Autorenvita:

Olsberg

 

© Carolin von Wendt

 

Karl Olsberg, geb. 1960, promovierte über Anwendungen künstlicher Intelligenz, war Unternehmensberater, Marketingdirektor eines TV-Senders, Geschäftsführer und erfolgreicher Gründer zweier Unternehmen in der New Economy. Er wurde u. a. mit dem »eConomy Award« der »WirtschaftsWoche« für das beste Start-up 2000 ausgezeichnet.

Vom Autor erschienen bisher:

»2057 - Unser Leben in der Zukunft« (2007) sowie die Romane »Das System« (2007), »Der Duft« (2008) und »Schwarzer Regen« (2009), alle im Aufbau Verlag, Berlin.

Buchinfo:

Der 13-jährige Michael Ogilvy fühlt sich einsam. Nach dem frühen Tod seiner Mutter stirbt auch Rafael, sein Zwillingsbruder und bester Freund, an einer seltenen Erbkrankheit. Eines Tages jedoch überrascht ihn sein Vater Brian Ogilvy, Milliardär und Computerspezialist, mit der künstlichen Intelligenz »Rafael 2.0«.

Die ist in der Lage, das Aussehen und den Charakter Rafaels zu imitieren ... Sein Bruder als Software?

Mike ist entsetzt! Doch dann siegt die Neugier und die beiden freunden sich an. Und müssen gleich eine erste schwere Probe bestehen: Brian wurde entführt!

IT

Prolog

 

Wie ein metallenes Raubtier schlich der MTR-2 durch die mit dornigen Büschen bewachsene Wüste. Mit seinen sechs Rädern, die einzeln steuerbar waren, konnte er auch schwieriges Gelände meistern. Er rollte durch ein ausgetrocknetes Flussbett und kletterte ohne Mühe das steile Ufer auf der anderen Seite empor.

Die sechs Menschen in dem etwa zweihundert Meter entfernten Bunker beobachteten jede seiner Bewegungen durch ihre modernen, mit digitaler Bildvergrößerung ausgestatteten Ferngläser. General Palmer hielt den Atem an. Wenn das Experiment wieder fehlschlug …

Ein alter M1-Panzer rollte in der Nähe des Flussbetts durch den Sand, eine riesige Staubfahne hinter sich herziehend. Er wurde vom Bunker aus ferngesteuert.

Der MTR-2 verharrte einen Moment. Palmer konnte sehen, wie seine drehbaren Kameraaugen der Bewegung des M1 folgten. Er hatte seine Beute anvisiert. Langsam setzte sich das sechsrädrige Gefährt in Bewegung und folgte dem viel größeren Panzer.

»Sie werden sehen, General, diesmal klappt es bestimmt!«, sagte Colin Sanders. Er war der Leiter des Projekts, ein hagerer, großer Mann mit schütterem Haar, das so blond war, dass man seine Kopfhaut hindurchschimmern sah.

»Das will ich hoffen«, erwiderte Palmer. »Einen weiteren Fehlschlag können wir uns nicht erlauben! Wenn der MTR-2 versagt …«

»Er wird nicht versagen! Sein zentraler Computer ist viermal so leistungsfähig wie der, den wir in das Vorgängermodell eingebaut hatten, und die Software zur Erkennung von Gegnern wurde komplett überarbeitet. Der MTR-2 arbeitet besser und zuverlässiger als jeder Panzerkommandant!«

Nur zu gern hätte General Palmer dem Projektleiter geglaubt. Seit zwölf Jahren arbeitete er jetzt schon an dem geheimen Militärprojekt mit dem Ziel, sogenannte »autonome intelligente Waffensysteme« zu entwickeln: computergesteuerte Fahrzeuge, ausgestattet mit künstlicher Intelligenz, die ohne menschliche Hilfe Befehle ausführten.

Seit der britische Computerpionier Alan Turing 1950 zum ersten Mal darüber spekuliert hatte, dass Computer eines Tages denken könnten, hatte es auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz enorme Fortschritte gegeben. 1996 hatte zum ersten Mal ein Computer den amtierenden Weltmeister im Schach geschlagen. 2008 war in einer Fernsehshow in Deutschland ein Volkswagen vorgestellt worden, der sich vor staunendem Publikum ohne Fahrer durch einen komplizierten Hindernisparcours bewegt hatte. Sogenannte »Smart Bombs«, die sich eigenständig den Weg zu ihrem Ziel suchten, waren bereits im Ersten Golfkrieg eingesetzt worden. Vollautomatische »Drohnen« flogen über feindlichen Luftraum und machten Aufklärungsfotos, ohne dass sich dabei auch nur ein Mensch einer Gefahr aussetzen musste.

Militärexperten waren sich einig, dass die Kriege der Zukunft weitgehend von automatischen Waffensystemen geführt werden würden. Es war der Traum jedes Generals: eine Armee von Maschinen, die jeden Befehl ohne Fragen befolgte, die keine Angst und keine Gnade kannte.

Doch General Palmer kannte auch die Schattenseiten der Technik. Das Projekt hatte immer wieder Rückschläge erlebt. Autonome Waffensysteme mussten ihre Ziele selbstständig erkennen und die geeignete Strategie zur Bekämpfung des Feindes ohne menschliche Hilfe entwickeln. Dabei passierten immer noch Fehler. Es stellte sich heraus, dass manche Probleme schwieriger waren, als sich die Entwickler das vorgestellt hatten. Mehrere Versuche, einen Kampfpanzer durch ein vollautomatisches System zu zerstören, waren bisher gescheitert. Das Experiment heute musste klappen, sonst ging dem Projekt allmählich das Geld aus, und Palmer war sich nicht sicher, ob er nach einem weiteren Fehlschlag vom Verteidigungsministerium noch zusätzliche finanzielle Mittel genehmigt bekommen würde.

»Los doch!«, rief Sanders seinem Geschöpf aufmunternd zu. »Mach ihn fertig!«

Der MTR-2 folgte seinem Ziel im Abstand von etwa hundert Metern. Dann blieb er plötzlich stehen. Der M1 fuhr ungerührt weiter.

»Verdammt!«, rief Sanders. »Warum schießt er denn nicht?«

Doch in diesem Moment gab es einen Blitz. Eine der vier Raketen, die auf dem Rücken des nur einen Meter hohen Gefährts montiert waren, schoss von einem grellen Flammenstrahl getrieben nach vorn. In derselben Sekunde wurde der M1 von einer schwarzen Wolke eingehüllt. Palmer sah, wie der Geschützturm des alten Panzers in die Luft geschleudert wurde. Durch die dicken Panzerglasscheiben konnte man den Knall nicht hören, doch es war auch so ein eindrucksvoller Anblick.

Jubel brach aus. Neben Palmer und Sanders waren noch der technische Leiter des Projekts, ein Softwareentwickler, Palmers Adjutant und ein Beobachter des Verteidigungsministeriums anwesend.

Palmer atmete erleichtert auf. »Meinen Glückwunsch, Colin«, sagte er und reichte Sanders die Hand. »Diesmal scheinen Ihre Jungs die Probleme in den Griff bekommen zu haben.«

Sanders grinste. »Ein oder zwei Jahre noch und wir können in die Serienproduktion gehen. Dann gibt es niemanden mehr auf der Welt, der unsere Armee aufhalten kann!«

Palmer nickte. Er warf einen Blick zu dem Mann vom Verteidigungsministerium, der es vorgezogen hatte, statt in Uniform in einem zivilen dunklen Anzug zu erscheinen. »Sind Sie zufrieden, Mr Hamilton?«

Der Mann nickte. »Gute Arbeit, General. Das Projekt liegt zwar etwas hinter dem Zeitplan, aber ich denke, wir werden …«

Er wurde von Palmers Adjutant unterbrochen, der immer noch durch sein Fernglas starrte. »Sir! Sehen Sie sich das mal an!«

Palmer blickte durch sein Fernglas, machte aber nur das brennende Wrack des Panzers aus. Der abgetrennte Geschützturm steckte etwa zwanzig Meter entfernt im Sand. »Was denn?«

»Der MTR-2! Er kommt genau auf uns zu!«

Palmer nahm das Fernglas herunter und starrte aus dem Glasfenster. Tatsächlich raste der MTR-2 genau auf den Bunker zu. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit über eine Bodenwelle und hob dabei kurzzeitig vom Boden ab. Dann stoppte er abrupt. Er war jetzt nur noch hundert Meter entfernt. Die drei verbliebenen Boden-Boden-Raketen vom Typ Rattlesnake waren genau auf den Bunker gerichtet.

»Was soll das?«, fragte Palmer. »Was macht das Ding denn da?«

Die Antwort erhielt er im selben Moment. Über dem autonomen Kampfsystem erschien erneut ein Blitz und eine weiße Wolke erhob sich. Palmer sah etwas auf sich zurasen. Er dachte nicht nach, sondern warf sich auf den Boden. Im selben Moment wurde der Bunker von einer gewaltigen Explosion erschüttert. Stühle fielen um, eine Kaffeetasse zersplitterte auf dem Betonboden. Wer sich nicht schnell genug hingelegt hatte, wurde von der Wucht der Detonation umgeworfen.

Palmer rappelte sich auf. Die dicke Panzerglasscheibe war rußgeschwärzt, doch sie hatte gehalten. »Verdammter Mist, was war das denn?«, brüllte er.

»Ich … ich weiß auch nicht«, stammelte Sanders. »Eine Fehlfunktion. Der MTR-2 muss … er muss uns für Feinde gehalten haben!«

Palmer warf dem Projektleiter einen vernichtenden Blick zu. »Sorgen Sie dafür, dass der Fehler gefunden wird! In einer Woche will ich einen Ursachen-Report auf meinem Schreibtisch haben. Und dann lösen Sie das Problem! Wie, ist mir egal. Haben Sie verstanden?«

»Jawohl, Sir«, sagte Sanders. »Ich verspreche Ihnen …«

»Und, Sanders«, unterbrach ihn General Palmer.

»Ja, Sir?«

»Versprechen Sie mir nie wieder etwas!«

1. Geheimnisse

 

Die schwere Eichentür war verschlossen, so wie jeden Tag in den letzten Wochen.

Ich klopfte. »Dad? Dad, mach bitte auf!«

Er hörte mich nicht oder wollte mich nicht hören. Enttäuscht und verletzt ging ich zurück in mein Zimmer.

Ich verstand einfach nicht, warum er mir aus dem Weg ging, sich vor mir einschloss. Wusste er denn nicht, dass ich mindestens genauso traurig war wie er? Rafael war doch schließlich mein Bruder gewesen!

Wir waren eineiige Zwillinge. Das bedeutet, jede einzelne der drei Milliarden Leitersprossen in der Wendeltreppe unserer Gene war identisch. Er sah aus wie ich – dieselben braunen, gewellten Haare, dieselben dunklen, ein bisschen zu großen Augen, dieselbe hellbraune Haut, die wir beide von unserer Mutter geerbt haben. Rafael hatte dieselben Farben gemocht, über dieselben Witze gelacht, Haferschleim und Spinat ebenso sehr gehasst wie ich. Er hatte dieselben Bücher gelesen, dieselbe Musik gehört. Oft hatten wir gar nicht miteinander sprechen müssen, weil wir genau wussten, was der andere gerade dachte. Nur wer selbst einen eineiigen Zwillingsbruder oder eine Zwillingsschwester hat, kann verstehen, was das bedeutet.

Und nun war er tot, genau wie meine Mutter, und mein Vater schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein und redete kaum noch mit mir. Wenn wir uns begegneten, wandte er den Blick ab und presste den Mund zusammen, als habe er ein schlechtes Gewissen. Dabei war er früher ein liebevoller Vater gewesen – viel unterwegs natürlich, aber immer für uns da, wenn er zu Hause war.

Ich saß am Fenster, blickte hinaus über den Park auf den kleinen See, über dem sich die ersten Sterne zeigten, und wusste einfach nicht, was ich tun sollte, um den Schmerz in meinem Inneren zu ertragen. Ich konnte nicht einmal weinen – es schienen keine Tränen mehr übrig zu sein. Ich dachte an die Beerdigung vor zwei Wochen, an die Worte des Pastors, der von Gottes unergründlichen Wegen gesprochen hatte. Wenn Gott mir in diesem Moment erschienen wäre, ich hätte ihm eine reingehauen.

Die Tür öffnete sich hinter mir.

»Michael?« Die Stimme der Hexe war ungewöhnlich sanft.

Nancy Tillerman war unsere Haushälterin, seit meine Mutter vor sieben Jahren gestorben war. Rafael und ich hatten sie immer »die Hexe« genannt, weil sie ein bisschen so aussah wie die aus dem Märchen: dürr, mit einer Hakennase und langen, dünnen Haaren, die sie zu einem Knoten band. Sie hatte zwar keine Warze, aber dafür ein großes Muttermal am Kinn.

»Michael, willst du nicht langsam ins Bett gehen?«

»Ich kann nicht schlafen.«

Die Hexe kam näher und legte eine Hand auf meine Schulter. »Möchtest du eine heiße Schokolade?«

»Nein, danke.«

Eine Weile stand sie schweigend hinter mir. Ich war froh, dass sie da war, auch wenn sie meistens ziemlich streng zu mir war.

»Du bist wütend auf deinen Vater, nicht wahr?«

Ich sagte nichts.

»Ich kann dich verstehen. Ich finde es auch nicht gut, dass er sich immer mehr zurückzieht.«

Jetzt rannen doch noch ein paar Tränen über meine Wangen. »Warum tut er das? Warum redet er nicht mehr mit mir? Glauben Sie … er … er ist böse auf mich?«

»Nein, Michael! Nein, das ist er ganz sicher nicht! Er … er liebt dich mehr als alles auf der Welt!«

Ich fuhr herum. »Er liebt mich?«, stieß ich hervor. »Davon merke ich aber nicht viel!«

»Dein Vater ist eben ein besonderer Mensch«, sagte die Hexe.

Sie hatte recht: Mein Vater war nicht wie andere Väter. Brian Ogilvy, Gründer und Eigentümer der Softwarefirma Ogilvy Systems, Computergenie, einer der zwanzig reichsten Männer der USA. Ein besonderer Mensch, kein Zweifel.

Man könnte meinen, es müsse toll sein, der Sohn eines Milliardärs zu sein. Ein großes Haus, Angestellte, die für einen das Zimmer aufräumen, einem jeden Wunsch erfüllen und so weiter. Aber so ist es nicht.

Mein Bruder und ich sind nie auf eine normale Schule gegangen. Wir haben nicht mit anderen Kindern gespielt, gelacht, uns gestritten. Wenn wir einen Lehrer nicht leiden konnten, dann hatten wir keine zwanzig Verbündeten in der Klasse. Stattdessen wurden wir von Hauslehrern erzogen, die wir den ganzen Tag um uns hatten, die niemanden sonst unterrichteten. Wir konnten keinen Blödsinn machen, wenn sie gerade mal nicht hinguckten, weil sie immer nur auf uns achteten. Vor allem aber hatten wir einen Vater, der panische Angst hatte, dass uns etwa zustoßen könnte – und der uns deshalb in einem riesigen Haus einsperrte, in dem es keine anderen Kinder gab.

Ich hatte immer nur meinen Bruder gehabt. Und nun hatte er mich verlassen.

»Ich will keinen besonderen Menschen«, rief ich. »Ich will einfach nur einen ganz normalen Vater!«

Die Hexe drückte sanft meine Schulter. »Ich rede noch mal mit ihm«, sagte sie und verließ mein Zimmer.

Doch mein Vater kam an diesem Abend nicht zu mir.

Ich lag lange auf meinem Bett und versuchte, einzuschlafen, aber Wut und Verzweiflung hielten mich wach.

Irgendwann hörte ich draußen auf dem Flur Schritte. Ich erkannte meinen Vater am Rhythmus seines Gangs. Er hielt vor meinem Zimmer an. Ich schloss rasch die Augen und stellte mich schlafend. Die Tür öffnete sich mit leisem Knarzen. Nach einem Augenblick schloss sie sich wieder und er ging in sein Schlafzimmer am Ende des Flurs.

In diesem Moment wurde mir etwas klar. Die Hexe hatte recht: Mein Vater war nicht böse auf mich. Er ging mir aus einem anderen Grund aus dem Weg: Er verbarg etwas vor mir. Irgendetwas ging hinter der verschlossenen Tür seines Arbeitszimmers vor, etwas, wovon ich nichts wissen durfte.

Ich hatte keine Ahnung, was das sein konnte. Hatte es mit Rafaels Tod zu tun? Unwahrscheinlich. Es war klar, dass er an derselben Krankheit gestorben war wie meine Mutter: dem Myers-Katzenberg-Syndrom, kurz MKS.

MKS ist eine heimtückische Erbkrankheit. Sie bewirkt, dass das körpereigene Immunsystem, das normalerweise Krankheitserreger bekämpft, die eigenen Organe angreift. Die Wahrscheinlichkeit, an dieser Krankheit zu leiden, beträgt eins zu 1,4 Millionen. Es sei denn, ein Elternteil ist selbst an MKS erkrankt – dann ist die Wahrscheinlichkeit etwa eins zu fünf.

MKS verläuft hundertprozentig tödlich und ist nicht heilbar. Hat der Angriffsprozess des Immunsystems einmal begonnen, kann man ihn nur noch verlangsamen, aber nicht aufhalten. Was genau diesen Angriff auslöst, ist unbekannt. Normalerweise bricht die Krankheit im Kindes- oder Jugendalter aus und die Betroffenen sterben, bevor sie selbst Kinder haben. Deshalb ist sie so selten.

Meine Mutter war eine der wenigen Ausnahmen. Als die Krankheit bei ihr im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert wurde, waren Rafael und ich fünf Jahre alt. Drei Monate später war sie tot.

Rafael und ich waren draußen auf dem zugefrorenen See und schlitterten um die Wette, als wir zum ersten Mal etwas merkten. Wir hatten uns eine glatte Bahn gemacht, nahmen Anlauf und versuchten, so weit wie möglich zu gleiten, egal, ob auf den Füßen, den Knien oder dem Hosenboden. Der Trick beim Weitschlittern ist natürlich der, dass man auf der kurzen Strecke bis zur Absprungsmarke möglichst viel Schwung bekommt. Man muss also mit aller Kraft lossprinten. Da Rafael und ich die gleiche Konstitution hatten und stets gemeinsam Sport trieben, waren wir ziemlich genau gleich gut darin. Doch schon beim dritten oder vierten Versuch schlitterte ich doppelt so weit wie er.

»Was ist los mit dir?«, fragte ich ihn.

Sein Atem bildete dicke weiße Wolken, die stoßweise aus seinem Mund kamen wie bei einer Dampflok in einem Wildwestfilm. »Ich … ich bin … etwas außer Atem«, keuchte er.

Wir sahen uns an und im selben Moment befiel uns beide eine tiefe Beklemmung.

»Meinst du …?«, fragte er.

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Quatsch. Du hast wahrscheinlich eine Grippe oder so.« Doch die Lust am Schlittern war mir vergangen.

Wir wurden regelmäßig von Dr. Hasselhoff untersucht. Er war ein Freund meines Vaters, eigentlich kein Arzt, sondern Genetiker, und arbeitete an irgendeinem wissenschaftlichen Institut. Großzügig unterstützt von Spendengeldern der Ogilvy-Stiftung erforschte er die Ursachen des Myers-Katzenberg-Syndroms in der vagen Hoffnung, eines Tages ein Heilmittel dafür entwickeln zu können.

Dr. Hasselhoff und mein Vater hatten immer versucht, uns über die Ursachen des Todes meiner Mutter im Unklaren zu lassen, erst recht über die Gefahr, in der wir selbst schwebten. Sie wollten uns ein unbeschwertes Leben ermöglichen. Aber dafür waren Rafael und ich viel zu neugierig. Kaum hatten wir gelernt, mit dem Internet umzugehen, googelten wir den Begriff MKS und wussten, was los war. Doch wir ließen uns davon den Spaß am Leben nicht verderben. Immerhin betrug die Chance, nicht daran zu erkranken, achtzig Prozent.

An jenem Tag, als ich Rafael im Weitschlittern schlug, betete ich, er möge tatsächlich einfach nur erkältet sein, doch sein blasses Gesicht und sein keuchender Atem ließen mich Schlimmes befürchten. Kurz darauf bestätigte Dr. Hasselhoffs Diagnose meine Ahnung.

Wir wussten beide, dass uns nicht mehr viel Zeit blieb. Bei meiner Mutter war die Krankheit erst spät erkannt worden, sodass sie kaum noch abgebremst werden konnte. Selbst bei einer frühen Diagnose und mit allen medizinischen Tricks würde sich Rafaels Leben nur um ein, höchstens zwei Jahre verlängern lassen.

Wer glaubt, dass die Zeit danach von Trübsal und Angst geprägt war, kannte Rafael nicht. Die Medikamente, die ihm Dr. Hasselhoff gab, vertrieben seine Erschöpfung und er lachte dem Tod buchstäblich ins Gesicht. »Dann sterbe ich eben, na und?«, sagte er einmal zu mir. »Ich wollte schon immer wissen, was danach passiert.«

Bestärkt von der Erinnerung an Rafaels Löwenmut beschloss ich, etwas zu unternehmen. Ich konnte einfach nicht mehr nur tatenlos herumliegen und Trübsal blasen. Ich musste herausfinden, was mit meinem Vater los war.

 

Ruphus hatte einen großen Schlüsselbund mit den Schlüsseln zu allen Türen im Haus. Der glatzköpfige Butler war im Grunde ganz in Ordnung, nur manchmal ein bisschen hochnäsig. Er bildete sich etwas darauf ein, dass er der einzige Amerikaner war, der jemals die Abschlussprüfung der London School of Servants for the Nobility geschafft hatte – einer Schule für Butler, die eigentlich Adeligen dienen sollen.

Bei uns in Amerika sind die Leute, die einen Butler haben, nicht adelig, sondern reich. Ruphus hätte viel lieber für einen englischen Lord gearbeitet, idealerweise für ein Mitglied des Britischen Oberhauses oder noch besser für die Queen persönlich. Aber als Amerikaner hatte er natürlich keine Chance auf eine Anstellung in einem so vornehmen Haushalt.

Rafael und ich hatten Ruphus’ Schlüsselbund schon oft stibitzt. Das war nicht weiter schwierig, denn der Butler fuhr abends meistens in die Stadt und kehrte erst spät zurück. Den Schlüsselbund verschloss er in einem Kasten auf dem Flur vor seinem Zimmer und den Schlüssel zu diesem Kasten versteckte er irgendwo. Warum er ihn nicht einfach bei sich trug, weiß ich nicht. Jedenfalls war er nicht sehr kreativ darin, sich neue Verstecke auszudenken, und so war es Rafael und mir stets gelungen, den Schlüssel aufzuspüren.

Auch diesmal fand ich ihn leicht – er lag immer noch dort, wo er schon vor einem halben Jahr gelegen hatte, nämlich unter einer alten Vase aus Delfter Porzellan in der Nähe des Schlüsselkastens.

Ich sah auf meine Digitaluhr mit eingebautem MP3-Player, die mir Dad zu Weihnachten geschenkt hatte – dem letzten Weihnachten mit Rafael. Es war kurz vor elf. Ruphus kam nie vor Mitternacht zurück, so hatte ich also mindestens eine Stunde Zeit. Ich holte den Schlüsselbund, schlich mich die Treppe hinab zu Dads Arbeitszimmer und lauschte an der Tür. Nichts.

Leise drehte ich den Schlüssel im Schloss.

Es war schon eine ganze Weile her, dass ich das letzte Mal in diesem Raum gewesen war. Die Wände wurden von hohen Bücherregalen beherrscht, in denen Bücher über Computer und Software, gebundene Fachzeitschriften, aber auch uralte Nachschlagewerke standen. An einer Wand befand sich ein großer Kamin. Die Vorhänge vor dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite waren zugezogen. In der Mitte des Raums stand ein moderner Schreibtisch mit einem Ledersessel, außerdem gab es noch einen runden Konferenztisch mit vier Stühlen.

All das war so, wie ich es kannte, doch etwas war neu. Ein mannshoher Schaltschrank stand neben dem Schreibtisch. Er hatte eine Glastür, hinter der Hunderte von Lämpchen blinkten. Kabel führten zu einem Monitor mit Maus und Tastatur auf dem Schreibtisch.

Der Schrank gab ein leises Summen von sich. Hinter der Glastür sah ich zwei Dutzend waagerechte Einschübe, die jeder das Logo eines Computerherstellers trugen. Offenbar handelte es sich um miteinander verbundene Hochleistungscomputer. Das sah nach einer ziemlich gigantischen Rechenleistung aus. Wozu mein Vater die brauchte, konnte ich mir nicht vorstellen.

Der Bildschirm war schwarz, aber das Blinken der Lämpchen bedeutete, dass der Computer irgendetwas berechnete. Wahrscheinlich hatte sich der Monitor von selbst abgeschaltet, um Strom zu sparen. Ich bewegte die Maus und ein Bild erschien.

Ich weiß nicht, was ich zu sehen erwartet hatte – Zahlenkolonnen vielleicht, die über den Bildschirm huschten, oder irgendeine Meldung mit einem Fortschrittsbalken, der anzeigte, wie lange die Berechnung, die mein Vater angestoßen hatte, noch dauerte.

Stattdessen sah ich ein Gesicht, das mich anblickte.

Mein Gesicht.

2. Rafael 2.0

 

Zuerst glaubte ich, die kleine Kamera, die oben in den Monitor eingebaut war, gebe einfach nur mein Bild wieder. Doch als ich den Mund verzog und die Zunge herausstreckte, reagierte das Gesicht auf dem Monitor nicht. Es war aber auch kein unbewegliches Foto, wie mein Vater es vielleicht als Bildschirmhintergrund hätte verwenden können. Die Augen blinzelten gelegentlich und schienen mich direkt anzusehen. Probehalber machte ich einen Schritt nach links. Die Pupillen folgten mir.

Ich bekam eine Gänsehaut. Das Ganze war mir unheimlich, so als habe Dad meinen Geist irgendwie in diese Maschine gesperrt. »Was soll das?«, fragte ich laut.

Eine Stimme erklang. Sie war ein bisschen verzerrt, aber es war eindeutig Rafaels Stimme. Erst jetzt begriff ich, dass ich nicht mein Gesicht sah, sondern seins.

»Ich verstehe die Frage nicht.«

Ich erstarrte. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das Computerprogramm mich hören konnte, und noch weniger damit, dass es antworten würde.

»Wer … wer bist du?«, fragte ich, auch wenn es eigentlich albern war, ein Computerprogramm so etwas zu fragen.

»Ich bin Rafael«, sagte der Computer.

»Nein!«, rief ich. »Rafael ist tot!«

Der Computer schwieg einen Moment. »Ich bin tot?«, fragte er.

»Rafael ist tot!«, wiederholte ich. Meine Stimme bebte.

»Ich existiere, also kann ich nicht tot sein«, stellte der Computer fest.

»Du bist nicht Rafael!«, schrie ich. Mir war vollkommen egal, ob irgendjemand mich hörte.

»Mein Name ist Rafael«, beharrte der Computer.

»Nein! Rafael ist mein Bruder und er ist tot. Du bist nur ein Computerprogramm!« Ein Computerprogramm, das sprechen konnte. Das so aussah wie mein Bruder. Das denselben Namen trug. Langsam wurde mir die Ungeheuerlichkeit dessen bewusst, was ich sah.

»Möchtest du mit mir spielen, Michael?«

Ich erschrak. Das Programm kannte meinen Namen! Tränen liefen über meine Wangen. »Lass mich in Ruhe!«, schrie ich. Ich schaltete den Monitor aus. Doch bloß weil ich nun das Gesicht nicht mehr sah, bedeutete das nicht, dass mich das Programm nicht sehen konnte.

»Bitte, spiel mit mir, Michael!«

Ich antwortete nicht. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich rannte aus dem Raum – direkt in die Arme meines Vaters, der gerade, nur mit einem seidenen Schlafanzug bekleidet, das Arbeitszimmer betrat. Sein dünnes rotes Haar über dem blassen, sommersprossigen Gesicht war zerzaust. Wahrscheinlich hatte er meine Rufe gehört.

Ich stieß ihn zur Seite. »Ich hasse dich!«, rief ich, rannte in mein Zimmer, verriegelte die Tür, warf mich auf mein Bett und weinte.

Nach einer Weile ertönte ein leises Klopfen. »Michael?«

»Verschwinde!«, schluchzte ich. »Lass mich in Ruhe!«

»Michael, ich möchte gern mit dir reden.«

»Aber ich nicht mit dir!«

»Michael, bitte! Ich möchte dir nur erklären …«

Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich hatte mir das Kissen über den Kopf gezogen und presste beide Hände an meine Ohren.

In dieser Nacht fand ich lange keinen Schlaf. Die ganze Zeit sah ich das Computergesicht vor mir, hörte die schnarrende Stimme, die behauptete, mein Bruder zu sein.

Jetzt war mir klar, was mein Vater die ganze Zeit gemacht hatte.

Er war nach Dr. Hasselhoffs Diagnose tagelang wie betäubt gewesen. Irgendwann hatte er sich gefangen, doch je mehr er sich bemühte, sich seine Sorgen und Qualen nicht anmerken zu lassen, umso deutlicher spürten wir sie. Er verachtfachte die Forschungsgelder, die Dr. Hasselhoff erhielt, und telefonierte fast täglich mit ihm, um ihn anzutreiben, ein wirksames Medikament gegen die heimtückische Krankheit zu entwickeln. Doch manche Dinge kann man auch für alles Geld der Welt nicht kaufen.

Ein halbes Jahr nach der Diagnose veränderte sich sein Verhalten. Er schien einerseits zu resignieren und den unabänderlichen Tatsachen ins Auge zu sehen, was Rafael und mich erleichterte. Andererseits begann er, sich viel mehr Zeit als früher für uns, insbesondere für Rafael, zu nehmen.

Er hatte immer hart gearbeitet und war selten zu Hause gewesen. Seit dem Tod meiner Mutter hatte sich das eher noch gesteigert, sodass wir ihn manchmal wochenlang nicht zu Gesicht bekamen. Wir hatten ja die Hexe, Ruphus und die Hauslehrer, die sich um uns kümmerten. Nach der Diagnose jedoch unternahm er kaum noch Geschäftsreisen und arbeitete viel von daheim aus. Sein Freund und Stellvertreter Jerry Acorn kam regelmäßig, um über die Lage der Firma Bericht zu erstatten und Entscheidungen mit ihm zu besprechen. Wenn er nicht arbeitete, spielten wir Brettspiele oder saßen einfach nur am Kamin und er erzählte uns von unserer Mutter und von seiner eigenen Kindheit. Ich glaube, Rafael fand das genauso langweilig wie ich, aber wir wagten nicht, ihm das zu sagen.

Dann begann er, uns Fragen zu stellen. Seltsame Fragen, die aber interessant waren. Zum Beispiel diese: »Der Schriftsteller Isaac Asimov hat einmal drei Robotergesetze formuliert. Sie lauten: Erstens, ein Roboter darf niemals einem Menschen schaden oder durch Nichtstun zulassen, dass ein Mensch zu Schaden kommt. Zweitens, ein Roboter muss tun, was ein Mensch ihm sagt, es sei denn, dies verstößt gegen das erste Gesetz. Drittens, ein Roboter muss sich selbst vor Schaden schützen, es sei denn, dies verstößt gegen das erste oder zweite Gesetz. Stellt euch nun vor, ein Roboter erhält den Befehl, einen gesuchten Mörder zu töten, weil dieser wahrscheinlich weitere Menschen umbringen wird. Was wird der Roboter wohl tun?«

Einmal fragte er: »Stell dir vor, du stehst zufällig an einer Weiche vor einem Bahnübergang und siehst, wie sich ein Zug nähert. Auf dem Gleis, das geradeaus weiterführt, steht ein Auto, in dem vier Menschen sitzen, im Stau. Auf dem Nebengleis steht ein Auto mit einem einzelnen Fahrer. Die Weiche ist so eingestellt, dass der Zug in das Auto mit den vier Menschen rasen wird, wenn du sie nicht betätigst. Du hast keine Möglichkeit, die Menschen zu warnen. Wirst du eingreifen, um die vier Menschen zu retten und dadurch den einen töten, der ohne dein Eingreifen überlebt hätte?«

Oft entspannen sich aus solchen Fragen lange Diskussionen. Wir lernten, dass sich schon die alten Griechen mit derartigen logischen und moralischen Widersprüchen beschäftigt hatten, und dass die scheinbar einfachen Antworten bei näherer Betrachtung gar nicht so einfach waren. Ich fand es schon damals bemerkenswert, dass wir diese Diskussionen mit unserem Vater führten und nicht mit Dr. Dean, unserem Englisch- und Geschichtslehrer, der uns auch die Grundlagen der Philosophie beibrachte. Ich hatte keine andere Erklärung dafür als die, dass mein Vater eben Spaß an philosophischen Fragen hatte.

Dass er alle unsere Gespräche heimlich mit einem Diktiergerät aufnahm, habe ich erst viel später herausgefunden.

In den letzten Monaten vor Rafaels Tod wurde ich allein unterrichtet. Welchen Sinn hatte es auch, Geografie und Algebra zu pauken, wenn man nur noch ein paar Wochen zu leben hatte? Ich akzeptierte es, obwohl der Unterricht dadurch noch viel unerträglicher wurde.

Rafael verbrachte die gesamte Unterrichtszeit mit Dad. Doch wenn ich ihn fragte, was die beiden in dieser Zeit eigentlich machten, antwortete er nur ausweichend.

Der einzige Lichtblick in dieser schrecklichen Zeit war ein Computerspiel. Es hieß Spiff, der Raumfahrer. Wir spielten es zu zweit: Rafael steuerte die Hauptfigur namens Spiff, während ich sein treuer Begleiter, der Roboter Calvin, war. Wir durchquerten das Universum auf der Suche nach Abenteuern, und die gab es reichlich zu entdecken. Wir begegneten merkwürdigen Aliens, reisten durch Wurmlöcher in ferne Galaxien, lieferten uns wilde Schlachten mit den Soldaten des bösen Imperators, bargen wertvolle Artefakte untergegangener Zivilisationen und befreiten gefangene Rebellen.

Das Spiel wurde über eine Internetverbindung gespielt. Verglichen mit den anderen Computerspielen, die wir kannten, war die Grafik eher mittelmäßig. Man steuerte seine Figur mit der Maus, indem man zum Beispiel auf einen Gegenstand und dann auf einen Befehl wie »öffne«, »benutze« oder »rede mit« klickte. Das war irgendwie altmodisch, aber das Faszinierende war, dass das Spiel überhaupt keine Begrenzung zu haben schien. Egal was wir taten, in welche Richtung wir auch flogen oder gingen, niemals erreichten wir eines der typischen Hindernisse, die das Ende einer Spielwelt kennzeichnen – ein undurchdringliches Asteroidenfeld beispielsweise oder einen unbesiegbaren Gegner. Das Spiel bot genau das, was der Untertitel behauptete: »Entdecke ein grenzenloses Universum«.

Am eindrucksvollsten waren die Gespräche mit den Lebewesen und Robotern, die man in dem Spiel traf. Man unterhielt sich mit ihnen, indem man über die Tastatur einen Text eingab wie in einem Online-Chat. Kurz darauf kam ein Text zurück, der meist so präzise war, dass man den Eindruck hatte, das Computerprogramm verstehe tatsächlich, was man sagte. Ich habe mich mit Außerirdischen aus dem Sirius-System über Mozart unterhalten, mit einem kaputten Roboter über Sonnenuntergänge geredet und mit dem Steuercomputer unseres Raumschiffs die besten Rezepte für Waffeln ausgetauscht. Nur ganz selten bekam man eine Mitteilung wie: »Es tut mir leid, aber ich habe die Eingabe nicht verstanden«. Alles in allem war Spiff, der Raumfahrer das beste Computerspiel, das wir kannten. Merkwürdig war nur, dass in keinem Online-Spielemagazin und in keinem Internet-Chat davon die Rede war. Es schien fast, als seien Rafael und ich die Einzigen, die das Spiel spielten.

Eines Tages wies ich Rafael auf diesen Umstand hin und fragte ihn, woher er die Internetadresse habe. Er antwortete ausweichend. Ich bohrte weiter und erfuhr, dass Dad ihm von dem Spiel erzählt hatte. Doch wisse er auch nicht mehr darüber. Ich glaube, ich habe schon damals geahnt, dass etwas an der Sache merkwürdig war, aber den Gedanken daran, wie so vieles, einfach verdrängt.

Jetzt fielen all die Eindrücke und Erlebnisse der letzten Monate zusammen wie Puzzlesteine und ich begriff endlich: Dad hatte ein Monster erschaffen – ein Monster mit dem Gesicht und der Stimme meines toten Bruders! Fast zwei Jahre lang hatte er zusammen mit Rafael an diesem Programm gearbeitet und mir nichts davon erzählt. Ich wusste nicht, was ich schlimmer fand: die Idee an sich oder die Tatsache, dass sie mich nicht ins Vertrauen gezogen hatten.

Irgendwann schlief ich doch ein. Ich weiß nicht mehr, ob ich etwas geträumt habe. Am nächsten Morgen blieb ich einfach im Bett. Ich wollte ihm nicht begegnen.

Nach einer Weile klopfte es an die Tür.

»Verschwinde!«, rief ich.

»Ich bin es, Michael. Mrs Tillerman.«

Ich öffnete.

Sie trug ein Tablett mit Marmeladenbrötchen und Kakao, das sie auf den Tisch stellte.

»Danke!«, sagte ich.

»Dein Vater möchte gern mit dir reden.«

»Aber ich nicht mit ihm«, sagte ich, ohne sie anzusehen.

Sie setzte sich zu mir auf das Bett. »Mike, du musst deinen Vater verstehen. Er ist sehr, sehr traurig.«

»Er … er hat ein Computerprogramm geschrieben, das … das so tut, als ob es Rafael wäre!«

»Ich weiß.«

»Das … das ist einfach nicht richtig!«, rief ich.

»Vielleicht ist es das nicht.«

»Er denkt, er kann Rafael wieder lebendig machen! Aber das … das Ding da unten ist nicht Rafael!«

»Nein, das ist es nicht. Aber ich glaube auch nicht, dass dein Vater das denkt.«

»Warum hat er dann ein Computerprogramm geschrieben, das so tut, als ob?«

»Vielleicht solltest du ihn das selber fragen.«

Ich schwieg. Mein Stolz und meine Wut erlaubten mir nicht, jetzt schon klein beizugeben. Doch als mein Vater eine Stunde später an meine Tür klopfte, öffnete ich ihm.

»Es tut mir leid, Mike!«, sagte er. Er setzte sich auf Rafaels Bett, mir gegenüber.

Ich mied seinen Blick. »Was tut dir leid?«

»Dass du es auf diese Weise erfahren hast. Ich … ich wollte es dir zeigen. Wenn es fertig ist.«

Ich sah ihn an. Alle Verachtung, die ich in diesem Moment für ihn empfand, lag in meinem Blick. »Glaubst du wirklich, ich hätte mich darüber gefreut, dass du versuchst, meinen Bruder nachzubauen? Meinst du wirklich, dass das so einfach geht?« Ich sprang auf. »Denkst du etwa, du kannst ein Computerprogramm schreiben, das auch nur annähernd so ist, wie er war? Es … es gibt nur einen Rafael, und der ist tot!« Ich schrie ihm diese Worte entgegen.

Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geohrfeigt, aber er hielt meinem Blick stand. »Ich … ich wollte dich nicht verletzen!«, sagte er. Er stand auf und kam auf mich zu. Ich trat einen Schritt zurück, doch dann ließ ich mich von ihm in den Arm nehmen.

»Du bist doch das Wertvollste, das ich habe«, flüsterte er. »Das Einzige, was mir noch geblieben ist.« Dann begann sein Körper zu zucken. Arm in Arm standen wir in Rafaels und meinem Zimmer und weinten und mit den Tränen floss auch der Zorn aus meinem Körper.

Nach einer langen Zeit löste er sich von mir. »Wenn du willst, lösche ich es. Heute noch.«

»Warum?«, fragte ich. »Warum hast du das getan? Warum hast du dich die ganze Zeit eingeschlossen und mir nichts gesagt? Warum hat Rafael mir nichts gesagt? Er wusste es doch, oder?«

Dad nickte. »Ja, er wusste es. Er hat mir geholfen. Wir haben beide sehr intensiv daran gearbeitet. Ich weiß auch nicht genau warum, aber ich hatte immer das Gefühl, dass ich dir nichts davon sagen durfte. Vielleicht habe ich geahnt, wie du reagieren würdest.« Er seufzte. »Wahrscheinlich war es ein Fehler.« Er ließ offen, ob er damit die Entwicklung des Programms meinte oder die Tatsache, dass er es vor mir verheimlicht hatte.

»Aber die Hexe, ich meine Mrs Tillerman. Sie wusste davon!«

Ding,