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1. Auflage 2009
Copyright © 2009 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
www.hoca.de
Satz und ebook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-455-04294-8

Landesbühne

  

Hoher Besuch

»Schau dir das an, Professor«, sagte mein Zellengenosse, »komm her und schau dir das an.« Er stand am vergitterten Fenster, ein kahlköpfiger Mann, der Ohrringe trug, und zeigte hinab auf den Gefängnishof, wo das Tor geöffnet wurde und ein blauer Bus erschien. Über die Länge des Busses hin stand in Blockbuchstaben LANDESBÜHNE, zwei stilisierte Masken versprachen geheimnisvolles, jedenfalls unterhaltsames Spiel. »Ich hab’s gewußt«, sagte mein Zellengenosse, »die Landesbühne kommt wirklich.« Dieser Mann, dem sie das zweite Bett in meiner Zelle zugewiesen hatten und der mit den Worten hereingekommen war: »Ich bin Hannes«, schien alles zu wissen. Als der Bus hielt und zuerst ein schottisch gekleideter Mann ausstieg, sagte er: »Der Intendant der Landesbühne, er heißt Prugel.« Der Intendant ging mit beinahe beschwingtem Schritt auf die hagere Gestalt zu, die den Bus erwartet hatte, breitete andeutend die Arme aus, beließ es jedoch während der Begrüßung bei einem Händeschütteln, das länger als üblich dauerte, Karl Tauber, unser Direktor, wie immer in dunklem Anzug, schien nicht überrascht, daß sein Gast zunächst nur dastand und sich umsah, nachdenklich die vier ungleichen Gebäude musterte, aus denen das Gefängnis Isenbüttel bestand. Mit knappen Gesten erläuterte er offenbar Zweck und Eigenschaft der Gebäude, der Intendant nickte wiederholt, es blieb ihm wohl nichts zu fragen. Einmal fanden sie Grund zu kurzem Gelächter. »Die alten Säcke kennen sich bestimmt«, sagte Hannes. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von hinterhältigem Vergnügen; er imitierte die Sprechweise des Direktors, dies rollende R, das ihm bei etlichen Begegnungen aufgefallen war.

Auf ein Zeichen des Intendanten verließen die Schauspieler den Bus, auch einige Frauen waren unter ihnen, die meisten blieben wie angeleimt stehen, nicht anders, als hätte man sie in ein neues Leben gestoßen. Wie der Intendant, so schauten auch sie zunächst nur, schauten, manche stießen sich an, grinsten anzüglich, machten sich blickweis aufmerksam auf das, was sie sahen. Einer der Schauspieler bückte sich, hob einen Kieselstein auf, rieb ihn zwischen den Fingern und steckte ihn in die Tasche – als Andenken vermutlich. Ein junger bärtiger Schauspieler ließ die allgemeine Stimmung erkennen, als er eine ältere Kollegin um die Taille faßte und ihr scherzhaft eine Hand mit gespreizten Fingern vors Gesicht hielt; danach deutete er zu unserem Fenster hinauf und glaubte winken zu müssen. »Sieh dir diesen Schwachkopf an, Professor«, sagte Hannes.

Der Intendant rief die Schauspieler zusammen und gab das Wort dem Direktor, der nur kurz sprach, anscheinend nur einen Willkommensgruß äußerte, gleich darauf wandte er sich einem Trupp von Insassen zu, die von der Arbeit im Gefängnisgarten zurückkehrten. Einige trugen Geräte, Spaten und Harken, auch Gießkannen. Ich täusche mich nicht: beim Anblick der Schauspieler hellten sich ihre Züge auf, Grüße wurden gewechselt, knappe, verstohlene, mehrdeutige Grüße. Ein offenbar fröhlicher Riese tat so, als liebkoste er beidhändig seine Gießkanne. »Das ist Mumpert«, sagte Hannes, »er war mal Schiedsrichter, er ließ zu oft die gewinnen, die am großzügigsten zu ihm waren.« Mir fiel ein gutaussehender Insasse auf, der Ähnlichkeit mit Valentino hatte, vor dem Direktor präsentierte er übermütig seinen Spaten oder deutete doch einen Präsentiergriff an. »Bolzahn«, sagte Hannes, »mein Freund Bolzahn, es gelang ihm, mit mehreren Frauen gleichzeitig verheiratet zu sein.«

Ein kleiner Transporter hielt vor dem Tor, hupend verlangte er Einlaß, und nachdem das Tor sich geöffnet hatte, rollte er auf den Gefängnishof und hielt neben dem Bus, wurde aber vom Direktor gleich weitergewinkt, zu dem großen, grauweißen Gebäude, in dem unser Speisesaal lag. Zwei Männer, beide im Overall, stiegen aus, der Direktor begrüßte sie mit Handschlag und führte sie ins Gebäude, kehrte noch einmal zurück und forderte den Intendanten auf, ihm zu folgen. »Da drin wird es stattfinden«, sagte Hannes, »im Speisesaal, Bänke und Stühle sind schon bereitgestellt.« Welch ein Stück gegeben werden sollte, wußte Hannes zu meinem Erstaunen nicht, auch als die Männer im Overall wieder erschienen und damit begannen, die gestapelte Last des Transporters abzuladen, zuckte er mit den Achseln. Mir war es rätselhaft, wozu die Kartons und Kisten und Holzgestelle dienen sollten, die sie ins Gebäude trugen, leere Kisten anscheinend, leere Kartons. Die Männer verrichteten ihre Arbeit gutgelaunt, sie mimten Erschöpfung, schwankten, spielten Kraftlosigkeit, überraschend warfen sie sich einen Karton zu und führten Stolperschritte vor. Bei den letzten Stücken halfen ihnen auch einige Schauspieler. Für sich selbst bestimmt, murmelte Hannes: »Macht nur, macht nur, bald wird etwas geschehen.«

Wir setzten uns an den rohen, mit Kerben bedeckten Tisch. Aus seinem heimlichen Tabakvorrat drehte sich Hannes Zigaretten; das schmale Päckchen trug er am Schienbein, beklemmt von einem strammsitzenden feldgrauen Socken. Wie lange, wie grüblerisch er mich ansehen konnte, bevor er sprach; auf einmal schüttelte er den Kopf, geradeso, als hätte er Schwierigkeiten, zu glauben, was er über mich erfahren hatte. Vielleicht merkte er, daß sein langer befragender Blick mich verlegen machte; denn plötzlich sagte er: »Die Hälfte, nicht wahr, du hast jetzt die Hälfte rum, Professor.« Ich bestätigte es: »Zwei Jahre sind rum.« »Sie sind ungerecht«, sagte er, »zu dir und zu den meisten hier sind sie ungerecht in der Strafzumessung. Glaube mir, ein verständnisvoller Richter hätte fast alle freigesprochen, nach Hause geschickt: unschuldig. Auch dich, Professor.« Da ich schwieg, tischte er mir meine Geschichte auf, erinnerte mich an meinen Haftgrund, kenntnisreich, mitfühlend. Ihm war bekannt, daß ich einmal eine Professur hatte – er wußte nur nicht, in welchem Fach –, und er hatte auch erfahren, daß ich etliche meiner Studentinnen durchs Examen gebracht hatte mit höchstem Lob. Leider war nicht unentdeckt geblieben, daß diese hervorragenden Examenskandidatinnen vorher bei mir genächtigt hatten – eine neidische Kommilitonin hatte das öffentlich gemacht. Um mich zu trösten, sagte Hannes: »Sie strafen sich selbst, die Neider, glaub mir, Professor.« Ich schlug ihm vor, mich lieber Clemens zu nennen, mit dem Namen kämen wir uns näher, und Nähe sei uns doch aufgegeben; er sah mich nur ungläubig an und wollte mir meinen Verzicht auf den Titel nicht abkaufen.

Ich mochte Hannes gern, von Anfang an, mit ihm die Zelle zu teilen, empfand ich als Glücksfall; wenn ich mir einen Gefährten hätte wünschen können, dann einen wie ihn. Einen Menschen von ähnlicher unbezwingbarer Müdigkeit habe ich nie erlebt, er verlangte zu jeder Zeit nach Schlaf, schon nach dem Frühstück legte er sich hin, er schlief vor und nach der Gartenarbeit, nach dem Rundgang, während ich mein Tagebuch bediente; immer hörte ich seinen von Seufzern begleiteten Atem. Ich hatte den Eindruck, daß Hannes nach Jahren der Schlaflosigkeit viel Schlaf nachholen mußte. Oft betrachtete ich das Gesicht des Schlafenden, ein treuherziges Gesicht, das Unschuld vermuten ließ, doch während meine Sympathie für ihn noch wuchs, mußte ich daran denken, daß er ein Künstler war, ein Künstler der Bußgelderhebung. Mit erbeuteter Polizeikelle und einem Anorak postierte er sich bei Regen an den Ausfallstraßen von Hamburg und winkte die Fahrzeuge aus dem Verkehr heraus, die, wie er schätzte, die Geschwindigkeit übertreten hatten oder sich, wie er meinte, verkehrswidrig verhielten. Mit einem Bußgeld, das in bar beglichen werden mußte, ließ Hannes sie davonkommen, er wunderte sich immer wieder darüber, wie rasch unsere Autofahrer bereit waren, zu zahlen. Auf leeren Seiten aus seinem Notizbuch stellte er nach Bedarf Quittungen aus. Seine Verdienstquelle versiegte, als er eine Zivilstreife der Polizei an den Straßenrand winkte.

Je länger wir uns an dem kleinen Tisch gegenübersaßen, desto unruhiger schien Hannes zu werden, ab und zu sprang er auf und trat ans Fenster, nickte oder schüttelte den Kopf, und nachdem er sich wieder gesetzt hatte, fuhr er mit dem Finger über die eingekerbten Zahlen und Buchstaben im Tisch, nicht anders, als streichelte er sie, und sann ihnen nach. Einmal legte er eine Hand auf mein Tagebuch und fragte: »Schreibst du ein Buch, Professor?« »Es ist mein Tagebuch«, sagte ich. »Du hast aber doch bestimmt schon ein Buch geschrieben?« »O ja, mehrere; das wichtigste heißt Sturm und Drang.« Er wiederholte den Titel, lächelte und fragte: »Kamen die da drin vor, deine Studentinnen?« »Es geht um junge ungeduldige Dichter, über ihren Versuch, die Menschen zu befreien.« »Zu befreien?« »Von Unterdrückung und Knechtschaft und Konventionen.« »Hört sich gut an, und was boten sie an?« »Natur. Natur war das Schlagwort der Zeit.« »Also Wald und Wiese?« »Nein, nein, sie meinten Gefühl und Leidenschaft, und auch Phantasie.« »Und darüber hast du ein Buch geschrieben?« »Es hat mich Jahre gekostet.« »Und konntest du davon leben?« »Ich habe auch Vorlesungen gehalten, dreimal in der Woche.« »Über Sturm und Drang?« »Auch darüber, ja.« »Da hätte ich gerne zugehört.«

Mir entging nicht, daß er einmal, als er am Fenster stand, eine Hand hob und abermals mit versteiftem Ring- und Mittelfinger auf den Hof hinabgrüßte, aber es war kein beiläufiger Gruß, wie ich bald bemerkte, es war ein Zeichen, ein Signal, das er mehrmals wiederholte und auf dessen Bestätigung er wartete, und nachdem er diese Bestätigung offenbar erhalten hatte, wandte er sich mir zu und sagte: »Es läuft, Professor, es läuft, bald wird hier etwas geschehen.« Er legte sich auf sein Bett, verschränkte die Arme im Nacken und starrte zur Decke; da er es mit einer Andeutung genug sein ließ, fragte ich nicht weiter. Auch jetzt gelang es ihm, einzuschlafen.

Ich setzte mich an mein Tagebuch, blätterte zurück, las noch einmal meine Eintragung über das sehr kurze Gespräch mit Herrn Tauber, unserem Direktor. Er hatte mich tatsächlich bei einer Begegnung nach dem Rundgang im Hof wie aus heiterem Himmel gefragt, was ich von Effi Briest halte, und ich antwortete: »Ein gutes Buch, ein sehr guter Schriftsteller.« Er nickte erfreut, und ich wußte: Herr Tauber ist ein Leser. Nach einem Blick auf den schlafenden Gefährten machte ich einige Notizen über ihn, ich nannte ihn N – das genügte mir zur Verschlüsselung –, ich erwähnte seine erstaunliche Müdigkeit und sein Wissen über andere und alles hier, ein Wissen, das mich manchmal beunruhigte. Eine gesonderte Seite widmete ich einer mir bevorstehenden Aufgabe: Mir war hier aufgegangen, daß ich es versäumt hatte, zu dokumentieren, wovon sie einst gelebt hatten, die Stürmer und Dränger, die Klinger und Hamann, Maler Müller und der arme Hund Lenz; ich beschloß, für eine Neuauflage meines Buches, das mittlerweile als Standardwerk betrachtet wurde, ein Zusatzkapitel zu schreiben: Wovon sie lebten.

Wie unwillig Hannes brummte, wenn er erwachte, er warf den Kopf von einer Seite auf die andere, reckte die Arme, machte Wippbewegungen mit dem Körper und rollte sich vom Bett. Er beachtete mich nicht, prüfend blickte er sich um, so als wollte er herausfinden, was zunächst zu tun sei.

Einmal war er zum Waschbecken gegangen. Auf dem Bord über dem Waschbecken standen und lagen unsere persönlichen Sachen, Rasierzeug, Zahnbürste, Rasierwasser, auch zwei Seifenschalen. Er hielt es für nötig, den begrenzten Platz erkennbar zu teilen: eine Seite für ihn, eine Seite für mich. Unwirsch nahm er die Einteilung vor, ich mußte annehmen, daß er meine Sachen geringschätzig behandelte. Nachdem er alles sortiert und in seine gewünschte Ordnung gebracht hatte, fing er mit seinem Training an, mit seinen Beweglichkeitsübungen: Rumpfbeugen, Kniebeugen, Armrollen aus den Schultergelenken und eine Art Laufen auf der Stelle, wobei er die Knie so weit hochriß, daß sie seine Brust berührten. Er zwinkerte mir zu und sagte: »Du solltest mitmachen, Professor, es stärkt die Glieder.«