat. Und die meisten seiner Morde fanden in der Nähe von Gewässern statt oder an Orten, die nach Gewässern benannt sind.«
»Canney und Pembroke wurden am Ufer des Cardinal Lake ermordet«, sagte Williams widerstrebend.
»Und die Unbekannte lag auch nicht weit vom See entfernt«, sagte Michelle. »Man muss nur den Hügel hinaufsteigen, und man kann eine der Buchten sehen.«
»An Ihrer Stelle«, sagte King zu Todd Williams, »würde ich an dieser Zodiac-Sache weiterarbeiten. Der Mörder muss sich die Uhr ja irgendwo besorgt haben.«
Williams blickte auf seine Hände und runzelte die Stirn.
»Was gibt’s?«, fragte Michelle.
»Im Fußraum von Steve Canneys Wagen haben wir ein Hundehalsband gefunden. Wir sind davon ausgegangen, dass es Steve gehört. Aber sein Vater sagte mir, dass sie keinen Hund haben.«
»Könnte es von Janice stammen?«, fragte King.
Williams schüttelte den Kopf. »Nein, auch nicht…«
Das Klingeln des Bürotelefons unterbrach ihn. King nahm den Anruf entgegen und kehrte mit zufriedener Miene zurück. »Das war Harry Carrick, der Anwalt. Er hat einen Mandanten, der schwerer Vergehen angeklagt wird, und braucht unsere Hilfe. Er hat nicht gesagt, um wen oder was es geht.«
Williams stand auf und räusperte sich. »Es dürfte sich um Junior Deaver handeln.«
»Junior Deaver?«, fragte King.
»Ja. Er hat gelegentlich für die Battles gearbeitet. Der Fall liegt außerhalb meines Zuständigkeitsbereichs. Junior sitzt im Bezirksgefängnis in Untersuchungshaft.«
»Was hat er angestellt?«, fragte King.
»Das müssen Sie Harry fragen.« Williams ging zur Tür. »Ich werde die State Police um Unterstützung bitten.«
»Sie sollten sich überlegen, ob Sie nicht auch das FBI einschalten«, sagte Michelle. »Wenn es sich wirklich um einen Serienmörder handelt, kann VICAP ein Profil erstellen.« Die Abkürzung stand für Violent Criminal Apprehension Program, das Fahndungsprogramm der Bundespolizei für Gewaltverbrecher.
»O Mann. Ich hätte nie gedacht, dass ich in Wrightsburg mal ein VICAP-Formular ausfüllen muss.«
»Die Bürokratie wurde erheblich vereinfacht«, versuchte Michelle ihn zu trösten.
Nachdem der Polizeichef gegangen war, wandte Michelle sich an King. »Und wer sind Junior Deaver und die Battles?«
»Junior ist im Grunde ein prima Kerl, der sein ganzes Leben hier verbracht hat. Leider ist er auf die schiefe Bahn geraten. Die Battles sind eine ganz andere Geschichte. Sie sind die bei weitem reichsten Leute in der Gegend. Eine alteingesessene Südstaatenfamilie.«
»Und was genau bedeutet das?«
»Sie sind ein bisschen eingebildet, ein bisschen verschroben, ein bisschen exzentrisch…«
»Du meinst, ein bisschen verrückt«, sagte Michelle.
»Nun ja…«
»Jede Familie ist verrückt. Manche zeigen es nur deutlicher als andere.«
»Ich glaube, du wirst feststellen, dass die Battles in dieser Hinsicht ganz oben auf der Liste stehen.«