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1. Auflage Mai 2017

Titelbild: Daniela Fernández, Typographie: Lauria

©opyright by Dirk Bernemann und U-line

Lektorat: Andreas Mayerle, Franziska Köhler

eBook-Gestaltung: Nicole Laka

ISBN: 978-3-86608-584-8

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Inhalt

Begrüßende Worte

Ich habe die Unschuld kotzen sehen

Polizei

Zwischengenerations­opfertäter

Stiller Killer

Lydia liebt absolut!!!

Vertrau mir

Sophie goes to Notaufnahme

Terrorkuss

Gesten & Geräusche sensibilisieren

Kurz vorm Krieg

Gottes Haus

Syndala

Tod frisst Familie

Kaputt. Kaputt. Kaputt. Alles war um mich kaputt und tat, als wäre es tatsächlich ein Konstrukt aus Harmonie und Zukunft. Es war 2002 und ich hatte Schmerzen, wie jeder normale Typ unter 30, der sich die Welt anguckt und mit dem Ergebnis weder schlau noch glücklich werden kann.

Ich hatte damals 2 Waffen, die ich in unterschiedlicher Intensität anwendete.

1. Punkrock

2. Zurückgezogenheit

Kurz zuvor hatte ich noch eine Band, deren einziges Mitglied ich war. Das Projekt hieß «Der Alleine». Da war nichts auf der Bühne außer ich und ein programmierbares Keyboard, dessen vermeintliche Musikalität ich mit selbstausgedachten Sprachfetzen zu komplettieren versuchte. Kurz davor spielte ich in einer Grungeband Gitarre und bemerkte, dass ich das nicht bin: Grungebandgitarrist. Ich wollte nicht aussehen wie ein Penner in einer Welt voller weiterer Penner und den anderen Pennern durch meine Pennerakkorde schmerzhafte Pennerweisheiten nahebringen. Nette Leute in der Band, aber sie waren stehengeblieben an einem Punkt, an dem ich weiterlaufen wollte. Vor dieser Band spielte ich Gitarre, sang und textete in einer klassischen Punkbank. Bass. Gitarre. Schlagzeug. 3 Gestalten, die ihre Sichtweisen gerne laut, streckenweise besoffen darzulegen gedachten. Dort hatte ich viele Freiheiten und argumentierte mit wenigen Fähigkeiten für die Zertrümmerung des schwierigen Lebens durch kleine brüllende 3-Akkorde-Monster. Zwischendurch schrieb ich immer kleine Anekdoten, die ich selbst Gedichte nannte, auf kleine Zettel. Niemals aber hätte ich gedacht, dass meine Worte ohne die schäbige Schrägheit der untermalenden Musik irgendeine Relevanz haben konnten. Aber alles löste sich auf, selbst «Der Alleine». Dann fuhr ich nach München.

Dort hatte ich mich in eine Frau verliebt, die wie Björk aussah. Sie sang und tanzte und trug coole Kleider. Aber wie das oft so ist: Dinge änderten sich schnell und ich musste abreisen, mitten in der Nacht, und da traf ich im Münchener Ostbahnhof diesen Obdachlosen, mit dem ich mich ungefähr 2 Stunden über Fußball, Kunst und Frauen unterhielt. Dieses Gespräch hat mich dergestalt bewegt, dass ich diese Begegnung auf einem kleinen Notizzettel dokumentierte. Einzelne Sätze, Wortfetzen. Blicke, Gerüche, Atmosphäre. Zu Hause schrieb ich das dann auf und dachte nicht an Literatur, eher an Therapie. Aber es gefiel mir gut, es hatte die Ausstrahlung von Verlorenheit, die mir an mir und der Welt bekannt vorkam. Und eine gewisse mir bis dato unbekannte Aggression.

Ich schrieb dann weiter, einfach nur um zu gucken, ob es mir gelingt, länger als eine Stunde konzentriert meinem Sprachgefühl zu folgen. 4 Stunden später waren zwei weitere Texte fertig und einen ganzen Monat später die erste Version von «Ich hab die Unschuld kotzen sehen». Es war ein Kurzgeschichtenband, der gleichzeitig ein destruktiver Roman war, und ich fand es ungeheuer faszinierend, damit fertig geworden zu sein.

Aber was tut man mit so einem fertigen Konstrukt? Ich gab es einer Freundin zu lesen und sie war gleichermaßen angeekelt und fasziniert. Ich? Ein Autor? Waren Autoren nicht diese Typen, die entweder zu ernst oder viel zu abgefuckt waren und die Brillen, Hüte, Mäntel und Schals trugen, auch im Hochsommer, und die ansonsten wenig Spaß im Leben hatten, außer bei den kleinen Explosionen am Schreibtisch, die passieren, wenn man es ernst meint? Literatur war bislang keine Option für mich. Ich wollte nicht einer dieser Leute werden, die entweder grau angezogen an Schreibtischen sterben – und schon gar nicht einer dieser flippigen, beschleunigten Popliteratur- oder Poetry-Slam-Clowns, bei denen man das Gefühl hat, dass da kein Gefühl ist, das man ernst nehmen darf. Ich war irgendwo dazwischen, die Sportart, in der ich anzutreten gedachte, gab es noch nicht.

Ich wandte mich an drei Verlage, weil ich es so halbernst meinte. Zwei davon ignorierten mich, einer bot mir einen Vertrag an. Zwischendurch verging viel Zeit und plötzlich war es Januar 2005 und das Buch wurde geboren. Ich debütierte also mit so was. So ein Buch, aus dem ich mittlerweile glücklicherweise rausgewachsen bin. Eine kleine, brutale Welt, etwas zu undifferenziert dargestellt. Doch der Kern der Wut ist geblieben.

Begrüßende Worte

Guten Tag. Die Welt liegt in Trümmern, ich sammle sie auf, errichte daraus neue Gebäude. Konstruiere neue Städte, kann man drin wohnen oder weiträumig umfahren.

Das was mal Unschuld war, nimmt nun Drogen, tötet aus Lust, ist viel zu frei erzogen, um klar und geordnet zu denken, aber entwickelt sich scheinbar natürlich, gar übernatürlich. Und es ist vor allem unaufhaltsam und nennt sich irgendwann, also bald, gar dreist: Die neu definierte Unschuld.

Dabei hat es doch schon so viel auf dem Gewissen, dass dieses expandieren könnte, hat sich kannibalistisch geübt und dann nebenbei sich selbst vergessen.

Moral egal und durch.

Also mittendrin der Mensch, der an allem zu verzweifeln scheint, der sich Wahnsinn kauft, der durchdreht wegen Liebe, Arbeit, Freizeit, Freiheit und allgemeinen Zwängen.

Mensch, mach dein lautes Leben leiser!

Vielleicht auch ein wenig revolutionäres Gedankengut und keine Angst vor Körperflüssigkeiten von Mitmenschen zu haben, empfehle ich.

Außerdem empfehle ich auf dies hier eine Betrachtungsweise außerhalb gesellschaftlicher Normen.

Hier tanzen nämlich gescheite und doch gescheiterte Existenzen. Pogogedanken.

Pogo auf dem Todesstreifen. Zwischen allen Stilen und Stühlen finde man was, suche man was zum Anfassen. Der direkte Weg ist immer noch, sich zu begegnen.

Für alle, die es wissen wollen – hier ist der Beweis

Tocotronic

Nicht auf den Tag warten, an dem sich die Sonne weigert zu scheinen. Krebskrank vom Himmel zu schreien und Licht zu geben. UV-Blendung reflektiert an Menschenleibern. Ein brennender Planet als letzter Funken Hoffnung? Das vielleicht demnächst allerletzte Naturereignis.

Wahnsinn nährt Wahnsinn. Die Möglichkeit, wahnsinnig zu werden, steigt überall. Liegt wahrscheinlich an der Überdosis medialer Gewalt. Davon rate ich Abstand zu nehmen und in Zukunft nur noch meine Bücher zu lesen. An Stelle von Fernsehen, Spielkonsolen, Chemiedrogen, seltsamen Printmedien und Ficken.

Sich und andere.

Das ist alles zu viel.

Es gibt Alternativen zum Wahnsinn ...

Vorhang auf ...

Ich habe die Unschuld kotzen sehen

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Ein Text, der in seiner Heftigkeit viele, unter anderem sogar mich, erschüttert hat. Ein Junkie verprügelt seine Frau und in meinem Kopf lief dazu die ganze Zeit Johann Sebastian Bach.
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Das Gelage dieser Tage.

Wir liegen mit mehr Krebszellen als Verstand im Kopf auf diesem durchgefickten Sperrmüllsofa. Wir sind Engel, die Verführer und die Verführten des Amokzustandes, mancherorts fälschlicherweise Leben genannt. Um uns schießt Dummheit wie vergiftete Pflanzen aus krankem Boden.

Sie liegt wie tot in meinem Arm.

Liebe ich sie?

Sie atmet einen süßlichen Duft, den Cocktail aus Fastfood­kotze, Magenschleimhautentzündung, Billigwhisky und meinen Küssen. Sie ist die wildeste Diva, die ich jemals in meinen Armen halten durfte. Ihr Augenaufschlag ist so eindeutig und geprägt von authentischer Leidenschaft, nur blieb er die letzten Stunden aus. Komatös, gelähmt, bis an den Rand gefüllt mit Gift.

Alltagsgift.

Ihr Atem ein Röcheln. Auf der Suche nach Sauerstoff im luftleeren Raum.

Sauerstoff ist Zuversicht.

Also ist Verzicht schlicht schlecht, Baby.

Atme und lebe!

Zugreifen, trinken, inhalieren, abdrücken, schlucken.

Atme Luft wie Gift in deiner Vergangenheit!

Sie hier, noch warm, zu spüren, ist die Wohltat dieses Erwachens, mit dem ich aufgrund des Konsums der Vortage kaum noch rechnete. Jetzt bin ich wach, aber kalt und tot. Meine Augen gleiten durch den spärlich möblierten Raum, der uns manchmal mit seiner Miete aufzufressen drohte.

Unsere Villa. Violette Wände. Beruhigend und stimulierend zugleich. Der Engel in meinen Armen scheint auch nicht zu wissen, warum diese Stille so paradox ist.

Überhaupt, sie scheint nichts mehr zu wissen. Ich überprüfe die Körperfunktionen meiner Drogenkönigin. Verlangsamter Puls, auffällig flache Atmung.

Flügellahmer Engel.

Eine alte Bekannte. Die Liebe meines Lebens. Die Erbin meines Wahnsinns. Unsere Geschichte zu erzählen bedarf es keiner Erinnerung, nur intensiver Zwischenmenschlichkeit und – wie gesagt – des Wahnsinns in seiner alltäglichen Erscheinungsform.

Das bilde ich mir doch nicht ein.

Ich taste nach meinen Filterzigaretten. Wohnzimmertisch. Wohn­zimmer? Wohnen?

Gedanken überdosiert!

Ich lache herzhaft in meinen inneren Wahnsinn, der bestimmt in meinen gelben Augen sichtbar ist.

Feuerzeug flackert kurz auf. Durch Inhalation übertrage ich die Flamme auf ein Billigtabakprodukt. Schmerzen wie Preßlufthammerzärtlichkeiten beweisen mir meine Existenz. Wieder einen Rausch überlebt.

Aber ich sorge mich um meinen Engel. Ihre weiße Haut wirkt in meinen zugedröhnten Augen neongelb. Sie trägt nur Unterwäsche und ihr Körper scheint wie ein gelber Fluss, lediglich von zwei schwarzen Brücken unterbrochen, meine Beine runterzufließen.

Ihr Menschlichkeitsduft übertönt den des Giftes. Das bemerke ich aber erst, als ich meine Wahrnehmung selektiert habe und mich durch Selbsthypnose davon abgehalten habe, auf den ruhenden Körper der Geliebten zu kotzen.