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Inhalt

Vergeben, um besser zu leben?

Ohnmacht und Verbitterung: Warum Verzeihen schwerfällt

Die Geschichte des Michael Kohlhaas

Was bitter macht

»Alles, was passiert ist, ist ständig präsent« Ein Gespräch mit Richard H.

»Diesem System kann ich nicht verzeihen« Ein Gespräch mit Rainer S.

Hilfe gegen die Verbitterung

»Wir möchten unseren Patienten helfen, mit dem Grübeln aufzuhören und wieder gut zu schlafen« Ein Gespräch mit Prof. Dr. Michael Linden, Psychiater und Psychotherapeut

Resümee

Verzeihensforschung: Neuer Blick auf alte Probleme

Verzeihen und Zusammenleben

»Menschen verletzen einander, das ist die Realität in einer unvollkommenen Welt« Ein Gespräch mit Dr. Christian Schwennen, Sozialpsychologe und Verzeihensforscher

Die Arbeit des Verzeihens

»Vor Wut müsste ein Beipackzettel warnen« Robert Enright und die Forgiveness-Forschung

Im Dschungel der Begriffe

Resümee

Wenn die Liebe leidet: Verzeihen in und nach der Partnerschaft

Theodor Fontanes L’Adultera

Paare »auf der Couch«

»Nach dem Rausschmiss aus dem Paradies kam nicht die Hölle, sondern das Leben« Ein Gespräch mit Monika Häußermann und Gerd Jakubowski, Berliner Paartherapeuten

Vertrauen und Misstrauen

»Ich bin nun wacher für die Anfälligkeit des Glücks« Ein Gespräch mit Aline B.

»Ich habe ihn angezeigt. Und ich habe ihm verziehen« Ein Gespräch mit Stefanie Eid

Ein Neuanfang

»Es hat lange gedauert, bis ich mir selbst diese Ehe verzeihen konnte« Ein Gespräch mit Dana P.

»Wahrscheinlich hat mich auch mein glückliches Naturell geschützt« Ein Gespräch mit Vera Lengsfeld

Resümee

Auf Gedeih statt auf Verderb: Versöhnliches Leben in Gemeinschaften

Hannah Arendt und die Philosophie des Verzeihens

Pardon und Politik

»Verzeihen gibt es in der Politik nur, wo gemeinsame Ziele und Werte erkennbar sind« Ein Gespräch mit Thomas Kliche, Experte für Politische Psychologie

Versöhnliche Fellpflege

Mobbing und Menschlichkeit im Arbeitsleben

»Dem anderen ist es vielleicht nicht einmal aufgefallen« Ein Gespräch mit Werner Szendi, Wiener Künstler

Was im Gehirn passiert, wenn wir verzeihen

»Ein Gen fürs Vergeben werden wir nicht finden« Ein Gespräch mit Dr. Dipl.-Psych. Angela Merkl, Psychiaterin

Religion und Vergeben

»Manches wird mit Gottes Hilfe übers Knie gebrochen« Ein Gespräch mit Dr. Beate Weingardt, Theologin und Psychologin

Resümee

Es ist nie zu spät: Verzeihen zwischen den Generationen

Picassos Enkelin und ihr Friede mit einem belastenden Erbe

Verzeihen lernen

»Kinder geben Erwachsenen Hunderte von neuen Chancen« Ein Gespräch mit Dr. med. Oliver Bilke, Kinder- und Jugendpsychiater

»Ich möchte gar nicht so viel Müll im Kopf haben« Ein Gespräch mit Ann-Kathrin N.

»Um mir selbst zu verzeihen, musste ich verstehen, warum ich mich damals nicht wehren konnte« Ein Gespräch mit Thomas Schlingmann, Beratungsstelle Tauwetter

Mit den inneren Grenzen leben

»Die Tür stand immer einen Spaltbreit offen« Ein Gespräch mit Monika M.

»Wenn ich verzeihen kann, geht es mir am besten« Ein Gespräch mit Irene Z.

»Wenn einen fremde Schuld nicht mehr interessiert, ist man schon beim Verzeihen« Ein Gespräch mit Constantin B.

Aussöhnung mit der Vergangenheit

Resümee

Mit Abstand, mit Einfühlung

Anhang

Literatur

Hilfreiche Internetseiten

Zur Autorin

Adelheid Müller-Lissner

Verzeihen können – sich selbst und anderen

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von 2011)

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32-0

Internet: www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Titelgestaltung und Titelillustration: Burkhard Neie, www.blackpen.xix-berlin.de unter Verwendung eines Fotos von Andrej Kuzmin,

Bildquelle: fotolia

eISBN: 978-3-86284-118-9

Vergeben, um besser zu leben?

»Die Macht der Verzeihung ist eine Macht, die sich jeder vorbehält und die jeder hat.«

Elias Canetti

Verzeihen können! Ein weites Feld. Ich möchte mich ihm auf meine Weise nähern. Nicht als Therapeutin, Theologin oder Wissenschaftlerin und auch nicht als Autorin, die allein aus der eigenen Lebenserfahrung schöpft, um anderen Menschen Ratschläge für ein »richtiges« und »gelungenes« Leben zu erteilen. Lieber verstehe ich mich als eine Art Sprachrohr: Ich habe mit vielen Menschen über das Verzeihen gesprochen, sie nach ihren konkreten Wegen und Lösungen befragt und möchte das alles weitergeben. Darüber hinaus ist ein fundierter Background für mich als Wissenschaftsjournalistin unerlässlich, so dass ich das Phänomen des Verzeihens von verschiedenen Seiten beleuchten und die umfangreichen, fachlichen Erkenntnisse ebenso berücksichtigen werde wie die individuellen, emotionalen Erfahrungen. Denn ein Buch, das den Dschungel der Begriffe rund um das Verzeihen, den aktuellen Forschungsstand in verschiedenen Wissenschaften mit persönlichen Lebensgeschichten vereint, habe ich unter den vielen anderen nicht finden können. Ich musste es folglich schreiben – auch für mich selbst.

Glücklicherweise konnte ich dafür sehr unterschiedliche Menschen als »Scheinwerfer« gewinnen: Wissenschaftler, die sich dem Thema Verzeihen aus psychologischer, psychiatrischer oder theologischer Sicht widmen, Therapeuten, die den Wert des Verzeihens aus ihrer praktischen Arbeit kennen. Und vor allem Menschen, die es in ihrem Leben schwer hatten oder haben, mit einer tiefen Verletzung fertigzuwerden. Ihnen allen verdanke ich diese spannenden und wertvollen Informationen. Denjenigen, die mir ihre persönliche Geschichte anvertraut haben, danke ich darüber hinaus von ganzem Herzen für ihre mutige Offenheit und ihr großes Vertrauen. Auch im Schutz der Anonymität (die für die meisten persönlichen Schilderungen gewählt wurde und an den nur mit Anfangsbuchstaben wiedergegebenen Nachnamen erkennbar ist) ist es belastend, über den Umgang mit Wunden zu berichten, die auch zeitlicher Abstand und weise Ratschläge oft nicht vollständig heilen konnten.

Wenn ich nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass diese individuellen Geschichten, zusammen mit den Einsichten der professionellen »Experten fürs Verzeihen«, meinen Leserinnen und Lesern dabei helfen könnten, über selbst erlittenes Unrecht, über Kränkungen, größere oder kleinere, über schmerzvolle Ereignisse aus der Vergangenheit hinwegzukommen, dann hätte ich mich auch nicht getraut, meinen Gesprächspartnern so nahezutreten. Nur die Hoffnung auf den Nutzen ihrer Erfahrungen für andere macht meine Neugier verzeihlich.

Vieles von dem, was meinen Gesprächspartnern widerfahren ist, würde man im allgemeinen Sprachgebrauch als »unverzeihlich« bezeichnen: Menschen, die ohne Vorwarnung vom Partner verlassen wurden, eine lieblose Kindheit durchgemacht haben, missbraucht wurden, nachträglich von jahrelangen Bespitzelungen erfuhren.

Wenn es ihnen trotzdem gelang, »über den eigenen Schatten zu springen« und ihren Frieden mit der Vergangenheit zu machen, war das oft ein Sieg in Etappen. Einer der Hauptakteure der neuen Forschungsrichtung, der amerikanische Soziologe Robert Enright, bekannt geworden durch sein Buch Vergebung als Chance, ist davon überzeugt, dass auch das Verzeihen gelernt sein will. Für ihn handelt es sich dabei um einen langwierigen Prozess in vier Schritten: Zuerst muss sich das »Opfer« über die schwer zu verzeihende Tat und über den »Übeltäter« Klarheit verschaffen. Im zweiten Schritt muss sie oder er sich dazu durchringen, wirklich verzeihen zu wollen. Erst nach diesem Entschluss beginnt die eigentliche Arbeit des Vergebens: Man muss Verständnis für den anderen aufbringen. Und für den eigenen Schmerz. Im vierten Stadium schließlich könne man die Befreiung aus dem emotionalen Gefängnis genießen, so zeigt sich Enright überzeugt.

Diese innere Befreiung konnte unter anderem meine Gesprächspartnerin Aline B. erleben: Nach etlichen Jahren Ehe und drei gemeinsamen Kindern entdeckte sie plötzlich, dass ihr Mann sie mehrfach betrog. Sie stellte ihn zur Rede, suchte die Auseinandersetzung und die Konfrontation. Obwohl die Verletzungen sehr tief gingen und die Enttäuschung ihr heftig zu schaffen machte, versuchte sie ihren Mann zu verstehen. Bis sie seine Erklärung irgendwann annehmen und ihm verzeihen konnte. Es dauerte eine Weile, bis sie ihrem Mann nach diesem Treuebruch wieder vertrauen und mit ihm auf einer neuen Basis zusammenleben konnte.

Die weniger versöhnlichen Geschichten, die ich zu Beginn des Buches schildere, sind aus meiner Sicht noch nicht abgeschlossen. Es bleibt möglich, dass sie sich »aufhellen«. Und wenn es so etwas wie einen Weg des Verzeihens gibt, sind alle einzelnen Schritte interessant, so mühsam sie auch sein mögen.

Bei Prominenten wiederum geht oft alles etwas schneller. Im Sommer 2006 wurde uns auf den vermischten Seiten der Tagespresse ein Beispiel dafür serviert, dass diese Regel sogar für das Verzeihen gelten kann. Die Ereignisse überschlugen sich: Eben noch hatte Renate Fischer, Frau des »Bullen von Tölz«, einer Boulevardzeitung anvertraut: »Ich habe meinen Ehering abgenommen.« Schon ein paar Tage später ließ die Gattin die Bild wissen, dass sie ihrem Mann nun doch verzeihen wolle. Schauspieler Ottfried Fischer, der sie mit einer jungen Österreicherin betrogen hatte, dann aber eine herbe Enttäuschung erlitt, als sich herausstellte, dass sie Prostituierte war und es vor allem auf sein Geld abgesehen hatte, durfte nach einem unfallbedingten Krankenhausaufenthalt schnell wieder zu Hause einziehen. »Ich kann meinen Otti nicht leiden sehen«, so die Begründung der Betrogenen.

Auch wenn man ins Kalkül zieht, dass Frau Fischer damals gleichzeitig als Managerin ihres Otti tätig war und die Affäre medial klug zum Vorteil des Familienunternehmens zu nutzen wusste, auch wenn man Tempo und Lautstärke dieses öffentlich vollführten Sinneswandels eher für abstoßend als für beispielgebend halten möchte, behält diese Geschichte einer Blitz-Versöhnung durchaus ihren Reiz. Interessant ist sie nämlich vor allem aus psychologischer Sicht: Mit der Bereitschaft zur Vergebung hat Ehefrau Renate nicht nur das Leiden ihres Mannes gelindert. Sie hat auch sich selbst etwas Gutes getan.

Denn Vergeben tut gut! Dafür sprechen über 40 wissenschaftliche Studien, die in den letzten Jahren zu dem Thema erschienen sind. Die Studien geben Hinweise darauf, dass das Verzeihen sich nicht allein auf die Psyche wohltuend auswirkt, sondern dass die Folgen auch ganz konkret auf körperlicher Ebene messbar sind. So ergab eine medizinische Untersuchung von 400 Freiwilligen aus dem US-Bundesstaat Michigan, dass Menschen, die nach eigener Aussage eher zum Verzeihen bereit sind, einen niedrigeren Blutdruck und niedrigere Werte des Stresshormons Kortisol aufweisen als diejenigen, die dazu neigen, in ihren ablehnenden Gefühlen zu verharren oder sogar Rachegedanken zu hegen. Der Psychiater James Carson von der Duke University in North Carolina wiederum konnte zeigen, dass Verzeihen sogar davor schützen kann, dass Schmerzen chronisch werden. Und Forscher aus Italien berichten, dass übergewichtige »Frustesserinnen« stark abnahmen, nachdem sie ihren Ehemännern verschiedene Kränkungen verziehen hatten.

Im Jahr 2003 brachte ein Kongress die Koryphäen der sogenannten Forgiveness-Forschung im amerikanischen Atlanta zusammen, und zwar auf Initiative einer Kampagne für Vergebensforschung, zu deren Vorsitzenden keine Geringeren als die Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter und Desmond Tutu gehörten. Das macht deutlich, dass Vergeben und Verzeihen auch im internationalen Geschehen ein wichtiges Thema darstellen. Auf diese politische und gesellschaftliche Dimension bin ich im April 2009 ganz direkt gestoßen worden und zwar durch ein Kolloquium im Reha-Zentrum Seehof der Deutschen Rentenversicherung in Teltow bei Berlin. Dort ging es in Vorträgen von 25 Forschern aus aller Welt um »Politische und gesellschaftliche Dimensionen von Verbitterung und Vergebung«. Bei dieser Gelegenheit habe ich erfahren, dass Forgiveness Education unter anderem eingesetzt wurde, um nach dem Nordirland-Konflikt den Frieden im Land zu sichern. Über die Erfolge berichtete der Belfaster Psychologieprofessor Ed Cairns. Besonders beeindruckt war ich von der Psychologin Pumla Gobodo-Madikizela, die in Südafrika die Auswirkungen persönlicher Versöhnungsversuche auf Verbitterungsstörungen untersucht, die eine Folge der Apartheid sind.

»Was passiert, wenn ganze gesellschaftliche Gruppen verbittert sind?«, fragt wiederum der Berliner Psychiater und Psychosomatiker Michael Linden. Als Leiter der Abteilung für Verhaltenstherapie und Psychosomatik des Reha-Zentrums in Teltow behandelt er auch Menschen, deren Belastungsstörung im biographischen Zusammenhang mit der Wende 1989 und der darauffolgenden Wiedervereinigung Deutschlands steht. So zum Beispiel einen Sozialarbeiter, Mitte 50, der jahrelang ein kirchliches Waisenhaus leitete und sicher über die Wendezeit lenkte. Bis die plötzliche Kündigung ihn so hart traf, dass er ernsthaft psychisch erkrankte. »Verbitterungsstörungen, die in Folge eines negativen, als ungerecht betrachteten Lebensereignisses auftreten, werden oft als Depression missverstanden«, sagt Linden. Posttraumatische Verbitterungsstörungen diagnostizieren Psychiater auch bei Menschen, die Bespitzelungen durch nahe Vertraute erleben mussten. Jeder kennt das Gefühl der Verbitterung zumindest in Ansätzen, behauptet Linden. Meistens gibt es dafür konkrete Gründe, die sich schlecht ausradieren und komplett vergessen lassen. Besonders gravierende Beispiele sind schwere Misshandlungen und Vergewaltigungen in der Kindheit, für die »Missbrauch« ein unzulängliches begriffliches Etikett darstellt. Kommen solche schweren Kränkungen in einer Therapie zur Sprache, dann laufen auch geschulte Psychotherapeuten Gefahr, sich darauf zu fixieren. Und das aus gutem Grund: Denn in vielen Fällen ist ihren Klienten massiv Unrecht geschehen. Sie sind die »Opfer«, jeder mitfühlende, gerechtigkeitsliebende Mensch steht auf ihrer Seite. Andererseits helfen Therapeuten ihren Klienten nach Lindens Ansicht nur dann auf lange Sicht, wenn sie bei den Reaktionen auf das negative Lebensereignis ansetzen. Denn nur diese Reaktionen liegen in der Macht der »Opfer«, nur hier besteht die Chance auf Veränderung. Das ist eine Sichtweise, die mich nachhaltig beeindruckt hat.

»Weisheitstherapie« nennen Linden und seine Kollegen eine Spezialform der Kognitiven Verhaltenstherapie, die den Betroffenen Ressourcen schenken soll, um konstruktiv mit den unabänderlichen Tatsachen aus der Vergangenheit umzugehen. Und tatsächlich werden Anleihen bei Philosophen aus der Antike gemacht. Das Konzept will jedoch ganz praktische Lebenshilfe bieten, so wie es auch vielen griechischen und römischen Denkern vorschwebte. Denn was vermag Weisheit, wenn sie keinen praktischen Nutzen hat? Es gibt, wie wir später sehen werden, viele unterschiedliche Lösungsansätze für die drängenden Fragen, die sich den seelisch Verletzten stellen: Wie kann man möglichst glücklich (weiter-)leben, obwohl man die schmerzliche Erfahrung machen musste, dass die Welt alles andere als gut ist? Kann man Vergeben lernen? Kann und soll man eigentlich alles vergeben?

Fragen dieser Art beschäftigen auch Menschen, die Enttäuschungen erlebt haben, ohne dadurch therapiebedürftige Störungen zu entwickeln. Sie tauchen häufig im innerfamiliären Kontext, zwischen den Generationen, aber auch zwischen erwachsenen Geschwistern auf.

In den meisten Fällen ist das Vergeben aber eine Aufgabe für Partner innerhalb einer Paarbeziehung. Und zwar am häufigsten, nachdem er oder sie von einem Seitensprung erfahren hat. Heute komme das typischerweise heraus, erzählen Paartherapeuten, wenn der Partner, der Verdacht geschöpft hat, heimlich Nachrichten auf dem Handy oder E-Mails anschaue.

»Ein Seitensprung ist ein ganz elementar erlebter Vertrauensbruch«, sagt die Berliner Psychologin Monika Häußermann, die lange bei pro familia Paare beraten hat und jetzt als Paartherapeutin in einer eigenen Praxis arbeitet. Viele Menschen haben sich schließlich anfangs geschworen: Wenn mein Partner mich betrügt, dann verlasse ich ihn! Und die meisten glauben: Uns wird das nie passieren. »Das ist auch eine Art von Größenwahn«, kommentiert Häußermann nüchtern. Denn wenn es doch anders kommt, dann brauche es Zeit, bis man die Stärke habe, dem anderen verzeihen zu können. »Man muss dabei auch mit sich selbst ins Reine kommen, man muss es sich selbst verzeihen, dass man zum Verzeihen bereit ist!« Weil das »Opfer« aber meist ganz genau wissen will, warum der andere fremdging und wie sich alles im Detail abspielte, werden die Wunden zunächst immer wieder aufgerissen. Andererseits kann sich nur das »Opfer« selbst aus dieser Position herausholen. Und dazu gehört das Bewusstsein der Entscheidungsfreiheit, die wiederum bei materieller Abhängigkeit nicht gegeben ist. »Ich kann nur bleiben, wenn ich weiß, dass ich auch gehen könnte«, sagt die Paartherapeutin. Jeder muss für sich selbst prüfen, wo genau die Grenzen des Verzeihens liegen.

Renate Fischer hat schnell gespürt, dass sie ihren Otti zurück will – und trotz Verletzung und Enttäuschung verziehen. Aber kann man das Ruder so schnell herumreißen und von einem Tag auf den anderen den Entschluss zum Verzeihen fassen? Das schon, meint die Paartherapeutin, »aber die beiden werden jetzt anfangen müssen zu arbeiten.« Denn die Erfahrung der Untreue verändert eine Beziehung grundlegend. Dabei kann die Erkenntnis, dass Vergeben keineswegs ein selbstloser Akt ist, sondern der eigenen körperlichen wie seelischen Gesundheit nützt und die eigenen Kräfte stärkt, jedoch helfen, den Anfang zu wagen. Ein südamerikanisches Sprichwort sagt: »Mit jedem Male, da du einem anderen verzeihst, schwächst du ihn und stärkst dich selbst.« Wer den mühsamen Prozess des Vergebens wirklich durchlaufen hat, will wohl vor allem das zweite. Andererseits lässt sich aber auch der Gedanke nicht abweisen, dass Milde und Macht ein geheimes Verhältnis miteinander pflegen: Milde kann unter bestimmten Umständen zu Macht führen und das Gegenüber schwächen. Und auch umgekehrt: Der Mächtige kann es sich leisten, milde zu reagieren. Er kann Gnade vor Recht ergehen lassen. Ein Vorrecht des Herrschers, von dem der römische Kaiser Titus in Mozarts letzter Oper La clemenza di Tito (Die Milde des Titus) in geradezu unglaublichem Ausmaß Gebrauch macht. Der Mann verzichtet nicht nur nacheinander auf zwei Frauen, die er sehr liebt und gerne heiraten würde – das eine Mal, weil sein Volk dagegen ist, dass er eine Ausländerin heiratet, das andere Mal, weil die Auserwählte ihm offen gesteht, dass sie einen anderen liebt. Nein, er begnadigt auch seinen ehemals guten Freund, der ihm mit einem heimtückischen Anschlag nach dem Leben trachtete.

»Vergeben macht die Mächtigen noch mächtiger« – mit diesem Ausspruch zitiert die Theologin und Therapeutin Beate Weingardt den römischen Dichter Publius Syrus. Umgekehrt imponieren so viel Milde, so viel Verzeihensbereitschaft wohl allenfalls bei einem Herrscher. Wir anderen, mit weniger Machtbefugnissen Ausgestatteten, sind viel eher geneigt, unsere Nachsicht als Schwäche zu begreifen. Auch wer sich selbst viel durchgehen lässt, wird meist als schwacher Charakter eingeschätzt. Wie viel Nachsicht mit sich und anderen ist angemessen? Wo muss das Verzeihen seine Grenzen finden? Welcher Weg am Ende der »richtige« ist, das muss jeder ganz für sich allein entscheiden.

Ohnmacht und Verbitterung: Warum Verzeihen schwerfällt

»Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen und Urteile über sie beunruhigen die Menschen.«

Epiktet

Die Geschichte des Michael Kohlhaas

»An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Rosshändler namens Michael Kohlhaas, Familienvater aus dem Brandenburgischen und Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.« So beginnt Heinrich von Kleist seine berühmte Erzählung Michael Kohlhaas aus dem Jahr 1810. Darin wird dem Pferdehändler auf einer beruflichen Reise nach Sachsen durch Fürstenwillkür unbestreitbares Unrecht zugefügt: Ein Junker behauptet, eine Gesetzesänderung habe es mit sich gebracht, dass er nur mit einem Passierschein und gegen Zahlung einer Gebühr auf sächsisches Gebiet wechseln dürfe. Er, der Schlossherr, müsse zwei seiner Pferde als Pfand zurückbehalten, der Knecht des Pferdehändlers könne dableiben und sie versorgen. Kohlhaas zieht weiter, muss aber erkennen, dass er zum Narren gehalten wurde: Eine solche gesetzliche Bestimmung existiert nicht. Als er auf dem Rückweg seine Pferde in Empfang nehmen will, sind sie abgemagert, der Knecht misshandelt. Noch bleibt Kohlhaas ruhig und besonnen, er beschreitet den Rechtsweg und erhebt in Dresden Klage, erfolglos. Er macht eine Eingabe bei seinem brandenburgischen Landesherrn, die seine Ehefrau überbringt. Die geliebte Frau wird von der Schlosswache schwer verletzt und stirbt wenig später. Nun rastet der Pferdehändler aus: Er verkauft seine Besitztümer, schickt seine fünf Kinder zu Verwandten, bewaffnet seine Knechte, brennt die Burg des Junkers nieder und tötet alles, was sich ihm in den Weg stellt. Seine Anhängerschaft wächst. Mehrmals zündet er die Stadt Wittenberg an, weil der Junker sich dort versteckt hält.

»Die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte«, urteilt Kleist über seinen Helden. Und fügt hinzu: »Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.« Kohlhaas, der zunächst alles daransetzt, sein Recht zu bekommen, wird aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus und aus einem grundlegenden Misstrauen gegenüber den staatlichen Autoritäten wütend. An einer Stelle heißt es, er sei »in die Hölle unbefriedigter Rache zurückgeschleudert«. Aus seinem Bedürfnis nach Rache erwächst eine in ihren Folgen schreckliche Selbstjustiz.

Nur ein einziges Mal fällt in dieser langen, extrem verwickelten Erzählung das Wort Vergeben, allerdings an einer entscheidenden Stelle. Da hat sich Michael Kohlhaas in einer Verkleidung beim Reformator Martin Luther eingeschlichen, der sein Verhalten in einem Aushang öffentlich missbilligt hatte. Der Pferdehändler erweist sich als zugänglich für viele Argumente des Gottesmannes. Zum Schluss erbittet er sich von ihm das Sakrament der Buße. »Luther, nach einer kurzen Besinnung, indem er ihn scharf ansah, sagte: ja, Kohlhaas, das will ich tun! Der Herr aber, dessen Leib du begehrst, vergab seinem Feind. – Willst du, setzte er, da jener ihn betreten ansah, hinzu, dem Junker, der dich beleidigt hat, gleichfalls vergeben?« Allen könne er vergeben, erwidert Kohlhaas, den beiden Landesherren, den Bediensteten des Junkers »und wer mich sonst in dieser Sache gekränkt haben mag«. Der Junker selbst allerdings müsse sich seinen Bedingungen beugen und ihm die Pferde höchstpersönlich gut gefüttert und gepflegt wieder aushändigen, sonst sei kein Vergeben möglich.

Das Gespräch zwischen Kohlhaas und Luther bildet genau die Mitte der Erzählung, die noch zahlreiche weitere Verwicklungen enthält. Am Ende bekommt Kohlhaas von seinem Landesherrn sein Hab und Gut zurück, der Junker wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. »Ganz überwältigt von seinen Gefühlen« kniet Kohlhaas nieder. Danach muss er seinerseits wegen Landfriedensbruch dem Kaiser Genugtuung geben. Darauf steht die Todesstrafe.

Das Gerechtigkeitsempfinden könne zur »ausschweifenden Tugend« werden, sagt Kleist. Aus dem rechtschaffenen werde dann »einer der entsetzlichsten« Menschen. Ein »Michael Kohlhaas« ist seit Erscheinen von Kleists Erzählung im allgemeinen Sprachgebrauch einer, bei dem das eine in das andere umkippt. Wie das bei seinem Helden geschehen ist, zeigt Kleist ziemlich genau – ohne ausdrücklich zu »psychologisieren«: Kohlhaas wird nicht nur Schaden zugefügt, er wird auch von den Adligen verspottet, geradezu »gemobbt«. Er zweifelt an der Gerechtigkeit der Staaten, denen er bisher treu diente. Dass er schließlich ausrastet, hat mit einem schweren Trauma zu tun: Er musste erleben, dass seine geliebte Frau an den Folgen ihres selbstgewählten Einsatzes für seine gute Sache stirbt und seine fünf Kinder ihre Mutter verlieren. Jeder kann Michael Kohlhaas zunächst verstehen und sein Verhalten nachvollziehen. Und jeder wünscht sich gleichzeitig, dass er selbst hätte anders handeln können.

Was bitter macht

»Alles, was passiert ist, ist ständig präsent«

Ein Gespräch mit Richard H., der zuerst seine Familie und seine Kinder, dann seinen Job und irgendwann auch seinen Lebenssinn verlor

Die wenigsten Menschen werden die Frage, was sie an einem bestimmten Tag im Februar 2005 gemacht haben, heute noch auf Anhieb beantworten können. Ohne in ihrem alten Kalender zu blättern, können das wahrscheinlich nur diejenigen unter uns, die an diesem Tag ein Kind bekommen, sich Knall auf Fall verliebt, eine lang herbeigesehnte Reise angetreten oder den Job gewechselt haben.

Richard H. denkt morgens, mittags und abends an den Februar 2005. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht an das Vergangene erinnert wird. Und man merkt dem 44-Jährigen an, wie weh das Erinnern tut. »Es gibt Momente, da kann ich überhaupt nicht darüber sprechen«, sagt Richard H. Um dann zögernd, fast bedächtig, mit dem Erzählen anzufangen. Von dem Tag, an dem er abends von der Arbeit nach Hause kam und seine Münchner Wohnung leergeräumt vorfand. Seine Frau und die beiden drei- und sechsjährigen Töchter waren nicht da. Und es fehlten ein Großteil der Möbel und viele persönliche Dinge. »Dafür lag auf dem Fußboden ein Zettel mit wüsten Beschimpfungen und Beleidigungen.« Ohne Vorwarnung war seine Frau nach monatelanger, heimlicher Vorbereitung mit den Kindern ausgezogen. Wirklich aus heiterem Himmel? »Nun gut, es gab Streit, aber der war nicht so groß, dass man sagen könnte, so eine feige und hinterhältige Tat würde man der eigenen Partnerin zutrauen. Schließlich haben wir einen Tag zuvor noch einen lustigen Familienausflug gemacht, aber heute weiß ich, es war alles nur Fassade und falsches Spiel. Auch die Kinder wurden belogen und ohne Vorwarnung aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen, hatten nicht einmal Gelegenheit, sich von ihren Spielkameraden im Wohngebiet und den Freunden aus dem Kindergarten zu verabschieden. Selbst die Kindergärtnerin wurde getäuscht und wusste von nichts.«

Seine Frau war mit den Kindern in die Nähe von Dresden zurückgegangen. Da stammen sie und ihr Mann her, da haben sie beide Verwandtschaft. Nach München war die junge Familie einige Jahre zuvor gezogen, weil der studierte Elektrotechniker dort einen Job als Entwicklungsleiter bei einem Automobilhersteller bekommen hatte.

Richard H. kam aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Immer wieder ging ihm die Frage durch den Kopf, warum seine Frau ihm das angetan hatte. »Eine richtige Erklärung habe ich bis heute nicht, auch keine Entschuldigung.« Bei den Streitereien in den Monaten vor dem Auszug sei es in erster Linie ums Geld gegangen, er habe das nicht für gravierend gehalten, sagt er. Seine Frau hatte zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre nicht mehr gearbeitet, die Kinder waren halbtags im Kindergarten. »Andere Mütter waren aus ihrer Sicht besser gestellt. Obwohl sie immer bis nachmittags Zeit für sich allein hatte, wollte sie eine Putzfrau, eine Hilfe zum Einkaufen und noch eine, die meine Hemden bügelt. Sie hat sich auch einen eigenen BMW gewünscht, weil eine ihrer Freundinnen zu Weihnachten einen 3er BMW geschenkt bekommen hatte, nur konnten wir uns das zu diesem Zeitpunkt nicht annähernd leisten. Außerdem war sie drei bis vier Mal im Jahr für mehrere Wochen mit den Kindern allein im Urlaub, weil ich arbeiten musste, und dann fuhren wir noch mal gemeinsam in den Urlaub.« War es der Vergleich mit den gut situierten Damen in ihrem Münchner Umfeld, der seine Frau so unzufrieden machte? Oder entfremdeten sich die Ehepartner, weil sie kaum etwas zu zweit unternehmen konnten, was früher, in der Dresdner Zeit, immer wieder möglich gewesen war, weil Freunde und Verwandte auf die Kinder aufpassten? Richard H. sucht nach Antworten. Doch über diese Fragen habe er mit seiner Frau nie mehr sprechen können, sagt er heute. »Man konnte ja nicht einmal über die Kinder vernünftig reden, die sie bis heute als ihr Eigentum betrachtet. Ich habe am Wochenende doch nur noch auf der Autobahn gelebt, damit ich sie sehen konnte, fast Woche für Woche 1000 Kilometer.«

Streitereien um das Umgangsrecht kommen dazu, wie sie zahllose Väter kennen. Hier treten sie allerdings in verschärfter Form auf: Einmal kommt Richard H. eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit an der Haustür seiner Familie in Pirna an, erschöpft von den 500 Kilometern Fahrt am frühen Samstagmorgen. Weil kein Mensch da ist, informiert er die Polizei. Man könne aber nur tätig werden, wenn er den begründeten Verdacht habe, dass es den Kindern nicht gut gehe, sagt man ihm dort. Richard H. klingelt erneut an der Haustür, ruft ein weiteres Mal an, um dann der Polizei mitzuteilen, seine Töchter seien möglicherweise in der Wohnung eingesperrt und es würde ihnen etwas angetan. »Das war meine einzige Chance, sie mit Hilfe der Polizei doch noch zu Gesicht zu bekommen.« Dass diese Vorgehensweise für das Verhältnis zur Mutter der Kinder nicht gerade von Vorteil ist, darauf kann der frustrierte Vater in diesem Augenblick keine Rücksicht nehmen. So wütend ist er, so verzweifelt, so dringend möchte er seine Kinder sehen. Seine Frau verweigert jegliche Beteiligung an einem konstruktiven Umgang mit der Situation. »Sie hat die Kinder nicht ein einziges Mal nach München gebracht, auch nicht die kurze Strecke von Pirna nach Dresden.«

Richard H. selbst hat zu diesem Zeitpunkt bereits weitere schwere Schläge einstecken müssen: Erst einen gesundheitlichen Zusammenbruch mit langer Arbeitsunfähigkeit und diversen Aufenthalten in Krankenhäusern. Dann einen schweren Autounfall während einer der endlosen Fahrten von München nach Dresden. Aufgrund der vielen Belastungen sieht sich Richard H. im Herbst 2006 gezwungen, seinen Job in München aufzugeben. Er nimmt in Dresden bei einer Pharmafirma eine Stelle an, um den Kindern näher zu sein. In diesem Jahr reicht er auch die Scheidung ein, die zwei Jahre später rechtskräftig wird.

Der neue Job in Dresden hatte Richard H. gleich gefordert. »Ich trug viel Verantwortung, der Termindruck war immens, Überstunden wurden erwartet.« Und er merkte, dass er nicht völlig bei der Sache sein konnte. »Ich war mit dem Kopf immer wieder woanders, zeitweise wie gelähmt, konnte nichts dagegen tun.« Trotzdem habe er in seiner neuen Position innerhalb von eineinhalb Jahren ein schwieriges Projekt zum Abschluss gebracht, versichert er. »Am Ende hatten wir es geschafft, heute frage ich mich, zu welchem Preis.« Auf jeden Fall war Richard H. erschöpft, eine Zeit lang war er krankgeschrieben. Dann wurde ihm gekündigt. »Dubios« nennt er die Kündigung, denn Hinweise, dass man mit seiner Arbeit nicht zufrieden war, gab es aus seiner Sicht keine, ganz im Gegenteil. Und aufgrund von E-Mails, die er zuvor erhalten hatte, hält er es für möglich, dass eine verschmähte Liebe dahinter steckt. Denn er hatte sich einige Zeit zuvor von einer Frau getrennt, mit der ihn eine Bekanntschaft verbunden hatte, die er im Rückblick als lose beschreibt. »Wir hatten uns gelegentlich getroffen, es war nichts Enges, aber nun wurde ich ihr Stalking-Opfer.« Richard H. versichert, er habe Belege dafür, dass diese Frau ihn beim Finanzamt, beim Jugendamt und auch seinem Arbeitgeber gegenüber verleumdet hat.

Seitdem befindet sich Richard H. in einer verzweifelten, ausweglosen Situation: Er fühlt sich von seiner Exfrau feige und hinterhältig getäuscht, er kann sich nicht auf die Bedingungen einlassen, die das Jugendamt für den Umgang mit seinen Kindern festgelegt hat, er hat seinen Job verloren und es geht ihm gesundheitlich alles andere als gut. »Immer wieder dieses Unrecht«, sagt er. »Und nicht ein einziges Mal hat jemand versucht, meine Lage als Vater zu verstehen.«

Wut, Trauer, Enttäuschung: Richard H. kann die Gefühle nicht mehr voneinander unterscheiden, die ihn überkommen, wenn er an die Ereignisse der letzten fünf Jahre denkt. Es ist, als hätten alle immer wieder in dieselbe Kerbe gehauen, bis er es nicht mehr aushielt. Die negativen Gefühle betreffen inzwischen längst nicht mehr nur seine Exfrau, sondern auch die Jugendämter, seinen ehemaligen Arbeitgeber in Dresden und die Frau, die ihn dort angeschwärzt hat.

Und mit das Schlimmste ist vielleicht, dass das alles überhaupt nicht zu dem Bild passt, das der 44-Jährige von sich selbst hat. »Ich war immer der Typ, der es wissen wollte, ich wollte im Leben durch Leistung vorankommen.« Manche hätten ihn als Streber eingestuft, sagt er über den Schüler und Studenten, der er einmal war. Er war technisch interessiert, zeichnete sich durch Zielstrebigkeit und Akkuratesse aus. Davon, wie gut er sich in eine komplizierte Materie einarbeiten konnte, zeugt nicht zuletzt eine wissenschaftliche Arbeit über den Einsatz von Lasertechnik in der Augenheilkunde. Und sein beruflicher Erfolg in mehreren Firmen: »Doch jetzt, in dieser Lebenskrise, da bin ich machtlos!«

Das Einheitsgrau, in das sein Leben nach der Kündigung und seit dem für ihn unannehmbaren Ausgang des Sorgerechtsverfahrens im Frühjahr 2009 getaucht ist, als er die Klingel und das Telefon zeitweise abgestellt hat, um nichts und niemanden mehr hören und sehen zu müssen, war auf Dauer nicht mehr zu ertragen. Dazu kamen gesundheitliche Beschwerden, die ihn gehörig beunruhigten, unter anderem Herzprobleme und ein erneuter körperlicher Zusammenbruch. Der Hausarzt riet ihm, psychotherapeutische und psychosomatische Hilfe zu suchen. Richard H. reagierte ablehnend. »Für mich war das eine Hürde, ich habe mich nicht als jemanden gesehen, der ›in die Klapse‹ muss«, erzählt er. Er konnte seine Probleme immer selbst lösen. Und außerdem: »Was soll das Reden bringen, wenn die Probleme und die Ursachen sich nicht ändern?«

Jetzt sitzen wir uns in der Abteilung für Verhaltenstherapie und Psychosomatik des Rehabilitationszentrums Seehof in Teltow bei Berlin gegenüber. Seit acht Wochen ist Richard H. hier in Behandlung. Unabhängig von diesem schwarzen Tag im Februar 2005 gibt es noch andere Dinge, die ihm nicht mehr aus dem Kopf wollen.

Ein paar Monate bevor er in die Klinik kam, hatte sich seine Situation weiter zugespitzt. Er war deprimiert und ohne Antrieb, hatte seine Wohnung praktisch nicht mehr verlassen. »Es war nun die Frage: Wie soll ich überhaupt weiterleben, vor allem wofür? Es ist alles sinnlos geworden.«

Zu Beginn der Behandlung hatte er immer wieder Zweifel, ob der Psychotherapeut seine Situation und seine Nöte verstehen könne. »Ich wusste nicht, was wirklich bei ihm angekommen war.«

Inzwischen, nach mehreren Wochen intensiver Therapie im Reha-Zentrum Seehof, sieht er das ein wenig anders. Richard H. will reden. »Und auf jeden Fall ist es für mich wichtig zu sehen, dass es viele andere Menschen gibt, die in einer ähnlich schwierigen Situation stecken, ob nun in der Arbeit oder in der Familie.« Schon deshalb sind die Gruppensitzungen für ihn wichtig, in denen die Probleme ausgetauscht und besprochen werden.