Inhalt
Einleitung
Deutschland und die Nachbarn im Osten
Deutsche Außen- und Bündnispolitik im 19. Jahrhundert
Der Erste Weltkrieg und die Wiedergeburt Polens
Rapallo und das deutsch-sowjetische Zweckbündnis
»Lebensraum im Osten«? Hitler und die Ostpolitik
1935: Kommt die Gelegenheit für einen Feldzug gegen die UdSSR?
Die UdSSR in der operativen Planung der Wehrmacht
Ein Interventionskrieg gegen die Sowjetunion?
1936: »In vier Jahren kriegsbereit«!
Erste operative Planungen
Kriegsspiele der deutschen Kriegsmarine
1938: Hitlers Ostexpansion beginnt
Wende im deutsch-polnischen Verhältnis
Hitlers letztes Werben um Polen
Planungen für den »Fall Ost« – auch ohne Polen
Vorbereitungen auf den Ostkrieg
Der Albrecht-Plan
Weichenstellung im Mai 1939
Nervenkrieg
Vom Hitler-Stalin-Pakt zum »Unternehmen Barbarossa«
»Alles was ich unternehme, ist gegen Russland gerichtet.«
September 1939: Erhält Hitler »freie Hand im Osten«?
Das besetzte Polen als zusätzliches Aufmarschgebiet gegen die UdSSR
Hitler stellt seine antisowjetischen Pläne zurück
Grenzsicherung Ost offensiv lösen: Der Halder-Plan im Juni 1940
Der Mythos des 31. Juli 1940: Hitlers Entscheidung für den Ostkrieg
Das Ringen um den Operationsplan
Der Plan »Barbarossa« scheitert im August 1941
Resümee
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungen
Personenregister
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von 2011)
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unter Verwendung eines Fotos von der Frontfahrt Hitlers nach Łódź am 13. September 1939; v. l. n. r.: der Oberbefehlshaber der 10. Armee Walter von Reichenau, der Kommandant des Führerhauptquartiers Erwin Rommel, Reichsleiter Martin Bormann, Adolf Hitler, der Kommandeur der 18. Infanterie-Division Friedrich-Carl Cranz, der Adjutant des Heeres im Führerhauptquartier Gerhard Engel (Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz/Heinrich Hoffmann)
eISBN: 978-3-86284-114-1
Vor 70 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall der deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten auf die UdSSR. Der Deckname des Unternehmens lautete »Barbarossa«. Es war der Auftakt zum größten und blutigsten Krieg der Weltgeschichte. Siegesgewiss marschierten Hitlers Armeen in den ersten Wochen nach Osten, trotz hoher Verluste und bei einem nachlassenden Marschtempo. Doch Stalins Imperium brach nicht wie erwartet beim ersten Ansturm zusammen. Unter ungeheuren Opfern verstärkte sich der Widerstand der Roten Armee. Zwar gelang es den Deutschen, innerhalb von fünf Monaten bis an den Stadtrand von Moskau vorzudringen, doch dann schlug Stalin zurück und brachte die deutsche Ostfront ins Wanken. Die sowjetischen Streitkräfte brauchten aber weitere 40 Monate, um sich den langen Weg nach Westen zu erkämpfen, bis sich Hitler in seinem Berliner Bunker vergiftete und damit den Weg zur Kapitulation freimachte.
Der deutsch-sowjetische Krieg steht im Zentrum der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Er war mehr als ein Duell der Diktatoren. Hitler verstand seinen Krieg als rassenideologischen Vernichtungskrieg. Er sorgte von deutscher Seite dafür, dass diese militärische Auseinandersetzung mit größter Härte und Entschlossenheit geführt und durch eine verbrecherische Besatzungspolitik begleitet wurde. Es war hinsichtlich seiner Zielsetzung zweifellos der größte Raub- und Vernichtungskrieg, der in seinen destruktiven Elementen den Schrecken eines Dschingis-Khan verblassen ließ. Im Ergebnis der deutschen Niederlage wurde nicht nur das Deutsche Reich zerstört, sondern auch die Staatenwelt Ostmitteleuropas, die für mehr als 40 Jahre vom sowjetischen Imperium beherrscht wurde. Die Teilung Europas und der Kalte Krieg zwischen Ost und West prägten in dieser Zeit das Weltgeschehen.
Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung ist der deutsche Überfall am 22. Juni 1941 gewesen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass dieser Krieg noch immer einen herausragenden Platz in der kollektiven Erinnerung einnimmt und die Historiker zu Fragen an die Geschichte veranlasst.1 Manche Zeitgenossen betrachteten schon während des Zweiten Weltkriegs den Entschluss zum Überfall auf die UdSSR als den größten Fehler Hitlers. Die Siegermächte sahen in der Vorbereitung des Angriffskrieges eines der größten Verbrechen des NS-Regimes, zumal das Deutsche Reich erst im August 1939 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abgeschlossen hatte. Der Überfall knapp zwei Jahre später erfolgte ohne zwingenden Anlass, wortbrüchig, hinterhältig und heimtückisch.
In seiner Erklärung gegenüber den Soldaten der Wehrmacht und der deutschen Bevölkerung hatte Hitler dagegen behauptet, der sowjetischen Expansionspolitik durch einen Präventivkrieg entgegentreten zu müssen.2 Verfechter dieser unsinnigen Begründung findet man noch heute, vereinzelt sogar unter Historikern und pensionierten Generalen.3 Für die Richter des Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals stand dagegen außer Frage, dass »Barbarossa« ein räuberischer Überfall gewesen ist. Sie folgten allerdings weitgehend der Interpretation der Angeklagten und ihrer Verteidiger, wonach Hitler den Entschluss allein gefällt und am 31. Juli 1940 der militärischen Spitze als Auftrag übergeben habe. Ob er dabei stärker unter strategischen oder ideologischen Gesichtspunkten handelte, blieb offen. Während Wilhelm Keitel als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes, die engsten militärischen Berater Hitlers, zum Tode verurteilt wurden, blieben die Verantwortlichen im Oberkommando des Heeres (OKH) unbehelligt. Hitlers Generale konnten nach 1945 unwidersprochen den Eindruck vermitteln, dass sie im Anschluss an die Entscheidung des Diktators einen genialen Feldzugsplan entworfen und umgesetzt hätten, der nur wegen der ständigen Eingriffe Hitlers gescheitert sei. Ihr größter Feind sei nicht die Rote Armee gewesen, sondern der eigene »Führer«. Zu der Legende von der »sauberen Wehrmacht« kam die Legende von der überlegenen Professionalität ihrer militärischen Führungsspitze.
Die These, dass Hitler allein für den Angriff gegen die UdSSR verantwortlich war und sich dabei von seinen ideologischen Obsessionen leiten ließ, deren Ursprung in seiner frühen politischen Programmschrift Mein Kampf zu finden ist, ist zu einem festen Pfeiler des Geschichtsbildes geworden. Darauf stützt sich seit Jahrzehnten eine weiträumige Interpretation von Hitlers Außenpolitik. Sie nimmt an, dass sich der Diktator zielstrebig und konsequent nach der Machtübernahme, der inneren Festigung seines Regimes und einer gigantischen Aufrüstung schrittweise seinem eigentlichen Ziel, dem Lebensraumkrieg im Osten, genähert hat. Nach Österreich und der Tschechoslowakei folgte Polen als Opfer deutscher Expansionspolitik. Das waren die notwendigen Voraussetzungen, um Frankreich niederzuwerfen und so für Hitler den Rücken freizumachen, sich seinem eigentlichen Ziel zuwenden zu können. Die Eroberung der UdSSR sollte dann die Basis schaffen, um den »Kampf gegen Kontinente«, das heißt den Kampf um die Weltvorherrschaft, zu führen.
Verfügte Hitler tatsächlich über einen solchen Stufenplan und die Fähigkeit, ihn konsequent und taktisch klug umzusetzen? Stand für ihn die UdSSR erst an vorletzter Stelle dieses Plans? Ist Hitler also in den ersten Kriegsjahren ein erfolgreicher Stratege gewesen, dem fast alles gelang und der über eine Wehrmacht verfügte, die mit der Taktik des »Blitzkrieges« nahezu unbesiegbar war? Die ältere Geschichtsschreibung war davon überzeugt. Sie stützte sich auf eine Reihe bahnbrechender Studien von Historikern der Leutnants-Generation, die in den sechziger und siebziger Jahren höchstes Ansehen erlangten und bis heute das Verständnis der Vorgeschichte und Ursachen von »Barbarossa« prägen. Andreas Hillgruber und Hans-Adolf Jacobsen sind ihre prominentesten Vertreter. Bedeutsam für die Interpretation von Hitlers »Stufenplan« ist insbesondere Klaus Hildebrands systematische Darstellung der Außenpolitik des »Dritten Reiches« gewesen. Viele andere Historiker des In- und Auslands bewegten sich auf diesen Bahnen. Auch das Serienwerk des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, hat sich mit der ausführlichen Darstellung des »Unternehmens Barbarossa« in seinem vierten Band (1983) auf diese Linie festgelegt. Kaum beachtet blieb dort eine wichtige Entdeckung von Ernst Klink, der festgestellt hatte, dass die ersten militärischen Überlegungen und Vorbereitungen zu einem Krieg gegen die UdSSR im Juni 1940 vom Oberkommando des Heeres angestellt worden sind, ohne jegliche Vorgaben von Hitler. Vereinzelt wurde diese Feststellung mit der Erklärung heruntergespielt, dass im OKH Hitlers Ostprogramm natürlich bekannt gewesen sei und man sich gleichsam in vorauseilendem Gehorsam auf die Wünsche des Diktators eingestellt habe.4
In den letzten drei Jahrzehnten haben sich Geschichtsforschung, Öffentlichkeit und Medien in Deutschland fast ausschließlich mit den verbrecherischen Aspekten des »Unternehmens Barbarossa« beschäftigt. Die umstrittene Hamburger Wehrmachtausstellung hat dazu 1995 wichtige Anstöße gegeben. Heute besteht kaum noch Zweifel daran, dass die Wehrmachtführung ein hohes Maß an Mitverantwortung für die Enthemmung des Ostkrieges trägt. Unbestritten ist auch, dass der »Weltanschauungskrieg« bereits bei der Planung und Vorbereitung des Feldzugs angelegt gewesen ist und seinen Ausdruck in den berüchtigten verbrecherischen Befehlen gefunden hat.
Aber gab es hierbei einen Zusammenhang mit der Kühnheit der operativen Planungen des OKH, und ließen sich die Militärs womöglich selbst von antibolschewistischen, antislawischen Vorurteilen leiten? War der Plan »Barbarossa« ein Meisterstück des deutschen Generalstabs, und sind nur einige der Grundannahmen falsch gewesen, verursacht etwa durch das Bild von der UdSSR als einem »tönernen Koloss«? Ist die im Sommer 1940 beginnende militärische Planung tatsächlich originell, geprägt von einem Übermut, der dem Rausch des unerwarteten Sieges gegen Frankreich entsprang – eine »gleichsam aus dem Stegreif« entworfene Skizze, wie Andreas Hillgruber meinte,5 oder griff man womöglich auf frühere Entwürfe zurück? War ein Krieg gegen die Sowjetunion zwischen 1933 und 1940 allenfalls eine Zukunftsvision fanatischer Nazis, außerhalb eines nüchternen militärischen Kalküls? Hatte Hitler in seinem Selbstverständnis als »größter Feldherr aller Zeiten« eigene Vorstellungen, wie ein Ostkrieg militärisch zu führen sei?
Dies sind Fragen, die auf das Feld der klassischen Militärgeschichte führen, in die Welt militärischer Führungsstäbe und Entscheidungsträger. Das ist gegenüber einer weithin vorherrschenden kulturgeschichtlichen Betrachtungsweise in der Geschichtswissenschaft ein scheinbar »altmodischer« Zugang zum Thema, zumal einzuräumen ist, dass die Frage militärischer Operationsplanung und Kriegsvorstellung im Zusammenhang mit »Barbarossa« seit drei Jahrzehnten als beantwortet gilt. Natürlich wird man es bei dem in diesem Buch vorgenommenen neuen Gang durch eine alte Geschichte auch immer wieder im notwendigen Maße mit politischen, ideologischen, sozialen und vor allem wirtschaftlichen Aspekten zu tun haben. Aber der Fokus zielt auf die militärische Planungsebene.
Deshalb beginnt die Untersuchung nicht mit einer Analyse von Mein Kampf, sondern mit der Frage, wann in Deutschland zum ersten Male ein Krieg gegen Russland, genauer ein Kampf zur Eroberung russischen Territoriums, für Politik und Militär denkbar gewesen ist, welche Vorstellungen entwickelt und welche Bedenken vorgetragen worden sind. Der mühsam errungene, letztlich allerdings vergebliche militärische Sieg über die russische Armee 1917/18 prägte eine Generation von Offizieren, die später als Hitlers Generale den zweiten Ostkrieg planten und führten. Dass dieser Erfahrungshorizont, in dem Hitler seine Lebensraum-Ideologie entwickelte, die deutsche Armee nicht auf eine Einbahnstraße in Richtung Stalingrad brachte, wird ein kurzer Überblick über die Zeit der Weimarer Republik erweisen. Militärische Führungseliten verfügten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über beträchtlichen politischen Einfluss, speziell in Deutschland, aber sie waren zugleich auch dem politischen Primat unterworfen.
Wie stellte sich die militärische Führungsspitze nach 1933 darauf ein, dass nun nicht mehr ein möglicher Krieg mit Hilfe der UdSSR gegen Polen zu planen war, sondern durch Hitlers Pakt mit Polen ab 1934 ein Krieg gegen die Rote Armee denkbar wurde, womöglich im Bündnis mit Japan und Polen? Mit der Einbeziehung dieser Mächte, denen es selbst schon einmal (1905 bzw. 1920) gelungen war, die russische Armee zu schlagen, wählt die vorliegende Untersuchung eine ganz neue Perspektive. Damit wendet sie sich vor allem gegen jeglichen Versuch, die Vorgeschichte von »Barbarossa« als deutsche Nabelschau betreiben zu wollen. Denn bei einer solchen Nabelschau werden wichtige Aspekte der deutschen Außenpolitik und Kriegsplanung marginalisiert, die – wie zu zeigen sein wird – die Vorstellungen von einem Krieg gegen Russland bis 1939 nicht nur führender Militärs, sondern auch Hitlers beeinflusst haben.
Die Übersicht über das operative Denken im deutschen Heer rückt dann jenen Raum zwischen Riga, Minsk und Kiew ins Blickfeld, in dem sich das Schicksal der russischen Armee entscheiden sollte, so wie im Ersten Weltkrieg, im sowjetischpolnischen Krieg, dann auch in dem künftigen. Die Vorgeschichte von »Barbarossa« wird deshalb als Dreiecksgeschichte erzählt, stets mit einem Blick auch auf Japan als dem möglichen Partner einer strategischen Zangenbewegung, mit der das russische Reich zerbrochen werden sollte. Dabei wird auch diskutiert, wie ernst die Gespräche über eine antirussische Militärallianz im Zeichen des Hitler-Piłsudski-Paktes von 1934 gewesen sind und wie sich 1939 die Wendung Hitlers gegen Polen zum Hitler-Stalin-Pakt entwickelt hat. Die deutsch-polnischen Militärbeziehungen der dreißiger Jahre sind noch immer ein weitgehend unbekanntes Feld der Historiographie. Hier gilt es Schneisen zu schlagen.
Zu fragen ist also, wann im »Dritten Reich« Pläne zu einem Krieg gegen die UdSSR entstanden und Gegenstand militärischer Überlegungen geworden sind? Welche Rolle spielte das Verhältnis zu Polen als einem »antirussischen Schützengraben«? Folgte Hitlers Wendung gegen Polen im Frühjahr 1939 in der Absicht, die Voraussetzungen für einen nachfolgenden Angriff im Westen oder im Osten zu schaffen? Diese Fragen führen zum Kernbereich der Untersuchung. Die folgenden Betrachtungen basieren auf der These, dass für den deutschen Weg in den Zweiten Weltkrieg bis Oktober 1939 mehrere Optionen offenstanden, zu denen auch ein militärischer Zusammenprall mit der Roten Armee gehörte. Entgegen einer weitverbreiteten Anschauung in der Geschichtsschreibung ist ein deutscher Krieg gegen die UdSSR schon 1939 denkbar und möglich gewesen.
Um dies zu verdeutlichen, werden neue und wenig bekannte oder vergessene Quellen aufgegriffen, wird an historische Episoden und Zusammenhänge erinnert, die unter Nutzung kontrafaktischer Betrachtungen die festgefügte Interpretation der deutschen Expansionspolitik in Frage stellen. Grundsätzlich bleibt zu beachten, dass bei den deutschen militärischen Planungen 1939 einiges im Dunkeln liegt, weil Akten aus dem Vorfeld des Zweiten Weltkriegs verlorengegangen sind und zentrale Quellen wie das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (ab August 1940) und das des Generalstabschefs des Heeres, Franz Halder (ab 14. August 1939), erst spät einsetzen.6 Hinzu kommen fragwürdige Überlieferungen von Schlüsselquellen und dreiste Fälschungen.
Unbestritten ist, dass Hitler 1939 fest entschlossen war, so schnell wie möglich einen Krieg in Europa zu entfesseln. Er wollte endlich Feldzüge organisieren und »freie Hand im Osten« haben. Er war es leid, Verhandlungen zu führen und Kompromisse zu akzeptieren. »Schläge« wollte er austeilen. Die Reihenfolge solcher militärischen Schläge war ihm letztlich gleich. Nur für die Abschätzung von Risiken und Chancen hatte er noch einen gewissen Sinn. Aber er scheute sich nicht, notfalls auch den gefürchteten totalen Krieg an mehreren Fronten zu führen. Die Generalrichtung stand für ihn seit zwei Jahrzehnten fest: Russland!
Ein Überfall auf die UdSSR, davon war Hitler auch 1939 fest überzeugt, sei ein leichtes Spiel und würde sein »Drittes Reich« für alle Zeiten unangreifbar machen. Ein »Barbarossa 1939« hätte wahrscheinlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion und zur Vernichtung Russlands geführt. Stalins Entgegenkommen war nützlich als Bluff gegenüber den Westmächten. Als diese sich einem Einvernehmen mit Hitler verweigerten, kostete es ihn große Mühe, seinen Generalstab auf einen Feldzug nach Westen festzulegen.
Im letzten Abschnitt des Buches wird Hitlers neuerliche Wendung nach Osten im Sommer 1940 zu analysieren sein. Gab tatsächlich der Diktator den Anstoß, welche Rolle spielten ideologische Motive, und welche Kriegsvorstellungen entwickelte er? Oder legte ihm sein Generalstabschef ältere Pläne für einen begrenzten Krieg gegen die UdSSR vor? Dabei wird man in Rechnung stellen müssen, dass die später vor dem alliierten Kriegsverbrecher-Tribunal in Nürnberg angeklagten Generale Hitlers guten Grund hatten, ihre frühen Planungen gegen die UdSSR zu vertuschen. Wie aus dem Modell eines Interventionskrieges von 1939 das Unternehmen »Barbarossa« als Eroberungs- und Vernichtungskrieg entstand, der 1941 militärisch-operativ bereits nach wenigen Wochen scheiterte – das enthüllt eine größere Mitverantwortung der Heeresführung, als bislang diskutiert worden ist.
Deutsche Außen- und Bündnispolitik im 19. Jahrhundert
Eine »Heilige Allianz« sorgte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die längste Periode friedlicher und konstruktiver deutsch-russischer Zusammenarbeit. Sie stützte sich im Wesentlichen auf ein Bündnis der drei Großmächte Mittel- und Osteuropas – Österreich, Preußen, Russland –, das als Ergebnis der Napoleonischen Kriege entstanden war. Das gemeinsame Interesse richtete sich gleichermaßen auf die Niederhaltung Frankreichs wie jener revolutionären und nationalistischen Strömungen, die scheinbar von dort aus die konservativen, multinationalen Imperien bedrohten. Im Mittelpunkt dieses europäischen Dreiecks Berlin – Wien – Moskau lag das Königreich Polen, das nach drei Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts von der Landkarte verschwunden war. Napoleons Rekonstruktion eines »Großherzogtums Warschau« war nur von kurzer Dauer gewesen und hatte rund 100 000 polnischen Soldaten das Leben gekostet, als der Korse sie mit seiner Grande Armée in die Weiten Russlands geführt hatte. Von den drei Mächten hatte Russland den größeren Teil Polens annektiert.
Mit der 1815 vom Wiener Kongress geregelten Nachkriegsordnung bestand für Preußen und das spätere Deutsche Kaiserreich für ziemlich genau 100 Jahre eine lange gemeinsame Grenze mit Russland. Für die polnischen Untertanen beiderseits dieser Grenze verblasste der Traum von einer Wiedergeburt der eigenen Nation jedoch nicht. »Noch ist Polen nicht verloren« – diese Parole wurde von den Intellektuellen in die Herzen der Menschen getragen. Und für dieses Ziel waren Polen bereit, zu kämpfen und zu sterben. So wurde das Land im 19. Jahrhundert zum größten Unruheherd des Kontinents, in dem es immer wieder zu Aufständen kam. Meist richteten sie sich gegen die harte Herrschaft des Zaren und konzentrierten sich auf die Hauptstadt Warschau. Aber auch Krakau (Österreich) und Posen (Preußen) bildeten Schwerpunkte des Aufruhrs, der militärisch stets erfolglos blieb.
Die preußisch-russische Allianz bewährte sich in diesem stürmischen Jahrhundert des Aufbruchs und der dramatischen Veränderungen. Sie wurde getragen von den monarchischen Kräften und prägte Generationen von Offizieren. Im liberalen Bürgertum Deutschlands hingegen überwog lange Zeit eine Polenbegeisterung, die sich mit eigenen demokratischen und nationalen Ambitionen verband.
Diese Stabilität in den Beziehungen zum östlichen, russischen Nachbarn veränderte sich nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1870/71. Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck hatte großen Wert auf das Einvernehmen mit Russland gelegt, was nicht zuletzt eine Voraussetzung für die Einigung des Reiches gewesen war. Als Reichskanzler versuchte er einen Balanceakt zwischen Selbstbehauptung und Selbstbescheidung durchzuhalten. Die anderen Großmächte mussten davon überzeugt werden, dass Deutschland »saturiert« war und keine weiteren territorialen Ansprüche in Europa erheben würde. Mit Österreich und Russland gelang Bismarck 1873 der Abschluss eines Dreikaiserbündnisses, das die außenpolitischen Interessen in Mitteleuropa ausglich und noch einmal die Gemeinsamkeit der konservativen Großmächte gegen revolutionäre Gefahren betonte.1
Dieser sicherheitspolitische Konsens erwies sich freilich als fragil und erforderte ein ständiges deutsches Bemühen um seine Kräftigung. Österreich-Ungarn und das Zarenreich verfolgten konkurrierende Ambitionen auf dem Balkan, wo sich durch die Schwäche des Osmanischen Reiches ein machtpolitisches Vakuum bildete. Bereits 1878 musste Bismarck auf dem Berliner Kongress als »ehrlicher Makler« den Konflikt entschärfen, was ihm allerdings nur teilweise gelang, weil sich Russland benachteiligt fühlte. Deutsch-russische Spannungen entstanden und verschärften sich, als Berlin zum Schutz seiner heimischen Landwirtschaft hohe Schutzzölle gegen russische Importe verhängte und 1887 sogar den deutschen Kapitalmarkt für die Russen sperrte. Das Zarenreich war aber dringend auf ausländisches Kapital angewiesen, um seine Wirtschaft zu modernisieren. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes spielte dabei eine entscheidende Rolle, doch die Schienenwege im Westen Russlands verstand man in Berlin auch als strategische Bedrohung, würden sie doch im Kriegsfall einen russischen Aufmarsch erleichtern.2
Frankreich konnte sein Streben nach Revanche nur auf ein Zerbrechen der deutsch-russischen Allianz gründen. Daran arbeitete man in Paris mit einigem Erfolg. In Berlin stemmte man sich dieser unheilvollen Entwicklung nicht ausreichend entgegen. Man war vor allem nicht bereit, Österreich-Ungarn in seinem wachsenden Gegensatz zu Russland im Stich zu lassen.
So musste der preußisch-deutsche Generalstab mit der Möglichkeit rechnen, dass Deutschland durch eine in der Zukunft denkbare französisch-russische Allianz der Gefahr eines Zweifrontenkrieges ausgesetzt sein könnte. Diese Aussicht löste einige Planspiele und Überlegungen aus. Erfahrungen im Kampf gegen die russische Armee hatte Preußen im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) gesammelt, jedoch auf eigenem Territorium und mit wechselndem Erfolg. Der Tod der Zarin Elisabeth 1762 und der Regierungsantritt ihres preußenbegeisterten Sohnes hatten dazu geführt, dass Russland aus der Einkreisungsfront ausgeschieden war – das später viel beschworene Mirakel des Hauses Brandenburg, auf dessen Wiederholung Hitler noch im April 1945 vergeblich hoffte.
Die Erinnerung an die deutsch-russische Waffenbrüderschaft, die 1813/14 den Sieg über Napoleon gesichert hatte, war zwei Generationen später verblasst. Im deutschen Russlandbild gewannen nun antislawische Ressentiments an Einfluss. Für die Sozialdemokraten beherrschte der Zar ein Reich des Bösen, die Inkarnation von Despotismus und Reaktion.3 Bereits 1849 hatte Friedrich Engels gefordert: »Kampf, unerbittlicher Kampf auf Leben und Tod mit dem revolutionsverräterischen Slawentum; Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus«.4
Die Kehrseite der bürgerlich-liberalen Polenbegeisterung bildete eine ausgeprägte Russophobie. Die preußischen Konservativen, bisher die »russische Partei«, beklagten nach der Reichsgründung die zunehmende Konkurrenz von Billiggetreide aus dem Osten, was die wirtschaftliche Basis des ostelbischen Junkertums bedrohte. Die noch unbedeutende, aber wachsende Zahl von ultranationalistischen Kräften sah darin sogar einen Nachteil im vermeintlichen Rassenkampf zwischen Germanen und Slawen, weil der deutsche Siedlungswall im Osten geschwächt werde.5
Die polnische Bevölkerung geriet jedenfalls unter den Druck beider Seiten. Der von Russland betriebene Panslawismus schützte die polnischen Untertanen des Zaren nicht vor einem starken Russifizierungsdruck, während auf preußischer Seite im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Kulturkampf und Siedlungspolitik das deutsche Element in den östlichen Provinzen gestärkt und eine stärkere Integration der polnischen Bevölkerung erzwungen werden sollte.
Als Reichskanzler beförderte Bismarck diesen Druck, sorgte sich aber zugleich um seinen Rückversicherungsvertrag mit Russland. Militärischen Eroberungsgelüsten begegnete er mit größter Skepsis. Als Bernhard von Bülow, deutscher Geschäftsträger in Petersburg, 1887 gar einen Präventivkrieg gegen Russland forderte, lehnte das Bismarck scharf ab. Bülow, der später als Reichskanzler allerdings wieder auf ein deutsch-russisches Bündnis setzte, entwickelte damals als einer der ersten Politiker in der deutschen Geschichte weiterreichende Kriegsideen gegen Russland.
Bülow in einem Schreiben 1887:
»Wir müssen eventuell dem Russen so viel Blut abzapfen, dass derselbe […] 25 Jahre außerstande ist, auf den Beinen zu stehen. (Randnotiz von Bismarck: Das ist so leicht nicht.) Wir müssten die wirtschaftlichen Hilfsquellen Russlands für lange hinaus durch Verwüstung seiner Schwarzerde-Gouvernements, Bombardierung seiner Küstenstädte, möglichste Zerstörung seiner Industrie und seines Handels zuschütten. Wir müssten endlich Russland von jenen beiden Meeren, der Ostsee und dem Pontus Euxinus [dem Schwarzen Meer], abdrängen, auf denen seine Weltstellung beruht. Ich kann mir Russland wirklich und dauernd geschwächt doch nur vorstellen nach Abtrennung derjenigen Gebietsteile, welche westlich der Linie Onega – Bai – Waldaihöhe – Dnjepr liegen. Ein solcher Friede möchte […] nur zu erzwingen sein, wenn wir an der Wolga stünden …«6
Es handelte sich um radikale Phantasien, gespeist aus der Sorge um einen möglichen Zweifrontenkrieg. Bülows Strategie mag zwar an Hitler erinnern, aber ihm ging es um die Schwächung, nicht um die Vernichtung Russlands! Freilich war Bülow bewusst, dass sich das Riesenreich im Osten mit aller Kraft wehren würde. Im Reichstag erteilte Bismarck solchen Gedanken eine deutliche Abfuhr: »Russland wünscht kein deutsches Land zu erobern und wir wünschen kein russisches. Es könnten nur polnische Provinzen sein; von denen haben wir schon mehr, als uns bequem ist.«7
Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Buches ist die Beobachtung wichtig, dass offensichtlich eingedenk der napoleonischen Erfahrungen schon die ersten Überlegungen in deutschen Führungskreisen zu einem möglichen Krieg gegen Russland nicht davon ausgingen, das riesige Imperium im Osten vollständig besetzen und besiegen zu können. Was man sich dagegen offenbar vorstellen konnte, waren militärische Siege gegen die russische Armee auf dem polnischen Schlachtfeld. Österreichische Generalstabsoffiziere, die zeitweilig auch das Ohr von Kronprinz Wilhelm fanden, dem späteren Kaiser, plädierten in diesem Zusammenhang für einen Präventivkrieg, um der vermeintlich wachsenden russischen Gefahr zu begegnen. Mit einem Blick auf die Karte lag es nahe, den polnischen »Balkon« des Zarenreiches durch einen Vorstoß deutscher Truppen von Ostpreußen aus und österreichischer Armeen von Galizien aus abzuschneiden, damit die russischen Westarmeen einzukesseln und zu vernichten. Würde das aber im fernen Moskau die Bereitschaft zu einem Unterwerfungsfrieden auslösen? Und was wäre gewonnen, wenn der Zar – wie Bismarck wohl annehmen konnte – seine polnische Provinz abtreten würde?
Wenn der Zar stattdessen die unerschöpflichen Kräfte seines Reiches mobilisieren würde, wären mögliche Offensiven gegen das Baltikum und Richtung Ukraine mit dem Ziel, Russlands wichtigste Überschussgebiete zu zerstören, eine Fortsetzung eines solchen Krieges. Aber würden solche Operationen Russland endgültig in die Knie zwingen? Bismarck und die Generalstabschefs des Kaiserreichs zweifelten daran. Generalfeldmarschall Helmuth Moltke (der Ältere) hielt es allenfalls für möglich, das Baltikum – einmal als preußische Provinzen annektiert – gegen Russland zu verteidigen, gestützt auf den Peipussee und die Sümpfe der Dwina.8 Es blieb dabei: Aus der Sicht der verantwortlichen Reichsleitung Ende des 19. Jahrhunderts war ein Krieg mit Russland ein »Unglück«, bei dem Deutschlands nichts gewinnen würde, noch nicht einmal die Kosten.9
Die vermeintlichen »Lebensquellen« Russlands nicht zu zerstören, sondern zu erobern und mit ihrer Hilfe Deutschland zur Weltmacht zu erheben, diese Weiterentwicklung des Gedankens sollte erst eine Generation später die deutsche Kriegszielplanung im Ersten Weltkrieg beeinflussen. Hier sind zweifellos gedankliche Wurzeln von Hitlers Ostkrieg 1941 zu finden, doch wäre es überzogen, von Kontinuitäten zu sprechen. Dafür sind die Alternativen und Widersprüche in der Russlandpolitik im Kaiserreich – und auch danach – allzu deutlich.10
Während Bismarck wohl im Notfalle sogar bereit gewesen wäre, das Habsburger Reich im Stich zu lassen, wenn sich damit ein Zweifrontenkrieg vermeiden ließ, pochten seine Gegenspieler im Auswärtigen Amt und im Generalstab ab 1890 auf das unbedingte Festhalten am Bündnis mit Wien. Der ehemalige General Leo von Caprivi, der in diesem Jahr Bismarck als Reichskanzler ablöste, setzte mit seinem »neuen Kurs« auf diesen mitteleuropäischen Block, möglichst angelehnt an die Seemacht England. Damit glaubte er, eine drohende französisch-russische Allianz in Schach halten zu können.
Als Kaiser forcierte Wilhelm II. aber den Flottenbau gegen Großbritannien, während Bülow, 1900 zum Reichskanzler ernannt, zwar große »Weltpolitik« zu betreiben versuchte, dafür aber auf das traditionelle Bündnis mit Russland zurückkommen wollte. Bülow scheiterte, als sich Großbritannien und Russland 1907 auf einen Interessenausgleich in Asien verständigten. Damit erweiterte sich die »Entente Cordiale« zwischen Paris und London zur Einkreisung des Reiches. Festzuhalten gilt: Die wachsende ideologische Russlandfeindschaft in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts überlagerte noch nicht die machtpolitischen und strategischen Kombinationen der Reichsführung. Mit der Erkenntnis einer möglichen Überforderung der eigenen Kräfte wuchs freilich das Bedürfnis von Politik und Militär, in der Ideologie Rechtfertigung und Zuversicht zu suchen.
Das Russlandbild wurde doppelgesichtig: einerseits die Beschwörung der Gefahren russischer Expansionspolitik, andererseits die Einschätzung Russlands als »tönerner Koloss«. In der wilhelminischen Epoche wendete sich dieses Bild durch die militante Propaganda deutschbaltischer Publizisten zum deutschen »Drang nach Osten« und erlangte nach 1905 eine dominierende Position in der öffentlichen Meinung. Wenn es womöglich nur eines Anstoßes bedurfte, um das russische Reich zum Einsturz zu bringen, dann konnte der strategische und ökonomische Gewinn verlockend genug sein, um an eine Expansion nach Osten zu denken, für die sich ideologische Rechtfertigungen leicht finden ließen.
Auf dem Höhepunkt der Balkankrise im Jahre 1912 plädierte Moltke (der Jüngere) als Generalstabschef für einen Präventivkrieg gegen beide Kontinentalmächte, das heißt gegen Frankreich und Russland. 1913 erklärte er in Wien, »dass ein europäischer Krieg über kurz oder lang kommen muss, in dem es sich in letzter Linie handeln wird um einen Kampf zwischen Germanentum und Slawentum. Sich hierauf vorzubereiten, ist Pflicht aller Staaten, die Bannerträger germanischer Geisteskultur sind. Der Angriff muss aber von den Slawen ausgehen.« Zwar lässt sich hier eine Übernahme rassenideologischer Parolen feststellen, die man jedoch politisch instrumentalisierte. Auch wird aus dem Blickwinkel einer vermeintlichen Bedrohung argumentiert, die nicht allein vom östlichen Nachbarn ausging, sondern erst in der Zweifrontensituation ihre militärische Bedeutung erhielt.
Ein möglicher Krieg an der Ostgrenze war offensichtlich unpopulär, weshalb Wilhelm II. anregte, durch eine Pressekampagne »die Volkstümlichkeit eines Krieges gegen Russland besser vorzubereiten« – mit Erfolg, so dass im Frühjahr 1914 eine regelrechte antirussische Hasswelle zu verzeichnen war. Ungeachtet der nicht selten ausschweifenden Phantasien in der Publizistik und mancher Zielsetzungen im radikalen politischen Lager, die auf Unterwerfung und Kolonisierung Russlands hinausliefen, handelte es sich jedoch um nicht mehr als einen Teil einer »nervösen Wahrnehmung der Wirklichkeit« (Joachim Radkau) am Ende des »langen 19. Jahrhunderts«. Das Bild vom »Osten« unterlag heftigen Stimmungsschwankungen.11
Die Militärs jedenfalls blieben bei ihrer Planung einer Schlacht im polnischen Raum, die in Ostpreußen und Galizien zunächst defensiv zu führen war, um mit der Masse der eigenen Kräfte den Hauptgegner Frankreich im Westen schlagen zu können. Dort würde, davon war man im Generalstab überzeugt, die Kriegsentscheidung fallen. Eine anschließende Wendung nach Osten könnte dann zur Schlacht um den polnischen Balkon werden, was nach Verlust der russischen Westarmeen Moskau voraussichtlich zum Einlenken veranlassen würde. Mit der Abtretung polnischer Provinzen würde man sich aber nicht zufriedengeben.
Der Erste Weltkrieg und die Wiedergeburt Polens
Der Erste Weltkrieg begann anders als von deutscher Seite geplant. Unerwartet schnelle und massive russische Vorstöße brachten die Ostfront der Mittelmächte in Schwierigkeiten. Österreich-Ungarn musste in Galizien sogar einen fluchtartigen Rückzug antreten. In Ostpreußen aber gelang es den Deutschen in der improvisierten Kesselschlacht von Tannenberg, die angreifende russische 8. Armee zu vernichten. Für diesen propagandistisch aufgebauschten Sieg zahlten sie einen hohen Preis: Im Westen wurde die Marne-Schlacht abgebrochen und damit die Hoffnung auf eine schnelle Kriegsentscheidung aufgegeben. Der befürchtete Abnutzungskrieg begann. Die Masse der deutschen Streitkräfte kämpfte in den nächsten vier Jahren in den Schützengräben der Westfront.
Mit ihren Kräften an der Ostfront konnten die Deutschen trotz des Sieges von Tannenberg die Zarenarmee militärisch in den folgenden Jahren nicht besiegen. Die Vorstellung einer Entscheidungsschlacht im grenznahen polnischen Raum ließ sich angesichts des hartnäckigen Widerstands der Russen und ihrer massiven Offensiven 1915/16 sowie nicht zuletzt wegen der Schwäche des österreichisch-ungarischen »Flügels« im Südosten nicht umsetzen. In einem dreijährigen mühsamen Ringen gelang es den Mittelmächten lediglich, den russischen Gegner auf die Linie Riga – Donaumündung zurückzudrängen.
Nur der innere Zusammenbruch des Zarenreiches beflügelte Ende 1917 noch einmal die Hoffnungen auf einen deutschen Sieg im Osten. Dafür hatte die Oberste Heeresleitung mit einem gewissen Lenin eine besondere Trumpfkarte gezogen. Mit einem plombierten Waggon der Reichsbahn von seinem Zürcher Exil durch Deutschland nach Osten gefahren, brachte es der Führer der Bolschewiki, ausgestattet mit mehreren Millionen Goldmark, fertig, durch revolutionäre Umtriebe die russische Front zum Einsturz zu bringen und Friedensverhandlungen mit der deutschen Seite zu führen. In dem ausbrechenden Chaos und Bürgerkrieg konnten Truppen der Mittelmächte Anfang 1918 einen weiten Vorstoß nach Osten unternehmen, obwohl sie zur gleichen Zeit an der Westfront noch einmal alle Kräfte anspannten, um vor einem massiven Auftreten der US-Armee die Kriegsentscheidung im Westen zu erzwingen.
Im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg verblasste in der Erinnerung der meisten Deutschen der harte dreijährige Kampf um den polnischen Raum. Vor allem die Militärs erinnerten sich lieber an die siegreiche zweite Phase 1917/18 an der Ostfront. Für den damaligen Gefreiten Adolf Hitler, der als Meldegänger im Stellungssystem der Westfront vom feindlichen Trommelfeuer in den Graben gezwungen wurde, vermochte der weite Vorstoß ins russische Land von 1918 zum Ausgangspunkt seiner persönlichen Weltmachtvisionen zu werden. Dabei verdrängten alle, dass dieser »Eisenbahnvormarsch« nicht das Ergebnis deutscher militärischer Tüchtigkeit und Generalstabsarbeit gewesen ist. Die Deutschen erzielten durch ihre politische Kriegführung den größten Erfolg ihrer Militärgeschichte, den Sieg über Russland. Er machte den im März 1918 unterzeichneten Diktatfrieden von Brest-Litowsk möglich, bei dem Lenin einwilligte, dass die baltischen Provinzen deutsche Herzogtümer und die Ukraine Protektorat der Mittelmächte wurden.
Es war bekanntlich ein äußerst fragiler Erfolg, der den Zusammenbruch des Kaiserreichs nicht verhindern konnte. Die militärische Entscheidung des Ersten Weltkriegs fiel im Kampf gegen die Westmächte. Der Sieg im Osten fiel dagegen nicht ins Gewicht. Diese Erfahrung verdrängte man in Deutschland ebenfalls sehr schnell. Dagegen blieb die Erinnerung an die Unterstützung, die man in den Randgebieten des russischen Reiches bei den verschiedenen, nach Unabhängigkeit strebenden Nationalitäten gefunden hatte, durchaus wach, aber zwiespältig.
Ein großer Erfolg und das Fundament für eine »treue« Freundschaft in beiden Weltkriegen war die Aufstellung eines Jägerbataillons aus russischen Kriegsgefangenen finnischer Nationalität gewesen. 1916/17 hatte die Einheit bei Riga an der deutschen Front gegen die Russen gekämpft. 1918 bildete sie den Grundstock der finnischen Armee unter dem ehemals zaristischen General Carl Gustav Freiherr von Mannerheim. In den baltischen Provinzen und der Ukraine drängten nationalistische Kräfte ebenfalls auf Unabhängigkeit, was die Deutschen nur teilweise für sich nutzen konnten. Bei ihren Rückzügen im Herbst 1918 etablierten sich einheimische Regime, die nun militärische Unterstützung bei den westlichen Siegermächten suchen mussten. Das gelang den baltischen Staaten, nicht aber der Ukraine. Sie musste sich nicht nur der Angriffe sowjetischer Partisanen aus dem Osten erwehren sowie der Roten Armee Lenins, die den abrückenden Deutschen, Österreichern und Ungarn folgte. Die untereinander zerstrittenen ukrainischen Gruppen sahen sich westlich des Dnjepr auch den Angriffen polnischer Verbände ausgesetzt.
In die polnischen Untertanen hatte das Deutsche Kaiserreich während des Ersten Weltkriegs besonders große Erwartungen gesetzt.12 Allerdings hatten auch der Zar und der Kaiser in Wien angenommen, sie könnten mit einigen vagen Versprechungen ihre jeweiligen polnischen Rekruten zum Kampf gegen den Feind motivieren und die polnischen Landsleute auf der anderen Seite der Front zum Überlaufen bewegen. Immerhin dienten in den Armeen der drei Teilungsmächte insgesamt 1,5 Millionen Soldaten polnischer Abstammung, und die polnischen Provinzen bildeten das Schlachtfeld.
Die Österreicher hatten sich in der Vorkriegszeit am besten auf diesen Fall vorbereitet. Unter Józef Piłsudski spielte die polnisch-sozialistische Partei, die auch im Wiener Staatsrat vertreten war, eine herausgehobene Rolle. Der ehemalige Revolutionär, Terrorist und russische Sträfling hoffte darauf, im Kriegsfalle einen Aufstand in dem von Russland annektierten Teil Polens, dem ehemaligen Kongress-Polen, auslösen zu können, um den großen Krieg für die Wiedergewinnung eines polnischen Staates zu nutzen. So würde vielleicht aus der Doppelmonarchie (Österreich-Ungarn) eine Dreiermonarchie. Wien duldete bereits 1908 die Aufstellung des »Verbands des aktiven Kampfes«, in dem Piłsudski Anhänger versammelte und militärisch schulte. Aus dieser paramilitärischen Formation freiwilliger Schützen (= Strzelec) konnte er nach Kriegsbeginn drei Bataillone formieren. Obwohl der Vormarsch dieser schlecht bewaffneten Legionäre nach Kielce im August 1914 ein Fehlschlag wurde, weil die militärische Großlage einen fluchtartigen Rückzug verlangte, hielt der Zulauf zu seiner Legion an. Piłsudski hatte ein Zeichen setzen können, dass es wieder polnische Soldaten in polnischen Uniformen gab. 1915 standen bereits drei Brigaden mit 20 000 Mann zur Verfügung, als die Mittelmächte in ihrer Sommeroffensive die russische Armee aus dem polnischen »Balkon« zurückdrängten.
Piłsudski wollte seine Freiwilligen aber nicht als »Kanonenfutter« für andere Nationen einsetzen und beharrte auf eindeutige politische Zusagen. Mit der Besetzung Warschaus kamen nun die Deutschen stärker ins Spiel. Die waren sich über die Zukunft Polens aber nicht einig. In den Augen des Generalgouverneurs Hans von Beseler konnte ein autonomes Königreich Polen künftiger Bundesgenosse im Kampf gegen Russland sein. Immerhin waren allein im ehemaligen Kongress-Polen mehr als 800 000 wehrfähige Polen nicht von der Zarenarmee eingezogen worden und hätten unter die polnische Fahne gerufen werden können. Ein Thronprätendent winkte freilich schnell ab: Der König von Sachsen wollte nach den kostspieligen Erfahrungen seines Vorfahrens August des Starken im 18. Jahrhundert nicht wieder nach der polnischen Krone greifen.
Für die politische Gegenrichtung stand auch die Oberste Heeresleitung, die zu diesem Zeitpunkt für einen Verständigungsfrieden mit Russland mit Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen plädierte. Das Interesse an einer auch nur Teilautonomie Polens war bei den preußischen Konservativen gering. Die ostelbischen Großagrarier waren auf die billigen polnischen Arbeitskräfte angewiesen. Deren nationales Selbstbewusstsein zu stärken, würde nur die Integrationsprobleme erhöhen. Dafür entdeckten die Konservativen ihr Interesse an einer Herauslösung der Ukraine aus dem russischen Reich.
Kaum war die russische Sommeroffensive 1916 unter blutigen Kämpfen abgewiesen, drängten die Militärs auf den Ersatz der Verluste auch durch Freiwillige aus der polnischen Bevölkerung. Am 5. November 1916 proklamierten daher der deutsche Kaiser Wilhelm II. und der österreichische Kaiser Franz Joseph die Errichtung eines Königsreichs Polen, das allerdings nur die bisher zu Russland gehörende Gebiete umfassen und sich eng an die Mittelmächte anlehnen sollte. Dass Zar Nikolaus sechs Wochen später ebenfalls eine Autonomie Polens versprach, mit Gebietserweiterungen zu Lasten der Mittelmächte, war aus polnischer Sicht genauso wenig attraktiv.
Noch herrschten Deutsche und Österreicher über das polnische Territorium. Mit dem Staatsakt vom 5. November war auch die Aufstellung einer Polnischen Wehrmacht angekündigt worden. Den Grundstock sollten die bereits unter K.u.k.-Oberbefehl an der Ostfront kämpfenden Legionen bilden. Sie wurden nun deutschem Oberbefehl unterstellt. Ein Teil der Truppen weigerte sich jedoch, den Treueeid auf einen imaginären polnischen König sowie gegenüber dem deutschen und dem österreichischen Kaiser zu leisten. Man entwaffnete die Soldaten, einige bezog man direkt in deutsche Truppenteile ein, »Anführer« wurden verhaftet, Piłsudski auf die Festung Magdeburg gebracht. Zur gleichen Zeit befand sich auf der Festung Ingolstadt ein zaristischer Gardeoffizier namens Michail Tuchatschewski. Nach mehreren vergeblichen Fluchten erreichte er 1917 den bolschewistischen Aufstand in Russland. Drei Jahre später stand er Piłsudski auf dem Schlachtfeld bei Warschau gegenüber.
Mit dem Zusammenbruch der russischen Front 1917 schien ein möglicher polnischer Beitrag nicht mehr von dringendem Interesse. So ignorierte man 1918 auch das polnische Unverständnis darüber, dass die Deutschen eine Selbständigkeit Litauens und der Ukraine förderten, was historische Ambitionen der Polen tangierte. Alle politischen Lager Polens atmeten daher auf, als im Herbst die deutsche Westfront ins Wanken geriet. Nun konnte die Nation mit westlicher Hilfe rechnen, um die Unabhängigkeit in größeren Grenzen zu verwirklichen. In Frankreich stand die »Blaue Armee« von General Józef Haller mit 70 000 Mann bereit, polnische Freiwillige und ehemalige kriegsgefangene Preußen polnischer Nationalität.
Der Regentschaftsrat in Warschau, den die Mittelmächte für das von ihnen geplante Königreich eingesetzt hatten, proklamierte am 7. Oktober 1918 die Unabhängigkeit Polens und übernahm die Befehlsgewalt über die Armee. »Vorläufiges Staatsoberhaupt« wurde Józef Piłsudski. Die Offiziere seiner ehemaligen K.u.k.-Legion übernahmen die wichtigsten militärischen Posten. Ihre vorrangige Aufgabe war es, mit den improvisierten Kräften, die von der neuen Hegemonialmacht Frankreich erst allmählich aufgerüstet werden konnten, Polen als militärische Großmacht in dem brodelnden Hexenkessel Ostmitteleuropa zu etablieren und die Grenzen so weit wie möglich abzustecken. Alles war in Bewegung, voller Aufruhr und Leidenschaft. Bürgerkriegsparteien, Partisanen und reguläre Kräfte organisierten und bekämpften sich in unübersichtlichen, teils wechselnden Kombinationen. Polen führte (mit Ausnahme Rumäniens) nach allen Seiten »Selbstfindungskriege« (Imanuel Geiss): Im Norden rangen sie mit der litauischen Nationalbewegung um die Region Wilna, im Süden mit den Tschechen um kleinere polnisch besiedelte Enklaven am Rand der Karpaten. Piłsudskis Vorschlag zu einer Konföderation vorwiegend slawischer Staaten Ostmitteleuropas (Międzymorze = Zwischenmeerland) fand bei weißrussischen, ukrainischen und litauischen Politikern keine Zustimmung, da sie befürchteten, sich als Nicht-Katholiken und Nicht-Polen als Bürger zweiter Klasse wiederzufinden.
Größere militärische Kräfte konnten zur Erweiterung der Westgrenze nicht eingesetzt werden, weil hier die Westmächte darauf achteten, dass die deutsch-polnischen Grenzkonflikte nicht eskalierten. Mit Abstimmungen in den umstrittenen Gebieten klärte man die nationalen Mehrheiten und berücksichtigte so die Prinzipien Wilsons zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. Nicht in allen preußischen Provinzen, die noch im 18. Jahrhundert zum Königreich Polen gehört hatten, herrschten eindeutige Verhältnisse. So waren schließlich beide Seiten mit dem Ergebnis unzufrieden, was zu teils heftigen Gefechten polnischer Freischärler mit deutschen Freikorps führte.
Die deutsche Armee konzentrierte sich indes auf den »Grenzschutz Ost« und musste alle Außenposten, die man insbesondere im Baltikum zu halten versuchte, räumen. Polnische Verbände, in Teilen bisher auf deutscher Seite an der Front gegen die Russen, übernahmen die Ostprovinzen der zusammengebrochenen K.u.k.-Monarchie, das ehemals habsburgische Königreich Galizien und Lodomerien. Allerdings hatte in der Hauptstadt Lemberg die ukrainische Nationalbewegung inzwischen die eigene Unabhängigkeit ausgerufen. Deren militärische Kräfte erwiesen sich aber als zu schwach und zerstritten, um das Vordringen der Polen zu verhindern. Es handelte sich um Gebiete mit einer polnischen Minderheit, die sich am Kampf beteiligte. Im Polnisch-Ukrainischen Krieg wurden um Lemberg Ende 1918 heftige Kämpfe geführt, bis polnische Freiwilligen-Einheiten und reguläre Truppen die Stadt einnehmen konnten.
Seit diesen Tagen gibt es dort einen polnischen Soldatenfriedhof, auf dem sich auch die Gräber zahlreicher Kindersoldaten befinden. Zu den »Orleta Lwowskie«, den »Lemberger jungen Adlern«, gehörte der 14-jährige Jurek Bitschan. Seit 1919 erzählt eine schwermütige Ballade von seinem Tod. Zwei ukrainische Granaten zerrissen ihn am 21. November 1918, während seine Mutter an einem anderen Frontabschnitt ein Frauenbataillon befehligte.
Jurek Bitschan – obrońca Lwowa