Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Als Aufbau Taschenbuch liegen von ihr zwei Eifelthriller »Echo des Todes« und »Lohn des Todes« sowie der historische Roman »Die Frau des Seidenwebers« vor.
Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de
Die junge Margaretha wächst als Mennonitin in Krefeld heran – hier, glaubt sie, ist ihre Heimat. Doch nachdem ihre kleine Schwester Eva von Unbekannten gequält wird und schließlich stirbt, begreift auch sie, dass ihre Glaubensgemeinschaft in der Stadt nicht mehr gern gesehen wird. Ihre Mutter, die als Hebamme vielen Frauen hilft, wird als Kräuterhexe diffamiert. Margaretha muss einsehen, dass sie über etwas Unerhörtes nachdenken muss: ihre Heimat zu verlassen.
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Die Heilerin
Historischer Roman
Inhaltsübersicht
Über Ulrike Renk
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Kapitel 1
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Kapitel 3
Kapitel 4
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Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
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Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Nachwort
Danksagung
Impressum
Ich liebe Euch – Philipp, Lisa, Tim, Robin, Margret, Walter, Regina, Karl, Ina.
Und C. – lass es mich mit den Beatles sagen: Little darling, the smiles returning to the faces / Little darling, it seems like years since it’s been here / Here comes the sun, here comes the sun / and I say it’s all right
Margaretha war gerade fünfzehn, als ihre Mutter sie das erste Mal zu einer Geburt mitnahm. Es war eine stürmische Oktobernacht im Jahr 1677. Der Wind heulte durch die Gassen in Krefeld, das Laub der Bäume wurde, Vogelschwärmen gleich, zwischen den Häusern hindurchgejagt. Immer wieder verdunkelten dichte, tiefhängende Wolken den vollen Mond, der knapp über der Stadtmauer zu hängen schien.
»Wach auf, Margret.« Die Mutter schüttelte sanft Margarethas Schulter. »Mevrouw van Holten liegt in den Wehen.«
»Mutter?« Margaretha rieb sich verwirrt über die Augen.
»Schhh.« Ihre Mutter hielt die Kerze hoch, schützte die flackernde Flamme mit der Hand vor dem Windzug, der durch die Ritzen des Fensters drang. »Wecke deine Geschwister nicht. Ziehe dich an und komm.« Bisher hatte Margaretha ihre Mutter zwar bei Wochenbett- oder Krankenbesuchen begleitet, aber noch nie durfte sie einer Geburt beiwohnen. Sie sprang aus dem Bett, griff nach ihren Kleidern und schlüpfte hinein. Es war empfindlich kalt geworden, und nur mit Mühe gelang es ihr, die Haken und Ösen der klammen Kleidung zu schließen.
»Nimm die dicken Socken«, sagte ihre Mutter leise, aber eindringlich. »Es wird schneien.« Sie hatte die Wollsocken schon aus dem Kasten genommen und hielt sie dem Mädchen hin.
»Schneien? Es ist erst Ende Oktober, Moedertje.« Margaretha warf einen zweifelnden Blick aus dem Fenster. Die dichten Wolken drohten allenfalls mit Regen, dachte sie.
»Es liegt Schnee in der Luft«, wisperte die Mutter. Kritisch besah sie sich ihre Tochter, dann nickte sie. »Die Haube noch. Mein Korb steht unten, wir müssen uns sputen.«
Margaretha schlang den Zopf zu einem losen Knoten im Nacken, sie hatte keine Zeit, die Haare ordentlich hochzustecken, zog die Haube über und verknotete das Band unter dem Kinn. Mevrouw van Holten war eine geborene Scheuten, dachte Margaretha, erst letztes Jahr hatte sie geheiratet, und nun erwartete sie ihr erstes Kind.
»Warum müssen wir uns beeilen?« Auch wenn Margaretha noch bei keiner Geburt dabei war, wusste sie doch viele Dinge, die damit zu tun hatten. Von früh an hatte die Mutter ihre einzige Tochter mitgenommen, hatte mit ihr den Kräutergarten gepflegt und war mit ihr durch die Rheinauen gegangen, immer auf der Suche nach Kräutern und Heilpflanzen. Gewissenhaft hatte die Mutter der Tochter den Nutzen und Schaden von Pflanzen, Kräutern, Aufgüssen und Extrakten erklärt. Margaretha wusste, dass die erste Geburt sich oft lange hinziehen konnte.
»Es wird Schwierigkeiten geben«, sagte Gretje op den Graeff, stemmte sich gegen die Haustür, die nach außen öffnete, und zog ihre Tochter mit sich, als sie endlich gegen den Wind ankam. Mevrouw op den Graeff, eine der Hebammen und Heilfrauen der Stadt Krefeld, trug in der einen Hand das Windlicht, in das sie die Kerze gesteckt hatte, in der anderen den großen Korb mit ihren Kräutern und Hilfsmitteln. Margaretha folgte ihr, die Tür glitt ihr aus der Hand und fiel krachend ins Schloss. »Verdomme!«, murmelte sie.
»Nicht fluchen!«, ermahnte die Mutter sie. »Hoffentlich hast du den Vater nicht geweckt.« Nur einen kurzen Blick warf Gretje über ihre Schulter, dann eilte sie weiter.
Margaretha sog die Luft tief ein, ihre Mutter hatte recht, es roch nach Schnee, kalt und ein wenig wie das Eisen, wenn der Hufschmied es zischend aus dem Wasser zog. Die Luft war auch deutlich kühler geworden, und vom Boden her zog es klamm nach oben, trotz der dicken Strümpfe. Sie liefen vom Obertor, wo das Haus der Familie stand, über die Hauptstraße Richtung Schwanenmarkt, passierten den Platz mit dem Brunnen und bogen am Viehmarkt rechts ein in die Burgstraße. Am Viehmarkt roch es nach Dung und Schweinen, das Geschnatter der Gänse und Hühner, die noch am Mittag dort angeboten worden waren, schien noch immer in der Luft zu liegen. In der kleinen Gasse warf sich ihnen der Wind entgegen, als wollte er sie mit aller Macht davon abhalten, ihr Ziel zu erreichen. Hier knirschte der Matsch schon unter den Stiefeln der beiden Frauen. Der Boden fror.
»Godallemachtig«, murmelte Gretje op den Graeff und hielt kurz inne. Der Wind heulte um die Häuserecken, fing sich in den Toreinfahrten, hallte dort. Doch dann wurde Margaretha klar, dass es nicht der Wind war, der dort heulte, sondern eine Frau. Sie wimmerte, steigerte das Wimmern, bis es in einem gellenden Schrei endete, begann wieder zu wimmern.
Die Mutter sah sich kurz zu ihrer Tochter um, hielt ihr das Licht der Kerze ins Gesicht. Das Mädchen war bleich.
»Das wird nicht einfach, Meisje. Willst du lieber nach Hause gehen?«
Margaretha überlegte, ein Schauer rann ihr über den Rücken, aber dann straffte sie die Schultern, biss sich in die Lippe. »Ich komme mit.«
Für einen Augenblick prüfte die Mutter den Blick der Tochter, doch Margaretha hielt stand. Dann nickte Gretje. »Gut. Wenn du das schaffst, schaffst du alles andere auch. Komm.«
Sie klopften an eine Tür, ein hohlwangiger Mann öffnete ihnen.
»Mevrouw op den Graeff, dem Herrn sei Dank. Thilda stirbt, und ich bin schuld.« Er wischte sich die Tränen aus den Augen, hob ein Glas und trank einen großen Schluck, verschluckte sich und hustete. Er stank nach Branntwein. Angeekelt verzog Margaretha das Gesicht. Wieder hatte der Schrei seinen durchdringenden Höhepunkt erreicht und verebbte, jedoch nur kurz. Obwohl sie nun im Haus waren, erschien es Margaretha, als ob der Schrei nicht mehr ganz so laut gewesen war.
»Wo ist sie?«, fragte Gretje und schob den Mann sachte beiseite. »Oben?«
Er nickte stumm.
»Gibt es oben einen Kamin?«
»Nein.«
»Wenigstens eine Kohlepfanne?«
Van Holten sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Ne… nein«, stotterte er.
»Dann besorgt eine, minn Jong. Und macht Euch keine Sorgen.« Sie tätschelte seinen Arm und ging an ihm vorbei. Margaretha folgte ihr, beeindruckt von der Ruhe, die ihre Mutter ausstrahlte. Im engen Hausflur roch es nach Kohl, nasser Wolle und saurer Milch. Rechts führte eine Tür in das größte Zimmer des schmalen Hauses, das so gebaut war wie viele Häuser der Stadt. Dort stand der Webstuhl und nahm den meisten Raum ein. Van Holten war Leinenweber. Der Kamin erwärmte den Raum, so dass die Weber auch im Winter trotz der Kälte die Schiffchen durch die Fäden ziehen konnten. An der Rückseite des Raumes lag die Wohnküche. Eine schmale und steile Stiege führte in das erste Stockwerk. Am Fuße der Treppe saß ein Mädchen, kaum älter als Margaretha. Sie hatte sich ganz zusammengekauert und hielt die Ohren mit den Händen bedeckt, wiegte sich leise jammernd hin und her.
»Hemeltje, Gottegot, Hemeltje!«, sagte sie leise wieder und wieder.
Gretje stupste sie an. »Bist du die Magd? Wie heißt du?«
»Katrinchen. Gottegot.« Sie sah nach oben, verdrehte die Augen.
»Der gute Gott und der allmächtige Herr werden uns helfen. Aber weder er noch der liebe Himmel kochen Wasser und beschaffen sauberes Tuch, das ist deine Aufgabe. Erfüll sie. Aber vorher schütte die saure Milch weg, lüfte durch und schür dann das Feuer. Wir werden Kohlen brauchen.« Gretje lächelte zuversichtlich, dann stapfte sie die Stiege entschlossen nach oben. Wieder setzte die Frau im oberen Geschoss zu einem entsetzlichen Schrei an.
Margaretha war flau im Magen. Sie drückte das Bündel sauberer Leinentücher, das ihr die Mutter zum Tragen gegeben hatte, gegen ihre Brust, dann fasste sie sich ein Herz und folgte ihr.
Nur zwei Kerzen brannten in dem Schlafzimmer, in dem ein breites Bett stand, dessen dicke Vorhänge zugezogen waren. Die Wollblenden bewegten sich sacht in dem scharfen Luftzug. Bevor Gretje sie beiseitezog, sah sie sich um. Das Fenster ging zur Straße und klapperte unter den Windböen, die sich gegen das Haus zu werfen schienen. Das Gebälk ächzte, und die Dielen knarrten. Irgendwo rief ein Käuzchen.
»Das Fenster ist nicht dicht. Geh nach unten und schau, ob dort Stroh oder Bast ist, damit wir es abdichten können.« Dann schob sie den Vorhang beiseite. Die junge Frau mit dem aufgeblähten Körper krallte sich in das Kissen. Ihr Gesicht war vor Schmerzen zu einer Fratze verzogen, trotz der Kälte lief ihr der Schweiß über die Haut. »Und bring auch frische Laken mit. Warmes Wasser. Eimer. Los!«
Wie erstarrt schaute Margaretha auf die junge Frau, die sich hin und her warf, stöhnte und wimmerte. Natürlich wusste Margaretha, dass Schmerzen zur Geburt gehörten, und hatte auch schon so manche Frau in den Wehen schreien gehört. Doch das, was sie nun sah, überstieg ihre Vorstellung.
»Nun, nun, nun, Meisje, es wird alles gut!«, beschwichtigte Gretje op den Graeff die junge Frau. Sie zog ihr das Nachthemd aus, warf es auf den Boden, legte ihr die Hand auf den nackten Bauch. Margaretha erschien es, als würde die über alle Maßen gespannte Haut gleich aufplatzen. Immer noch konnte sich das Mädchen nicht von dem Anblick lösen.
»Spürst du meine Hand? Du musst hierhin atmen. Einatmen und ganz langsam auspusten. So wie ich …« Geräuschvoll atmete Margarethas Mutter ein und dann aus.
»Ich kann nicht«, stöhnte Thilda.
»Doch, du kannst. Einatmen. Jetzt!« Gretje sprach beruhigend, aber auch bestimmt. Thilda van Holten wurde ruhiger, das Wimmern ließ nach, und sie schien sich ein wenig zu entspannen. Eine Windböe zog pfeifend durch die Ritzen, und Margaretha zuckte zusammen, dann raffte sie ihre Röcke und lief die steile Stiege hinab. In der Küche brannte ein helles Feuer, darüber hing ein rußgeschwärzter Kessel, in dem etwas kochte. Margaretha warf einen Blick hinein. Dicke Fettaugen schwammen auf der Oberfläche.
»Was ist das?«, fragte sie die Magd.
»Ich sollte doch Wasser kochen.«
»Hast du den Topf nicht ausgescheuert? Da schwimmt ja Fett.«
»Ausgescheuert? Nein. Ich habe gestern ein Huhn ausgekocht. Da muss noch ein Rest im Topf gewesen sein.« Katrinchen zuckte die Schultern.
Margaretha hatte schon früh gelernt, dass Sauberkeit wichtig war, nicht nur im Wochenbett. Ohne die Magd anzusehen, nahm sie den Kessel vom Herd, öffnete die Tür zum Hof und schüttete das Wasser aus. Eine Dampfwolke nahm ihr für einen Moment die Sicht. Dann drehte sie sich um, drückte Katrinchen den Kessel in die Hand.
»Wasch ihn aus, und zwar gründlich. Und dann nimmst du sauberes Wasser und erhitzt es. Habt ihr Bast im Haus? Ich brauch zudem einen Eimer, Laken.«
Die Haustür wurde geöffnet und jemand polterte in der Diele. Es war der junge van Holten. Er hatte bei seinen Eltern, die im Nachbarhaus wohnten, eine Kohlepfanne ausgeliehen und schwankte damit nun durch die Diele. Torkelnd stieß er gegen die Küchentür, blieb stehen und sah Margaretha mit großen Augen an.
»Wohin damit?« Er deutete auf das Kohlebecken.
»In der Küche brauchen wir es wohl nicht. Es muss nach oben.« Margaretha verdrehte die Augen und hob lauschend den Kopf. Die furchtbaren Schreie waren verstummt. Auch van Holten horchte.
»Gottegot. Ist sie …?« Doch dann hörte man wieder einen leisen Schrei. Er klang nicht mehr so verzweifelt, aber immer noch schmerzhaft. Van Holten zuckte zusammen. »Was habe ich getan? Was habe ich ihr angetan?«
»Zum Jammern ist es jetzt zu spät. Das Kohlebecken wird gebraucht. Und habt Ihr Bast?«
»Bast?«
»Es zieht wie Hechtsuppe dort oben.« Margaretha stemmte die Hände in die Hüften, so wie sie es oft bei ihrer Mutter gesehen hatte, wenn diese mit Männern sprach.
Van Holten wies mit dem Kopf zur Webstube. »Dort ist Bast. Ja, es zieht dort oben. Aber das große Bett passt nicht in das andere Zimmer, dort zieht es nicht und einen Kamin haben wir da auch.«
»Auch ein Bett?«, fragte Margaretha.
»Nun ja, ein schmales.« Er rülpste, hielt sich verschämt lächelnd die Hand vor den Mund. Die Branntweinfahne schien vor ihm im Raum zu stehen. Angewidert wandte Margaretha den Kopf ab. Sie drückte sich an van Holten vorbei, lief die Treppe empor. Vor der Tür zum großen Schlafzimmer blieb sie stehen, holte tief Luft. Sie hörte das Stöhnen der Frau, die murmelnde Stimme ihrer Mutter. Der Gedanke an den zum Platzen gespannten Leib der Frau und das viele Blut erzeugten Übelkeit in ihr. Sie drehte sich um, sah die andere Tür, öffnete sie. Wohlige Wärme schlug ihr entgegen. In diesem Moment kämpfte sich der Mond durch die Wolken und warf sein Licht in den kleinen, aber behaglichen Raum. Das Bett war in der Tat schmal, doch es wirkte frisch bezogen. Kein Wind pfiff hier, das Zimmer lag nach hinten zum Hof.
Margaretha gab sich einen Ruck und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Thilda lag im Bett, die Beine weit gespreizt. Das flackernde Licht der Kerzen warf gespenstische Schatten, die über die Wände tanzten. Sie atmete zusammen mit Gretje, ein Rhythmus, ein-aus, ein-aus. Hin und wieder entfuhr ihr ein Wimmern. Margaretha wusste nicht, wie sie sich bemerkbar machen sollte, und traute sich nicht, zum Bett zu gehen.
»Schön weiteratmen, Meisje«, sagte Gretje lobend und drehte sich dann zu ihrer Tochter um. »Bringst du Wasser? Wo bleibt die Kohlepfanne? Und hast du Bast? Bevor die nächste Stunde um ist, wird diese Frau krank sein, wenn sie weiter in dem Windzug liegt.«
»Nebenan ist ein warmes Zimmer. Dort zieht es nicht, und der Kamin verläuft durch den Raum, es ist warm.« Margaretha sprach die Frage nicht aus, aber sie hing deutlich in der Luft: Würde die gebärende Frau es dorthin schaffen? Oder wie würden sie sie dahin bringen?
»Ein Bett?«, fragte Gretje knapp.
»Ja. Ein kleines, aber wie mir schien, frisch bezogen.«
»In Hemmelsnaam. Warum sagt das denn keiner?« Gretje stieß wütend die Luft aus. Dann wurde ihre Stimme wieder sanft. »Komm, Meisje, aufstehen. Wir gehen rüber. Margret, nimm die eine Kerze und mach dort Licht.«
»Aufstehen?« Erschrocken sah Thilda die Hebamme an. »Das kann ich nicht.«
»O doch, und du wirst.«
Später wusste Margaretha nicht mehr, wie sie die heulende Frau in das andere Zimmer bekommen hatten, aber sie schafften es. Wenige Stunden danach hielt Gretje op den Graeff dem inzwischen völlig betrunkenen van Holten seinen Erstgeborenen hin. »Wie soll Euer Kind heißen?«
»Mein Kind?« Er verschliff die Silben, seine Augen befanden sich auf Wanderschaft und fanden keinen Fixpunkt. »Ist es tot?«, lallte er.
»Nein. Wohl kaum.« Gretje holte tief Luft und schaukelte den Kleinen sanft, der inzwischen anfing leise zu jammern. »Er lebt, genauso wie Eure Frau. Wie soll der Sohn nun heißen?«
»Er lebt? Meine Frau auch?« Van Holten hob das Glas an die Lippen, doch es war leer. Wütend schleuderte er es gegen die Wand, wo es klirrend zersplitterte, griff nach dem Tonkrug. Wie ein Ertrinkender sog er die letzten Tropfen aus dem Gefäß. Gretje rümpfte die Nase. Die zum Schneiden dicke Luft stand in dem Raum, es stank nach Branntwein, Schweiß und feuchten Strümpfen.
»Mijnheer van Holten, Eure Frau lebt, das Kind auch. Ich habe einige Stunden gearbeitet und würde nun gerne nach Hause gehen. Aber das Kind braucht einen Namen. Überlegt Euch, wie Ihr ihn nennen wollt. Ich bringe ihn nun zu seiner Mutter. Später am Tag komme ich wieder.«
»Ihr wollt gehen?« Verblüfft sah er sie an. »Und mich alleine lassen?«
»Natürlich. Warum nicht? Katrinchen ist doch da. Sie kocht gerade eine gehaltvolle Brühe, damit Eure Frau wieder zu Kräften kommt. Schlaft Euren Rausch aus.« Sie lachte leise, drehte sich um.
»Mevrouw op den Graeff, Ihr könnt nicht einfach gehen. Ist das Kind getauft?«
Langsam drehte sich Gretje wieder zu ihm um. Ihr Gesicht zeigte eine seltsame Ungeduld, stellte Margaretha fest, die mit dem gepackten Korb im Flur stand. Die Nacht war anstrengend und zuerst furchterregend gewesen, doch der Ausgang glücklich. Alle Anspannung und Aufregung war nun von ihr gefallen; sie fröstelte, war müde und ausgelaugt.
»Ich kann das Kind nicht taufen«, sagte Margarethas Mutter mit gepresster Stimme.
»Ihr … Ihr … Ihr seid doch Hebamme, Ihr dürft taufen«, stotterte van Holten. »Was, wenn es in den nächsten Stunden stirbt?«
»Ich dürfte eine Nottaufe vornehmen, wenn es dem Kind schlecht geht. Diesem Kind geht es bisher gut. Ich sehe auch keinen Anlass zur Sorge, dass es ihm in den nächsten Stunden schlechter gehen sollte. Allerdings nur, wenn ich es jetzt aus diesem Mief hier wegbringe, ansonsten könnte er wohlmöglich ersticken. Dann müsste er notgetauft werden.« Sie drehte sich um und ging nach oben.
»Mevrouw! Haltet ein«, rief van Holten. »So wie meine Frau geschrien hat, war die Geburt schwer. Und schwere Geburten führen oft zum Tod. Ich bestehe auf einer Taufe. Das Kind soll …«, er zögerte, aber in seiner Wut war seine Aussprache wieder deutlicher geworden, so als hätte er den Vorhang der Benebelung beiseitegeschoben. »Der Junge soll nach meinem Vater benannt werden. Jakob van Holten!«
»Das ist fein. Ich werde es Eurer Frau ausrichten, sie fragte danach«, rief ihm Gretje über ihre Schulter zu.
»Und tauft Ihr ihn nun?«
Gretje blieb stehen. Margaretha sah, dass ihre Mutter bebte. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie wütend war. Für einen Moment schien die Hebamme zu zögern, dann stieg sie die steile Treppe wieder hinunter, gab Margaretha das kleine Bündel.
»Ich bin Mennonitin, wie Euch sehr wohl bekannt ist. Genauso wie Eure Frau Thilda. Ihr seid Protestant. Eure Art den Glauben an Gott zu leben ist nicht besser und nicht schlechter als unserer. Wir sind alle Kinder Gottes, und zwar von Geburt an. Gott liebt und schützt uns. Wir Mennoniten entscheiden uns dazu, als junge Erwachsene das Taufgelöbnis und dadurch den erneuten Bund mit Gott einzugehen. Bewusst und willentlich.«
»Und wenn das Kind jetzt stirbt?« Er weinte plötzlich fast.
»Dann ist es in der Hand Gottes. Welche Sünden soll es begangen haben? Die Gefahr, dass Euer Sohn an diesem Tag stirbt, sehe ich nicht. Wenn es Euch wichtig ist, dann lasst ihn im Laufe des Tages taufen. Er ist gesund und munter, er hat schon getrunken. Es geht ihm gut. Ich werde ihn nicht taufen.« Sie sah ihn streng an, nickte ihm zu, ging in den Flur und nahm das Kind aus Margarethas Armen. Dann stapfte sie die Treppe empor. Jeder ihrer Schritte auf der hölzernen Stiege schien durch das Haus zu hallen.
Wenig später liefen die beiden Frauen durch das morgendliche Krefeld. Gretje hatte recht behalten, dicke Schneeflocken, weich wie Wollfasern, trieben im ersten Licht des Tages durch die Luft. Die Hähne hatten gekräht, die ersten Wagen fuhren durch die Stadt, und die Tore waren geöffnet worden. Die beiden Frauen, Mutter und Tochter, gingen schweigend nebeneinander her. Ihre Schritte waren schwerfällig und müde. Als sie das Haus in der Nähe des Obertors erreicht hatten, blieb Gretje stehen. Sie sah Margaretha an. Die Fältchen um ihre Augen, die wie Radspeichen um ihre Augen lagen, hatten sich vertieft. Sie lächelte schwach.
»Du hast dich gut gehalten, mein Kind. War es arg schlimm?«
»Am Anfang schon. Ich dachte, sie würde sterben. Was muss sie für Schmerzen gelitten haben!« Margaretha senkte den Kopf. Ihre Knie zitterten, und inzwischen waren ihre Füße, trotz der dicken Strümpfe, kalt.
»Nicht mehr als andere auch, aber auch nicht weniger. Sie hat dagegen angekämpft und das war ihr Fehler. Wir haben ihr geholfen, richtig damit umzugehen. Du hast deine Sache gut gemacht, Meisje. Nun geh zu Bett und ruh dich ein paar Stunden aus. Später am Tag werden wir noch mal nach Thilda und dem kleinen Jakob sehen.« Gretje öffnete die Tür. Es war kalt im Hausflur. Das Feuer im Herd schien ganz heruntergebrannt zu sein. Seufzend stellte Gretje den Korb ab, stützte kurz die Hände in das Kreuz und bog die Schultern nach hinten.
Margaretha schlich an ihr vorbei nach oben. Das Haus der op den Graeffs gehörte zu den älteren der Stadt. Margarethas Großvater hatte es gebaut. Durch Anbauten und Umbauten war es immer wieder verändert worden und wies nun einen sehr winkeligen Grundriss auf. Weil keines der Zimmer groß genug für einen Webstuhl war, hatte die Familie das Nachbarhaus gekauft, nachdem die Bewohner dem Fieber erlegen waren. Dort standen nun drei Webstühle, von der Küche blieb nur noch der Herd, außerdem nutzten sie die Gesindezimmer im oberen Stockwerk. Somit waren die Arbeit und auch die Arbeiter in das zweite Haus gepackt worden und die Familie in das andere.
Margaretha teilte sich das Zimmer mit ihrer Schwester Eva, mit drei Jahren das Nesthäkchen der Familie. Das Kind kam zur Welt, als Gretje schon längst die fruchtbaren Zeiten hinter sich hatte liegen sehen. Der älteste Sohn der Familie war fast dreißig Jahre älter als die jüngste Tochter.
Eva war ein besonderes Kind, ihr Gesicht mondförmig, die Augen glichen Mandeln, sie lachte beständig, war fröhlich und aufgeweckt, konnte jedoch nicht richtig sprechen und hatte Schwierigkeiten zu laufen. Die Familie liebte das Kind und hütete es wie den Augapfel. Margaretha schlich leise in das Zimmer, zog sich aus und kroch unter die inzwischen klammen Laken. Vereinzelte Schneeflocken malten Tupfen auf das kleine Fenster, die Sonne ging an einem diesigen Himmel auf. Irgendwo bellte ein Hund, und der Nachtwächter sang sein Abschiedslied. Margaretha schlief ein.
Am nächsten Morgen hing die Sonne vor einem verhangenen Himmel. Die Luft war deutlich kälter, aber die vereinzelten Schneeflocken hatten sich aufgelöst. Margaretha schreckte hoch, als ein Fuhrwerk durch die Gasse kam, der Kutscher laut schimpfte. Sie rieb sich verwundert die Augen, noch nie hatte sie so lange geschlafen. Eva lag nicht in ihrem Bett. Margaretha stand auf, streckte sich, rief die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück, das Schreien, die Qualen und das Blut, aber auch den ersten Ton des Neugeborenen und das glückliche Lächeln der Mutter. Das gute Ende hatte alles andere vergessen lassen. Sie wusch sich flüchtig, das Wasser im Krug schien durch die Kälte schwerer zu sein. Dann zog sie sich frische Sachen an und ging nach unten. Es duftete köstlich nach Grütze. Ihre Mutter saß in der Küche und rupfte energisch ein Huhn. Sie hob den Kopf und lächelte ihre Tochter an. »Ausgeschlafen?« Zu ihren Füßen saß Eva und spielte mit den Federn.
»Ich glaube, ich habe noch nie im Leben so lange geschlafen außer zu Neujahr.« Margaretha nahm sich eine Schüssel und füllte sie mit der Grütze, die in dem großen Topf über dem Herd köchelte.
»Du hast dich wacker gehalten, mein Kind.«
»Ich dachte, Thilda müsse sterben.«
»Das weiß man nie so genau. Sie hatte viel Blut verloren und sich sehr verkrampft. Aber es ist ja gut gegangen. Ich möchte, dass du nachher mitkommst, wenn wir nach ihr schauen. Doch vorher geh bitte in den Wallgarten. Der Frost kommt zu früh, aber vielleicht kannst du ja noch ein paar Sachen retten.«
Die op den Graeffs hatten – so wie viele andere Familien auch – vor der Stadtmauer und dem Graben große Gärten. Dort bauten sie Obst und Gemüse an. In dem kleinen Garten hinter dem Haus zog Gretje Kräuter. Im Schuppen hielten sie ein Schwein, das meist zu Martini geschlachtet wurde, und im Hof lebten ein paar Hühner.
Margaretha aß hungrig den heißen Grützbrei. Wohlige Wärme breitete sich in ihrem Magen aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie gewesen war. Nachdem sie ihre Schüssel ausgespült hatte, holte sie Wasser aus dem Brunnen im Hof. Vom Nachbarhaus scholl das Klappern der Webstühle zu ihr. Dort arbeiteten ihre Brüder. Der Vater, so erzählte Gretje ihr, war am Morgen nach Moers gereist, um Leinen auszuliefern. Die Familie webte Leinen, hin und wieder bleichten sie den Stoff auch. Alle waren eingebunden, und das Geschäft lief gut.
»Soll ich Evchen mitnehmen?«, fragte Margaretha, als sie die Haken an ihrem Mantel schloss.
Zweifelnd schaute die Mutter zum Boden, wo das kleine Kind in dem wachsenden Federberg wühlte, die Federn und Daunen mit fröhlichem Gejauchze in der Küche verteilte. Hin und wieder flogen ein paar der Federn in das prasselnde Feuer des Kamins und verbrannten. Der Gestank von verglühtem Horn breitete sich aus.
»Ja, nimm sie mit, aber zieh sie warm an. Und pass gut auf sie auf.«
Margaretha nahm das Kind und verdrehte die Augen, jedoch so, dass ihre Mutter es nicht sah. Als wenn sie schon mal nicht gut auf ihre Schwester aufgepasst hätte. Dann aber sah sie die Falten, die sich tief um die Mundwinkel ihrer Mutter eingegraben hatten, und bemerkte, wie müde Gretje war. Ihre Mutter hatte sich nicht hingelegt, als sie nach Hause gekommen waren. Sie hatte die blutigen Sachen ausgewaschen und in den Hof gehängt, das Feuer geschürt und das Essen vorbereitet. Wahrscheinlich hatte sie auch noch Strümpfe gestopft oder etwas anderes getan. Es gab immer etwas zu tun in diesem großen Haushalt, und Gretje konnte Dinge nicht liegen lassen.
Margaretha setzte sich Eva auf die Hüfte und verließ das Haus. Sie ging durch das Obertor hindurch und wandte sich dann links. Der Münkersweg führte nach Linn. Eva erfreute sich an dem Ausflug, zeigte lachend auf die Gänse, die auf einer Wiese vor der Stadt grasten. Hin und wieder fiel eine dicke, flaumige Schneeflocke. »Feder!«, sagte das Kind und klatschte in die Hände.
»Das ist eine Schneeflocke.« Margaretha lächelte. Mit dem linken Arm hielt sie das Kind umschlungen, an der rechten Hand schaukelte munter der noch leere Korb. Sie plauderte mit der kleinen Schwester, scherzte und sang. An der Kreuzung kam ihnen ein junger Mann entgegen. Er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und den Mantelkragen hochgestellt. Margaretha stockte kurz, doch dann erkannte sie ihn. Es war Jan Scheuten. Er war zwei Jahre älter als sie, aber sie hatten gemeinsam die Schule besucht. Vor einem Jahr hatte er die Stadt verlassen, um eine Lehre bei einem Tischler in Linn zu machen. Manchmal kam er übers Wochenende nach Hause und besuchte mit seiner Familie den Gottesdienst. Margaretha und er hatten sich immer gut verstanden. Sie blieb stehen und lächelte ihm entgegen. Er hob den Kopf und sah sie.
»Margaretha, welch entzückender Anblick an diesem kalten Tag. Was treibt dich aus der Stadt?« Er grinste.
»Der Frost. Ich soll im Wallgarten noch schnell einiges an Gemüse retten. Und was bringt dich nach Krefeld?«
»Mein Lehrherr ist verstorben.« Er verzog das Gesicht. »Und nun muss ich mir einen anderen suchen.«
»Du bist ein fleißiger Mann, es wird dir schon gelingen. Deine Schwester hat heute Nacht einen gesunden Jungen entbunden, du wirst deine Familie in Feierstimmung vorfinden.«
»Thilda hat einen Sohn? Das wird Johannes ja freuen, er hat sich einen Stammhalter gewünscht.«
»Dein Schwager wird heute vermutlich arges Schädelbrummen haben, die Nacht über war die Branntweinflasche sein bester Freund.« Margaretha lachte.
»Das kann ich gut verstehen. Vermutlich hatte er große Angst um sie.«
Margaretha beschloss, ihm nichts von dem furchterregenden Schreien seiner Schwester zu erzählen. Eva wurde es langweilig, sie zappelte und begann zu quengeln.
»Ich muss weiter«, sagte Margaretha und spürte, dass sie rot wurde.
»Das ist deine Schwester, nicht wahr?« Jan runzelte die Stirn und sah das Mädchen nachdenklich an.
»Ja, unsere Eva, unser Schatz.« Margaretha wippte das Kind auf der Hüfte, kitzelte es, das Mädchen lachte.
»Sie ist doch schon zwei oder so?«
»Sie ist drei, fast vier. Sie ist ein ganz besonderes Kind.« Immer noch herzte Margaretha die Schwester, lächelte sie an.
»Und dann kann sie nicht laufen? Du musst sie tragen? Warum verwöhnt ihr sie so?«
Margaretha atmete tief ein und hielt für einen Moment die Luft an. »Eva kann noch nicht lange Strecken laufen, ihre Beine tragen sie nicht«, sagte sie schließlich. »Ich muss aber wirklich weiter, Jan.«
Jan kaute auf seiner Lippe, sah die beiden erst skeptisch und nachdenklich an, dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht. »Auf mich wartet keiner, sie wissen ja nicht, dass ich zurückkomme. Ich begleite dich in den Garten und helfe dir. Soll ich deine Schwester nehmen? Ich könnte sie auf den Schultern tragen.«
»Das würdest du tun?«
»Ja, warum denn nicht?« Jan lachte, nahm Eva, schwang sie einmal durch die Luft. Das Kind jauchzte. Er setzte sich das Mädchen auf die Schultern und hüpfte mit ihr den Weg entlang. Margaretha folgte ihm lächelnd. Sie erreichten den Wallgarten. Margaretha nahm Jan das Kind ab, hüllte es in eine Decke, die sie mitgebracht hatte, und setzte es auf einen Baumstamm. Dann erntete sie die Wurzeln und Möhren, schnitt große Büschel Kräuter ab. Jan half ihr ein wenig ungelenk. Immer wieder musste Margaretha ihm erklären, welches Gemüse geerntet werden musste und was noch in der schon frostigen Erde verbleiben konnte. Trotz der Kälte bildete sich Schweiß auf Margarethas Stirn. Sie arbeitete fleißig und gewissenhaft, schaute sich immer wieder nach ihrer Schwester um, die zufrieden mit ihrer kleinen Stoffpuppe spielte.
Der Boden war hart, es war mühsam, die Karotten zu ernten, die Bohnen abzuziehen. Irgendwann schaute sich Margaretha um, und Eva saß nicht mehr auf dem Baumstamm. Für einen Moment starrte sie auf den Stamm, als ob das Kind plötzlich wieder auftauchen würde, sie einer optischen Täuschung erlegen wäre. Aber das passierte nicht. Die Starre löste sich, und Margaretha lief los, rief, schrie nach dem Kind.
»Eva. Evale! Wo bist du? Komm her. Zusje, komm zu mir.« Verzweifelt rannte sie zu dem Baumstamm, die Decke lag dort, bedeckte den Stamm, als müsse sie ihm Wärme spenden. Doch von dem kleinen Mädchen war nichts zu sehen. Margaretha schossen die Tränen in die Augen. Wann hatte sie zuletzt nach dem Kind geschaut? Vor fünf Minuten, zehn? Vor einer halben Stunde? Beim Bohnenernten hatte sie sich lustig mit Jan unterhalten, sie hatten Geschwätz aus der Gemeinde ausgetauscht und von Vorkommnissen in der Gegend gesprochen, und darüber hatten sie die Zeit aus den Augen verloren. Die Sonne hatte schon längst den Zenit überschritten, bald würde die Dämmerung hereinbrechen, zumal dichte Wolken inzwischen wieder den Himmel verdunkelten.
»Gottegot, Eva«, murmelte Margaretha verzweifelt. »Wo bist du?«
Das Kind konnte nur wenige Schritte laufen, sie krabbelte meist, das konnte sie allerdings schnell. Der Weg zum Wassergraben, der die Stadtmauer umschloss, war nicht weit. Der Boden war hart und gefroren, es waren keine Spuren zu erkennen. Margaretha schaute in jede Richtung, aber Eva war nicht zu sehen.
»Eva!«, rief sie verzweifelt und lief zum Wassergraben. »Bitte nicht. Eva!«
»Was ist los?« Jan folgte ihr.
»Meine Schwester … sie ist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Ich muss sie finden.« Margaretha unterdrückte ein Schluchzen.
»Sie kann doch nicht laufen, oder doch?«
»Nein, aber krabbeln«, rief ihm Margaretha über die Schulter hinweg zu, während sie in Richtung Wassergraben lief. Jan wandte sich um, lief zur anderen Seite des Gartens. Auf der Wiese vor den Gärten weideten Schafe. Dort fand er Eva, glücklich in die Betrachtung der Tiere verloren.
»Hey, Meisje«, sagte er unsicher. Eva drehte sich um und strahlte ihn an, ihre Zunge steckte zwischen den Zähnen, ihre Augen funkelten.
»Mäh!«, gluckste sie.
»Da bist du ja, Eva. Margaretha sucht dich.« Ungeschickt nahm er sie hoch, rümpfte die Nase, setzte sie wieder ab. »Komm, ich nehme dich bei der Hand, und wir laufen zu deiner Schwester.«
»Wel, wel!«, rief Eva und nahm seine Hand. Nur langsam kamen sie voran, das Mädchen knickte immer wieder ein.
»Verdomme! Du bist doch bis hierher gekommen, dann musst du es auch zurückschaffen. Gottegot!« Er zog das Kind an der Hand, aber es stolperte und strauchelte, begann leise zu wimmern. »Nun denn«, sagte Jan entnervt und nahm Eva hoch, trug sie vor sich her und achtete darauf, dass er keinen Kontakt zu ihrer verschmutzten Kleidung bekam.
»Margret! Ich habe sie gefunden. Sie ist hier!«, rief er wieder und wieder. Schließlich hörte Margaretha ihn und stürmte ihm entgegen, riss das Kind aus seinen Armen und umschlang es fest. »Goddank! Sie lebt. Eva, Eva, geht es dir gut?« Sie strich die Haarsträhnen aus dem Gesicht des Kindes, schaute es an und küsste es dann.
»Sie stinkt.« Angewidert verzog Jan das Gesicht.
»Ja und? Es ist ein Kind.«
»Sie ist fast vier und noch nicht sauber?«
Margaretha setzte zu einer Antwort an, schloss aber dann wieder den Mund. Zu oft war sie auf Unverständnis bei den Mitmenschen gestoßen. Ihrer Familie war klar, dass dieses Kind etwas Besonderes war. Viele dieser Kinder lebten nicht lange. Entweder wurden sie ausgesetzt, ertränkt oder ins Armenhaus gebracht. Die op den Graeffs wollten diesem besonderen Kind ein Zuhause geben und ihm Liebe schenken, so wie Gott es vorgesehen hatte. Viele Lutheraner und andere Christen glaubten immer noch, dass diese Art von Kindern vom Teufel kam.
Welch ein Blödsinn, dachte Margaretha und drückte die kleine Schwester an sich. Eva strahlte so viel Glück und Liebe aus, sie konnte nicht vom Teufel sein.
»Lass uns zurückgehen«, sagte sie und wickelte Eva in die Decke. Wind kam auf, und dunkle Wolken bezogen Stellung am Himmel.
Margaretha sah, wie Jan nachdenklich und schweigend den Korb nahm, der bis zum Rand gefüllt war. Er ging neben ihr, warf immer wieder einen Blick auf Eva, die sich müde an die Schulter ihrer Schwester kuschelte und versonnen am Daumen lutschte, der in einem seltsamen Winkel von der Hand abstand.
Schließlich brach er das Schweigen, redete über das Wetter, die Kälte, die so früh hereingebrochen war, über Belanglosigkeiten. Sie passierten das Obertor, nickten der Wache zu und hielten vor der Straße, die zu dem Haus der op den Graeffs führte. Jan zögerte. Sein Elternhaus lag in der Nähe des Schwanenmarktes, die Hauptstraße runter. Lachend griff Margaretha nach dem Korb.
»Ich danke dir für deine Hilfe und Gesellschaft«, sagte sie.
Jan sah sie unsicher an. »Ich kann dich auch bis zu eurem Haus bringen. Es ist ja nicht mehr weit.«
»Genau, es ist nicht mehr weit, und die paar Meter schaffe ich auch mit Kind und Korb. Deine Familie wartet. Du hast schon einige Stunden mit mir verschwendet. Wir sehen uns sicherlich spätestens am Sonntag zum Gottesdienst.« Margaretha lächelte ihm zu und drehte sich um.
»Ich freue mich darauf«, rief Jan ihr nach.
Margaretha spürte, dass sie rot wurde. Sie drückte ihre heiße Wange an den Kopf der Schwester, lief beschwingt die letzten Meter.
Zuhause ließ sie den Korb im Flur stehen und brachte Eva in die Küche. Dort duftete es herrlich nach gebratenem Huhn und frischem Brot. Margarethas Brüder wuschen sich lautstark trotz der Kälte im Hof, und die Magd deckte den großen Tisch in der Küche. Der Kamin prasselte, und die Katze strich schnurrend um Margarethas Beine. Hier bin ich zu Hause, dachte sie und war für einen Moment vollends glücklich.
»Da seid ihr ja endlich. Was ist mit Evale?« Gretje nahm Margaretha das Kind aus den Armen, herzte es. Eva wurde wach und schlang die kurzen Arme um den Hals der Mutter. »Oh weh, sie muss gebadet werden. Annemieke, setze Wasser auf.«
Für einen Augenblick sah Margaretha ihrer Mutter zu, wie die das kleine Kind herzte und drückte, dann ging sie zurück in den Flur, nahm den Korb und brachte ihn in die Vorratskammer. Sie band die Pflanzen zum Trocknen in Bündel, hängte sie auf, legte die Wurzeln in die Sandkisten, die dafür bereitstanden. Noch war der Vorratsraum erschreckend leer, denn der frühe Kälteeinbruch prophezeite einen strengen Winter. Aber ihre Mutter würde sicherlich wissen, wie sie die Familie gut über den Winter brachte.
Margaretha ging in ihr Zimmer, wusch sich dort. Das Wasser im Krug war nicht viel wärmer als das aus dem Brunnen, mit dem sich die Brüder reinigten, aber hier war sie alleine. Ihre Brüder Hermann, Abraham und Dirck waren um einige Jahre älter als sie. Sie waren rau aber herzlich. Meistens konnte Margaretha mit ihren Scherzen gut umgehen, doch heute wollte sie noch einen Augenblick alleine sein, bevor sie sich an den Tisch mit der Familie und dem Gesinde setzte. Ihre Gedanken wanderten zu Jan. Die Stunden mit ihm verwirrten sie. Er war nett und hilfsbereit, aber sein Verhalten Eva gegenüber erschien ihr dumm. Trotzdem, dachte sie, hatte er sich nicht abschrecken lassen.
Lächelnd ging sie die Treppe hinab, half Annemieke beim Decken des Tisches und dem Auftragen der Speisen in der großen und warmen Wohnküche. Im Raum nebenan badete die Mutter Eva in einem kleinen Waschzuber. Wenig später versammelten sich alle zum Essen. Eva strahlte die Geschwister an und erzählte lauthals in dem ihr eigenen Kauderwelsch vom Tag. Lächelnd hörten sie ihr zu.
»Wie sieht es im Wallgarten aus?«, fragte dann Gretje ernst.
»Ich habe Möhren geerntet und auch Erbsen und Bohnen. Es ist aber noch einiges übrig. Wir können noch zwei oder drei Körbe füllen.«
»Zwei oder drei Körbe. Gottegot. Das hilft uns nicht annähernd über den Winter. Und dieser wird streng werden. Wir müssen dazukaufen, bevor die Nahrung knapp wird. Hermann, bitte fahre morgen nach Linn auf den Markt. Besser noch nach Uerdingen. Da legen die Rheinschiffe mit allerlei Waren an. Nimm deinen jüngsten Bruder Dirck mit. Er kann lernen, wie man handelt und feilscht. Lass dich ob des Schnees und Frosts nicht verunsichern, das Wetter kann noch umspringen und uns einen goldenen Herbst bescheren.« Gretje schnaufte, trank einen Schluck verdünnten Wein. »Ich selbst glaube da nicht dran, aber das muss ja keiner wissen. Kaufe Bohnen und Erbsen. Rüben und Getreide haben wir. Zwei Schweine, eines hier im Hof, eines drüben. Das reicht nicht, aber nach Martini können wir immer noch Speck kaufen.« Sie senkte den Kopf über ihren Teller, ganz in Gedanken versunken.
»Wir könnten den Stall nebenan ausbauen und eine Kuh einstellen. Dann hätten wir frische Milch«, meinte Dirck. »Die Loers halten es so.«
»Das würde uns an Heu und Futter mehr kosten als die Milch vom Bauern. Loers haben zwei große Wiesen, wir nicht.« Hermann schüttelte den Kopf.
»Es wird schon werden.« Gretje nahm sich ein Stück Brot und saugte den Bratensaft damit auf. Sie reichte den Kanten Eva, die ihn glücklich nahm und daran lutschte. »Margret, wir müssen gleich noch zur Wöchnerin. Annemieke, bring Eva nach dem Essen zu Bett. Leg ihr einen heißen Backstein unter die Decke. Wir werden morgen die Fenster abdichten müssen. Dirck, schau nach, wie viel Kohle noch da ist, eventuell müssen wir die Vorräte auch aufstocken, wenn wir jetzt schon heizen müssen.« Sie stand auf, wusch sich die Hände und ging dann in die kleine Kammer neben der Küche, in der sie ihre Kräuter und Tinkturen aufbewahrte. Margaretha folgte ihr.
»Wenn wir einen strengen Winter bekommen, werden viele Leute unter Husten und Auswurf leiden. Vor allem in den engen Vierteln der neuen Stadt.«
Seit einigen Jahrzehnten zogen immer mehr Mennoniten nach Krefeld. Anderswo wurden sie verfolgt oder gezwungen, ihren Glauben zu verleugnen. Die Oranier hatten in Krefeld die Glaubensfreiheit gestattet, und so wurde die Stadt zu einer Zufluchtsstätte. Allerdings war der Wohnraum knapp, und viele Familien zwängten sich auf engstem Raum. Das begünstigte die Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen.
Gretje seufzte. »Noch können wir Birkenblätter ernten und Efeu. Auch Hagebutten gibt es noch im Überfluss. Vielleicht kann Hermann mir Fenchelsamen vom Markt mitbringen.« Sie ging ihre Vorräte durch, schaute in Säckchen, Bottiche, Körbe und strich über die einzelnen Flaschen. »Öl werde ich auch brauchen. Wir sollten uns auf das Schlimmste einstellen.« Sie nahm eine Handvoll getrocknete Blätter und Blüten aus einem Korb und steckte diese in ein kleines Leinensäckchen. »Aber jetzt kümmern wir uns erst einmal um Thilda. Wir kochen ihr einen schönen Aufguss aus Frauenmantel, das hilft im Wochenbett und fördert die Milchbildung.«
Die Luft war frostig, und der Rauch der vielen Kamine lag über der Stadt. Sie eilten durch die Straßen, die Dämmerung brach herein. Gretje hatte die letzte Nacht nicht geschlafen und auch bisher keine Ruhe gefunden. Sie gähnte verstohlen und rieb sich über das Gesicht. Margaretha überlegte, ob sie an diesem Abend ihrer Mutter noch weitere Arbeiten abnehmen konnte. Das Schwein würde sie versorgen und die Strümpfe stopfen. Der Korb mit der Flickwäsche stand immer in der Stube. Sie gingen an dem Haus vorbei, in dem die Familie Scheuten wohnte. Hell leuchtete es durch die Fenster, doch Margaretha konnte niemanden sehen.
»Was ist denn da so spannend, mein Kind?«, fragte Gretje ihre Tochter. Heiße Röte schoss Margaretha ins Gesicht, und sie senkte verschämt den Kopf.
»Ich habe heute Nachmittag Jan Scheuten getroffen.«
»Jan? Ist der nicht in Linn in der Lehre?«
»Er war. Sein Lehrherr ist gestorben, und jetzt ist er zurück in der Stadt.«
»Das wird seine Mutter sicher freuen. Nicht, dass der Lehrherr verstorben ist, sondern dass Jan zurück ist.« Gretje sah ihre Tochter verschmitzt an.
»Ich freue mich auch, dass er wieder hier ist«, sagte Margaretha leise. »Er ist nett.«
»Nett. So, so«, sagte die Mutter nachdenklich. Doch sie hatten das Haus der van Holtens erreicht, und nun waren andere Dinge wichtig. Gretje klopfte, die Magd öffnete ihnen. Katrinchen sah erschöpft, aber nicht mehr so verzweifelt aus wie in der letzten Nacht.
»Mevrouw op den Graeff, Goedenavond!« Sie trat zurück, ließ die beiden eintreten.
»Wie geht es Mevrouw van Holten?«
»Sie ist noch schwach, hat heute viel geschlafen.«
Gretje runzelte die Stirn. »Hat das Kind getrunken?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete die Magd leise. »Ich hatte alle Hände voll mit Mijnheer zu tun. Ihm ging es heute gar nicht gut.«
Margaretha verkniff sich ein Lächeln. Ihre Mutter ging entschlossen zur Treppe, stieg diese empor. Margaretha folgte ihr. Im Treppenhaus zog es, aber es roch nicht mehr säuerlich. Aus der Küche kam Bratenduft. Dorthin verzog sich auch die Magd wieder.
»Ist irgendetwas ungewöhnlich?«, fragte Margaretha.
»Das weiß ich noch nicht. Thilda hat viel Blut verloren, sie ist geschwächt. Und trotzdem muss das Kind trinken. Wir hätten früher kommen sollen.« Gretje klang besorgt. Sie öffnete die Tür zu der kleinen Kammer. Hier war es angenehm warm. Sie konnten das leise Wimmern des Säuglings hören, der in der Wiege neben dem Bett lag. Gretje zog ihren Mantel aus, legte ihn achtlos auf einen Stuhl, der neben der Kommode stand. Margaretha folgte dem Beispiel der Mutter. Auf der Kommode standen ein Krug und eine Waschschüssel. Gretje wusch sich die Hände mit einem Stück Seife, dass sie mitgebracht hatte. Die Seife kochte sie selbst, fügte beim letzten Verarbeitungsschritt Kräuter hinzu. Oft waren es Zusätze wie Walnuss oder Dost, manchmal auch Hopfen oder Kamille. Sie reichte Margaretha die Seife, trocknete sich die Hände ab und nahm dann das Kind aus der Wiege. Margaretha wusch sich auch die Hände. Manchmal ekelte sie sich vor dem strengen Geruch der Seife, aber ihre Mutter bestand auf dem Ritual.
»Shh, shh«, murmelte Gretje und legte das Kind Margaretha in den Arm.
»Was soll ich mit ihm machen?«, fragte Margaretha.
»Beruhige ihn ein wenig. Ich schau erst mal nach der Mutter.«
Thilda van Holten schlief. Sie hatte anscheinend gar nicht mitbekommen, dass die Hebamme da war. Gretje berührte die junge Frau sanft an der Schulter. Nur mühsam schaffte Thilda es, die Augen zu öffnen.
»Thilda?« Gretje legte ihr die Hand auf die Stirn, seufzte dann erleichtert. »Du hast kein Fieber, das ist gut. Wie geht es dir?«
»Ich bin so müde«, antwortete die junge Frau leise.
»Wann hast du dein Kind das letzte Mal gestillt?« Gretje schlug die Decke zurück. »Warst du schon deine Notdurft verrichten?«
»Ich war einmal kurz auf, aber mir ist so schwindelig geworden.«
»Und wann hast du das Kind angelegt?«
Thilda runzelte die Stirn. »Das weiß ich gar nicht mehr.«
»Wer hat es denn gewickelt?«
»Gewickelt?«, fragte die junge Frau hilflos.
»War deine Mutter heute hier? Deine Schwiegermutter?«
»Ich glaube schon, aber ich bin mir gar nicht sicher.«
Gretje seufzte wieder. »Hast du gegessen und getrunken?«
»Nur ein wenig Brot und Wasser. Ich bin so müde.«
»Margret, leg das Kind in die Wiege. Nimm die Kräuter und geh nach unten. Wir brauchen kochendes Wasser für einen Aufguss, warmes Wasser zum Waschen, Tücher, ein gutes Essen – etwas Kräftiges. Brühe ist auch gut. Und Wein, am besten Rotwein, der stärkt. Warmer Rotwein, nur warm, nicht kochend, mit einem frischen Ei verquirlt.«
Margaretha legte das Kind in das Bettchen, das Wimmern des Kindes steigerte sich zu einem Schreien. Ihr Herz zog sich zusammen, aber nun war erstmal wichtiger, Thilda zu Kräften zu bringen. Wenn es der Mutter schlecht ging, konnte sie sich nicht um das Kind kümmern. Margaretha kannte nur die Mutter von Thilda, diese jedoch nur flüchtig. Es verwunderte sie, dass Mevrouw Scheuten nicht bei ihrer Tochter war und ihr half. Die meisten Wöchnerinnenhaushalte wurden von den Müttern und Schwiegermüttern, den Nachbarn und Freunden geradezu überschwemmt. Jeder kam, half, brachte Speisen oder Getränke. Oftmals ging es laut und fröhlich zu. Hier jedoch herrschte eine Grabesstille, die fast schon beängstigend war, zumal beide Familien in der Straße wohnten.