Blaues Blut
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Titel
Widmung
Prolog
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Danksagung
Impressum
Blaues Blut
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Für Kat Richardson, die sehr weise ist.
Prolog
Manches stirbt. Aber nicht immer bleibt es tot. Glaubt mir, ich weiß es.
Es gibt eine Rasse von Vampiren auf dieser Erde, die buchstäblich wandelnde Tote sind. Sie werden Strigoi genannt, und wenn sie nicht bereits eure Albträume bevölkern, dann werden sie es sicher bald tun. Sie sind stark, sie sind schnell, und sie töten ohne Gnade oder Zögern. Außerdem sind sie unsterblich – was es irgendwie schwierig macht, sie zu vernichten. Es gibt nur drei Möglichkeiten, das zu tun: Man stößt ihnen einen silbernen Pflock ins Herz, man enthauptet sie, oder man setzt sie in Brand. Nichts davon ist leicht, aber alles ist immer noch besser, als überhaupt nichts tun zu können.
Aber die Welt kennt auch gute Vampire. Sie werden Moroi genannt. Sie leben, und jeder von ihnen besitzt die unglaublich coole Macht, eines der vier Elemente – Erde, Luft, Wasser oder Feuer – für ihre Magie zu nutzen. (Nun, fast alle Moroi können das – aber auf die Ausnahmen werde ich später ausführlicher zu sprechen kommen.) Heute benutzen sie ihre Magie kaum noch, und das ist irgendwie traurig. Sie wäre eine großartige Waffe, aber die Moroi vertreten die strenge Auffassung, dass Magie nur für friedliche Zwecke eingesetzt werden sollte. Das ist eine der wichtigsten Regeln in ihrer Gesellschaft. Moroi sind im Allgemeinen hochgewachsen und schlank, und sie vertragen nicht viel Sonnenlicht. Aber sie haben übermenschliche Sinne, die sie dafür entschädigen: Augenlicht, Geruch und Gehör.
Beide Arten von Vampiren leben von Blut. Ich schätze, das ist es, was sie zu Vampiren macht. Moroi töten jedoch nicht, um ihre Nahrung zu bekommen. Stattdessen halten sie Menschen in ihrer Nähe, die bereitwillig kleine Mengen Blut spenden – freiwillig, weil Vampirbisse Endorphine freisetzen, die einen echt high machen und deshalb zur Sucht werden können. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Diese Menschen werden Spender genannt und sind im Grunde so was wie Vampirbissjunkies.
Trotzdem ist es besser, Spender zu halten, statt es so zu machen wie die Strigoi, denn wie ihr euch vielleicht schon gedacht habt, töten sie, um an ihr Blut zu kommen. Ich denke, es gefällt ihnen. Wenn ein Moroi ein Opfer beim Trinken tötet, verwandelt sich dieser Moroi in einen Strigoi. Einige Moroi tun das aus freien Stücken; sie geben ihre Magie und ihre Moral um der Unsterblichkeit willen auf. Man kann Strigoi auch mit Gewalt erschaffen. Wenn ein Strigoi Blut von einem Opfer trinkt und den Betreffenden dann dazu zwingt, seinerseits Moroiblut zu trinken, nun … dann habt ihr einen neuen Strigoi. Das kann jedem passieren: einem Moroi, einem Menschen oder … einem Dhampir.
Ein Dhampir.
Das ist es, was ich bin. Dhampire sind halb menschlich, halb Moroi. Ich bilde mir gern ein, dass wir die besten Eigenschaften beider Rassen besitzen. Ich bin stark und stämmig, wie Menschen eben sind. Außerdem kann ich in die Sonne gehen, soviel ich will. Aber wie die Moroi habe ich ausgesprochen gute Sinne und schnelle Reflexe. Das Ergebnis macht Dhampire zu den ultimativen Bodyguards – und genau das sind die meisten von uns auch. Wir werden Wächter genannt.
Ich habe mein ganzes Leben darauf verwandt, mich dafür ausbilden zu lassen, Moroi vor Strigoi zu schützen. Zu diesem Zweck belege ich in der Akademie St. Vladimir, einer Privatschule für Moroi und Dhampire, eine ganze Reihe spezieller Kurse und Übungen. Ich weiß, wie man alle möglichen Waffen einsetzt, und ich kann ein paar ziemlich üble Tritte landen. In der Vergangenheit habe ich schon Jungs verprügelt, die doppelt so groß waren wie ich – sowohl im Unterricht als auch außerhalb. Und ich verprügele sogar ziemlich oft Jungs, da in all meinen Kursen nur sehr wenig Mädchen sind.
Denn obwohl Dhampire alle möglichen großartigen Eigenschaften erben, zählt eine leider nicht dazu: Wir können mit anderen Dhampiren keine Kinder zeugen. Fragt mich nicht, warum. Es ist nicht so, als wäre ich Genetikspezialistin oder irgendwas in der Art. Wenn Menschen und Moroi zusammenkommen, entstehen daraus immer weitere Dhampire; das ist unser Ursprung. Aber das geschieht heutzutage nicht mehr allzu oft. Moroi neigen dazu, sich von Menschen fernzuhalten. Durch irgendeinen verrückten genetischen Zufall produzieren jedoch Moroi und Dhampire zusammen Dhampir-Kinder. Ich weiß, ich weiß: Es ist verrückt. Man sollte denken, in diesem Fall bekäme man ein Baby, das zu drei Vierteln Vampir ist, stimmt’s? Oh, nein. Halb menschlich, halb Moroi.
Die meisten dieser Dhampire entstehen aus Verbindungen zwischen Moroi-Männern und Dhampir-Frauen. Moroi-Frauen ziehen es vor, Moroi-Babys zu bekommen. Was im Allgemeinen dazu führt, dass Moroi-Männer Affären mit Dhampir-Frauen eingehen und sich dann aus dem Staub machen. Auf diese Weise gibt es ziemlich viele ledige Dhampir-Mütter, und das ist der Grund, warum nicht allzu viele von ihnen Wächter werden. Sie konzentrieren sich lieber darauf, ihre Kinder großzuziehen.
Das führt dazu, dass nur die Jungen und eine Handvoll Mädchen übrig bleiben, um Wächter zu werden. Aber jene, die sich dafür entscheiden, Moroi zu beschützen, nehmen ihren Job absolut ernst. Dhampire brauchen Moroi, um weiter Kinder haben zu können. Wir müssen sie beschützen. Außerdem, es ist einfach … eine Frage der Ehre. Strigoi sind böse und unnatürlich. Es ist nicht richtig, dass sie Unschuldigen auflauern. Dhampiren, die sich zu Wächtern ausbilden lassen, wird das von dem Moment an eingetrichtert, da sie laufen können. Strigoi sind böse. Moroi müssen beschützt werden. Wächter glauben das. Ich glaube das.
Und eine Moroi gibt es, die ich mehr als irgendjemanden sonst auf der Welt beschützen möchte: meine beste Freundin Lissa. Sie ist eine Moroi-Prinzessin. Die Moroi haben zwölf königliche Familien, und sie ist die Einzige, die von ihrer übrig geblieben ist – den Dragomirs. Aber da ist noch etwas, das Lissa zu etwas Besonderem macht, abgesehen von der Tatsache, dass sie meine beste Freundin ist.
Erinnert ihr euch, dass ich davon gesprochen habe, dass jeder Moroi Macht über eines der vier Elemente besitzt? Nun, es hat sich herausgestellt, dass Lissa ein Element benutzen kann, von dessen Existenz bis vor Kurzem niemand gewusst hat: den Geist. Jahrelang dachten wir, sie würde einfach keine magischen Fähigkeiten entwickeln. Dann begannen in ihrer Nähe seltsame Dinge zu geschehen. Zum Beispiel haben alle Vampire eine Fähigkeit, die sich Zwang nennt und die es ihnen gestattet, anderen ihren Willen aufzuzwingen. Bei Strigoi ist diese Fähigkeit ausgesprochen stark ausgeprägt. Bei Moroi ist sie schwächer, außerdem ist ihre Anwendung verboten. Lissa ist in dieser Hinsicht jedoch beinahe so stark wie ein Strigoi. Sie muss bloß mit den Wimpern klimpern, und die Leute tun, was sie will.
Aber das ist nicht mal das Coolste, was sie tun kann.
Ich habe eingangs gesagt, dass tote Dinge nicht immer tot bleiben. Nun, ich bin eins davon. Keine Bange – ich bin nicht wie die Strigoi. Aber ich bin sehr wohl einmal gestorben. (Kann ich übrigens nicht empfehlen.) Es ist passiert, als der Wagen, in dem ich saß, von der Straße abkam. Bei dem Unfall starben Lissas Eltern, ihr Bruder und ich. Doch irgendwie hat Lissa in dem ganzen Chaos – ohne es auch nur selbst zu begreifen – das Element Geist benutzt, um mich zurückzuholen. Wir haben das lange Zeit nicht gewusst. Im Grunde wussten wir nicht einmal, ob es das Element Geist überhaupt gibt.
Unglücklicherweise stellte sich heraus, dass eine Person noch vor uns etwas über dieses Element gewusst hatte. Victor Dashkov, ein dem Tode geweihter Moroi-Prinz, erfuhr von Lissas Kräften und beschloss, sie einzusperren und zu seiner persönlichen Heilerin zu machen – für den Rest ihres Lebens. Als mir klar wurde, dass jemand sie verfolgte, habe ich mich dafür entschieden, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin mit ihr aus der Schule ausgebrochen, um davonzulaufen und unter Menschen zu leben. Es hat Spaß gemacht – war aber auch irgendwie nervenaufreibend –, immer auf der Flucht zu sein. Zwei Jahre lang sind wir damit durchgekommen, bis die Wächter von St. Vladimir uns vor einigen Monaten schließlich aufgespürt und zurückgeschleift haben.
Das war der Zeitpunkt, zu dem Victor endgültig zur Tat schritt; er entführte und folterte Lissa, bis sie seinen Forderungen nachgab. Dabei griff er zu einigen ziemlich extremen Mitteln – zum Beispiel belegte er mich und Dimitri, meinen Mentor, mit einem Verlangenszauber. (Auf Dimitri werde ich später noch zu sprechen kommen.) Außerdem nutzte Victor die Tatsache aus, dass das Element Geist begonnen hatte, Lissa psychisch instabil zu machen. Aber nicht einmal das war so schlimm wie das, was er seiner eigenen Tochter Natalie antat. Er ermutigte sie sogar, sich in eine Strigoi zu verwandeln, um nach dem Scheitern seines Plans und seiner Festnahme seine Flucht zu ermöglichen. Das Ende vom Lied war, dass sie gepfählt wurde. Selbst als man ihn anschließend wieder eingefangen hatte, zeigte Victor keine allzu großen Schuldgefühle wegen der Entscheidung, zu der er sie getrieben hatte. Wenn ich diese Geschichte betrachte, denke ich, dass ich nicht viel verpasst habe, weil ich ohne Vater aufgewachsen bin.
Wie dem auch sei, jetzt muss ich Lissa vor Strigoi und Moroi schützen. Nur einige wenige Mitglieder der Akademie wissen, wozu sie imstande ist, aber ich bin davon überzeugt, dass es da draußen noch andere Victors gibt, die sie würden benutzen wollen. Glücklicherweise habe ich eine zusätzliche Waffe, die mir dabei hilft, sie zu bewachen. Irgendwann während meiner Heilung bei dem Autounfall formte das Element Geist ein hellseherisches Band zwischen ihr und mir. Ich kann sehen und fühlen, was sie erlebt. (Das funktioniert jedoch nur in einer Richtung. Sie kann mich nicht „fühlen“.) Das Band hilft mir, ein Auge auf sie zu halten und zu wissen, wann sie in Schwierigkeiten steckt, obwohl es manchmal komisch ist, eine andere Person im eigenen Kopf zu haben. Wir sind uns ziemlich sicher, dass es noch jede Menge anderer Dinge gibt, die das Element Geist tun kann, aber wir wissen noch nicht, worin sie bestehen.
In der Zwischenzeit versuche ich sie so gut zu bewachen, wie ich kann. Durch unsere Flucht aus der Akademie hinke ich in meiner Ausbildung hinterher, daher muss ich zusätzliche Kurse belegen, um die verlorene Zeit wettzumachen. Es gibt nichts auf der Welt, woran mir mehr liegt als an Lissas Sicherheit. Unglücklicherweise gibt es zwei Dinge, die meine Ausbildung ab und zu komplizieren. Eines ist der Umstand, dass ich manchmal handle, bevor ich überlege. Es gelingt mir immer besser, das zu vermeiden, aber wenn mir die Sicherungen durchbrennen, neige ich dazu, zuerst zuzuschlagen und erst später herauszufinden, wen ich eigentlich geschlagen habe. Wenn Menschen, die mir am Herzen liegen, in Gefahr sind … nun, dann scheinen Regeln nur ein Vorschlag zur Güte zu sein.
Das andere Problem in meinem Leben ist Dimitri. Er war es, der Natalie getötet hat, und er ist als Wächter ein absoluter Gott. Außerdem ist er ziemlich attraktiv. Okay – mehr als attraktiv. Er ist heiß – ich meine, auf die Art heiß, die dazu führt, dass man mitten auf der Straße stehen bleibt und überfahren wird. Aber wie ich schon sagte, er ist mein Lehrer. Und er ist vierundzwanzig. Das sind zwei gute Gründe, warum ich mich nicht in ihn hätte verlieben sollen. Aber mal ehrlich, der wichtigste Grund ist der, dass er und ich Lissas Wächter sein werden, sobald sie ihren Abschluss hat. Wenn wir beide nur aufeinander achtgeben, bedeutet das, dass wir nicht auf sie aufpassen.
Ich hatte nicht viel Glück bei dem Versuch, über ihn hinwegzukommen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er immer noch genauso für mich empfindet. Zum Teil wird die Sache deshalb so schwierig, weil es zwischen ihm und mir ziemlich heftig geworden ist, nachdem uns der Verlangenszauber getroffen hatte. Victor wollte uns damit ablenken, während er Lissa entführte, und es hat auch funktioniert. Ich war bereit gewesen, meine Jungfräulichkeit zu opfern, und Dimitri war bereit gewesen, das Opfer anzunehmen. Im letzten Augenblick konnten wir den Zauber brechen, aber diese Erinnerungen sind mir stets gegenwärtig und machen es mir manchmal schwer, mich auf kämpferische Manöver zu konzentrieren.
Übrigens, ich heiße Rose Hathaway. Ich bin siebzehn Jahre alt, lasse mich dazu ausbilden, Vampire zu beschützen und zu töten, ich bin in einen total unpassenden Typen verliebt und habe eine beste Freundin, deren unheimliche Magie sie den Verstand kosten könnte.
Aber es hat auch nie jemand behauptet, dass die Highschool einfach sein würde.
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Ich hatte nicht geglaubt, dass mein Tag noch schlimmer werden könnte, bis meine beste Freundin mir eröffnete, dass sie vielleicht verrückt wurde. Wieder einmal.
„Ich … was hast du gesagt?“
Ich stand in der Eingangshalle ihres Wohnheims und beugte mich in dem Versuch, ihn mir anzupassen, über einen meiner Stiefel. Bei ihren Worten riss ich den Kopf hoch und betrachtete sie durch das Gewirr dunkler Haare, die die Hälfte meines Gesichts bedeckten. Ich war nach der Schule eingeschlafen und hatte danach auf die Benutzung einer Bürste verzichtet, um noch pünktlich zu sein. Lissas platinblondes Haar war natürlich glatt und perfekt; es hing ihr über die Schultern wie ein Brautschleier, während sie mich erheitert beobachtete.
„Ich habe gesagt, dass ich denke, meine Tabletten funktionieren vielleicht nicht mehr so gut.“
Ich richtete mich auf und schüttelte mir die Haare aus dem Gesicht. „Was soll das heißen?“, fragte ich. Um uns herum eilten Moroi vorbei, auf dem Weg zu Freunden oder zum Abendessen.
„Heißt das …“ Ich senkte die Stimme. „Heißt das, dass deine Kräfte zurückkehren?“
Sie schüttelte den Kopf, und ich sah ein schwaches Aufblitzen von Bedauern in ihren Augen. „Nein … ich fühle mich der Magie näher, aber ich kann sie noch immer nicht benutzen. Aber ich spüre manchmal wieder etwas von dieser anderen Sache, du weißt schon … ab und zu bin ich niedergeschlagener. Es ist nicht einmal annähernd so schlimm, wie es mal war“, fügte sie hastig hinzu, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. Bevor sie ihre Tabletten bekam, konnten Lissas Stimmungen so übel werden, dass sie sich selbst schnitt. „Es ist einfach eine Spur deutlicher als bisher.“
„Was ist mit den anderen Problemen, die du früher hattest? Angst? Wahnvorstellungen?“
Lissa lachte. Sie nahm nichts von alledem so ernst, wie ich es tat. „Du hörst dich so an, als hättest du psychiatrische Lehrbücher gelesen.“
Das hatte ich übrigens wirklich. „Ich mache mir nur Sorgen um dich. Wenn du denkst, dass die Tabletten nicht mehr wirken, müssen wir es jemandem erzählen.“
„Nein, nein“, sagte sie hastig. „Es geht mir gut, wirklich. Sie wirken ja noch … nur nicht mehr ganz so gut. Ich denke nicht, dass wir jetzt schon in Panik geraten sollten. Vor allem du nicht – zumindest nicht heute.“
Ihr Themenwechsel funktionierte. Ich hatte vor einer Stunde erfahren, dass ich heute meine Qualifikationsprüfung ablegen würde. Es war ein Examen – oder eher eine mündliche Prüfung –, das alle Wächternovizen während ihres ersten Jahres an der Akademie ablegen mussten. Da ich mich im letzten Jahr mit Lissa außerhalb der Schule versteckt hielt, hatte ich meine Prüfung versäumt. Heute würde man mich zu einem Wächter irgendwo außerhalb des Campus bringen, der mich der Prüfung unterziehen würde. Danke für die Vorwarnung, Leute.
„Mach dir um mich keine Sorgen“, wiederholte Lissa lächelnd. „Ich gebe dir Bescheid, wenn es schlimmer wird.“
„Okay“, erwiderte ich widerstrebend.
Aber um auf der sicheren Seite zu sein, öffnete ich meine Sinne und gestattete mir, sie durch unser Band zu fühlen. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Sie war heute Morgen ruhig und glücklich, es gab keinen Grund zur Sorge. Aber ganz weit hinten in ihrem Geist spürte ich einen Knoten dunkler Beklemmungen. Diese Dunkelheit verschlang sie nicht, aber sie fühlte sich genauso an wie die Anfälle von Depressionen und Wut, mit denen sie früher zu kämpfen gehabt hatte. Es war nur ein kleiner Tümpel, aber er gefiel mir nicht. Ich wollte ihn überhaupt nicht da haben. Ich versuchte, tiefer in sie einzudringen, um mir einen besseren Eindruck von ihren Gefühlen zu verschaffen, und plötzlich machte ich die unheimliche Erfahrung, diese Gefühle tatsächlich zu berühren. Eine Übelkeit erregende Art von Gefühl bemächtigte sich meiner, und ich wich auf der Stelle aus ihrem Kopf zurück. Ein leichter Schauder überlief mich.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Lissa stirnrunzelnd. „Du siehst plötzlich so aus, als sei dir schlecht.“
„Ich bin nur … nervös wegen der Prüfung“, log ich. Zögernd griff ich abermals nach dem Band. Die Dunkelheit war vollkommen verschwunden. Keine Spur mehr davon. Vielleicht war ja mit ihren Tabletten doch alles in Ordnung. „Mir geht es gut.“
Sie zeigte auf die Uhr. „Nicht mehr lange, wenn du dich nicht bald in Bewegung setzt.“
„Verdammt“, fluchte ich. Sie hatte recht. Ich umarmte sie schnell. „Wir sehen uns später!“
„Viel Glück!“, rief sie.
Ich eilte über den Campus und fand meinen Mentor, Dimitri Belikov, der neben einem Honda Pilot wartete. Wie langweilig. Es war zwar nicht zu erwarten, dass wir in einem Porsche über die Bergstraßen von Montana brausten, aber ein etwas cooleres Auto wäre doch nett gewesen.
„Ich weiß, ich weiß“, sagte ich, als ich sein Gesicht sah. „Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.“
Dann fiel mir wieder ein, dass mir eine der wichtigsten Prüfungen meines Lebens bevorstand, und plötzlich waren Lissa und die Möglichkeit, dass ihre Tabletten vielleicht nicht mehr richtig wirkten, vergessen. Ich wollte sie beschützen, aber das würde nicht viel bringen, wenn ich die Highschool nicht bestehen und auch wirklich ihre Wächterin werden konnte.
Dimitri stand da und sah so schnuckelig aus wie eh und je. Das gewaltige Ziegelsteingebäude warf lange Schatten über uns, es ragte wie eine große Bestie im schummrigen Licht kurz vor Tagesanbruch über uns auf. Es begann zu schneien. Ich beobachtete, wie die leichten, kristallinen Flocken sachte herabschwebten. Mehrere landeten in seinem dunklen Haar, wo sie prompt schmolzen.
„Wer fährt sonst noch mit?“, fragte ich.
Er zuckte die Achseln. „Nur wir beide.“
Meine Stimmung schnellte prompt an „gut gelaunt“ vorbei schnurstracks auf „ekstatisch“ zu. Dimitri und ich. Allein. In einem Auto. Dafür könnte sich eine Überraschungsprüfung durchaus lohnen.
„Wie weit müssen wir fahren?“ Im Stillen betete ich, dass es eine richtig lange Fahrt werden würde. Zum Beispiel eine, die eine Woche dauern würde. Und die es notwendig machen würde, in Luxushotels zu übernachten. Vielleicht würden wir in eine Schneeverwehung geraten und dort feststecken, und nur unsere Körperwärme würde uns am Leben erhalten.
„Fünf Stunden.“
„Oh.“
Etwas weniger, als ich gehofft hatte. Trotzdem, fünf Stunden waren besser als nichts. Außerdem war die Sache mit der Schneeverwehung keineswegs ausgeschlossen.
Für Menschen wäre es schwierig gewesen, über die dunklen, verschneiten Straßen zu fahren, aber für unsere Dhampiraugen stellten sie kein Problem dar. Ich schaute geradeaus und versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass Dimitris Rasierwasser den Wagen mit einem sauberen, scharfen Duft füllte, der in mir den Wunsch weckte, einfach dahinzuschmelzen. Stattdessen konzentrierte ich mich wieder auf die Qualifikationsprüfung.
Es war nicht die Art von Test, für die man lernen konnte. Man bestand – oder man bestand nicht. Hochrangige Wächter besuchten die Novizen während ihres ersten Jahres und führten Einzelgespräche mit ihnen, um über die Hingabe der Schüler an ihre spätere Arbeit als Wächter zu diskutieren. Ich wusste nicht genau, welche Fragen gestellt wurden, aber im Lauf der Jahre waren Gerüchte durchgesickert. Die älteren Wächter schätzten den Charakter und die Hingabe der Neulinge ein, und einige Novizen waren danach für untauglich erachtet worden, den Weg des Wächters fortzusetzen.
„Kommen sie nicht normalerweise in die Akademie?“, fragte ich Dimitri. „Ich meine, ich bin absolut für die Exkursion, aber warum fahren wir zu ihnen?“
„Genau genommen fahren Sie nur zu ihm, nicht zu ihnen.“ Ein leichter russischer Akzent färbte Dimitris Worte, der einzige Hinweis auf das Land, in dem er aufgewachsen war. Davon abgesehen war ich mir ziemlich sicher, dass er besser Englisch sprach als ich. „Da dies ein Sonderfall ist und er uns einen Gefallen tut, sind wir diejenigen, die die Reise unternehmen.“
„Wer ist er?“
„Arthur Schoenberg.“
Ich riss den Blick von der Straße los und starrte Dimitri an.
„Was?“, quiekte ich.
Arthur Schoenberg war eine Legende. Er war einer der größten Strigoi-Jäger, die je gelebt hatten, und hatte früher den Wächterrat geleitet – dessen Aufgabe es war, den Moroi ihre Wächter zuzuteilen und Entscheidungen für uns alle zu treffen. Er war irgendwann von dieser Stellung zurückgetreten und beschützte jetzt wieder eine der königlichen Familien, die Badicas. Auch wenn er sich aus dem Amt zurückgezogen hatte, wusste ich, dass er immer noch tödlich war. Seine Heldentaten waren ein Teil meines Lehrplans.
„War … war denn sonst niemand verfügbar?“, fragte ich kleinlaut.
Ich konnte sehen, dass sich Dimitri ein Lächeln verkniff. „Sie packen das schon. Außerdem, wenn Art Ihnen seinen Segen gibt, ist das eine wunderbare Empfehlung für Ihre Akte.“
Art. Dimitri nannte einen der absoluten Götter unter den Wächtern beim Vornamen. Natürlich war Dimitri selbst als Wächter ein beinah absoluter Gott, daher hätte mich das eigentlich nicht überraschen sollen.
Schweigen machte sich breit. Ich biss mir auf die Unterlippe und fragte mich plötzlich, ob ich Arthur Schoenbergs Anforderungen genügen würde. Meine Zensuren waren gut, aber Dinge wie Ausreißen und Raufereien in der Schule konnten durchaus einen Schatten auf die Frage werfen, wie ernst es mir mit meiner künftigen Berufslaufbahn war.
„Sie packen das schon“, wiederholte Dimitri. „Das Gute in Ihrer Akte überwiegt das Schlechte.“
Manchmal war es, als könne er meine Gedanken lesen. Ich lächelte schwach und wagte es, zu ihm hinüberzuspähen. Es war ein Fehler. Ein langer, hagerer Körper, dessen Konturen selbst im Sitzen wahrnehmbar waren. Unergründliche, dunkle Augen. Schulterlanges, braunes Haar, das er im Nacken zusammenband. Dieses Haar fühlte sich an wie Seide. Ich wusste es, weil ich mit den Fingern hindurchgefahren war, als Victor Dashkov uns mit dem Lustzauber belegt hatte. Mit großer Zurückhaltung zwang ich mich, wieder zu atmen, und wandte den Blick ab.
„Danke, Coach“, neckte ich ihn und kuschelte mich wieder in den Sitz.
„Ich bin hier, um zu helfen“, wiederholte er. Sein Tonfall war unbeschwert und entspannt – eine Seltenheit bei ihm. Normalerweise war er stets sprungbereit, auf jeden Angriff gefasst. Wahrscheinlich dachte er, er sei in einem Honda sicher – oder zumindest so sicher, wie er in meiner Nähe nur sein konnte. Ich war nicht die Einzige, die Mühe hatte, die romantische Spannung zwischen uns zu ignorieren.
„Wissen Sie, was wirklich helfen würde?“, fragte ich, ohne ihm in die Augen zu sehen.
„Hmm?“
„Wenn Sie diese bescheuerte Musik ausstellen und etwas auflegen würden, das nach dem Fall der Berliner Mauer rausgekommen ist.“
Dimitri lachte. „Ihr schlechtester Kurs ist Geschichte, trotzdem wissen Sie irgendwie alles über Osteuropa.“
„He, ich brauche schließlich Material für meine Witze, Genosse.“
Immer noch lächelnd suchte er einen anderen Sender und blieb bei einer Countrystation hängen.
„He! Ich hatte eigentlich an was anderes gedacht“, rief ich.
Ich konnte erkennen, dass er wieder drauf und dran war, in Gelächter auszubrechen. „Entscheiden Sie sich. Entweder das eine oder das andere.“
Ich seufzte. „Dann stellen Sie wieder das Zeug aus den Achtzigern ein.“
Er drehte wieder am Rad, und ich verschränkte die Arme vor der Brust, während eine vage europäisch klingende Band etwas darüber sang, dass das Video den Radiostar gekillt habe. Ich wünschte, jemand würde dieses Radio killen.
Plötzlich kamen mir fünf Stunden gar nicht mehr so kurz vor, wie ich gedacht hatte.
Arthur und die Familie, die er beschützte, lebten in einer Kleinstadt an der I-90, nicht weit von Billings entfernt. Die allgemeine Auffassung der Moroi in Bezug auf Orte, an denen man leben konnte, war ziemlich geteilt. Einige Moroi argumentierten, dass große Städte am besten seien, weil sie es Vampiren ermöglichten, in der Menge unterzutauchen; nächtliche Aktivitäten erregten nicht so viel Aufmerksamkeit. Andere Moroi, wie diese Familie, entschieden sich anscheinend für weniger stark bevölkerte Städte, weil sie glaubten, die Wahrscheinlichkeit aufzufallen sei geringer, wenn es weniger Menschen gab, denen man auffallen konnte.
Ich hatte Dimitri dazu überredet, an einem durchgehend geöffneten Restaurant zu halten, um etwas zu essen, und da wir außerdem noch einen Tankstop einlegen mussten, ging es schon gegen Mittag, als wir ankamen. Das Haus war weitläufig angelegt, alles ebenerdig, grau geflecktes Holz und große Erkerfenster – natürlich mit getönten Scheiben, um das Sonnenlicht abzublocken. Es wirkte neu und edel, und auch wenn es mitten im Nichts stand, war es in etwa das, was ich von Mitgliedern einer königlichen Familie erwartet hatte.
Ich sprang ins Freie, und meine Stiefel sanken im glatten Schnee zwei oder drei Zentimeter tief ein und knirschten dann auf dem Kies der Einfahrt. Es war fast windstill, und ein tiefes Schweigen lag über der Landschaft. Dimitri und ich gingen über einen mit Flusskieseln bestreuten Gehweg durch den Vorgarten zum Haus. Ich konnte beobachten, wie er wieder auf Arbeitsmodus umschaltete, dabei aber ebenso gut gelaunt wie ich. Die angenehme Autofahrt hatte uns beide mit einer Art schuldbewusster Befriedigung erfüllt.
Ich rutschte auf dem eisbedeckten Gehweg aus, und Dimitri streckte sofort die Hand aus, um mir Halt zu geben. Einen unheimlichen Augenblick lang hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis, das mich zurück in die erste Nacht trug, in der wir einander begegnet waren, zurück zu dem Augenblick, da er mich vor einem ähnlichen Sturz gerettet hatte. Frostige Temperaturen hin oder her, seine Hand fühlte sich warm an auf meinem Arm, selbst durch die diversen Daunenschichten meines Parkas.
„Alles in Ordnung?“ Zu meinem Verdruss ließ er mich los.
„Ja“, bestätigte ich mit einem anklagenden Blick auf den vereisten Gehweg. „Haben diese Leute noch nie von Streusalz gehört?“
Ich hatte es scherzhaft gemeint, aber Dimitri blieb sofort stehen. Ich tat es ihm gleich. Sein Gesichtsausdruck zeigte jetzt Anspannung und Wachsamkeit. Er drehte den Kopf und ließ den Blick suchend über die weißen Flächen ringsum schweifen, bevor er wieder zum Haus hinübersah. Ich wollte Fragen stellen, aber etwas an seiner Haltung gebot mir Schweigen. Er betrachtete das Gebäude fast eine geschlagene Minute lang, blickte auf den eisigen Gehweg, dann zurück zu der Einfahrt, über der eine Schneedecke lag, die nur von unseren Fußabdrücken durchbrochen wurde.
Vorsichtig näherte er sich der Haustür, und ich folgte ihm. Er blieb wieder stehen, diesmal, um die Tür zu betrachten. Sie stand nicht offen, war aber auch nicht ganz geschlossen. Es sah aus, als hätte jemand sie hastig zugeworfen, ohne darauf zu achten, ob sie wirklich ins Schloss fiel. Eine weitere Untersuchung ergab Kratzer am Rand der Tür, als wäre sie irgendwann einmal aufgebrochen worden. Ein winziger Stoß genügte, und sie öffnete sich. Dimitri fuhr mit den Fingern sachte über die Kante des Türblatts auf der Seite des Schlosses, und sein Atem formte dabei kleine Wolken in der Luft. Als er den Türgriff berührte, klapperte er ein wenig, als sei er zerbrochen.
Schließlich sagte er leise: „Rose, warten Sie im Wagen.“
„Abe…“
„Geh!“
Ein einziges Wort – aber eins voller Macht. Mit dieser einen Silbe wurde ich an den Mann erinnert, den ich Leute durch die Luft hatte wirbeln und einen Strigoi pfählen sehen. Ich wich zurück und ging über den schneebedeckten Rasen, statt es noch einmal mit dem Gehweg zu versuchen. Dimitri blieb stehen und rührte sich nicht, bis ich wieder im Wagen saß und die Tür so leise wie möglich schloss. Dann drückte er mit einer kaum merklichen Bewegung die nur angelehnte Tür auf und verschwand im Haus.
Von brennender Neugier erfüllt, zählte ich bis zehn und stieg dann wieder aus dem Wagen.
Ich war nicht so dumm, ihm zu folgen, aber ich musste wissen, was in diesem Haus vorging. Der vernachlässigte Gehweg und die nicht gestreute Einfahrt ließen darauf schließen, dass seit einigen Tagen niemand mehr zu Hause gewesen war, obwohl das natürlich ebenso gut bedeuten konnte, dass die Badicas das Haus überhaupt nie verließen. Es war möglich, nahm ich an, dass sie die Opfer eines gewöhnlichen Einbruchs durch Menschen geworden waren. Es war auch möglich, dass irgendetwas sie verjagt hatte – wie zum Beispiel Strigoi. Ich wusste, dass diese Möglichkeit der Grund war, warum Dimitris Miene so grimmig geworden war, aber mit Arthur Schoenberg als Wächter schien das ein unwahrscheinliches Szenario zu sein.
Während ich in der Einfahrt stand, blickte ich zum Himmel auf. Das Licht war trostlos und wässrig, aber es war da. Mittag. Der höchste Stand der Sonne heute. Im Sonnenlicht würden Strigoi nicht unterwegs sein. Ich brauchte sie also nicht zu fürchten, nur Dimitris Ärger.
Ich ging um die rechte Seite des Hauses herum und geriet in viel tieferen Schnee – fast dreißig Zentimeter tief. Sonst fiel mir nichts Seltsames an dem Haus auf. Von den Dachtraufen hingen Eiszapfen herab, und die getönten Fenster offenbarten keinerlei Geheimnisse. Plötzlich trat ich mit dem Fuß auf etwas Hartes und blickte hinab. Dort, halb vergraben im Schnee, lag ein silberner Pflock. Jemand hatte ihn in den Boden gerammt. Ich hob ihn auf und wischte stirnrunzelnd den Schnee ab. Was hatte ein Pflock hier draußen zu suchen? Silberpfähle waren wertvoll. Sie waren die tödlichste Waffe eines Wächters, imstande, einen Strigoi mit einem einzigen Stoß ins Herz zu töten. Wenn sie geschmiedet wurden, belegten vier Moroi sie mit Magie von jedem der vier Elemente. Ich hatte noch nicht gelernt, einen Silberpflock zu benutzen, aber als ich die Hand um den Griff schloss, fühlte ich mich plötzlich sicherer, während ich meinen Erkundungsgang fortsetzte.
Eine große Terrassentür führte vom hinteren Teil des Hauses auf eine hölzerne Terrasse, auf der man es sich im Sommer sicher gut gehen lassen konnte. Aber das Glas der Terrassentür war zerbrochen, sodass man sich leicht durch das gezackte Loch zwängen konnte. Ich schlich die Terrassenstufen hinauf, wobei ich mich sehr vorsichtig auf dem Eis bewegte, da ich wusste, dass ich ernste Probleme bekommen würde, wenn Dimitri herausfand, was ich da trieb. Trotz der Kälte sickerte mir Schweiß den Nacken hinunter.
Tageslicht, Tageslicht, rief ich mir ins Gedächtnis. Kein Grund zur Sorge.
Als ich auf der Terrasse stand, besah ich mir das dunkle Glas der Tür genauer. Es war nicht zu erkennen, womit es zerbrochen worden war. Direkt hinter der Scheibe war Schnee hineingeweht und hatte sich zu einer kleinen Verwehung auf einem hellblauen Teppich aufgehäuft. Ich zog am Türgriff, aber die Tür ließ sich von außen nicht öffnen. Nicht, dass das bei einem so großen Loch etwas genützt hätte. Sehr vorsichtig, wegen der scharfen Kanten, griff ich durch das gezackte Loch in der Scheibe und öffnete die Tür von innen. Genauso vorsichtig zog ich die Hand wieder zurück und machte die Schiebetür auf. Sie öffnete sich mit einem leichten Schleifen auf ihren Schienen, einem leisen Geräusch, das in der unheimlichen Stille viel zu laut wirkte.
Schließlich trat ich durch den Eingang auf das Fleckchen Sonnenlicht, das durch die offene Tür in den Raum fiel. Meine Augen gewöhnten sich langsam an das schwache Licht. Ein Windstoß fegte über die Terrasse und ließ die Vorhänge um mich herum tanzen. Ich stand in einem Wohnzimmer. Mit allem, was man darin erwarten konnte. Sofas. Fernseher. Einem Schaukelstuhl.
Und einer Leiche.
Es war eine Frau. Sie lag auf dem Rücken vor dem Fernseher, und ihr dunkles Haar hatte sich um sie herum über dem Boden ergossen. Ihre großen Augen starrten leer zur Decke, und ihr Gesicht war blass – selbst für eine Moroi zu blass. Einen Moment lang dachte ich, ihr langes Haar bedecke auch ihren Hals, bis mir klar wurde, dass die Dunkelheit, die ihre Haut überschattete, Blut war – getrocknetes Blut. Jemand hatte ihr die Kehle aufgerissen.
Die grauenvolle Szene war so unwirklich, dass ich zuerst gar nicht wahrhaben wollte, was ich da vor mir sah. In dieser Haltung hätte die Frau durchaus auch schlafen können. Dann bemerkte ich die andere Leiche: einen Mann, der nur wenige Schritte entfernt auf der Seite lag. Dunkles Blut befleckte den Teppich um ihn herum. Eine weitere Leiche hockte in sich zusammengesunken auf dem Sofa: klein, wie ein Kind. Am anderen Ende des Raumes lag noch eine Leiche. Und noch eine. Überall Leichen. Leichen und Blut.
Plötzlich begriff ich das Ausmaß des Todes um mich herum, und mein Herz begann zu hämmern. Nein, nein. Es war unmöglich. Es war Tag. Bei Tageslicht konnten keine schlimmen Dinge geschehen. Ein Schrei formte sich in meiner Kehle, wurde aber jäh erstickt, als sich eine behandschuhte Hand von hinten auf meinen Mund legte. Bevor ich mich wehren konnte, roch ich Dimitris Rasierwasser.
„Warum“, fragte er, „gehorchen Sie niemals? Sie wären jetzt tot, wenn sie noch hier wären.“
Ich konnte nicht antworten, sowohl wegen der Hand auf meinem Mund als auch wegen des Schocks, der sich meiner bemächtigt hatte. Ich hatte einmal jemanden sterben sehen, aber Tod in dieser Größenordnung hatte ich noch nie gesehen. Nach fast einer Minute nahm Dimitri endlich die Hand weg, hielt sich aber weiter dicht hinter mir. Ich wollte nichts mehr sehen, aber ich war außerstande, den Blick von der Szenerie vor mir loszureißen. Überall Leichen. Leichen und Blut.
Schließlich drehte ich mich zu ihm um. „Es ist Tag“, flüsterte ich. „Bei Tag können keine schlimmen Dinge geschehen.“ Ich hörte die Verzweiflung in meiner Stimme, der Stimme eines kleinen Mädchens, das darum flehte, jemand möge ihm sagen, dass alles ein böser Traum sei.
„Schlimme Dinge können jederzeit geschehen“, erwiderte er. „Und dies ist nicht bei Tag passiert. Es ist wahrscheinlich in der Nacht vor zwei Tagen geschehen.“
Ich wagte noch einen Blick auf die Leichen, und mein Magen krampfte sich zusammen. Zwei Tage. Zwei Tage tot dazuliegen, nachdem die eigene Existenz ausgelöscht worden war – ohne dass irgendjemand auf der Welt auch nur ahnte, dass man tot war. Mein Blick fiel auf den Leichnam eines Mannes an einem Durchgang zu einem Flur. Er war hochgewachsen und zu gut gebaut, um ein Moroi zu sein. Dimitri musste aufgefallen sein, in welche Richtung ich schaute.
„Arthur Schoenberg“, sagte er.
Ich starrte auf Arthurs blutige Kehle. „Er ist tot“, murmelte ich, als wäre das nicht vollkommen offensichtlich. „Wie kann er tot sein? Wie konnte ein Strigoi Arthur Schoenberg töten?“ Es schien unmöglich zu sein. Man konnte keine Legende töten.
Dimitri antwortete nicht. Stattdessen ließ er den Arm sinken und schloss die Finger um meine Hand mit dem Pflock. Ich zuckte zusammen.
„Wo haben Sie den her?“, fragte er. Ich löste meinen Griff und überließ ihm den Pflock.
„Von draußen. Er steckte in der Erde.“
Er hielt den Pflock hoch und betrachtete seine Oberfläche, die im Sonnenlicht glänzte. „Damit ist der Zauber durchbrochen worden.“
Mein noch immer benommener Verstand brauchte einen Moment, um zu verdauen, was er gerade gesagt hatte. Dann begriff ich. Zauber waren magische Ringe, die von Moroi gewoben wurden. Wie die Pflöcke wurden sie gemacht, indem man Magie aus allen vier Elementen benutzte. Sie erforderten starke Magiebenutzer, und häufig waren für jedes Element mehrere Moroi vonnöten. Die Zauber konnten Strigoi abwehren, weil Magie erfüllt war von Leben, und Leben besaßen die Strigoi nicht. Aber Zauber verblassten schnell und erforderten eine Menge Wartung. Die meisten Moroi benutzten sie nicht, aber an gewissen Orten wurden sie aufrechterhalten. St. Vladimir war von mehreren Ringen Schutzzaubern umgeben.
Es hatte hier einen Zauber gegeben, aber er war mit Hilfe des Pflocks, den jemand hindurchgetrieben hatte, zerstört worden. Die Magie der Schutzzauberringe und der Silberpfähle war einander entgegengesetzt, und der Pflock hatte gesiegt.
„Strigoi können keine Pflöcke berühren“, stellte ich fest. Ich merkte selbst, dass zu viele meiner Sätze die Worte „können keine“ enthielten. Es war nicht leicht, tief sitzende Überzeugungen in Frage gestellt zu sehen. „Und kein Moroi oder Dhampir würde es tun.“
„Ein Mensch könnte es tun.“
Ich sah ihm in die Augen. „Kein Mensch hilft einem Strigoi …“ Ich brach ab. Wieder dieses Wörtchen „kein“. Der eine Faktor, auf den wir im Kampf gegen Strigoi zählen konnten, waren ihre Beschränkungen – Sonnenlicht, Zauber, Pflockmagie usw. Wir wendeten ihre Schwächen gegen sie an. Wenn sie andere hatten – Menschen –, die ihnen halfen und die diesen Beschränkungen nicht unterlagen …
Dimitris Gesicht war streng, er war immer noch auf alles gefasst, aber in seinen Augen blitzte ein winziger Funke Mitgefühl auf, als er mich meinen geistigen Kampf ausfechten sah.
„Das ändert alles, nicht wahr?“, fragte ich.
„Ja“, antwortete er. „Das tut es.“