Inhalt

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Impressum

Cover

Ilona Andrews

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DIE DUNKLE FLUT

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Jochen Schwarzer

 

Gewidmet dem Andenken an David Gemmell

Kapitel 1

Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Die Woge der Magie war auf dem Höchststand, daher hätte das Telefon gar nicht funktionieren dürfen, aber es klingelte dennoch, immer und immer wieder, empört, dass es nicht beachtet wurde, bis ich schließlich abnahm.

»Nnnja?«

»Raus aus den Federn, Kate!« Die sonore, kultiviert klingende Stimme am anderen Ende deutete auf einen schlanken, eleganten, gut aussehenden Mann hin – all das, was Jim nicht war. Zumindest nicht in seiner Menschengestalt.

Ich öffnete die Augen gerade so weit, dass ich einen kurzen Blick auf die mechanische Uhr am anderen Ende des Zimmers werfen konnte. »Es ist zwei Uhr früh. Manche Leute schlafen um diese Uhrzeit.«

»Ich habe einen Job für uns«, sagte Jim

Mit einem Schlag saß ich hellwach im Bett. Ein Job – das war gut, ich brauchte dringend Geld. »Die Hälfte.«

»Ein Drittel.«

»Die Hälfte.«

»Fünfunddreißig Prozent.« Jims Stimme bekam einen harten Klang.

»Die Hälfte.«

Am anderen Ende herrschte Schweigen. Mein ehemaliger Gildenpartner dachte nach. »Also gut. Vierzig Prozent.«

Ich legte auf. Im Schlafzimmer war es still. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und durch das Gitter vor dem Fenster fiel Mondschein herein. Das Mondlicht wirkte als Katalysator und ließ, wo der Silberanteil der Legierung mit dem magischen Wehr reagierte, eine bläuliche Patina über die Gitterstäbe glimmen. Hinter dem Gitter schlief die Stadt, Atlanta, dunkel und trügerisch friedlich, wie ein Ungetüm aus einer Legende. Wenn die Woge der Magie erst vorüber war, würde dieses Ungeheuer wieder erwachen – als aufleuchtendes Lichtermeer, von dem ab und an Schüsse herüberhallten.

Gegen Kugeln war mein Wehr nicht gefeit, aber den Wahnsinn der Magie hielt es aus meinem Schlafzimmer fern, was für den Anfang ja auch schon ganz okay war.

Das Telefon meldete sich erneut. Ich ließ es zweimal klingeln, dann nahm ich ab.

»Also gut«, knurrte Jim. »Halbe-halbe.«

»Wo bist du?«

»Auf dem Parkplatz unter deinem Fenster.«

Er rief also von einem Münzfernsprecher an, der ebenfalls nicht hätte funktionieren dürfen. Ich schnappte mir meine Klamotten, die für derlei Gelegenheiten neben dem Bett bereitlagen. »Worum geht’s denn?«

»Um irgend so einen Feuerteufel.«

Eine Dreiviertelstunde später tappte ich durch eine Tiefgarage. Da die Magie das elektrische Licht ausgeknipst hatte, konnte ich die Hand vor Augen nicht sehen.

In den stockdunklen Tiefen der Garage leuchtete ein Feuerball auf. Lodernd und tosend schoss er auf mich zu. Ich sprang hinter einen Betonpfeiler, den Griff meines Wurfmessers in der schweißnassen Hand. Hitze umhüllte mich. Für einen Moment verschlug es mir den Atem, und dann raste das Feuer an mir vorbei und zerstob an der nächsten Mauer in tausend Funken.

Aus den Tiefen der Garage erklang schadenfrohes, meckerndes Gelächter. Ich spähte hinter dem Pfeiler hervor. In der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Wo blieb die Technik, wenn man sie mal brauchte?

Hinter der nächsten Pfeilerreihe hob Jim eine Hand und ahmte mit Daumen und Zeigefinger pantomimisch einen schnatternden Schnabel nach. Er wollte, dass ich diesen Wahnsinnigen, der bereits vier Menschen in qualmende Fleischklumpen verwandelt hatte, in ein Gespräch verwickelte. Okay. Nichts leichter als das.

»Also gut, Jeremy!«, rief ich in die Dunkelheit. »Du gibst mir jetzt den Salamander! Und ich schlag dir dafür nicht den Kopf ab!«

Jim hielt sich eine Hand vors Gesicht und bebte. Es sah aus, als lachte er, aber sicher konnte ich mir da nicht sein, denn im Gegensatz zu ihm verfügte ich über kein sehr gutes Nachtsichtvermögen.

Jeremys meckerndes Gelächter steigerte sich ins Hysterische. »Halt die Schnauze, dumme Fotze!«

Jim löste sich von dem Pfeiler und verschwand, Jeremys Stimme folgend, in der Finsternis. Bei schwachem Licht sah er besser als ich, doch in vollkommener Dunkelheit ließ auch seine Sicht ihn im Stich. Dann musste er sich auf sein Gehör verlassen, und das bedeutete, dass ich Jeremy am Reden halten musste. Und während sich Jim an Jeremys Stimme heranpirschte, pirschte sich Jeremy an mich heran.

Kein Grund zur Panik, schließlich war er ja bloß ein mordgieriger Pyromane, der mit einem Salamander in einer verzauberten Glaskugel bewaffnet und darauf aus war, das, was von Atlanta noch stand, auch noch niederzubrennen.

»Also bitte, Jeremy. Dein Wortschatz lässt wirklich zu wünschen übrig. Es gibt so viele schöne Schimpfnamen, mit denen du mich belegen könntest, und das Beste, was dir einfällt, ist ›dumme Fotze‹? Gib mir lieber den Salamander, eh du dir noch wehtust.«

»Du kannst mich mal, du … Nutte!«

Links flammte ein Funke auf. Er schwebte in der Dunkelheit und beleuchtete das schuppige Maul des Salamanders und Jeremys Hände, die die Glaskugel umklammert hielten. Das Zauberglas tat sich auf und entließ den Funken. Als die darin geballte Energie auf Luft traf, wuchs der Funke zu einem Feuerball.

Ich warf mich wieder hinter den Pfeiler, und das Feuer brandete an den Beton. Beiderseits schossen Flammen vorüber. Beißender Schwefelgestank.

»Der ging ja meilenweit vorbei! Das war ja genau so ein Blindgänger, wie du selbst einer bist, Jeremy!«

»Friss Scheiße und stirb!«

Jim musste mittlerweile ganz nah an ihm dran sein. Ich trat hinter dem Pfeiler hervor. »Komm doch her, Schwachkopf! Kriegst du denn gar nichts auf die Reihe?«

Ich sah Flammen, hechtete zur Seite und rollte mich auf dem Boden ab. Über mir heulte das Feuer wie ein wütendes Tier. Der Messergriff verbrannte mir die Finger. Die Luft in meiner Lunge glühte, und mir tränten die Augen. Ich drückte mein Gesicht an den staubigen Beton und hoffte, dass es nicht noch heißer würde, und dann war es mit einem Mal vorbei.

Jetzt reichte es mir. Ich sprang auf und stürzte in Jeremys Richtung. Der Salamander in der Kugel leuchtete auf. Ich sah Jeremys Grinsen über der Glaskugel. Es verschwand schlagartig, als sich Jims dunkle Hände um Jeremys Hals schlossen. Der sank, schlaff wie eine Lumpenpuppe, in sich zusammen, und die Kugel kullerte aus seinen geschwächten Händen …

Ich hechtete danach und fing sie eine Handbreit über dem Betonboden auf. Dann fand ich mich Auge in Auge mit dem Salamander wieder. Rubinrote Augen betrachteten mich mit mäßigem Interesse, schwarze Lippen teilten sich, und eine lange, fadenschlanke Zunge glitt aus dem Maul und leckte über das gläserne Spiegelbild meiner Nase. Ja, du bist mir auch sehr sympathisch.

Vorsichtig erhob ich mich, erst auf die Knie, dann auf die Füße. Nun drang die Aura des Salamanders auf mich ein, bemüht, gefällig zu sein, wie ein verschmustes Kätzchen, das einem den Buckel entgegenreckte, damit man es streichelte. Visionen von Flammenmeeren und Hitzewogen kamen mir in den Sinn. Lass uns irgendwas abfackeln … Schnell drängte ich diesen Einfluss aus meinem Hirn.

Jim ließ Jeremy los, und der Feuerteufel sank wie ein nasser Sack zu Boden. Das Weiße seiner Augen starrte aus seinem ausdruckslosen Gesicht an die Decke, vom Tod kalt erwischt. Dem musste man nicht mehr den Puls fühlen. Mist. Damit war die Fangprämie zum Teufel.

»Du hast doch gesagt, lieber lebend als tot«, murmelte ich. Lebend wäre Jeremy viel mehr wert gewesen. Wir würden zwar dennoch das Kopfgeld kassieren, aber Jim hatte soeben ein Drittel der Summe in den Wind geschossen.

»Stimmt.« Jim drehte die Leiche auf die Seite, sodass wir den Rücken sahen. Zwischen Jeremys Schulterblättern ragte ein dünner Metallbolzen hervor, der am Ende mit drei schwarzen Federn versehen war. Ehe mein Hirn klären konnte, was das bedeuten mochte, hatte ich mich schon zu Boden geworfen, den Salamander mit sicherem Griff in den Händen. Jim gelang es irgendwie, sogar noch schneller in Deckung zu gehen.

Wir starrten in die Dunkelheit. Stille.

Jemand hatte unsere Zielperson mit einer Armbrust erschossen. Dieser Jemand hätte genauso gut auch uns beide umnieten können. Wir hatten mindestens vier Sekunden lang bei der Leiche gestanden. Das war mehr als genug Zeit, um zwei weitere Bolzen abzuschießen. Ich berührte Jim und legte mir dann einen Finger an die Nase. Er schüttelte den Kopf. Bei dem Schwefelgestank, der hier in der Luft hing, war sein Geruchssinn überfordert. Ich lag reglos da und atmete flach. Jetzt galt es, die Ohren zu spitzen.

Eine Minute verging, eine Minute, die sich ewig hinzuziehen schien und in der alles still blieb. Dann erhob sich Jim ganz langsam, ging in die Hocke und wies mit einer Kopfbewegung nach links. Ich hatte vage das Gefühl, dass sich der Ausgang eher rechts befand, traute aber in dieser Dunkelheit, in der uns womöglich immer noch der unbekannte Armbrustschütze auflauerte, eher Jims Sinnen als meinen.

Jim warf sich den toten Jeremy über die Schulter, und dann brachen wir auf, geduckt und schnell, er voran und ich, die kaum etwas sah, hinterher. Betonpfeiler rauschten vorüber – einer, zwei, drei, vier. Dann kehrte mit einem Schlag die Technik zurück, und ehe ich meinen eben erhobenen Fuß wieder absetzen konnte, wich die Magie aus der Welt. Die Leuchtstoffröhren an der Decke sprangen an und tauchten die Tiefgarage in schummriges Kunstlicht. Drei Meter vor uns klaffte das dunkle Rechteck des Ausgangs. Jim hechtete hinein. Ich sprang nach links, hinter den nächsten Pfeiler. Der Salamander in der Glaskugel hatte aufgehört zu leuchten und schlief ein. Er sah nun aus wie ein harmloser schwarzer Lurch. Meine tolle Fernwaffe machte einfach so schlapp.

Ich setzte die Kugel auf dem Boden ab und zog Slayer aus der Scheide. Diese Salamander wurden sowieso völlig überschätzt.

»Er ist weg«, sagte Jim und wies hinter mich.

Ich sah mich um. Am anderen Ende war die Betonmauer an einer Stelle eingestürzt und gab den Blick auf einen schmalen Durchgang frei, der wahrscheinlich zur Straße hinaufführte. Jim hatte recht. Wenn der Armbrustschütze uns hätte umlegen wollen, hätte er dazu wahrhaftig genug Zeit gehabt.

»Dann hat er also unsere Zielperson aus dem Hinterhalt erschossen und ist anschließend abgehauen?«

»Sieht ganz so aus.«

»Das versteh ich nicht.«

Jim schüttelte den Kopf. »Wenn du dabei bist, passieren doch immer seltsame Sachen.«

»Den Job hast du aufgetan, nicht ich.«

Über der Ausgangstür sprühten Funken, und ein grünes EXIT-Schild sprang an.

Jim starrte es einen Moment lang an, und auf seinem Gesicht erschien ein katzenhafter Ausdruck, eine Mischung aus Empörung und Fatalismus, dann schüttelte er erneut den Kopf.

»Ich kriege aber den Bolzen, den er im Rücken hat«, sagte ich.

»Gern.«

Jims Pieper meldete sich. Er sah nach, und eine mir allzu bekannte, maskenhaft-ausdruckslose Miene überschattete sein Gesicht.

»Oh, nein, bitte nicht! Ich kann ihn nicht alleine tragen!«

»Das Rudel ruft.« Er lief hinaus.

»Jim!«

Ich verkniff es mir, ihm irgendetwas hinterherzuschleudern. Es geschah mir ja eigentlich ganz recht, wenn ich mit einem Mitglied des Rudelrats so einen Auftrag übernahm. Denn es war ja nicht so, dass Jim kein guter Freund war. Aber für einen Gestaltwandler ging das Rudel nun mal immer vor. Auf einer Skala von eins bis zehn stand das Rudel auf elf und alles andere auf eins.

Ich sah zu dem mausetoten Jeremy hinüber, der wie ein Sack Kartoffeln auf dem Boden lag. Er wog schätzungsweise um die siebzig Kilo. Ich konnte unmöglich gleichzeitig ihn und den Salamander forttragen. Und ebenso unmöglich konnte ich den Salamander dort unbeaufsichtigt zurücklassen. Die Magie konnte jederzeit wiederkehren und den kleinen Lurch erneut zum Glühen bringen. Außerdem war der Heckenschütze womöglich noch ganz in der Nähe. Ich musste da weg, und zwar schnell.

Jeremy und der Salamander – beide waren jeweils vier Riesen wert. Ich arbeitete nicht mehr oft für die Gilde, und derart fette Jobs kamen mir nur selten unter. Auch nachdem ich das Kopfgeld fifty-fifty mit Jim geteilt hatte, konnte ich davon zwei Monate meine Hypothekenraten bezahlen. Bei der Vorstellung, viertausend Dollar dort auf dem Boden liegen zu lassen, packte mich ein geradezu körperlicher Widerwille.

Ich sah Jeremy an. Ich sah den Salamander an. Immer diese Entscheidungen.

Der Kopfgeldbuchhalter der Söldnergilde, ein kleiner, schlanker, dunkelhaariger Mann, starrte Jeremys Kopf auf dem Tresen an. »Wo ist denn der Rest von dem?«

»Ich hatte da ein kleines logistisches Problem.«

Er lächelte breit. »Jim hat dich im Stich gelassen, stimmt’s? Das macht dann also nur einen Fangschein?«

»Nein, zwei.« Jim hatte sich mir gegenüber ja vielleicht mies verhalten, aber ich würde ihn nicht um seinen Anteil bescheißen. Er würde seinen Fangschein bekommen, der ihn dazu berechtigte, seine Hälfte des Kopfgelds einzustreichen.

»Na, wenn du meinst.« Er knallte mir einen Stapel Formulare auf den Tresen. »Bitte ausfüllen.«

Dieser mindestens zwei Zentimeter dicke Papierstapel versprach, mich locker eine Stunde lang zu beschäftigen. Die Gilde selbst hatte recht laxe Regeln – da es sich dabei um einen Zusammenschluss von Söldnern handelte, achtete sie fast nur darauf, dass die Kohle stimmte –, doch so ein Todesfall musste der Polizei gemeldet werden, und das brachte eine Menge Formalitäten mit sich.

Ich bedachte das oberste Formular mit einem bösen Blick. »Das R-20 muss ich aber nicht ausfüllen.«

»Stimmt, du arbeitest ja jetzt für den Orden.« Der Buchhalter nahm die obersten acht Seiten wieder fort. »So, bitte schön, eine kleine Erleichterung für unsere VIP

»Juhu!« Ich griff mir den Papierstapel.

»Ach, übrigens, Kate, ich wollte dich was fragen.«

Und ich wollte die Formulare ausfüllen und heim ins Bett. »Schieß los.«

Er griff unter den Tresen. Die Söldnergilde residierte in einem ehemaligen Sheraton-Hotel am Rande von Atlanta-Buckhead, und dieser Tresen hatte damals zu einer Hotelbar gehört. Der Buchhalter holte eine dunkelbraune Flasche hervor und stellte sie mit einem Glas vor mich hin.

»Äh, danke, aber ich steh nicht so auf geheimnisvolle Liebestränke.«

Er lachte. »Das ist Hennessy. Cognac. Sehr guter Stoff. Ich wollte dir nur etwas zu trinken anbieten.«

»Danke, aber ich trinke nicht.« Nicht mehr jedenfalls. Bei mir daheim hatte ich für den äußersten Notfall immer noch eine Flasche Boone’s Farm Sangria im Schrank, aber Hochprozentiges kam überhaupt nicht infrage. »Was wolltest du mich fragen?«

»Wie ist es denn so, für den Orden zu arbeiten?«

»Willst du wechseln?«

»Nö, ich bin hier ganz zufrieden. Aber ich habe einen Neffen. Und der will Ritter werden.«

»Wie alt?«

»Sechzehn.«

Bestens. Der Orden hatte sie gern so jung. In dem Alter ließen sie sich noch leicht einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich nahm mir einen Stuhl. »Ein Glas Wasser würde ich schon trinken.«

Er brachte mir das Wasser, und ich trank einen Schluck. »Der Orden macht im Grunde das Gleiche wie wir: Sie entsorgen magisches Gefahrengut jeder Art. Mal angenommen, man hat nach einer Magiewoge eine Harpyie bei sich im Baum sitzen. Dann ruft man als Erstes die Polizei.«

»Wenn man dumm ist«, sagte der Buchhalter und grinste.

Ich zuckte die Achseln. »Die Polizei wird einem sagen, dass sie gerade voll ausgelastet ist – mit einem Riesenwurm, der drauf und dran ist, ein ganzes Gerichtsgebäude zu verschlingen. Sie wird einem sagen, dass man sich von der Harpyie fernhalten soll und dass sie kommen, sobald sie können. Das übliche Blabla. Dann ruft man bei der Gilde an. Warum sollte man so lange warten, wenn ein paar Söldner für dreihundert Dollar kurzen Prozess mit der Harpyie machen und anschließend dem kleinen Sohnemann auch noch eine hübsche Schwanzfeder für seine Mütze schenken. Nicht wahr?«

»Stimmt.«

»Aber wenn man nun nicht einfach so dreihundert Dollar übrig hat … Oder wenn es sich um einen Kode zwölf handelt – eine Sache, die zu haarig ist, als dass die Gilde sich darum kümmern könnte … Und da hockt immer noch diese Harpyie im Baum, und man will, dass sie verschwindet. Dann ruft man beim Orden an, denn man hat gehört, dass die nicht so viel Geld dafür verlangen. Sie bitten dich, in ihre Niederlassung zu kommen, und da sprichst du dann mit einem netten Ritter, der deine Einkommenssituation durchcheckt und dir anschließend die gute Nachricht überbringt: Da sie ermittelt haben, dass du dir mehr nicht leisten kannst, werden sie dir dafür nur fünfzig Dollar berechnen. Dein Glückstag.«

Der Buchhalter sah mich argwöhnisch an. »Und wo ist der Haken?«

»Der Haken ist der: Sie geben dir einen Wisch, den du unterschreiben sollst. Dein Hilfegesuch an den Orden. Und darin steht in Großbuchstaben, dass du den Orden dazu ermächtigst, jedwede Gefahr für die Menschheit zu beseitigen, die sich im Zusammenhang mit diesem Fall ergeben könnte.«

Der Orden der mildtätigen Hilfe hatte seinen Namen gut gewählt. Er bot tatsächlich mildtätige Hilfe, meist per Kugel oder Klinge. Das Dumme war bloß, dass man dort manchmal mehr Hilfe bekam, als einem lieb war.

»Nun sagen wir mal, du unterschreibst das Hilfegesuch. Dann kommen die Ritter zu dir raus und beobachten die Harpyie. Als Nächstes fällt dir auf, dass jedes Mal, wenn du das verdammte Ding entdeckst, deine alte, senile Tante verschwunden ist. Du behältst die alte Dame also im Auge, und es kommt, wie es kommen musste: Als die Magie wiederkehrt, verwandelt sie sich prompt in eine Harpyie. Da sagst du den Rittern natürlich, dass du die ganze Sache abblasen willst – denn du liebst deine alte Tante, und sie tut ja auch keinem was, wenn sie da im Baum hockt. Die Ritter aber erzählen dir, dass fünf Prozent aller Harpyien eine tödliche Krankheit an den Klauen tragen und dass sie daher eine Gefahr für die Menschheit darstellen. Du wirst wütend, du brüllst rum, du rufst die Bullen, aber die Bullen sagen dir, das sei alles vollkommen legal und sie könnten nichts dagegen unternehmen. Du versprichst ihnen, dass du deine Tante in Zukunft wegschließen wirst. Du versuchst sie zu bestechen. Du zeigst auf deine Kinder und erzählst, wie sehr sie die alte Dame lieben. Du weinst. Du flehst. Aber es nützt alles nichts.« Ich trank mein Glas aus. »Und so ist das, wenn man für den Orden arbeitet.«

Der Buchhalter schenkte sich einen Cognac ein und trank das Glas auf einen Zug aus. »Ist das wirklich so geschehen?«

»Ja.«

»Und sie haben die alte Dame getötet?«

»Ja.«

»Großer Gott.«

»Wenn dein Neffe der Meinung ist, er wäre zu so etwas in der Lage, dann sollte er sich bei der Akademie bewerben. Er ist jetzt im richtigen Alter. Das Ganze ist körperlich sehr anstrengend, und man muss büffeln wie ein Blöder, aber wenn er wirklich Bock drauf hat, wird er es schon schaffen.«

»Woher weißt du das?«

Ich nahm den Stapel Formulare vom Tresen. »Als ich ein kleines Mädchen war, hat mein Vormund mich dort angemeldet. Er war ein Wahrsager des Ordens.«

»Echt? Und wie lange hast du es da ausgehalten?«

»Zwei Jahre. Und ich war eine gute Schülerin, in allem, bloß nicht, was die Konditionierungen anging. Ich habe ein Autoritätsproblem.« Ich verabschiedete mich mit einem Winken und wechselte mit meinem Papierkram an einen der Tische im Foyer.

In Wahrheit war ich keine gute Schülerin gewesen. Sondern eine sehr gute. Ich hatte die Prüfungen mit Auszeichnung bestanden und war zum Knappen der Stufe Elektrum ernannt worden. Aber ich hatte es gehasst. Der Orden verlangte bedingungslose Hingabe, doch ich verfolgte bereits ein anderes Ziel. Ich wollte den mächtigsten Mann der Welt töten, und wenn man solche Ambitionen hegt, bleibt für andere Dinge nicht mehr viel übrig. Ich brach die Ausbildung ab und begann für die Söldnergilde zu arbeiten. Greg brach es das Herz.

Greg war ein fabelhafter Vormund gewesen und hatte alles darangesetzt, mich zu beschützen. Und für Greg war der Orden etwas, das Sicherheit bot. Wenn der Mann, auf den ich es abgesehen hatte, von meiner Existenz erfahren hätte, hätte er mich umgebracht, und weder Greg noch ich hätten die Macht besessen, etwas dagegen zu unternehmen. Zumindest noch nicht. Wenn ich mich aber dem Orden angeschlossen hätte, hätten mich all die Ritter vor dieser Gefahr beschützt. Doch das war es nicht wert, und daher hatte ich dem Orden Lebwohl gesagt und nie mehr zurückgeblickt.

Doch dann war Greg ermordet worden. Um seinen Mörder zu finden, war ich zum Orden gegangen und hatte mich in die Ermittlungen eingeschaltet. Und ich hatte den Mörder gefunden und zur Strecke gebracht. Im Zuge dieser scheußlichen Affäre war meine Akademie-Akte wieder aufgetaucht und der Orden auf den Trichter gekommen, dass sie mich wiederhaben wollten. Sie dachten sich einen Job für mich aus – Verbindungsperson zwischen Söldnergilde und Orden – und boten mir eine ganze Menge an: Gregs Büro, seine Akten, die Befugnis, mich um kleinere Fälle zu kümmern, ein festes Gehalt. Ich sagte zu. Ein Grund war mein schlechtes Gewissen: Nachdem ich die Ausbildung an der Akademie abgebrochen hatte, war ich Greg aus dem Weg gegangen. Ein anderer war der gesunde Menschenverstand: Ich hatte sowohl für das Haus meines Vaters in der Nähe von Savannah als auch für Gregs Wohnung hier in Atlanta Hypothekendarlehen abzuzahlen. Eins der beiden aufzugeben hätte sich angefühlt, als hätte man mir ein Stück aus meinem Körper herausgerissen. Die Jobs für die Gilde waren lukrativ, aber ich war nur für ein kleines Revier nahe Savannah zuständig, und dort ergab sich nur alle paar Monate mal so ein Auftrag. Die Verlockung regelmäßiger Einkünfte erwies sich einfach als zu stark.

Meine Zugehörigkeit zum Orden sollte keine Dauereinrichtung werden. Doch bis jetzt lief alles rund. Ich war mit keiner meiner beiden Zahlungsverpflichtungen im Rückstand, und sobald ich diese Formulare ausgefüllt hatte, konnte ich wieder ein, zwei Monate lang meine Rechnungen bezahlen.

Nachdem ich zehnmal meine Söldnerausweisnummer auf allen möglichen Papieren vermerkt hatte, kam ich in den Genuss eines Fragebogens, bei dem ich nur »Ja« oder »Nein« anzukreuzen brauchte. Ja, ich hatte in Notwehr gehandelt. Nein, ich fand nicht, dass es bei der Überwältigung des Verdächtigen zu übertriebener Gewaltanwendung gekommen war. Ja, ich hatte den Eindruck gehabt, dass der Verdächtige eine Gefahr für mich und andere darstellte. Als ich dann bei dem Abschnitt anlangte, bei dem ich die Vorgänge mit eigenen Worten schildern sollte, hätte ich Streichhölzer gebraucht, um meine Augen offen zu halten. Bei der Frage »Welche Absichten verfolgte der Verdächtige Ihrer Meinung nach?« schrieb ich: »Er wollte die Stadt niederbrennen. Er war nämlich vollkommen übergeschnappt.«

Als ich endlich die schweren Stahltüren der Söldnergilde hinter mir ließ, zeigte sich am Himmel die erste Morgenröte. Wenigstens hatte ich den Armbrustbolzen aus Jeremys Rücken. Und dank des Vorschusses war ich nun dreihundert Dollar reicher. Das restliche Geld bekam ich erst, wenn die Polizei grünes Licht gab. An der nächsten Straßenecke hatte ich den Vorschuss im Geiste schon auf etliche offene Rechnungen aufgeteilt. Ich besaß das Geld noch – wenn ich die Hand in die Tasche schob, spürte ich das weiche Papier der gebrauchten Scheine, vier Fünfziger und fünf Zwanziger –, und dennoch war es längst schon wieder futsch.

Eines der größten Rätsel des Universums.

Zwei Stunden später betrat ich hundemüde die Niederlassung des Ordens in Atlanta. Ich hatte einen großen Becher Kaffee dabei und den geheimnisvollen Bolzen, in einer braunen Papiertüte verstaut, unter den Ellbogen geklemmt. Die Dienststelle empfing mich mit ihrer ganzen Farbenpracht – ein langer Flur mit grauem Teppichboden, grauen Wänden und grauen Deckenleuchten.

In dem Moment, als ich das Gebäude betrat, kehrte die Magie zurück. Die gesamte Elektrik versagte den Dienst, stattdessen leuchteten bläulich die Röhren der Feenlampen auf.

Das war jetzt die dritte Magiewoge innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Auf die Magie war in den vergangenen Tagen überhaupt kein Verlass mehr gewesen. Sie kam und ging, als wüsste sie nicht, was sie wollte.

In dem leeren Korridor hallte leise das Tippen einer alten Schreibmaschine wider. Es kam aus dem kleinen Sekretariat vor dem Büro des Protektors. »Guten Morgen, Maxine.«

»Guten Morgen, Kate«, antwortete Maxines Stimme in meinem Kopf. »Eine anstrengende Nacht

»Könnte man so sagen.«

Ich schloss die Tür zu meinem Büro auf. Die hiesige Niederlassung des Ordens gab sich große Mühe, einen unscheinbaren Eindruck zu machen, aber mein Büro war selbst nach diesen Maßstäben winzig. Es bot gerade mal genug Platz für einen Schreibtisch, zwei Stühle, eine Reihe von Aktenschränken und einige Bücherregale. Die Wände waren in einem weiteren hinreißenden Grauton gestrichen.

Ich blieb in der Tür stehen. Ich hatte dieses Büro von Greg übernommen. Seit seinem Tod waren nun schon fast vier Monate vergangen. Ich hätte längst darüber hinweg sein sollen, doch manchmal, so auch an diesem Morgen, fiel es mir schwer, das Büro zu betreten. Meine Erinnerung beharrte darauf, dass Greg dort sein würde, wenn ich hineinging, er würde mit einem Buch in der Hand dort stehen und mir auf seine übliche Art aus seinen dunklen Augen vorwurfsvoll, aber nie unfreundlich entgegenblicken. Er war stets bereit, mir aus jedem Schlamassel herauszuhelfen, den ich mir eingebrockt hatte. Doch nun war das alles vorbei. Greg war tot. Erst meine Mutter, dann mein Vater, dann Greg. Alle, die mir nahestanden, waren eines gewaltsamen Todes gestorben. Wenn ich noch länger darüber nachdachte, würde ich anfangen zu heulen wie ein Werwolf bei Vollmond.

Ich schloss die Augen und versuchte die Erinnerungen an Greg in seinem Büro zu verdrängen. Fehler. Nun stand mir Greg umso eindringlicher vor Augen.

Ich machte kehrt und ging den Korridor hinab zur Waffenkammer. Schön, war ich also ein Feigling. Na und?

Andrea saß auf einer Bank und reinigte eine Handfeuerwaffe. Sie war eine kleine, aber kräftige Frau, deren Gesicht die Leute unwillkürlich dazu brachte, ihr in der Schlange vor der Supermarktkasse ihre Lebensgeschichten anzuvertrauen. Sie kannte sich bestens mit der Satzung des Ordens aus und konnte noch so entlegene Statuten auswendig herbeten. Ihre Funkgeräte verloren nie die Verbindung, ihre Magie-Scanner funktionierten stets einwandfrei, und wenn man ihr ein defektes Gerät brachte, bekam man es anderntags voll funktionsfähig und picobello geputzt zurück.

Andrea hob den blonden Schopf und salutierte neckisch. Ich zuckte die Achseln und spürte dabei das beruhigende Gewicht meines Schwerts Slayer, das in seiner Scheide auf meinem Rücken ruhte. Dann erwiderte ich den Gruß mit einer Handbewegung. Ich hing sehr an diesem Stück Metall. Nach dem kleinen Abenteuer, das mir diesen Job hier eingetragen hatte, trennte ich mich nur noch äußerst ungern von Slayer. Nur wenige Minuten ohne mein Schwert, schon war ich ein Nervenbündel.

Andrea bemerkte, dass ich sie immer noch ansah. »Brauchst du irgendwas?«

»Ich müsste einen Armbrustbolzen identifizieren lassen.«

Sie winkte mich herbei. »Gib her.«

Ich gab ihr den Bolzen. Andrea packte ihn aus und pfiff anerkennend.

»Nicht schlecht.«

Blutrot und am Ende mit drei schwarzen Federn besetzt, war der Bolzen knapp sechzig Zentimeter lang. Kurz vor der Fiederung war der Schaft mit einer Markierung versehen: drei mal drei kurze schwarze Striche.

»Das ist ein Karbonschaft. Extrem bruchfest, sehr dauerhaft und teuer. Sieht so ähnlich aus wie ein 2216, gebaut für die Jagd auf mittelgroßes Wild: Hirsche, Bären …«

»… Menschen.« Ich lehnte mich an die Wand und trank einen Schluck Kaffee.

»Ja.« Andrea nickte. »Hohes Durchschlagsvermögen, sehr zielsicher, dennoch sehr schnell. Eine tödliche Waffe. Schau dir die Spitze an: klein, drei Klingen, Gewicht etwa hundert Grains. Erinnert mich sehr an die Wasp-Boss-Baureihe. Manche Leute stehen ja auf mechanische Broadheads, aber bei einer guten Armbrust kommt die Beschleunigung so plötzlich, dass sich die Klingen im Flug öffnen, und das war’s dann mit der Zielgenauigkeit. Wenn ich mir einen Broadhead aussuchen sollte, würde ich so einen nehmen.« Sie drehte den Armbrustbolzen hin und her und ließ das durchs Fenster scheinende Licht über die Spitze spielen. »Von Hand geschärft. Wo hast du den her?«

Ich erzählte es ihr.

Sie runzelte die Stirn. »Dass du den Bogen nicht gehört hast, deutet darauf hin, dass es wahrscheinlich ein Recurve war. Ein Kompositbogen gibt beim Schuss ein schwirrendes Geräusch von sich. Darf ich mal?« Sie wies auf eine Pappzielscheibe in Menschengestalt, die an der mit mehreren Korkschichten versehenen Stirnwand des Raums angebracht war.

»Klar.«

Sie zog sich Handschuhe an, um die Magie-Rückstände möglichst wenig zu beeinflussen. Dann nahm sie eine kleine Armbrust von der Bank, lud sie, hob sie und schoss – zu schnell, als dass sie hätte zielen können. Der Bolzen pfiff durch die Luft und traf den Mann mitten in die Stirn. Volltreffer. Beeindruckend.

Die Feenlampen flackerten und erloschen. An der Wand flammte gelblich elektrisches Licht auf. Die Woge der Magie war vorüber, und die technischen Gerätschaften funktionierten wieder. Andrea und ich sahen uns an. Niemand konnte die Dauer dieser Gezeiten vorhersagen – die Magie kam und ging, wie es ihr gefiel. Doch normalerweise hielten die Wogen mindestens eine Stunde lang an. Wie lange hatte die hier gedauert? Fünfzehn Minuten?

»Kommt mir das nur so vor, oder geht es schneller hin und her als üblich?«

»Scheint mir auch so.« Andrea blickte ein wenig besorgt. Sie zog den Bolzen aus der Zielscheibe. »Soll ich ihn auf Magie scannen?«

»Wenn es keine allzu großen Umstände macht.« Die Magie hatte die lästige Angewohnheit, sich alsbald zu verflüchtigen. Je schneller man solche Beweismittel scannte, desto besser.

»Gibt’s Probleme?« Sie beugte sich zu mir herüber. »Ich war zwei Monate lang offline. Da kriegt man ja nichts mehr mit. Ich hab schon Spinnweben im Hirn.« Sie zog mit einem Finger ihr rechtes unteres Augenlid herunter. »Da, schau’s dir an.«

Ich lachte. Andrea arbeitete bei einer Sektion im Westen und hatte es dort mit einem Rudel Loups zu tun bekommen, das Rinderfarmen überfiel. Loups – die wahnsinnigen, kannibalischen Gestaltwandler, die den inneren Kampf um ihre Menschlichkeit verloren hatten – zogen mordend und vergewaltigend durch die Lande, bis jemand die Welt von dieser Plage erlöste.

Doch leider waren Loups auch hochgradig ansteckend. Andreas Ritterpartnerin hatte es erwischt: Sie wurde zum Loup und bekam schließlich von Andrea zwei Dutzend Kugeln ins Hirn geballert. Es gab eine Grenze, ab der auch die sonst phänomenalen Selbstheilungskräfte der Gestaltwandler nichts mehr auszurichten vermochten, und Andrea war ein Meisterschütze. Man versetzte sie nach Atlanta, und obwohl sich in ihrem Blut keinerlei Spuren des Lycos-Virus fanden und also keine Gefahr bestand, dass ihr Fell und Klauen wuchsen, hielt Ted sie lieber im Hintergrund.

Andrea ging zum Magie-Scanner, legte den Bolzen auf die Keramikunterlage, ließ den Glaswürfel herab und betätigte den Schalter. Der Scanner begann zu summen.

»Andrea?«

»Ja?«

»Die Technik ist wieder da«, sagte ich und kam mir ein wenig dumm dabei vor.

Sie verzog das Gesicht. »Mist. Dann hat das wahrscheinlich keinen Zweck. Aber wer weiß. Manchmal kann man ja sogar dann noch irgendwelche Magie-Rückstände feststellen.«

Wir sahen zu dem Glaswürfel hinüber. Wir wussten beide, dass es zwecklos war. Während einer Technikphase musste man schon etwas scannen, das mit Magie geradezu gesättigt war, um einen guten M-Scan zu bekommen. Ein Körperteil beispielsweise. Der M-Scanner analysierte die Magie-Rückstände, die jemand an einem Objekt hinterlassen hatte, und gab sie auf einem Ausdruck in verschiedenen Farben an: blau bei Menschen, grün bei Gestaltwandlern, violett bei Vampiren. Farbtöne und Leuchtkraft deuteten auf die einzelnen Formen der Magie hin, und so einen M-Scan korrekt zu interpretieren war eine Wissenschaft für sich. Die Magie-Spuren auf einem Armbrustbolzen, der wahrscheinlich nur ganz kurz festgehalten worden war, konnten allenfalls minimal sein. Ich kannte hier in der Stadt nur einen einzigen Mann, der über einen so guten M-Scanner verfügte, dass er auch während einer Technikphase derlei winzige Magie-Rückstände aufspüren konnte. Er hieß Saiman. Das Dumme war bloß, wenn ich zu ihm ging, würde mich das ein kleines Vermögen kosten.

Der Drucker sprang an. Andrea zog den Ausdruck heraus und hielt ihn mir hin. Ihr Gesicht war noch eine Spur blasser geworden. Über das ganze Blatt zog sich ein silberblauer Streifen. Menschliche Magie. Das war für sich genommen noch nicht bemerkenswert. Jeder, der seine Macht von einem Gott oder einem Glauben bezog, stellte sich so dar: der Papst, Shaolin-Mönche, selbst Greg, ein Wahrsager des Ordens, hatte diese silberblaue Spur hervorgerufen. Seltsam war nur, dass wir, solange die Technikphase anhielt, eigentlich gar keinen M-Scan hätten bekommen dürfen.

»Was bedeutet das? Sind die Magie-Rückstände an diesem Ding so unglaublich stark?«

Andrea schüttelte den Kopf. »Die Wogen der Magie haben sich in letzter Zeit ausgesprochen sprunghaft verhalten.«

Wir sahen einander an. Wir wussten beide, worauf dieses hektische Hin und Her hindeutete: auf einen Flair. Und einen Flair brauchte ich ungefähr so dringend wie ein Loch im Kopf.

»Da ist eine Bittstellerin, um die du dich kümmern solltest«, sagte Maxines Stimme in meinem Kopf.

Ich nahm den M-Scan und ging in mein Büro.