Das Buch
In dunklen Zeiten geboren, im Bombenhagel aufgewachsen: Eine ganze deutsche Generation war noch im Kindesalter, als der Zweite Weltkrieg über sie hereinbrach. Zu jung, um an den Machenschaften des NS-Regimes beteiligt zu sein, wurde ihr die unbeschwehrte Kindheit geraubt. Über ihre zum Teil traumatischen Erlebnisse zwischen 1939 und 1945 haben diese Männer und Frauen meist geschwiegen. In diesem Buch kommen sie zu Wort und erzählen: von den Erfahrungen im Bombenkeller und den Begräbnissen der Toten; von der Flucht aus dem Osten; von einer Kindheit ohne Vater; von der Kinderlandverschickung; von all den Erfahrungen, die uns heute unvorstellbar erscheinen und die doch viele Menschen geprägt haben, die maßgeblich am Aufbau der Bundesrepublik beteiligt waren. Das einfühlsame Porträt einer Generation, die über Jahrzehnte hinweg nur selten über ihr Schicksal gesprochen hat.
Die Autorin
Hilke Lorenz, Jahrgang 1962, hat Geschichte und Germanistik studiert. Seit 1993 leitet sie bei der Stuttgarter Wochenzeitung Sonntag Aktuell das Magazinressort. Für das vorliegende Buch hat sie zahlreiche Zeitzeugen befragt.
Für Lisa und Manfred,
die einander trotzdem gefunden haben.
Vorwort von Hans Koschnick 9
Einleitung
Schweigen, um zu überleben –
reden, um weiterzuleben?
1. Lausbubengeschichten
Von der Militarisierung der Kindheit oder wie der Krieg sich ins Leben geschlichen hat
2. Abschied
Die Väter verschwinden, der Krieg beginnt
3. Kinderlandverschickung
Heimweh
Helden kuscheln nicht
4. Leben mit der Bombe
Ausnahmezustand
Vereint in der Gefahr
Ausgebombt: Als es Funken schneite
Abgebrannt: Die Toten in der Marmeladendose
Getrennte Welten: Angsthase und Held
Ausgeträumt: Bomben ersticken auch Wünsche
Im Flammenmeer: Die Angst vor Feuerwerken bleibt
Weltuntergang: Scharlach im Krankenhauskeller
5. Verlust der Heimat:
Flucht und Vertreibung
Zyankali oder Flucht
Ein Überlebender zweiter Klasse?
Wurzellos
Die Furcht vor dem Abschied für immer
Die geplünderte Kindheit
Die gespenstische Stille des Friedens
6. Die verlorenen Kinder
Lebendig begraben: Auf der Suche nach Wärme
Aus der Welt gefallen
7. Vom schwierigen Neuanfang
Der traurigste Tag meines Lebens
8. Das vaterlose Leben
Eimer voll Tränen
Der Schatten, der ein Vater war
9. Mutterseelenallein
Kriegsschrecken in der Nachkriegszeit
10. Exkurs: Der Krieg im Krieg
Leben mit einem gebrochenen Vater
Ausgestoßen
Nachwort
Verarbeitet, vergessen, verdrängt?
Dank
Bibliografie
Abbildungsnachweis
Den Frieden zu bauen ist schwer. Das weiß ich nicht nur aus meiner Arbeit auf dem Balkan. Denn der Krieg zerstört Infrastruktur – auch die seelische. Es ist eine langwierige Arbeit, diese Wunden zu heilen und wieder Strukturen für das Weiterleben zu schaffen. Mit diesem Wissen aus meiner langjährigen politischen Arbeit und der eigenen Lebensgeschichte schreibe ich dieses Vorwort. Ich will dabei nicht verhehlen, dass es für mich erst problematisch erschien, über die Lebensentwürfe anderer, nicht so stark in Anspruch genommener Altersgenossen, glaubwürdig zu schreiben. Schließlich hatten sie doch nicht die gleichen Chancen wie ich. Gewiss würde ich meine Sachkunde nicht verneinen, und auch die spezifischen Erfahrungen mit einer belastenden Vergangenheit und einer schwierigen Gegenwart kann ich nicht leugnen. Doch genügt das wirklich, um über die Situation eines anderen sachgerecht und nicht nur gefühlsorientiert zu urteilen? Ich bin da nicht sicher. Deshalb sind die folgenden Zeilen als ein Versuch und nicht so sehr als eine Bekundung von Gewissheiten zu verstehen.
Berichte ich also zunächst von mir. Ich bin 1929 geboren, in einer Familie aufgewachsen, die bereits Anfang 1933 in die Fänge des NS-Regimes gelangte, weil Vater wie Mutter schon vor der Machtpreisgabe der Weimarer Republik gegen Hitler Front machten (»Wer Hitler wählt, wählt den Krieg«) und deshalb sofort den Repressionsmaßnahmen der nun »braunen Führung« unterlagen. Gefängnis, Zuchthaus, Konzentrationslager waren die Konsequenzen.
Viele Jahre wuchs ich deshalb ohne die unmittelbare Einflussnahme des Vaters und eine längere Zeit auch ohne das eigentlich selbstverständliche Miteinander mit der Mutter auf. Ich wurde von den Großeltern erzogen, ohne wirklich zu begreifen, warum ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr ohne die Fürsorge der Eltern auskommen musste. Ich war trotz alledem gut behütet, litt keine sonderliche materielle Not, sondern erfuhr, wie alle Kinder in unserem Wohnviertel, die normalen Lebensbedingungen jener Zeit. Eng war es, bescheiden ging es zu, doch auch die anderen hatten kaum besondere materielle Freuden. Für Neid auf andere wegen ungleicher Voraussetzungen gab es keinen Raum.
Kurz war dann die Zeit, in der ich mit den Eltern zusammenleben konnte, denn bald brach der Krieg aus und er bedingte wegen der damit verbundenen Belastungen wiederum eine Eingrenzung der Zeit für das jetzt möglich gewordene gemeinsame Zusammensein. Zudem stellte sich weiterer Nachwuchs ein und die Kleinen verlangten ihr Recht.
Krieg, das bedeutete 1941 weg aus der von Bomben bedrohten Stadt, Kinderlandverschickung war das Ergebnis, und diese dauerte bei mir unter jeweils kürzeren Rückkehrpausen dann bis August 1944. Es war eine Zeit, in der ein Miteinander in der Familie mehr Gastspiel als wirkliche Gemeinsamkeit bedeutete. Und die dann folgende Zeit war überschüttet von Fliegeralarmen, Bunkeraufsuchen, Trümmerräumen, auch sechswöchiges »Schanzen« bei Wilhelmshaven war angeordnet, und schließlich ging es im März ’45 zum Reichsarbeitsdienst, aus dem ich nach Kampfeinsatz und folgender englischer Gefangenschaft in Belgien Ende September ’45 in die Heimat zurückkehrte. Wiederum stand meine Mutter jetzt allein vor der Aufgabe, den »Großen« und die beiden »Kleinen«, für das Leben vorzubereiten, denn mein Vater war als Angehöriger der Wehrmacht im September ’44 in Finnland gefallen. Von einer geborgenen Kindheit kann man also hier kaum sprechen. Einige wenige Jahre im umhegten Familienverband sind die guten Zeiten meines Erwachsenwerdens, in der Regel aber war es ein schlichtes Durchstehen, nicht selten auf sich allein gestellt. Das alles prägte mich in besonderer Weise und führte viel frühzeitiger als bei anderen zu der Frage nach dem Warum und Weshalb. Wie kam es zu 1933? Warum kam es zu diesen jahrelangen Inhaftierungen? Wie haben Verwandtschaft und Bekannte darauf reagiert? Nicht zuletzt, wie einsam war meine Mutter in dieser Zeit? Und dann auch wie bei vielen anderen Familien die Fragen: »Wie wurde sie mit dem Verlust des Ehemannes fertig, und welche besonderen Probleme gab es aus ihrer Sicht für die gesicherte Erziehung der Kinder? Und warum hat sie über diese Zeit nicht sprechen wollen?
Fragen über Fragen, die bei anderen Kindern der Kriegszeit gewiss auch, wenn auch mit anderen Schwerpunkten aufkamen. Auch sie erlebten, dass die Erwachsenen der Kriegszeit von sich aus gar nicht oder nur selten über diese Zeit sprachen. War es bei den damals für die Familien Verantwortlichen nur der Wunsch, ihre eingekapselten Traumata der Zeiten von Not, Vertreibung und Schrecken nicht aufbrechen zu lassen, oder wollte man den Kindern Belastungen, Kenntnisse oder Erfahrungen ersparen, die das eigene Leben so bitter beeinflusst hatten? Darauf will der vorliegende Band Antworten geben. Individuelle Antworten, subjektive Antworten, aber in der Fülle der unterschiedlichen Reflexionen ergibt sich ein beeindruckendes Resümee. Wir können jetzt besser nachvollziehen, wie viel Prägendes lange nicht sichtbar war, vielleicht aber auch, warum die Großelterngeneration eher darüber zum Sprechen und Erzählen gebracht werden konnte, als diejenigen, die damals in Verantwortung für ihre Kinder handelten.
Auf der Suche nach Antworten müssen wir deshalb auf die damals allgegenwärtige Situation der Kinder in den Kriegszeiten von 1939–1945 zurückgreifen. Es gilt Gemeinsames und sehr Unterschiedliches aufzuzeigen, nicht zuletzt müssen auch die keinesfalls überall gleichen Lebens- und Gefahrensituationen der vom Krieg betroffenen Kinder gesehen werden.
In diesem Zusammenhang muss man von der Kinderlandverschickung (KLV) sprechen. Nachdem sich schon Ende 1940 herausstellte, dass die großsprecherische Versicherung der NS-Führung »es wird kein feindliches Flugzeug in den deutschen Luftraum eindringen können, um deutsche Wohngebiete zu gefährden« sich nicht bewahrheitete und die deutschen Luftangriffe auf englische Städte (»coventrieren«) nun mit steigender Wucht vergolten wurden, entwickelte man den Plan, die Schulkinder aus den als besonders gefährdet betrachteten Großstädten in Regionen des Deutschen Reiches zu verbringen, die von den Britischen Inseln mit den damaligen Flugzeugen nicht zu erreichen waren. Man widmete in Süd- und Ostdeutschland und dem so genannten »Protektorat Böhmen und Mähren« Hotels, Jugendherbergen und Erholungsheime um. Als geeignete Gebäude für einen mehrmonatigen Daueraufenthalt von Schulen bzw. Schulklassen zu Unterbringungs- und Schulzwecken wurden sie jetzt neuen Aufgaben zugeführt, in einigen Fällen nutzte man auch Privatunterkünfte mit Familienanschluss. Die Lehrerinnen und Lehrer mussten die Klassen – häufig ihre heimatlichen Schulklassen – begleiten, und für die außerschulische Erziehung und Betreuung wurde ihnen von der Hitlerjugend eine Führungskraft aus dem Reservoir der damaligen Staatsjugend als Lagermannschaftsführer beigegeben. Fern von der Familie, gemäß dem Prinzip: Jugend soll durch Jugend geführt werden, nunmehr ganzheitlich in der Schule wie im Lageralltag der NS-Ideologie preisgegeben, haben dann fast bis zum Kriegsende Hunderttausende von Jungen und Mädchen diese verordnete Trennung von der Familie in der Regel klaglos hingenommen. Für sie war es bei allem Heimweh doch auch ein Stück Abenteuer und Bewährung, so wie sie es verstanden (jedenfalls habe ich das damals so empfunden und ich war gewiss nicht der Einzige, der so fühlte). Den Sorgen der Eltern, vor allem der Mütter, ist bei Berichten über diese Zeit selten genug Raum gegeben worden. Es wurde im Allgemeinen als kriegsbedingtes Schicksal verbucht, über das nicht viel zu klagen war. Verdrängt wurde dabei aber gar zu häufig, dass zumindest die Jungen ab 14 Jahren immer stärker im Rahmen ihrer KLV-Zeit mit vormilitärischen Ausbildungen auf ihr Ziel, in absehbarer Zeit zum Wehrdienst einberufen zu werden, vorbereitet wurden.
Auch die anderen Heranwachsenden, die nicht in die Kinderlandverschickung kamen, wurden in den Versorgungs- und Unterstützungskreislauf der Staatsmacht einbezogen. Angefangen von Ernteeinsätzen von Jungen und Mädchen ab 14 Jahren, über das Sammeln von Altmaterial und Stanniol für die Kriegswirtschaft durch die Schulen, wobei die Lehrkräfte in die Aufsichts-, Kontroll- und Berichtspflicht genommen wurden, kommt es wegen der Verschlechterung der Kriegsjahre zu einem geraden Weg spezieller Einsätze. Bei den etwas älteren Mädchen zu Krankenhaushilfsdiensten, bei den Jungen in den Städten zu Luftwaffenhelfer- (später auch Marinehelfer-) Einsätzen, bei denen die Heranwachsenden Soldaten ersetzen mussten, die an die Front verlegt wurden, später folgte die »Volkssturmverwendung«. Der Anfang zur Realisierung der Einsätze von Kindersoldaten ist hier erkennbar; Kindersoldaten sind, anders als es heute gesehen wird, also kein besonderes Merkmal der Stammes- und Bürgerkriege in den Entwicklungsländern. Deutschland bot selbst problematische Beispiele. Allerdings will ich nicht verhehlen, dass die 16/17-Jährigen sich gewiss darüber empört hätten, als Kindersoldaten bezeichnet zu werden. Wir empfanden uns schon als erwachsen, erfahren und kampffähig. Ich selbst war doch schon mit sechzehn Jahren beim Kampfverband des Arbeitsdienstes und hätte gewiss eine solche Bezeichnung damals als ehrverletzend angesehen!
Die Tatsache, dass diese Entwicklungen alle im Lichte der Öffentlichkeit vonstatten gingen und kein spürbarer Widerstand gegen den Missbrauch dieser im Übergang vom Kindesalter zum Heranwachsenden aufkam, darf nicht über die Situation der Mütter hinwegtäuschen. Die Trennung von den Kindern schmerzte natürlich und belastete sie stark. Hatten sie mehrere Kinder, war es ein Problem besonderer Art, diese unter Umständen in verschiedenen Lagern mit gewiss unterschiedlicher Betreuung zu wissen. Und wenn dann noch hinzukam, dass der Ehemann – der Vater dieser Kinder also – als Soldat permanenten Gefährdungen ausgesetzt war und sie wegen des häufig erzwungenen Verbleibens in der bombengefährdeten Gemeinde selbst nicht von wiederkehrenden Kriegsgefahren verschont waren, dann führte das zu der Einschätzung der Mütter, dass jedenfalls ihr Kind im KLV-Lager geschützt war. Sie nahmen das eigentlich Zerstörerische hin als schicksalsmächtige Notwendigkeit. Dass dieses alles bei ihnen wie bei den Kindern traumatische Belastungen hervorrufen konnte, wer wollte das bestreiten.
Von besonderer Härte waren Anfang 1945 für die bis dahin vom konkreten Kriegsgeschehen weniger belasteten Heranwachsenden aus Ostdeutschland die Belastungen der Flucht vor den heranrückenden sowjetischen Truppen. Von der NSDAP schlecht organisiert, in der Regel viel zu spät zur Evakuierung – sprich: Abzug in die weiter westlich gelegenen Gebiete – aufgefordert oder zugelassen, gingen die Menschen aus den Ostgebieten einen leidvollen, entbehrungs- und verlustreichen Weg. Die Suche nach einem noch so bescheidenen Refugium beflügelte sie. Es war die Angst vor einer angekündigten revanchegeprägten Besetzung ihrer Heimatregion, auch vor einer Vertreibung, denn schließlich hatte Hitler diese Art von Besatzungs- und Raumordnungspolitik hoffähig gemacht. Flucht bei bitterster Kälte, bei zusammengebrochenen Transportsystemen, unzureichender Verpflegung, und die sie jetzt aus einer anderen Himmelsrichtung bedrohenden Luftstreitkräfte, haben unzählige Opfer an Leben oder Gesundheit gefordert. Die jungen Menschen erlebten das Sterben in schrecklichster Form, es sollte nicht wenigen ins Gedächtnis eingebrannt bleiben – auch wenn sie nicht darüber sprechen. Doch Reaktionen bei manchen von ihnen, wenn sie auf Entwicklungen in der heutigen Zeit angesprochen werden, lassen erkennen, dass vieles noch als eingekapseltes Trauma vorhanden ist, ein Trauma, das bei neuen Krisen aufbrechen und virulent werden kann.
Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch Einsichten bei Außenstehenden vermittelt, vor allem aber die Betroffenen selbst zum Aussprechen erfahrenen Leides ermutigt; das wäre ein Anfang zu einer perspektivvolleren Aufarbeitung eigener, bitterer Erfahrung. Vielleicht führt das auch zu einem besseren Verständnis bei der Beurteilung des Leidens anderer in unserem von Kriegen immer wieder geschundenen Kontinent.
Ich schreibe dies vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen über die nicht verdrängbaren Leiden deutscher und europäischer Juden, die so unvorstellbar unter von Deutschland ausgehender Gewalt gelitten haben.
Ich schreibe das auch, weil ich um die permanente Angst der Menschen in Israel und Palästina weiß; eine Angst vor der Gewaltbereitschaft der jeweils anderen, die die Menschen nicht zur Aussöhnung befähigt. Auch hier wirken lang anhaltende Traumata nach.
Ich bin aber vor allem durch meinen Einsatz für gewaltfreie Konfliktlösungen auf dem Balkan geprägt, bei dem ich unermessliches Leid von Frauen und Kindern dortiger Nationen erfahren musste und immer wieder gebeten werde, Hilfsmöglichkeiten zur Überwindung eingebrannter traumatischer Belastungen zu finden und mich auch dort nicht zu verweigern, wo es um die Überwindung von Schmerzen bei Opfer/Täter- bzw. Täter/Opfer-Aufarbeitung geht.
Der erste Schritt zur Hilfe kann nur von den Betroffenen ausgehen; erst wenn sie fähig sind, und das ist manchmal nur unter Überwindung größter Abwehrreaktionen möglich, auszusprechen, was war und was sie aus der Erinnerung bewegt, zum Teil auch belastet, kommen wir zu einer Klärung der Lebenswirklichkeit einer ganzen Generation, die vielleicht morgen auch anderen hilft, nicht zu schweigen. Für mich vermittelt das vorliegende Werk nicht nur die Chance des Erfahrungsaustausches, sondern hilft auch, dem eigenen Nachwuchs Einsichten zu vermitteln, die nicht nur als Story eines älteren Mannes abgetan werden können; es ist ungemein hilfreich.
Hans Koschnick
Bremen, August 2003
»Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd«, so beginnt Christa Wolf ihren Roman Kindheitsmuster. Die 1929 geborene Schriftstellerin begibt sich darin auf Spurensuche in ihrem Leben, zu dem untrennbar die Jahre des Zweiten Weltkriegs gehören. Ein offenbar mutiges Unterfangen. Denn diese Jahre sind in den Leben vieler Menschen, die damals Kinder waren, Fremdkörper geworden. Die Erinnerungen an sie sind Geheimnisse, die so unaussprechbar sind, dass viele der ehemaligen Kriegskinder sie sogar vor sich selbst weggeschlossen haben. Den Schlüssel dazu haben sie weit fortgeworfen und damit den Zugang zu einem wichtigen Abschnitt ihres Lebens aus der Hand gegeben. »Wirst dich fragen müssen, was aus uns allen würde, wenn wir den verschlossenen Räumen in unseren Gedächtnissen erlauben würden, sich zu öffnen und ihre Inhalte vor uns auszuschütten«, konstatiert Christa Wolf im Verlauf ihrer Suche nach den Spuren des Vergangenen in der Gegenwart. Wobei auch sie offenbar ein Unbehagen überkommt, wenn sie die Frage anschließt: »Brauchen wir Schutz vor den Abgründen der Erinnerung?«
Krieg ist mehr »als eine Abfolge von Ereignissen, die sich in einer bestimmten, exakt beendeten Zeitspanne zutragen. Er ist auch das, was sich in kleinen empfindsamen Kinderköpfen eingeprägt hat und bis heute in ihnen eingraviert ist«, hat der Arzt Peter Heinl, der in London ehemalige deutsche Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs im Erwachsenenalter behandelt, in der intensiven Arbeit mit seinen Patienten beobachtet. Manchmal treibt der längst vergangene Krieg noch heute denen, die von ihm erzählen, die Tränen in die Augen. Auf den Bildern, die sie aus Kindertagen aufbewahrt haben, schauen sie tapfer und zuversichtlich in die Zukunft. Sie sind sie tatendurstig angegangen und haben den Blick zurück vermieden.
Achtundfünfzig Jahre sind seit Ende des Zweiten Weltkriegs nun vergangen. Kein deutscher Staat hat eine so lange Friedenszeit erlebt wie die Bundesrepublik. Zwei Generationen sind in Frieden aufgewachsen. Und doch ist seit dem großen Krieg keine Ewigkeit vergangen. Die Geschichte jenseits der Daten der Geschichtsbücher könnte weiterleben in den Erzählungen derer, die sie erlebt haben. Doch was wissen die Nachgeborenen über die Biografien und Prägungen ihrer Eltern, von den Jahren, in denen Mutter und Vater selbst Kinder waren? Die »oral history«, die sonst das vermeintlich Nebensächliche für die kollektive Erinnerung rettet, hat im Dialog zwischen den deutschen Generationen wohl versagt. »Die finstersten Aspekte des von der weitaus überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schlussaktes der Zerstörung blieben so ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis, das man vielleicht nicht einmal sich selber eingestehen konnte«, stellte 1999 der Schriftsteller W. G. Sebald fest. Und hat an anderer Stelle angemerkt, dass ein »nahezu gänzliches Fehlen tieferer Verstörungen im Seelenleben der deutschen Nation darauf schließen lässt, dass die neue bundesrepublikanische Gesellschaft die in ihrer Vorgeschichte gemachten Erfahrungen einem perfekt funktionierenden Mechanismus der Verdrängung überantwortet hat«.
Er hat Recht: Die heute zwischen 60 und 75 Jahre alten Frauen und Männer vererben ihren Kindern zwar Vermögenswerte wie keine Generation vor ihnen. Doch geben sie ihnen auch ihre Erinnerungen preis? Erzählen sie von Angst, Verzweiflung, Kummer und Trauer, die sie im Krieg und in den Jahren danach erfahren und in sich verschlossen haben? Zumindest hie und da tun sie es nun – wenn jemand fragt und die Nachfrage nicht gleich mit einer Anklage verbindet. Denn sie sind in ihren Leben an dem Punkt angelangt, wo man Bilanz zieht, wo Aufgaben und Verantwortungen entfallen, Funktionen verloren gehen. Hinter praktischen Aufgaben haben sie sich versteckt, reibungsloses Funktionieren hat sie zum obersten Gebot gemacht, die Generation unserer Eltern. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes haben 14,8 Millionen Menschen, die in der heutigen Bundesrepublik leben, ihre Kindheit in den Kriegsjahren erlebt, sind also zwischen 1930 und 1945 geboren. Sie mussten früh erwachsen werden und hätten allen Grund gehabt, um ihre verpasste Kindheit und Jugend zu weinen. Aber sie haben es nicht getan. Sie haben sich das Recht dazu nicht zugestanden. Weil sie doch immerhin überlebt hatten. Anders als beispielsweise die anderen 74 000 Kinder, die nach Schätzungen allein im Bombenkrieg umkamen.
Die Davongekommenen werden nie vergessen, was ihnen widerfahren ist. Aber das viel größere Leid, so vermittelte man ihnen, hatten die Erwachsenen erlitten. »Wir durften nicht jammern, denn sonst galten wir als egoistisch und undankbar. Wir hatten doch schließlich überlebt«, erinnert sich eine 66 Jahre alte pensionierte Lehrerin, die einen der großen Angriffe auf Hamburg als Fünfjährige durchlitten hatte. »Dir geht es doch gut!«, »Sei froh, dass du überlebt hast!«, sind Merksätze ihrer Kindheit, die sie noch heute im Ohr hat. Erst jetzt, Jahrzehnte später, erlaubt sie sich, Mitleid mit dem Mädchen zu haben, das die Erwachsenen weinen sah. Und in deren Not hineinbrüllte: »Ich will keine brennenden Häuser mehr sehen!« Bis ihm jemand einen Mantel über den Kopf legte. Erst heute wagt sie es, ihn langsam wegzuziehen.
Bagatellisieren, abschwächen, bewusst vergessen und verdrängen, lautete die Devise in den Nachkriegsjahren. So attestiert es der ehemalige Kasseler Professor für klinische Psychologie und Altersforscher Hartmut Radebold, Jahrgang 1935 und somit selbst ein Kriegskind, seiner Generation. Wie hätte man überleben sollen, wenn man sich ganz und gar Verzweiflung und Kummer hingegeben hätte? Da blieb als Selbstschutz nur, das Grauen nicht an sich herankommen zu lassen und einfach zu funktionieren. Aufgaben gab es genug. »Sei tapfer! Du musst der Mutter jetzt helfen«, war eines dieser Überlebensangebote.
Denn das Grauen, von dem sich diese Kinder und Jugendlichen abwandten, war in der Tat unfassbar. Fünfundfünfzig Millionen Menschenleben hat dieser große, Europa zerstörende Krieg gekostet. Die Generation ihrer Eltern und Großeltern hatte ihn geplant und durchgeführt. Ebenso wie die Ermordung der europäischen Juden. Darüber wollte nach 1945 keiner gerne reden. Das Schicksal der Kriegskinder wurde zwangsläufig erst einmal vom Ausmaß der deutschen Schuld überschattet. Das Schweigen nahm seinen Anfang. Das Land richtete sich in einer manchmal »pathologischen Normalität« (Radebold) ein. Die Eltern der Kriegskinder haben schon untereinander kaum geredet. Sich mit ihren Kindern über das Geschehene zu verständigen, haben sie oft gar nicht erst versucht. Die Kinder der Kriegskinder wiederum empfanden Scham und Schuldgefühl über die Millionen von Toten – und wollten den Eltern als greifbaren Stellvertretern der Welt von damals in Gesprächen am Küchentisch den Prozess machen. Wollten nach dem Hitlerjungen im Vater, dem BDM-Mädchen in der Mutter bohren. Sie suchten abgestoßen und zugleich fasziniert nach den Spuren der Nazis, nicht nach den Traumata der Eltern.
Wenn die Zeitzeugen einander etwas erzählten, dann waren es Überlebensgeschichten. Oder Abenteuerschnurren. Wie sie mit scharfer Munition gespielt hatten und mit heiler Haut davongekommen waren, oder wie sie mit einem Lausbubentrick in der Zeit des Hungers ein Wurstbrot ergattert hatten. Sie erzählten sich nicht davon, wie sie sich aus Angst vor den herabjaulenden Bomben in die Hose gemacht hatten. Oder davon, wie sie der Brechreiz überkam, weil sie schon wieder in den Bunker mussten. Im Reden haben sie das Schweigen geübt.
Die wahrhaft furchtbaren und verstörenden Geschichten haben immer die anderen erlebt. Wer sich von Bord der untergehenden »Wilhelm Gustloff« in ein Boot retten konnte, hat eigentlich nichts erlebt. Gelitten haben jene, die in der eisigen Ostsee um ihr Leben kämpften. Oder jene, die drunten in einem Keller kauerten, während das Haus darüber von einer Bombe getroffen wurde.
Funktioniert so Überleben? Mithilfe des Gedankens, dass es immer jemanden gibt, dem es noch schlechter ergangen ist? Das eigene Leben war dann stets nur die Vorhölle. Durch die Hölle ist jemand anderer gegangen. Diese Vorstellung bringt zum Schweigen. Man will sich mit der eigenen Geschichte nicht blamieren. Man will nicht anmaßend sein. Derweilen finden Gefühle und Erinnerungen ihren Platz im Unterbewussten. Dort, wo man nicht dauernd auf sie treffen muss. Aber lassen sich Erinnerungen wirklich wegsperren?
Eine Studie der Universität Leipzig hat in diesem Jahr erstmals repräsentativ die seelischen Folgen des Zweiten Weltkriegs erforscht. Danach leiden jede fünfte Frau und jeder zehnte Mann der Befragten an Angstattacken, weil sie einst ausgebombt worden sind. Außerdem fühlten sich die Interviewten der Studie öfter nervös, niedergeschlagen oder entmutigt. Die Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, klagen häufig über Depressionen. Sie leiden an eingeschränkter Lebensqualität und Vitalität. Die Vorstellung, der Krieg sei spurlos an jenen vorübergegangen, die ihn als Nichtkombattanten erlebt haben, sei im Bewusstsein ausgelöscht worden durch die Ansprüche und Belohnungen einer Wirtschaftswunderzeit, ist also nicht haltbar.
Trotzdem haben die meisten ehemaligen Kriegskinder geschwiegen. Haben sich irgendwann die kratzenden Wollstrümpfe und kurzen Hosen ausgezogen, die langen Zöpfe abgeschnitten, sind in ein Leben als Erwachsene geschlüpft und haben ihr Geheimnis für sich behalten. Den Blick immer nach vorne gerichtet – und niemals zurück.
So blieb vieles im Dunkeln – und unerzählt. Lieber machten die Nachgeborenen Witze darüber, dass die Mutter keine Scheibe Brot wegwerfen konnte und der Vater am Abend seine Kleidung noch immer so neben das Bett legte, als werde er sich in Sekundenschnelle anziehen und in den Bunker hasten müssen. Dass die Eltern immer ein Köfferchen mit den wichtigsten Unterlagen bereithielten, schien ihnen ein lässlicher Tick. Wo der Krieg doch schon so lange vorbei ist. Warum sind die Nachgeborenen nicht auf die Idee gekommen, dass ihre Eltern zum Teil traumatische Kriegserlebnisse mit sich tragen und bis zum heutigen Tag mit ihnen leben? Weil sie nicht hingeschaut und nicht nachgefragt haben? Oder weil ihnen nichts erzählt wurde? Wollten sie nicht zuhören, weil Eltern nicht klein und schutzlos sein sollen?
Aber genau das waren sie, die zwischen 1930 und 1945 Geborenen, als der Krieg über die Kinder hinwegwalzte. Sie saßen um ihr Leben bangend im Bombenkeller, sahen brennende Städte, als sie die Schutzräume verließen, mussten über Tote steigen, wo sie gestern über Kreidestriche gehüpft waren. Oft waren sie nach dem Krieg Halbwaisen. Und selbst wenn der Vater zurückkam, war er ein Fremder, der nur mühsam den Weg zurück in die Familie fand. Sie mussten die vertraute Heimat zurücklassen und erlebten im Flüchtlingstreck Hunger und Tod. Spürten tagtäglich, dass ihre Eltern sie nicht mehr schützen konnten, als die Welt um sie herum in Scherben ging und das Recht des Stärkeren galt. Sie haben nach dem Krieg klaglos Graupensuppe oder Brot mit Apfelmus als einzige Tagesmahlzeit akzeptiert. Sie haben ihre Lebensträume aufgegeben, weil das Geld nicht einmal für eine weiterführende Schule reichte. Zur Bewältigung der Schrecken und Zurücksetzungen, die sie erfuhren, würde man heute ein Heer von Kinderpsychologen und ein Netz von Beratungsstellen aufbieten. »Wer sagt, ich hätte es schwer gehabt, der irrt. Ich habe es schwer«, hat eine Frau bei einer Diskussion ihr Lebensgefühl beschrieben.
Es scheint, als sei die Zeit des konsequenten Schweigens nun vorbei. Viele der ehemaligen Kriegskinder wollen von dem berichten, was sie den »eigenen Kindern so nie erzählt haben«. So haben es viele meiner Interviewpartner ausgedrückt. Ihnen allen, die mir eine Tür zur Vergangenheit geöffnet haben, möchte ich ganz herzlich danken. Auch für die Tapferkeit, sich wieder den schlaflosen Nächten auszuliefern, die manchmal die Folge dieses Türöffnens waren. Auf ihren Wunsch hin wurden ihre Namen in diesem Buch verändert. Ihre Offenheit bringt uns Geschichte näher, hilft uns ein wenig gegen das Verblassen der Ereignisse und Erfahrungen.
Doch diese Zeitzeugen haben nicht geredet, um die Frage nach der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den mit ihm verbundenen Verbrechen zu verwischen, wie man argwöhnen könnte. Diese Überlebenden wollen sich nicht als Opfer stilisiert wissen. Es geht ihnen nicht darum, Leid zu relativieren oder gar das Leiden der Opfer des Holocaust zu schmälern. Die Schuld am Krieg, der fast vollständigen Ermordung der europäischen Juden steht auch für sie fest. Ihre Berichte wollen nichts entschuldigen. Sie wollen deutlich machen, dass der Krieg in all seinen Erscheinungsformen und Folgen tief in die bundesdeutsche Gesellschaft hineingewirkt hat. Dass er im Inneren von vielen weiterging, die nach außen Frieden spielten. Auch wir, die Nachgeborenen, sind noch nicht ganz im Frieden angekommen. Zu unserem Erbe gehört ein Raum der Erinnerung, der mit »Krieg« beschriftet ist. Wir sollten ihn gemeinsam mit denen öffnen, denen die Erinnerungen gehören und die erzählen wollen. Die Geschichten enthalten eine so komplizierte wie einfache Botschaft: Nie wieder!
Hilke Lorenz
Stuttgart, August 2003
Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene grausame Jugend will ich. Jugend muss das alles sein. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. Das freie, herrliche Raubtier muss erst wieder aus ihren Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste.
Adolf Hitler
Molche sind glitschig. Klein, scheckig und fluchtbereit. Schnell hat sich eines dieser salamanderartigen Tiere wieder aus der Hand seiner Fänger zurück in die Pfütze oder den Teich gewunden. Molchfang ist also eine echte Kunst. Und wie in jeder anderen Kunst macht auch hier Übung den Meister. Der halbwüchsige Ludger Heinz und seine Freunde wollten Meister werden. Wer da nicht ins Leere griff, galt als ein ganz Ausgebuffter, mit allen Teichwassern Gewaschener. Wer die Beute auch noch im Marmeladenglas nach Hause trug, der hatte die Natur besiegt und die Wahrheit gefunden. So einer war fast schon ein Held. Die anderen konnten seine Trophäen noch eine ganze Zeit im Garten bewundern. So ein Held wollte man sein. Damals, als man die Welt noch als einziges großes Abenteuer begriff. Als die Jungs die Hitlerjugend noch als Fortsetzung der Abenteuerspiele in Uniform betrachteten. Als der Krieg noch in weiter Ferne war. Und echte, panische Angst ein Fremdwort, ein Klischee der Abenteuerromane. Erfahrbare Angst, das war das mulmige Gefühl vor einer Klassenarbeit oder vor einer Bestrafung durch den Vater.
Auch Ludger Heinz, 1930 in Darmstadt geboren, war einer von den neugierigen Pennälern, die die Welt erobern wollten. Sein Vater war ein kleiner Landbeamter, die Mutter Hausfrau. Ein Kleinstbürgerpaar, wie der Sohn – heute selbst längst Großvater – sagt. Aufsteiger, die sich ein kleines Häuschen am Stadtrand von Darmstadt gebaut hatten. Der Preis für diese Etabliertheit war schon damals ein hoher. »Ich wusste, das Haus kann nur gebaut werden, wenn man Margarine frisst und keinerlei Urlaub macht«, erinnert sich Heinz. Ein strenges Leben in Selbstdisziplin sicherte den Aufstieg in die Schicht der Eigenheimbesitzer. In den eigenen vier Wänden herrschte Ordnung. Das Abenteuer fand für den Jungen draußen statt. In den Wäldern und auf den Wiesen der Nachbarschaft. Im Kampf mit dem Forstbeamten beispielsweise. Dessen Hochsitz zu erklimmen, war strengstens verboten. Ein Verbot, wackliger als der Hochsitz selbst. Denn der Invalide aus dem Ersten Weltkrieg konnte es schlecht durchsetzen. Nur langsam kam er voran, wenn er den Weg vom Bahnwärterhäuschen zum Wald zurücklegen musste, ein Versehrter in Doppelfunktion als Bahnwärter und Forstwärter. Sein Holzbein hielt mit den jungen Muskeln der Jungen nicht mit. Wie Karl Mays Indianer schlichen sie hinter ihm her, hielten umsichtig Abstand, damit der noch Ahnungslose nicht durch knackende Zweige oder einen am Hemd rupfenden Ast auf sie aufmerksam werden konnte. So verfolgten sie ihn bis zum Hochsitz. Dort warteten sie noch einen kurzen Augenblick, bis der mühselig Emporgekletterte sich in Sicherheit wähnte. Dann stürmten sie aus dem Versteck hervor und legten die Leiter um. Damit saß der Mann in der Falle. Irgendwo da draußen, das wussten beide Parteien des Duells im Wald, fuhr ein Zug auf den Übergang zu. Würde der Bahnwärter nicht rechtzeitig an der Schranke sein, um das Gleis zu sichern, konnte ein Unglück geschehen. Der Festgesetzte war also empfänglich für die Erpressungsversuche der Jungen. Es blieb ihm nichts übrig als Entgegenkommen, wenn die Zeiger der Uhr auf eine mögliche Katastrophe zuliefen. Also erlaubte er seinen kleinen Herausforderern, den Hochsitz selbst zu erklettern. Unten am Boden triumphierten die Halbwüchsigen. Denn ein Sieg über die Erwachsenen war immer auch ein Sieg über die Grenzen der Kindheit. Und wer nicht mehr Kind war, der wurde ernst genommen. Der durfte schon bald mitmarschieren, wie es der Plan derer vorsah, die diese kindlichen Leidenschaften genau kannten und sich zu Eigen machten.
Am 1. Juli 1936 wurde das Gesetz über die Hitlerjugend erlassen, in dem festgelegt war, »dass die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes in der Hitlerjugend zusammengefasst« werde. Wer zehn Jahre alt war, kam zum Jungvolk, ab vierzehn Jahren zur Hitlerjugend. Die entsprechenden Organisationen der Mädchen waren der Jungmädelbund und der Bund Deutscher Mädel (BDM). »Wir sind gerne zum Jungvolk gegangen, weil man dort gerauft und Sport getrieben hat«, gibt Ludger Heinz heute offen zu. Die uniformierten Treffen und das Dasein als Zivilisten im Wald nahmen sich gegenseitig nicht viel. Bei beidem übte Ludgers Clique das wilde Leben, das sie aus den Karl-May-Romanen zu kennen glaubte. Die Jungs veranstalteten Mutproben und dachten sich sehr erwachsen Notwendigkeiten für ihren Übermut aus. Es kam immer nur auf die richtige Begründung eines Streiches an, um ihm das Kindische und Verantwortungslose zu nehmen. Lässt sich ein Steppenfeuer, wie sie das beim Oberhäuptling aller Abenteuerschreiber gelesen hatten, wirklich nur durch ein Gegenfeuer stoppen? »Wir legten beide. Den Wiesenbrand und das Gegenfeuer«, erklärt Ludger Heinz, mit der gerührten Freude des Erwachsenen über die Cleverness des kleinen Brandstifters von einst. Erst die von den Nachbarn gerufene Feuerwehr setzte der kindlichen Neugierde damals Grenzen. Aber die Jungs hatten sich bewiesen, dass sie den Mumm hatten, die Welt zum gestaltbaren Rohstoff ihrer Abenteuerfantasien zu machen. Aber auch die verpflichtenden Stunden bei der NS-Jugendorganisation nutzten ihre Neugierde, Abenteuerlust und Begeisterungsfähigkeit und auch den Überdruss über die biederen Wohnstuben für ihre Zwecke.
Doch es gab noch einen weiteren Übungsplatz für Krieg und Kampf: das Wohnquartier mit seiner sozialen Staffelung. Die Jungs des Viertels mussten sich kloppen. Weil auf der einen Seite des Quartiers die bürgerlicheren Gleichaltrigen aufwuchsen und mit größerem Wohlstand provozierten. Und weil auf der anderen Seite die Kinderbande aus den proletarischen Elternhäusern auf Rache an den Privilegierten sann. »Die haben sich gehasst, und wir waren dazwischen«, erinnert sich der Mann mit den noch immer bubenhaft wild vom Kopf stehenden, aber mittlerweile grauen Haaren an die Zwickmühle von damals. »Wenn wir nicht sehr listig waren, haben wir Prügel bekommen. Das war ungut.« Das ist mit Sicherheit untertrieben. Denn wenn ihm danach wäre, dann könnte Ludger Heinz Narben aus dieser Zeit präsentieren. Ein verrosteter Pfeil hatte sein Bein sehr ungeschickt erwischt. »Es hat eine Weile gebraucht, bis die Spitze wieder rausgeeitert war.« Ärztliche Versorgung? Das kam nicht in Frage. »Das wäre unseriös gewesen.« Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Auch wenn ihm zum Heulen zumute ist. Oder, wie es der Führer Adolf Hitler wünschte: Flink wie die Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl sollte diese deutsche Jugend sein. Und im damals kursierenden Erziehungsratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind (1934) von Johanna Haarer wurde ohnehin ganz im Sinne des Regimes auf Härte in der Erziehung gepocht. Jungen hatten nach den Maximen der 1900 geborenen Ärztin nicht zu weinen. Zärtlichkeiten zwischen Eltern und Kindern waren verpönt. Noch im Frieden wurde der Unfrieden trainiert, im scheinbar Freiheit bringendem Abenteuerspiel die Kasernierung der Kindheit vorbereitet, im Ausbruchsversuch kindlicher Fantasie die Gleichschaltung des Denkens. Kaum einer hat gemerkt, wie eines aus dem anderen hervorging, als Balgereien ohne Uniform sich zu Raufereien in Uniform wandelten. Das System setzte dort an, wo seine jungen Untertanen sich begeisterungsfähig zeigten.
Der Schalk sitzt mit am Tisch, wenn Ludger Heinz erzählt. Der Schalk weiß vieles oftmals besser, und dieser Wissensvorsprung macht das Leben erträglicher. Vielleicht ist er deshalb ein ständiger Begleiter geworden im Leben des Jungen aus Darmstadt, der auf die Frage nach der wichtigsten Kindheitserinnerung das Molchefangen nennt. So wie man den Molch nie gewiss hat, weil er sich flink aus der Hand winden kann, ist auch die Wahrheit schwer zu greifen und nur kurz zu halten. Die Vergangenheit? Es könnte so oder auch ganz anders gewesen sein. Alles nur eine Frage des Blickwinkels. Wenn man richtig hinschaut, wird vieles erträglich. Scheint manches ein Spiel gewesen zu sein.
Ein Spiel, das schien die Welt für Ludger Heinz damals, wenn er in seinem Kriegsalltag Muster aus den Büchern von Karl May erkennen konnte. Die Spielregeln waren einfach, die Handlungen klar vorgegeben. Abends hörte man die Nachrichten im Volksempfänger. Danach steckte man die Fähnchen auf der Landkarte an der Wand an die richtigen Stellen, dorthin, wo der neue Frontverlauf gemeldet worden war. Der Krieg war für Ludger ein Fähnchenmarschierspiel auf einem Feld aus Papier, so durchschaubar und wenig beängstigend wie »Mensch ärgere dich nicht«. »Die Erwachsenen waren völlig euphorisiert, wenn wieder eine Sondermeldung im Radio kam«, sagt Ludger Heinz und beschreibt die perfekte Inszenierung – »akustische Einleitung durch Liszts ›les préludes‹ – die gegen Ende des Krieges ihre Wirkung verfehlte«, weil sie nicht mehr alle Zuhörer in Siegestaumel versetzte. Aus der Ruhe bringen lässt er sich beim Erzählen der eigenen Geschichte nicht. Ein Schmunzeln, die ein oder andere gut gesetzte Kunstpause künden davon, dass er den Hochsitz der Ironie, auf dem er sich gedanklich niedergelassen hat und der einen so hervorragenden Blick auf die eigene Lebensgeschichte ermöglicht, nicht verlassen möchte. »Irgendwann sind die Fähnchen dann unauffällig wieder verschwunden«, sagt er zum Umschlag der Euphorie vor dem Volksempfänger in Unbehagen. Die Fähnchen allerdings waren die verschmerzbarsten Opfer des Krieges.
Fahne, Gewehr, Stiefel, Koppelschloss – aus solchen Details bauten sich manche Kinder das Bild eines echten Mannes, eines richtigen Vaters zusammen. Soldat sein und Vater sein schlossen sich in ihren Augen nicht aus. Sie kannten den Krieg ja noch nicht. »Man ist da reingewachsen«, sagt Gerd Ritter, ein aufgeschlossener Achtundsechzigjähriger mit einem ansteckenden Lachen, über die Militarisierung der Kindheit. Er ist einer von denen, die schon im Frieden zu Fügsamkeit und Anpassungsfähigkeit erzogen wurden. Denn er war von seinen Eltern weggegeben worden.
Wie ihm geschah, das begriff er nicht so recht. Aber er schmiegte sich umso rascher in die neuen Verhältnisse. Seine Eltern hatten vor seiner Geburt beim Zelten ein viel wohlhabenderes Paar kennen gelernt. Dieser Ingenieur und seine Frau hatten einen sehnlichen Kinderwunsch und die ärztliche Gewissheit, dass die Natur ihn nicht erfüllen würde. Nun ließ die soziale Ungleichheit ihn plötzlich wieder erfüllbar scheinen. Gerds Eltern lebten in angespannten Verhältnissen, Geld war knapp, man wohnte mit zwei Kindern auf einem Hausboot, mit dem dritten, mit Gerd, war die Mutter gerade schwanger. Die Paare hielten Kontakt. Die Kinderlosen warben für sich. Konnten sie Gerd nicht viel mehr bieten als die leiblichen Eltern? War es nicht höchstes Elternglück, ein Kind gut versorgt zu wissen, ihm bessere Startchancen verschafft zu haben, als das Schicksal geplant hatte?
»Die Zeiten waren andere«, erklärt sich Gerd Ritter als Erwachsener die Tatsache, dass seine Eltern ihn in die Obhut dieser Freunde gaben, als er zwei Jahre alt war. Von nun an herrschten im Leben von Klein-Gerd ungewöhnliche Verhältnisse: Es gab eine Mutter, die er Mama nannte. Und die neue Fürsorgerin, die ihn so gerne adoptiert hätte, doch nur in Pflege anvertraut bekam, und die er Mutti nannte. Mit zwei Jahren wird man nicht gefragt, und man hat keine Macht, sich Gehör zu verschaffen. »Das war eben so«, sagt Ritter, ein Satz, der immer wieder auftaucht in den Erzählungen über Kindheit im Krieg. Tatsachen nahm man eben hin, die Welt machte die Regeln und man selbst, wenn man pfiffig war, das Beste daraus. Vom ärmlichen Hausboot im Würzburger Mainhafen schaffte Gerd Ritter den Aufstieg in eine Zwei-Familien-Villa am Stadtrand von Frankfurt. So musste man das sehen.
Es gab zwar einen Verlust, der sich nicht übersehen ließ: Gerd wurde vom Geschwisterlein zum Einzelkind. Aber dafür hatte er nun einen Vater für sich ganz alleine. Das konnte er eindeutig auf der Habenseite verbuchen. Dieser Neue, der Ingenieur der Frankfurter Adlerwerke, fuhr eine Harley-Davidson mit Beiwagen für die Frau Gemahlin. Den Jungen beeindruckte das enorm. Er liebte diesen Mann, der die Welt am Lenker nahm. Die 48-teilige Fotoserie, die im Atelier eines Fotografen entstanden ist, als der kleine Gerd vielleicht drei Jahre alt war, zeigt ein in krachlederner Hose und blütenweißem Hemd herausgeputztes Kind, das nie richtig in die Kamera schaut, sondern mehr auf den Vater.
Als dieser zweite Vater 1939 zum Militär eingezogen wurde, wollte Gerd all das auch haben, womit sein Idol sich in einen Soldaten verwandelte. Das war nicht so schwer, schließlich war sein Pflegevater Ingenieur. »Aus einer alten Handbohrmaschine und einem Fotostativ hat er mir ein Maschinengewehr gebastelt, das richtig geknattert hat.« Damit konnte man sich bei den Spielkameraden sehen lassen. Kennen gelernt hatte der Vierjährige solche Waffen bei einem so genannten »Eintopfsonntag«, einer Art Tag der offenen Tür, auf dem Hof der angrenzenden Kaserne, wo der Vater als Heimschläfer stationiert war. »Ich durfte eine Handgranate werfen, die dann richtig explodiert ist.« Der Krieg als Spiel – hier wurde diese Vermummung von den Machthabern über die Grenze der Obszönität hinaus betrieben. Aber im Frankfurt der Vorkriegszeit stieß das vielen nicht als Ungeheuerlichkeit auf. Da durften kleine Jungs mit echten Waffen erste Trainingsdurchläufe des Tötens absolvieren. So wie Kinder heute mit staunenden Augen, voller Ehrfurcht und Neugier beim Familientag in der Feuerwache ins Löschfahrzeug steigen dürfen. Der Krieg als Spiel, das war ein falsches Spiel: geschossen wurde in die Luft, die zeigte keine Wunden, und sie schoss auch nicht zurück.
Dieses Kriegsspiel gab sich martialisch und zugleich liberal. Denn das Geschlecht der Spieler war hier noch herzlich egal. Daran erinnert sich Inge Löbel, deren Vater noch zum Hunderttausend-Mann-Heer der Weimarer Republik gehört hatte, bevor er für eine kurze Zeit im zivilen Leben als Zöllner den Familienunterhalt verdiente. Sie war ein Soldatenkind, und die wohnten im Frieden mit ihren Familien dort, wo die Väter nach ihrer Wiedereinberufung stationiert waren. »Wir lebten auf dem Kasernengelände«, erinnert sich die Einundsiebzigjährige, und ihr kam diese Welt der gebrüllten Befehle und der knallenden Stiefel ganz normal vor. Sie kannte es nicht anders. Soldatsein, das war für sie etwas so Normales wie der Beruf des Bäckers. Und so buk sie mal mit den anderen Kindern Sandkuchen aus Erde. Und dann wieder marschierten sie mit ihren Holzgewehren im Stechschritt über den Hof. Das hatten sie den Vätern abgeschaut. »Weil ich das einzige Mädchen dort war, habe ich eben mit den Jungs Soldat gespielt.« Die Waffenattrappe hatte der Vater geschnitzt. Auf dem Rücken trugen sie einen Tornister. Die Verkleidung war perfekt. Die Erwachsenen lächelten. Als sei es ausgemacht, dass der Krieg nie wirklich richtig nahe an die Kinder herantreten würde.
Die Faszination des Militärischen, die Anziehungskraft der Rituale und Verwandlungen in Uniform, sie wurden nicht nur vom Regime ausgenutzt. Sie wurden von den Erwachsenen konsequent in der Erziehung eingesetzt. Hans Moritz etwa erinnert sich auch sechzig Jahre später noch, wie er mit seiner Soldatenliebe überlistet wurde. »Ich mochte als Kind keine Rhabarbergrütze.« So wie andere keinen Spinat mögen. Nicht einmal seinem Vater zuliebe hätte er die gegessen. Obwohl er ihn sehr vermisste. Denn der Vater, ein Hamburger Schneidermeister, war noch immer mit einer anderen Frau verheiratet. Hans’ Mutter brachte sich derweil mit Sohn und Tochter mehr schlecht als recht durch. Mal mussten die Kinder zu Pflegeeltern, mal in die Krippe. Momente mit dem Vater waren überaus kostbar, und dauernd sehnte ihn der Junge herbei. Die Vorstellung, er gliche in irgendetwas diesem Mann, machte Hans Moritz glücklich. Aber Grütze aß er aus einem anderen Grund. Da besuchte er den Vater in der Kaserne in Mölln. Denn der war 1939 eingezogen worden und hatte sich wie so viele Väter in einen Soldaten verwandelt. Auf dem Speiseplan der Kaserne stand Rhabarbergrütze. Hans ekelte sich, er weigerte sich, er trotzte. Da erzählte der Koch, ein Kamerad des Vaters, dem Vierjährigen, dies sei gar nicht die saure, verhasste Grütze. Das, was ihm hier ausnahmsweise serviert werde, sei etwas ganz anderes. Dies sei echte Soldatengrütze. Mit einem Mal roch alles ganz anders. Hans aß tapfer, was ihm sonst ein Graus war. Aus Sehnsucht danach, ein Soldat zu sein – wie der Mann, dem er so gerne mehr Platz in seinem Leben eingeräumt hätte. Und der nähte dem tapferen Esser zur Belohung eine Kopie seines Soldatenkäppis in Form eines Schiffchens. Wie glücklich der Dreikäsehoch war, als ihm der Vater das Geschenk überreichte, kann sich nur vorstellen, wer noch weiß, wie das ist, sich als Kleiner unter die Großen zu träumen. Und groß sein, das suggerierte diese Erziehung von einst beständig, das hieß Soldat sein.
Endlich so sein zu dürfen wie die Erwachsenen – die Kinder der dreißiger Jahre ahnten nicht, wie schnell und bitter dieser Wunsch in Erfüllung gehen sollte. Wie ungerührt ihnen der Krieg das Gleiche auferlegen würde wie den Großen. Sie ahnten noch weniger, dass sie sehr viel mehr Tapferkeit und Verbissenheit würden aufbringen müssen als beim spielerischen Kampf mit benachbarten Kinderbanden. Der kommende Weltkrieg würde sie lehren, die Zähne zusammenzubeißen wie Veteranen im Schützengraben. Sie taten es – und sie versuchten nach Kräften, dabei nicht zu klagen. Um es den Eltern nicht noch schwerer zu machen.