Kaum zehn Minuten aus dem Knast, bricht Mitchell auch schon einem Punk den Arm. Als Geldeintreiber ist man nicht gerade zimperlich. Doch Mitchell will sein Leben ändern: solides Einkommen, nette Frau, Kinder vielleicht. Als ihm die Diva Lillian Palmer einen Job auf ihrem Anwesen in Notting Hill anbietet, sieht er seine Chance gekommen - die Lady ist versessen darauf, ihn mit Cash, Autos und Sex zu entlohnen. Mitch glaubt das Glück auf seiner Seite, doch jemand scheint andere Pläne für ihn zu haben, und seine Vergangenheit holt ihn schneller ein, als ihm lieb ist.

Ken Bruen, 1951 im irischen Galway geboren, promovierte am Trinity College in Dublin über Metaphysik, unterrichtete Englisch in Singapur, Japan, Südamerika und Saudi-Arabien, arbeitete als Wachmann, saß in Rio sechs Monate im Knast und war ein halbes Jahr lang mit einer griechischen Millionärstochter verheiratet. Seine mehr als dreißig Romane sind in über sechs Sprachen übersetzt worden. Für Jack Taylor fliegt raus erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis.

Conny Lösch lebt als Literaturkritikerin und Übersetzerin in Berlin. Sie hat Bücher u. a. von Simon Reynolds, Annie Sprinkle, Gail Jones, Ishmael Beah, Jon Savage, Warren Ellis und Don Winslow ins Deutsche übertragen.

KEN BRUEN

LONDON BOULEVARD

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Conny Lösch

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel

London Boulevard

bei The Do-Not Press Ltd.

© 2001 by Ken Bruen

Umschlagfoto: Valentino Sani/Trevillion Images

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Suhrkamp Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-74480-2

www.suhrkamp.de

Dieses Buch ist gewidmet:

USA

Bernadette Kennedy

Irland

Dr. Enda O’Byrne

ERSTER TEIL

Vorhang auf

Im Gefängnis habe ich gelernt: Kompulsiv ist, wenn man etwas immer wieder macht. Obsessiv, wenn man immer wieder an etwas denkt.

Natürlich habe ich auch noch ein paar andere Sachen gelernt. Die sind aber weniger eindeutig.

Nicht so klar definierbar.

Am Tag meiner Entlassung bat mich der Gefängnisdirektor zu sich.

Er saß über den Schreibtisch gebeugt und ließ mich warten. Studierte mit gesenktem Kopf Unterlagen, ein Vorbild an Beflissenheit. Da war eine kahle Stelle, wie bei Prinz Charles. Sie gab mir ein gutes Gefühl. Also konzentrierte ich mich darauf. Endlich sah er hoch und sagte:

»Mitchell?«

»Ja, Sir?«

Ich kannte das Spiel. Von der Freiheit trennte mich nur noch eine Zigarettenlänge. Da wurde ich nicht leichtsinnig. Dem Akzent nach kam er irgendwo aus dem Norden. Klang jetzt zwar geschliffen, aber nach wie vor quollen Yorkshire Pudding und der ganze Scheiß durch sämtliche Ritzen. Er fragte:

»Sie waren jetzt wie lange bei uns?«

Als ob er’s nicht wüsste. Ich meinte:

»Drei Jahre, Sir.«

Er hmmmte, als wollte er’s nicht so richtig glauben. Durchblätterte meine Akte und sagte:

»Die vorzeitige Entlassung auf Bewährung haben Sie abgelehnt.«

»Ich wollte meine Schuld in vollem Umfang absitzen, Sir.«

Der Schließer hinter mir schnaubte verächtlich. Zum ersten Mal sah mich der Gefängnisdirektor jetzt direkt an. Fixierte mich. Dann:

»Sagt Ihnen der Begriff Rückfallkriminalität etwas?«

»Sir?«

»Wiederholungstäter, die aufgrund einer Art Obsession immer wieder im Gefängnis landen.«

Ich lächelte müde, sagte:

»Ich glaube, Sie verwechseln obsessiv mit kompulsiv«, und erklärte ihm den Unterschied.

Er stempelte meine Papiere ab, sagte:

»Sie kommen wieder.«

Ich wollte erwidern: »Nur als Wiederholung im Nachmittagsprogramm«, hatte aber den Eindruck, dass er die Anspielung auf Arnie und den Terminator nicht kapieren würde. Am Tor meinte der Schließer:

»Keine gute Idee, dem blöd zu kommen.«

Ich hob die rechte Hand und sagte:

»Was habe ich sonst zu bieten?«

Ich stand draußen vor dem Gefängnis, wartete. Ich sah mich nicht um. Wenn das abergläubisch ist, kann ich’s auch nicht ändern. Beim Rumstehen, da auf der Caledonian Road, fragte ich mich, ob ich wie ein Sträfling aussah, ein entlassener Sträfling.

Verschlagen.

Ja, und zwielichtig. Das auch.

Ich war fünfundvierzig Jahre alt. Bei genau einsachtzig Körpergröße brachte ich 82 Kilo auf die Waage. Aber 1a durchtrainiert. Ich hatte im Fitnessraum rangeklotzt und einiges gestemmt. Hatte meinen Schweinehund besiegt und Endorphine freigesetzt. Ein natürliches Rauschgefühl. Scheiße, kann man so was im Bau überhaupt brauchen? Schwitzen bis du nicht mehr kannst und trotzdem weitermachen. Mein Haar war weiß, aber noch dicht. Meine Augen sind dunkel, wie meine Seele. Meine Nase fies gebrochen, was mein großzügiger Mund aber fast wieder wettmacht.

Großzügig!

Ich liebe diese Beschreibung. Eine Frau hatte mir das gesagt, als ich noch in meinen Zwanzigern war. Die Frau habe ich verloren, an dem Adjektiv aber festgehalten. Man muss retten, was zu retten ist.

Ein Transporter fuhr vor, hupte. Die Tür ging auf und Norton stieg aus. Wir standen einen Augenblick rum. War er mein Freund?

Ich weiß es nicht, aber er war da. Er tauchte auf, das reicht zum Freund. Ich sagte:

»Hey.«

Er grinste, kam rüber, umarmte mich. Einfach zwei Kerle, die sich draußen vor dem Gefängnis ihrer Majestät umarmen. Ich hoffte, der Direktor würde zusehen.

Norton ist Ire und undurchschaubar. Sind sie das nicht alle? Hinter dem vielen Gequatsche verbirgt sich immer was ganz anderes. Er hatte rote Haare, ein käsiges Gesicht und die Statur eines durchtriebenen Windhunds. Er sagte:

»Mann, Mitch, wie geht’s?«

»Bin raus, fein raus.«

Er ließ es sacken, schlug mir auf den Arm, sagte: »Fein raus ... schön gesagt. Gefällt mir ... Komm wir gehen. Gefängnisse machen mich nervös.«

Wir stiegen in den Transporter und er reichte mir eine Flasche Black Bush. Mit grüner Schleife. Ich sagte:

»Danke, Billy.«

Er wirkte fast schüchtern, sagte: »Ach, das ist gar nichts ... zur Entlassung ... gefeiert wird heute Abend ... und hier ...« Er zog ein Päckchen Dunhill aus der Tasche. Die Luxuskippen in der dunkelroten Schachtel, sagte:

»Hab mir gedacht, du kannst eine Aktive gebrauchen.«

Ich hatte das braune Paket dabei, das einem bei der Entlassung ausgehändigt wird. Als Norton den Motor anließ, sagte ich:

»Wart mal eine Sekunde«, und schleuderte das Paket weit weg.

»Was war das?«

»Meine Vergangenheit.« Ich öffnete den Bush, nahm einen langen, amtlichen Schluck. Er brannte. Wow, und wie. Bot Norton die Flasche an. Er schüttelte den Kopf.

»Nee, nicht beim Fahren.«

Was absurd war, weil er sowieso schon einen in der Krone hatte. Er war nie ganz nüchtern. Als wir Richtung Süden fuhren, laberte er von der Party. Ich klinkte mich aus.

Die Wahrheit ist, ich hatte ihn jetzt schon über.

Norton meinte: »Wir nehmen die landschaftlich schönere Strecke.«

»Von mir aus.«

Allmählich spürte ich, wie der Whiskey reinhaute. Alle mögliche abgefahrene Scheiße löst der bei mir aus, vor allem macht er mich unberechenbar. Nicht mal ich kann vorhersehen, wie sich das auswirkt.

Wir bogen an Marble Arch ab und natürlich wurde erst mal die Ampel rot. Ein Typ tauchte an der Windschutzscheibe auf und wischte mit einem schmutzigen Lappen drüber. Norton schrie:

»Diese scheiß Fensterputzer sind überall!«

Der Typ hier gab sich nicht die geringste Mühe. Zwei Mal schnell drübergewischt, und die Scheibe war voll mit Schmierstreifen. Dann stellte er sich zu mir ans Fenster und meinte:

»Vier Pfund, Alter.«

Ich lachte, kurbelte die Scheibe runter und sagte:

»Such dir lieber ein anderes Betätigungsfeld, mein Freund.«

Er hatte lange fettige Haare bis zu den Schultern. Sein Gesicht war schmal und der Blick der gleiche, den ich schon hundert Mal im Knast gesehen hatte. Der Blick eines drittklassigen Gauners. Er legte den Kopf in den Nacken und spuckte. Norton meinte:

»Gott, Allmächtiger.«

Ich rührte mich nicht, fragte:

»Hast du ein Montiereisen im Wagen?«

Norton schüttelte den Kopf:

»Mitch, um Himmels willen, nein.«

Ich sagte: »Okay.«

Und stieg aus.

Der Typ war überrascht, machte aber keinen Rückzieher. Ich packte seinen Arm und brach ihn über meinem Knie. Stieg wieder in den Transporter, die Ampel sprang um. Norton ließ den Motor aufheulen und schrie:

»Oh Gott, Mitch, du durchgeknalltes Arschloch. Du bist jetzt ... wie lange ...? Zehn Minuten draußen ... und schon geht’s wieder los. Du kannst nicht einfach so ausflippen.«

»Ich bin nicht ausgeflippt, Billy.«

»Dem Kerl den Arm zu brechen nennst du nicht ausgeflippt?«

»Wäre ich ausgeflippt, hätte ich ihm das Genick gebrochen.«

Norton warf mir einen ängstlichen Blick zu und sagte:

»Du machst Witze ... oder?«

»Wenn du meinst.«

Norton sagte: »Ich glaube, du wirst staunen, was für eine Wohnung ich für dich aufgetrieben hab.«

»Hauptsache in der Nähe von Brixton.«

»Clapham Common. Die Gegend ist sehr schick geworden, seitdem du ... weg warst ...«

»Ach, du Scheiße.«

»Nein, ist echt okay ... Gehörte jedenfalls einem Schriftsteller, der mit irgendwelchen Geldverleihern Ärger bekam, musste kurzfristig verschwinden. Hat alles da gelassen: Klamotten, Bücher ... bist fertig ausstaffiert.«

»Steht Joe noch am Oval, vor der U-Bahnstation?«

»Wer?«

»Der verkauft die Obdachlosenzeitung, The Big Issue.«

»Kenn ihn nicht.«

Wir näherten uns der Station. Ich sagte:

»Da ist er. Fahr ran.«

»Mitch ... willst du jetzt ne Zeitung kaufen oder was?«

Ich stieg aus, ging rüber. Joe hatte sich nicht verändert. Er war abgerissen, dreckig, gutgelaunt.

Ich sagte: »Hi, Joe.«

»Mitchell ... meine Güte, hab gehört, dass du gesessen hast.«

Ich drückte ihm einen Fünfpfundschein in die Hand, sagte:

»Gib mal ne Zeitung.«

Von Wechselgeld keine Rede. Er fragte:

»War’s schlimm da drin, Mitch?«

»Keine bleibenden Schäden.«

»Gut, Mann. Hast du was zu rauchen?«

Ich schenkte ihm das Päckchen Dunhill. Er begutachtete es, sagte:

»Gediegen.«

»Für dich nur das Beste, Joe.«

»Hast die Weltmeisterschaft verpasst.«

Und noch eine ganze Menge mehr. Ich fragte:

»Wie war’s?«

»Gewonnen haben wir nicht.«

»Ach.«

»Gibt ja noch Kricket.«

»Ja, klar, gibt’s auch noch.«

In drei Jahren Gefängnis verliert man

Zeit

Mitgefühl

Und: Man wundert sich über gar nichts mehr.

Als ich die Wohnung sah, war ich baff. Das komplette Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses. Wunderschön eingerichtet, sanfte Pastellfarben und die Wände voller Bücher. Norton stand hinter mir und beobachtete, wie ich reagierte.

Ich sagte: »Ach du Scheiße.«

»Ja, nicht schlecht, oder? Komm und guck dir den Rest an.«

Er führte mich ins Schlafzimmer. Doppelbett aus Messing. Er riss den Kleiderschrank auf, vollgepackt mit Klamotten. Wie ein Verkäufer im Laden sagte Norton:

»Hier hast du

Gucci

Armani

Calvin Klein -

und die ganzen anderen Pisser, deren Namen ich nicht aussprechen kann. Größen zwischen M und L.«

»M müsste passen.«

Wieder im Wohnzimmer, öffnete Norton den Barschrank.

Ebenfalls gut gefüllt. Er fragte:

»Was willst du?«

»Ein Bier.«

Er machte zwei auf, gab mir eins. Ich fragte:

»Kein Glas?«

»Niemand trinkt mehr aus Gläsern.«

»Ach.«

»Sláinte, Mitch, und willkommen zu Hause.«

Wir tranken. Das Bier schmeckte großartig. Ich gestikulierte mit der Dose, fragte:

»Wie eilig hat der Typ es gehabt, dass er alles zurücklassen musste?«

»Sehr eilig.«

»Will der Kredithai nichts von dem Zeug?«

Norton lächelte, sagte: »Die besten Stücke hab ich mir schon rausgesucht.«

Ich brauchte eine Minute. Lag wohl am Bier. Ich fragte:

»Du bist der Geldverleiher?« Breites Grinsen. Er war stolz, hatte drauf gewartet, sagte:

»Ist eine Firma - und wir hätten dich gern mit an Bord.«

»Ich glaub kaum, Billy.«

Er wurde fast überschwänglich.

»Hey, ich meine nicht sofort. Nimm dir Zeit, chill erst mal.«

Chillen.

Ich sagte nichts dazu, nur:

»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Billy. Das ist der Hammer.«

»Kein Ding. Wir sind Freunde ... richtig?«

»Richtig.«

»Okay, ich muss los. Die Party steigt um acht im Greyhound. Komm nicht zu spät.«

»Ich werde da sein. Danke noch mal.«

Briony hat sie nicht alle. Eine waschechte Irre. Ich hab in meinem Leben einige ernsthaft gestörte Frauen gekannt. Scheiße, ich war sogar mit ihnen zusammen gewesen, aber im Vergleich zu Bri waren das Paradebeispiele geistiger Gesundheit. Bris Mann starb vor fünf Jahren. Keine Riesentragödie, weil er ein Arschloch war. Die Tragödie besteht eher darin, dass sie nicht glaubt, dass er tot ist. Sie sieht ihn immer wieder auf der Straße, und was noch schlimmer ist, sie telefoniert mit ihm. Wie alle echten Verrückten hat sie aber klare Momente. Hin und wieder wirkt sie

rational

stringent

zurechnungsfähig

... und dann tickt sie aus. Völlig unvorbereitet überrascht sie einen mit einer atemberaubend wahnwitzigen Aktion.

Dazu kommt noch, dass sie mit ihrem betörenden Charme jeden verzaubert. Sie sieht aus wie Judy Davis, vor allem in dem Film von Woody Allen, wo sie mit Liam Neeson spielt. Ladendiebstahl ist ihr Hobby. Keine Ahnung, warum sie nie erwischt wird, sie ist unglaublich leichtsinnig. Bri ist meine Schwester. Ich rief sie an. Gleich beim ersten Klingeln ging sie dran, fragte:

»Frank?«

Ich seufzte. Frank war ihr Mann. Ich sagte:

»Ich bin’s, Mitchell.«

»Mitch ... Oh, Mitch ... du bist draußen.«

»Seit heute.«

»Ich ... ich freu mich so. Ich hab dir so viel zu erzählen. Darf ich dich heute Abend bekochen? Hast du Hunger? Haben die dir genug zu essen gegeben?«

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

»Ja ... Ja, mir geht’s gut ... hör zu, vielleicht lieber morgen.«

Schweigen.

»Bri ... bist du noch dran?«

»Willst du mich an deinem ersten Abend gar nicht sehen? Hasst du mich?«

Obwohl ich wusste, dass es ein Fehler war, erzählte ich ihr von der Party. Augenblicklich besserte sich ihre Laune, sie sagte:

»Ich bring Frank mit.«

Am liebsten hätte ich geschrien: »Du irre Schlampe, kapier’s endlich!« Aber ich sagte: »Okay.«

»Ach Mitch, ich bin so aufgeregt. Ich hab ein Geschenk für dich.«

Oh Gott.

»Wie auch immer.«

»Mitch ... darf ich dich was fragen?«

»Hm ... klar.«

»Haben die dich vergewaltigt? Mehr als einmal?«

»Bri, ich muss los, wir sehen uns später.«

»Tschüs, Baby.«

Ich legte auf. Wow, ich war völlig erledigt.

Ich durchstöberte den Kleiderschrank. Für jemanden, der drei Jahre lang nur Jeans und gestreifte Hemden getragen hat, war er eine einzige Schatzkammer.

Als Erstes zog ich einen Stapel Tommy Hilfiger raus. Packte das Zeug in eine Mülltüte. Der ganze Schlabberscheiß, vielleicht wurden die das bei Oxfam noch los. Da hing eine Lederjacke von Gucci, schön abgetragen. Die würde ich behalten. Jede Menge weiße T-Shirts von H&M: die Art, die Brando mit Die Faust im Nacken berühmt gemacht hatte. Die Typen im Knast würden für amerikanische Muskel-Shirts morden.

Keine Jeans.

Kein Problem.

Khakihosen von Gap, ein halbes Dutzend. Ein Blazer von French Connection und Sweatshirts von Benetton.

Ich weiß nicht, ob der Typ Geschmack hatte, aber Geld hatte er auf jeden Fall. Na ja, Geld vom Kredithai.

Eine Barbour-Jacke hing da und ein Regenmantel von London Fog. Kein Scheiß, jetzt war ich ein gegen alle Wetter gewappneter ehemaliger Knastbruder. Nur seltsam, dass nirgendwo Schuhe zu finden waren. Aber wollte ich mich beschweren? Einen Scheiß wollte ich. Ich hatte doch Schuhe.

Ich duschte heiß und trocknete mich mit drei Handtüchern ab. Aus einem Holiday Inn geklaut, deshalb waren sie weich und angenehm. Am liebsten hätte ich noch ein Bier getrunken, aber ich wusste, dass ich es besser langsam angehen ließ. Der bevorstehende Abend würde feucht und möglicherweise nicht besonders fröhlich werden. Wenigstens bei meinem Eintreffen sollte ich noch halbwegs nüchtern sein. Kurzer Blick auf die Bücher, eine ganze Wand mit Krimis. Ich entdeckte

Elmore Leonard

James Sallis

Charles Willeford

John Harvey

Jim Thompson

Andrew Vachss.

Und das war nur ein erster flüchtiger Blick. Wahnsinn! Vielleicht würde ich überhaupt nicht mehr weggehen. Mich einfach in den Krimis vergraben.

Ich zog ein T-Shirt an, eine Khakihose und die Lederjacke. Prüfte meinen Look im Spiegel. Als Phil-Collins-Roadie würde ich ohne weiteres durchgehen. Dachte: »Wenn ich Geld hätte, wäre ich echt gefährlich.«

Auf dem Weg durch Clapham Common lächelte mich eine Frau an. Ich wusste, das lag an der Jacke. In Old Town, der Hauptverkehrsstraße, hatte es früher einen einwandfrei korrekten Imbiss gegeben. Es gab ihn immer noch. Einer von den Läden, in denen man nur drei verschiedene Gerichte bekommt, obwohl dreißig auf der Karte stehen.

Für einen ehemaligen Sträfling gibt es kaum was Schöneres, als alleine zu essen. Ich besetzte einen Tisch und genoss es, ihn für mich zu haben. Wusste genau, was ich bestellen wollte.

Einen Alptraum aus Kohlehydraten, eine neonbeleuchtete, medizinisch bedenkliche Riesenportion.

Nämlich:

Zwei Würstchen

Gebratener Speck

Gebratene Tomaten

Eier

Blutwurst

Toast

Eine Kanne Tee

Oh ja.

Am Tisch neben mir saß ein komischer alter Kauz. Beäugte mich. Hatte die Visage einer »Type« und benahm sich auch entsprechend. So einer hieß grundsätzlich Alfred.

Natürlich liebten ihn alle. Alfred saß im Pub garantiert immer in derselben Ecke und hatte seinen eigenen Zinnkrug dort geparkt.

Der Schrecken eines jeden neuen Barmanns.

Mein Essen kam und er fragte:

»Das Essen, mein Sohn ... weißt du, wo das herkommt?«

Ohne den Kopf zu heben, sagte ich:

»Ich hab das Gefühl, Sie werden’s mir gleich verraten.«

Er stutzte, was ihn aber nicht davon abhielt, weiterzuquatschen. Er sagte:

»Großer Kerl wie Sie, sollte Kartoffeln essen.«

Ich hob den Kopf, sah ihn an, sagte:

»Alter Sack wie Sie, sollte sich um seinen eigenen Scheiß kümmern.«

Danach hielt er die Klappe.

Ich gab mir Mühe, nicht zu schlingen. Jetzt, wo ich draußen war, musste ich mich an alles neu gewöhnen. Als ich fertig war, ging ich bezahlen. Im Vorbeigehen machte ich vor Alfred Halt, sagte:

»War nett, mit Ihnen zu plaudern.«

Ich ging zu Fuß bis Streatham und dort zur Bank. Ich war nicht sicher, wie viel Geld ich hatte, weil die keine Kontoauszüge ins Gefängnis schicken.

Eigentlich sollten sie die Banker hinschicken, die hätten es verdient.

Ich füllte einen Auszahlungsschein aus und stellte mich an. Es dauerte ewig, aber wie man Zeit totschlägt, wusste ich ja.

Die Kassiererin war freundlich auf diese belanglose Geldgeschäfteart. Ich schob ihr den Schein zu, sie gab was in den Computer ein, sagte:

»Oh.«

Ich sagte nichts. Sie sagte:

»Das ist ein inaktives Konto.«

»Jetzt nicht mehr.«

Sie warf mir einen entsprechenden Blick zu. Mit der Lederjacke konnte ich bei ihr offenbar keinen Eindruck schinden. Sie sagte:

»Ich muss das prüfen.«

»Tun Sie das.«

Hinter mir seufzte jemand, fragte:

»Dauert’s noch lange?«

Ich schenkte ihm ein Sparkassenlächeln, antwortete:

»Keine Ahnung.«

Die Kassiererin kehrte mit einem Anzugmann zurück. Mr. Akurat sagte:

»Mr. Mitchell, wenn Sie so freundlich wären, mich an meinen Schreibtisch zu begleiten.«

Ich war so freundlich. Ich setzte mich und betrachtete seinen Schreibtisch. Auf einem Schild wurde behauptet:

Wir kümmern uns um Sie!

Er machte, was Bankangestellte so machen, dann:

»Mr. Mitchell, ihr Konto ist seit drei Jahren inaktiv.«

»Ist das verboten?«

Das brachte ihn aus dem Konzept.

Als er sich wieder erholt hatte:

»Ach nein ... nur äh ... Augenblick bitte ... einschließlich der Zinsen sind Ihnen zwölfhundert Pfund gutgeschrieben.«

Ich wartete. Er fragte:

»Ich nehme an, Sie möchten das Konto reaktivieren?«

»Nein.«

»Mr. Mitchell, darf ich Ihnen eine günstige Anlagemöglichkeit empfehlen? Wir haben sehr attraktive Angebote für Kleinsparer.«

»Geben Sie mir mein Geld.«

»Äh ... selbstverständlich ... möchten Sie das Konto auflösen?«

»Lassen Sie ein Pfund drauf ... weil ihr euch so toll kümmert.«

Ich bekam mein Geld, aber keinen warmen Händedruck und auch kein freundliches Auf Wiedersehen.

Von wegen kümmern.

Party Time. Ich hatte ein Nickerchen gehalten und schreckte aus dem Schlaf hoch. Mein Herz wummerte und Schweiß floss mir in Strömen den Rücken runter. Nicht weil ich dachte, ich sei immer noch im Gefängnis, sondern weil ich wusste, dass ich es nicht mehr war. Im Knast hatten sie mich vorgewarnt:

»Nichts macht einem mehr Angst, als draußen zu sein.«

Wahrscheinlich wandern deshalb so viele zurück in den Bau.

Laut schwor ich mir: »Scheiße, ich nicht.«

Ich machte hundert Sit-ups und hundert Liegestütze und spürte, wie sich die Panik legte.

Die Küche war ausgezeichnet mit Vorräten bestückt.

Kein Porridge, Gott sei dank. Ich trank O-Saft und aß angebrannten Toast. Es gab eine Mikrowelle und ich knallte mir einen Kaffee rein. Schmeckte scheiße, aber genau das war ich gewohnt. Stellte mich unter die Dusche, rasieren fiel aus. Sollte der Dreitagebart doch wachsen.

Was konnte im schlimmsten Fall passieren?

Dass ich aussah wie der Vater von George Michael.

Benutzte ein Deo von Calvin Klein. Auf dem Etikett stand: Alkoholfrei. Hey, bringt also nichts, einen Schluck zu probieren.

Setzte mich einen Augenblick und drehte eine. Den Bogen hatte ich raus, hätte auch einhändig drehen können. Hätte ich auch noch gewusst, wie man ein Streichholz an den Zähnen anreißt, wäre ich der Größte gewesen.

Einmal die Plattensammlung durchstöbern. Seltsam, trotz der supermodernen Einrichtung war die CD-Revolution an dem Mann völlig vorbeigegangen. Er hatte nur entweder richtige Alben oder Kassetten. Mit mir ging das klar.

Legte Trisha Yearwood auf. Ein Stück namens »Love Wouldn’t Lie to Me.«

Hörte es mir zweimal an.

Ich stamme aus dem Südosten Londons. Wörter wie »schön« benutzen wir nicht, es sei denn, es geht um Autos oder Fußball. Und auch dann nur in Gegenwart von Personen, die wir richtig gut kennen.

Dieser Song war wunderschön. Er löste Gefühle in mir aus wie

Sehnsucht

Wehmut

Reue.

Scheiße, wenn das so weitergeht, fange ich noch an, Frauen zu vermissen, die ich nie kennengelernt habe. Vielleicht ist das so ein »Mittvierzigerding«.

Ich schüttelte mich. Zeit, ein bisschen auf die Kacke zu hauen. Zog eine von den Gap-Hosen an - saß sehr eng an der Taille, aber hey, solange ich nicht atmete, war alles in Ordnung. Ein weißes T-Shirt und den Blazer.

Sah einwandfrei aus.

Wie ein Magnet für Straßenraubanfänger.

Das Album lief noch und Trisha sang ein zauberhaftes Duett mit Garth Brooks.

Ich musste sie abwürgen.

Kein Zweifel, Musik verdreht einem den Kopf.

Ein unbedeutender, isolierter Vorfall kann zum Auslöser einer unberechenbaren Kette von Ereignissen werden. Man glaubt, man trifft Entscheidungen, dabei fügen sich nur die Einzelteile zu einem längst vorherbestimmten Ganzen.

Tiefgründig, hm?

Ich fuhr mit der U-Bahn zum Oval. Die Northern Line - wie immer zum Aus-der-Haut-Fahren. Zwei schmuddelige Straßenmusikanten massakrierten »The Streets of London«. Ich steckte ihnen was zu, in der Hoffnung, dass sie aufhörten.

Taten sie nicht.

Kaum waren sie fertig, fingen sie noch mal von vorne an. Als ich aus der U-Bahnstation kam, stand Joe mit The Big Issue da. Ich fragte:

»Bock auf Party, Joe?«

»Meine Party ist hier, Mitch.« Was soll man dazu sagen?

Auf der anderen Straßenseite fuhr ein Aston Martin vor der St. Mark’s Cathedral vor. Eine junge Frau stieg aus. Zwei Gestalten traten aus dem Schatten der Bäume vor der Kirche. Das waren keine Obdachlosen, sondern das, was Andrew Vachss als »Wadenbeißer« bezeichnet hat: Abschaum. Sie belästigten die Frau. Ich überlegte, ob ich eingreifen sollte. Ich wollte den Blazer nicht ruinieren. Joe meinte:

»Mach schon, Mitch.«

Ich überquerte die Straße. Die beiden zogen das komplette urbane Überfallprogramm durch.

Einer vorne, der das Gequatsche übernahm, der andere hinter ihr, bereit zuzuschlagen.

Ich schrie:

»Yo, Männer!«

Alle drei drehten sich um. Die Angreifer waren Anfang zwanzig, weiß und widerlich.

Der Erste sagte:

»Was willst du, Wichser?«

Der Andere:

»Verpiss dich, Arschloch.«

Aus der Nähe sah ich, dass einer von beiden eine Frau war, ein Mädchen. Ich sagte:

»Lasst die Lady in Ruhe.«

Der Erste zog Rückschlüsse aus meinem Blazer, allerdings die falschen, kam näher und sagte:

»Was willst du machen, wenn nicht, Arschgesicht?«

Ich sagte:

»Das hier.«

Und rammte ihm meinen Zeigefinger ins rechte Auge. Auf dem Hof ist das ein ganz normales Manöver. Wenn man es ernst meint, geht dabei ein Augapfel flöten.

War nicht ernst gemeint. Tat aber trotzdem weh wie nichts Gutes. Ich näherte mich dem Mädchen und sagte:

»Ich brech dir die Nase.«

Es rannte weg.

Die Frau, das Beinahe-Opfer, starrte mich einfach nur an. Ich sagte:

»Kein klug gewählter Parkplatz.«

Ich überquerte erneut die Straße und hörte Musik aus dem Greyhound.

Betete, dass es nicht »The Streets of London« war.

Die Kneipe war gerammelt voll. Auf einem Transparent über der Bar stand:

WILLKOMMEN ZU HAUSE MITCH

Norton, der einen Anzug von Armani trug, begrüßte mich herzlich:

»Hier, willst du einen Revolver?«

»Was?«

»Ist ein Cocktail.«

»Was ist da drin?«

»Was soll drin sein außer Black Bush, zwei Spritzern Cointreau und Ginger Ale?«

»Danke Billy, aber ich nehm lieber ein Bitter.«

Verschiedene zweitklassige Verbrecher kamen auf mich zu und schüttelten mir die Hand.

Die erste Liga blieb sitzen in der Erwartung, dass ich sie ansprach.

Was ich tat.

Die Party war das, was Dominick Dunne als »Rattenorgie« bezeichnet. Zu viele Leute. Alle möglichen Jobs wurden einem versprochen, gefolgt von »Wir telefonieren«-Gesten. Ich entdeckte Tommy Logan, einen aufstrebenden Drogenbaron, fragte:

»Tommy, kann ich dich kurz sprechen?«

»Natürlich, Junge.«

Er war halb so alt wie ich. Er sagte:

»Siehst fit aus.«

»Fragt sich wozu, hm?«

Wir lachten höflich. Ich sagte:

»Du musst mir einen Gefallen tun, Tommy.«

Er schob mich ans Ende des Tresens. Außer Hör- und möglichst auch Reichweite. Ich holte tief Luft, sagte:

»Ich brauche Stoff.«

Es gehörte zu Tommys Geschäft, sich niemals anmerken zu lassen, was er fühlte oder dachte.

Jetzt wirkte er fast erstaunt, sagte:

»Hätte nicht gedacht, dass du an der Nadel hängst.«

»Ist eine einmalige Sache, für einen Freund.«

»Mann, Mitch, genau das ist der Knackpunkt ... nur einmal.«

Er war kurz davor, mir einen Vortrag zu halten. Ich kam sofort zum Wesentlichen, fragte:

»Kannst du’s beschaffen? Ich brauch auch Besteck. Spritze ... so was.«

»Klar, bis Ladenschluss hab ich das Zeug.«

Er schüttelte den Kopf, dann:

»Ich mag dich, Mitch, deshalb sage ich nur eins: Take it easy.«

»Iris DeMent hat einen Song geschrieben, der heißt ›Easy‹.«

»Wer?«

Briony traf ein und sah aus wie eine strahlend schöne Pennerin. Trug irgendeinen Designer-Müllsack. Sie umarmte mich innig, fragte:

»Gefällt dir mein Kleid?«

»Äh ...«

»Hab’s bei Vivienne Westwood mitgehen lassen.«

Bevor ich etwas entgegnen konnte, fragte sie:

»Mitch, wie wär’s mit einer Glock?«

»Hab grad einen Revolver abgelehnt.«

Sie wirkte enttäuscht, sagte:

»Ist eine 9mm.«

»Scheiße, Bri, du meinst das ernst.«

Sie griff in ihre Handtasche, sagte:

»Ich zeig sie dir.«

Ich packte ihre Hand, beschwor sie:

»Um Gottes willen, zieh hier bloß keine Waffe ... Ich hol sie mir später, okay?«

»Okay, Mitch.«

Norton schrie:

»Bri, was trinkst du?«

»Einen Harvey Wallbanger.«

Eine Frau kam in die Kneipe. Es war die Lady mit dem Aston Martin. Ich sagte zu Bri:

»Entschuldige mich kurz.«