1
Die Anspannung der Zehnkämpfer steigerte sich ins Unerträgliche. Nervös nippten sie an ihren Trinkflaschen, überprüften zum x-ten Mal den Sitz der Laufschuhe oder fingerten an den Reißverschlüssen der Trainingskleidung herum.
Endlich forderte der Oberkampfrichter die Athleten auf, sich für den 100-Meter-Lauf fertig zu machen. Die Sportler klatschten sich alle noch einmal ab und wünschten sich viel Glück. Dann zogen sie ihre Trainingsanzüge aus und trabten zu den Startblöcken.
Tobias blickte hinüber zur Tribüne, wo sich inzwischen der gesamte Tannenberg-Clan eingefunden hatte. Sogar Kurt, der Familienhund, war mit dabei. Margot, seine Großmutter, stand zwischen zwei großen Kühltaschen und winkte ihm fröhlich zu. Sie hatte Proviant für eine halbe Kompanie eingepackt. Die anderen winkten ebenfalls oder reckten ihm aufmunternd die Fäuste entgegen.
Er bedankte sich mit einem knappen Nicken und ging die letzten Schritte bis zur Startanlage mit gesenktem Kopf. Hinter seinem Startblock schloss er die Augen, atmete tief durch, schnellte ein paar Mal wie eine Sprungfeder in die Höhe und klatschte sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel. Anschließend zog er die Folie von seiner Startnummer und klebte sie seitlich auf die rechte Hüfte.
Heute wird es klappen. Ideale Bedingungen: super Wetter, starke Gegner, trockene Tartanbahn, leichter Rückenwind, schoss es ihm durch den Kopf.
»Auf die Plätze!«, befahl der Starter.
Ein letztes Aufblähen des Brustkorbs, dann brachte Tobias seinen von Adrenalinschüben aufgeputschten Körper in die ideale Startposition. Jede Muskelfaser war bis zum Zerreißen angespannt. Er war hoch motiviert, topfit und voll konzentriert.
»Fertig!«
Ein lautes Krachen zerschnitt die friedliche Stille.
Tobias explodierte förmlich. Die ersten, kurzen, trommelartigen Schritte in geduckter Haltung, dann das Aufrichten des Oberkörpers und der Wechsel in ein gleichmäßig hohes Sprinttempo. An seinem geschmeidigen, unverkrampften Bewegungsablauf spürte er, dass sein Körper optimal funktionierte.
Es war der 100-Meter-Lauf seines Lebens.
Tobias drehte den Kopf zuerst nach links und dann nach rechts. Aber er sah niemanden, auch nicht Marcel, seinen schärfsten Konkurrenten, der auf der Bahn direkt neben ihm lief.
Von der Tribüne her ertönten ›Tobi-Tobi‹-Rufe, stürmischer Applaus brandete auf.
Beim Überqueren der Ziellinie hatte er die elektronische Zeitmessung fest im Blick: 11,14 Sekunden. Jubelnd riss er die Arme empor. Neue persönliche Bestleistung – eine hervorragende Ausgangsbasis für die weiteren Disziplinen des Zehnkampfs.
Plötzlich hörte er schräg hinter sich ein spitzes Zischen, dem nahezu zeitgleich ein dumpfes Plopp-Geräusch folgte.
Zum gleichen Zeitpunkt saß John etwa 150 Meter von der Ziellinie entfernt in der Krone einer Buche. Aufgrund ihres dichten Laubwerks bot sie ihm nahezu perfekten Sichtschutz. Er trug dezente grüne Kleidung und gleichfarbige Trekkingschuhe, so dass er selbst bei genauerem Hinsehen kaum auszumachen war.
Er hatte sich in der Dämmerung auf den Weg gemacht und die zerlegte Waffe in seinem Rucksack hierher transportiert. Den passenden Baum hatte er bereits lange zuvor ausgespäht. Die alte Buche war leicht zu besteigen, bot eine bequeme Sitzposition und eine optimale Auflagemöglichkeit für sein Präzisionsgewehr. Zudem erlaubte die ausgesuchte Stelle einen ungehinderten Blick über den Zaun der Sportanlage hinweg – und somit ein freies Schussfeld.
Er fühlte sich wie ein Jäger auf seinem Hochsitz.
Ja, er war ein Jäger.
Nur jagte er eben kein Wild, sondern Menschen.
Die Jubelschreie der etwa einhundert Zuschauer erstickten schlagartig und ihre Mienen erstarrten. Einige von ihnen warfen entsetzt die Hand vor den Mund, andere deuteten fassungslos auf die Tartanbahn, wo Marcel Christmann nach wie vor regungslos auf dem weinroten Kunststoff lag.
Jedem im Stadion war sofort klar, dass der junge Sportler nicht aufgrund irgendeiner Verletzung oder einer Herzattacke kurz vor der Ziellinie zusammengebrochen sein konnte. Dazu waren die letzten Bewegungen des athletischen Körpers zu untypisch gewesen. Außerdem klang das Schussgeräusch völlig anders als der Platzpatronenknall aus der Startpistole.
»Deckung!«, schrie Wolfram Tannenberg, der geistesgegenwärtig die Dramatik der Situation erfasste. »Los, alle hinter die Garagen! Vielleicht schießt dieser Irre noch mal.«
Zuschauer, Kampfrichter und Athleten ließen alles stehen und liegen und brachten sich in Sicherheit. Tannenberg verständigte zuerst den Notarzt, anschließend seine Kollegen. Zudem forderte er das Sondereinsatzkommando an.
»Wir müssen runter zu ihm. Vielleicht ist er ja nur verletzt«, raunte er atemlos Dr. Schönthaler zu, obwohl er intuitiv das Schlimmste befürchtete.
Er wollte losstürmen, doch der Rechtsmediziner packte ihn am Ärmel. »Wolf, das ist zu gefährlich. Wir nehmen dein Auto und benutzen es als Schutzschild.«
Die beiden Männer spurteten zu Tannenbergs BMW-Cabrio und rasten in das kleine Stadion, das ansonsten als Schul-Sportplatz genutzt wurde. Mit eingezogenen Köpfen bretterten sie über den gepflegten Rasen hinweg. Das Auto schlitterte, riss einen Sonnenschirm aus der Verankerung und warf mehrere Markierungshütchen um. Tannenberg stellte sein Auto parallel zur Ziellinie ab. Dadurch wurde der leblose Sportlerkörper wie von einem Wall geschützt. Über die Fahrertür krochen beide hintereinander auf die Tartanbahn und knieten sich neben Marcel nieder.
Der junge Mann lag mit verdrehten Gliedmaßen auf dem Bauch, den Kopf zur Tribüne hin abgewinkelt. In Höhe des linken Lungenflügels war das Trikot bereits blutgetränkt. Ziemlich genau in der Mitte des ovalen Blutflecks zeichnete sich das Einschussloch ab.
»Komm, hilf mir ihn umzudrehen«, forderte Dr. Schönthaler, während er erfolglos nach dem Puls des Sportlers tastete. Als er exakt in Herzhöhe die Austrittsstelle des Projektils entdeckte, wiegte er mit zusammengepressten Lippen den Kopf hin und her.
»Scheiße«, zischte Tannenberg.
Er lugte durch die Seitenscheibe seines Cabrios hinüber zum Waldrand, von wo aus der Schuss abgefeuert worden sein musste. Dessen war er sich sicher, zu eindeutig waren die Indizien: Die Eintrittsstelle des Projektils auf dem Rücken des Opfers und dessen abrupte Oberkörperdehnung nach hinten, so als ob Marcel Christmann einen unerwarteten, brachialen Keulenhieb auf die Wirbelsäule erhalten hätte.
»Glaubst du, der ist noch irgendwo dahinten?«, raunte der Kriminalbeamte seinem Freund über die Schulter zu.
»Nee, der ist garantiert schon über alle Berge.«
Tannenberg wies mit dem Kinn auf den Toten. »Warum ausgerechnet dieser arme Kerl hier?«, fragte er mit belegter Stimme.
Merkwürdigerweise wurde ihm erst jetzt bewusst, dass die todbringende Gewehrkugel nur einen halben Meter neben seinem Neffen eingeschlagen war. Ein kalter Schauder jagte ihm den Rücken hinunter und ließ auf seinen nackten Armen Gänsehaut sprießen. Sein flackernder Blick huschte die Anhöhe hinauf zu Tobias, der im Kreis seiner Familie hinter den Flachdachgebäuden stand und zu ihm herüberschaute.
Vom Waldschlösschen her ertönte plötzlich Sirenengeheul, das schnell anschwoll. Nur wenig später preschte ein Notarztwagen ins Stadion. Ein paar Minuten später folgten das SEK, die Spurensicherung und mehrere Streifenwagen. Wolfram Tannenberg schilderte seinen Kollegen die dramatischen Ereignisse. Daraufhin fuhren die Sondereinsatzkräfte zum angrenzenden Wald, von wo aus aller Wahrscheinlichkeit nach der tödliche Schuss abgegeben worden war.
Anschließend eilte Tannenberg hinüber zu den Zuschauern, die sich nach wie vor hinter den Garagenbauten aufhielten. Er winkte seinen Neffen herbei und befragte ihn über dessen ermordeten Sportkameraden. Tobias war kreidebleich, zitterte und war noch immer nicht in der Lage, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren.
Seine dürftigen Informationen halfen kaum weiter. Außer dem Namen des Toten und dem des Sportvereins, für den Marcel Christmann startete, konnte er keine weiteren Angaben zu dessen persönlichen Verhältnissen machen. Marcel sei normalerweise ein stiller, introvertierter, aber trotzdem sehr netter Kumpel gewesen.
»Nur vor und während der Wettkämpfe war er immer ziemlich hektisch und nervös«, sagte Tobias und fügte nach einem langen Stoßseufzer hinzu: »Manchmal war er sogar richtig geschwätzig.« Dabei schwammen seine Augen regelrecht in Tränen.
Der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission erkundigte sich anschließend bei den Zuschauern, ob irgendjemand eine sachdienliche Beobachtung gemacht habe. Doch er erntete lediglich stummes Kopfschütteln. Wie er selbst hatten offenbar alle Anwesenden gebannt den 100-Meter-Lauf verfolgt. Er wandte sich von den Zuschauern ab, blickte hinunter auf die Tartanbahn und ging in sich gekehrt ein paar Schritte in Richtung des Rasenplatzes.
Die Eltern des Jungen!, polterte es plötzlich in seinem Kopf. Die hab ich ja völlig vergessen. Er machte auf dem Absatz kehrt.
»Befindet sich unter Ihnen ein Angehöriger von Marcel Christmann?«, fragte er in die Runde.
Allseitiges Schweigen.
»Ein Freund oder eine Freundin?«
Keine Reaktion.
Er wandte sich an die Zehnkämpferriege, die mit hängenden Köpfen im Kreis beisammenstand. »Kennt ihn jemand von euch näher?«
»Nein«, kam es mehrstimmig zurück.
Komisch, dachte der Kriminalbeamte. Warum ist niemand aus Marcels persönlichem Umfeld zu seinem Wettkampf erschienen?
2
Am späten Samstagnachmittag fand in Tannenbergs Büro eine außerplanmäßige Dienstbesprechung statt. Karl Mertel, der Leiter der kriminaltechnischen Abteilung, war als erster Berichterstatter an der Reihe. Er stand an der Pinnwand und erläuterte eine von ihm angefertigte Tatortskizze.
»Da, wo ich den Baum eingezeichnet habe, saß der Täter. Wir haben in etwa fünf Metern Höhe Faserspuren seiner Kleidung sichergestellt und …«
»Fünf Meter?«, fragte Tannenberg. »War garantiert schwierig, dort hochzuklettern, oder?«
»Na ja, es geht so«, gab Mertel kurz angebunden zurück.
»Ein altes Wrack wie du käme da sicherlich nicht so einfach rauf«, warf Dr. Schönthaler grinsend dazwischen.
Tannenberg verdrehte genervt die Augen, ging aber nicht auf die provokante Bemerkung ein. Stattdessen zog er eine naheliegende Schlussfolgerung: »Jedenfalls wissen wir damit schon mal, dass der Täter ein ziemlich sportlicher Typ sein muss.«
»Sieht ganz danach aus«, pflichtete ihnen der Kriminaltechniker bei.
»Glaubt ihr, dieses Attentat hat irgendwas mit dem Zehnkampf zu tun? Oder mit Sport im Allgemeinen? Steckt dahinter vielleicht irgendeine Symbolik?«, stellte Tannenberg seine Reflexionen zur Diskussion.
Kommissar Schauß zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, Wolf. Aber eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Ich vermute eher, dass der Täter diesen Platz deshalb ausgewählt hat, weil er dort unerkannt auf sein Opfer lauern, es töten und anschließend unerkannt verschwinden konnte.«
»Wie eine heimtückische Muräne«, meinte der Rechtsmediziner.
Abermals ignorierte Tannenberg den Einwurf seines besten Freundes. »Also kein Zusammenhang mit diesem Wettkampf, sondern nur ein idealer Ort, von dem aus der Heckenschütze gefahrlos zuschlagen konnte«, murmelte er vor sich hin. Er knetete eine Weile nachdenklich sein Kinn. »Durchaus möglich«, stimmte er nickend zu. Anschließend wandte er sich an seinen Kollegen von der Spurensicherung. »Ich hab dich unterbrochen, Karl, bitte, fahr fort.«
Mertel hatte sich inzwischen ein Glas Mineralwasser eingeschenkt und schlenderte nun wieder zurück zur Pinnwand. »Außer den Faserspuren seiner Kleidung haben wir an einem Ast frisch abgeschabte Stellen entdeckt, die wahrscheinlich von der Auflage des Gewehrs stammen. Und am Fuße dieser riesigen Buche lag die Hülse einer Gewehrpatrone.«
Er stockte und folgte mit dem Finger einer gestrichelten Linie, die er von dem Baum aus zu einem rennenden Strichmännchen gezogen hatte. »Hier traf die Kugel auf den Körper des Opfers, hat ihn durchdrungen und ist dann hinter der Tartanbahn in der Böschung gelandet.« Er blies die Backen auf und stieß die Luft geräuschvoll aus. »Das war vielleicht eine Heidenarbeit, bis wir die endlich gefunden hatten.«
»Weiter«, drängte der Leiter des K 1. »Kaliber?«
»7.62.«
»Scharfschützenmunition«, bemerkte Michael Schauß.
»Richtig«, bestätigte der Spurenexperte. »Wird für alle möglichen Präzisionswaffen benutzt, unter anderem für das G 22 der Bundeswehr, das L 96 A 1 der britischen Armee, aber auch für diverse Jagdwaffen.«
»Also eine relativ weitverbreitete Munition.«
»Ja, Wolf, das kann man wohl sagen. Genau wie die Waffen, die diese Munition verwenden. Das G 22 zum Beispiel wird außer von der Bundeswehr auch von der NATO und vielen Spezialeinheiten eingesetzt«, entgegnete Mertel.
»Dann sollten wir umgehend Nachforschungen anstellen, wo ein solches Gewehr als gestohlen gemeldet wurde. Karl, kümmerst du dich bitte darum?«
»Klar, mach ich.«
»Glauben Sie wirklich, das bringt etwas, Chef?«, wandte Kriminalhauptmeister Geiger skeptisch ein. Er saß am Besuchertisch und machte sich eifrig Notizen. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Täter derart doof vorgegangen ist und irgendwo in einer Waffenkammer ein Präzisionsgewehr geklaut hat. Das ist garantiert ein Profi, ein berufsmäßiger Killer – und die haben doch ganz andere Quellen.«
»Jetzt mach aber mal halblang«, blaffte sein Vorgesetzter. »Ein Berufskiller, der einen 18-jährigen Schüler hinrichtet? Das glaubst du doch selbst nicht. Wo willst du denn für solch einen Auftragsmord ein Motiv herzaubern?«
»Vielleicht irgendeine Abrechnung im Drogenmilieu oder …«
»Komm, Geiger«, würgte ihn Tannenberg in schroffem Ton ab, »verschon uns bitte die nächste halbe Stunde mit deinen überaus konstruktiven Beiträgen.«
Der Kriminalhauptmeister schob die Unterlippe über die Oberlippe, verschränkte die Arme vor seiner Brust und blickte demonstrativ aus dem Fenster.
Kopfschüttelnd übergab Tannenberg das Wort an seine junge Mitarbeiterin: »Sabrina, du hast doch vorhin mit der Mutter des Opfers telefoniert. Fass bitte noch mal die bisherigen Erkenntnisse über Marcel Christmann zusammen. Am besten schreibst du sie ganz groß auf die Tafel. Damit auch der liebe Kollege Geiger endlich kapiert, mit welch einem harmlosen Jungen wir es hier zu tun haben.«
Sabrina Schauß stand auf und ging zu einem Flipchart, das unmittelbar neben der Pinnwand aufgebaut war. Mit einem dicken Filzstift malte sie den Namen des Opfers auf den großformatigen Papierbogen.
»Marcel Christmann wurde im April 18 Jahre alt und besuchte die 12. Jahrgangsstufe des Sickingen-Gymnasiums in Landstuhl«, erklärte sie. »Er war ein begeisterter Leichtathlet und Mitglied der TSG Landstuhl. Seine Mutter hat mir erzählt, dass der Sport seine ganz große Leidenschaft war.«
»Hast du diese Kunde vernommen, Geiger?«, spottete Michael Schauß, der mit seinem Kollegen schon seit Längerem auf Kriegsfuß stand. »Er war kein Drogendealer, sondern ein fanatischer Sportler.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber das versteht ja ein amotorischer Anti-Sportler wie du überhaupt nicht.«
Geiger warf dem durchtrainierten, sonnengebräunten Kommissar einen hasserfüllten Blick zu und grummelte ein Schimpfwort nach dem anderen vor sich hin.
Der Kommissariatsleiter sah sich zum Eingreifen genötigt. »Schön sachlich bleiben, meine Herren. Für solche überflüssigen Kabbeleien haben wir nun wirklich keine Zeit. Wir müssen so schnell wie möglich diesen Heckenschützen fassen, bevor er noch einmal zuschlägt.«
Mit einer auffordernden Geste wandte er sich seiner bildhübschen Mitarbeiterin zu. »Also, Sabrina, bitte weitere Informationen zur Person des Opfers.«
»Ich habe den Direktor seiner Schule angerufen. Er war zufälligerweise auch Marcels Stammkursleiter. Folglich hat er ihn ziemlich gut gekannt«, entgegnete die Angesprochene.
»Ach, davon weiß ich ja noch gar nichts.«
»Hab ja auch erst vor fünf Minuten mit ihm telefoniert, Wolf.«
»Dachte schon, ich hätte da vielleicht etwas überhört«, meinte Tannenberg lächelnd.
»Senil, impotent, blind und taub – des alten Mannes welkes Laub«, höhnte der Rechtsmediziner.
»Mensch, Rainer, du nervst!«
Um die berüchtigten Wortgefechte der streitsüchtigen Freunde bereits im Keim zu ersticken, fuhr Sabrina fort: »Der Schulleiter des Sickingen-Gymnasiums hat mir Folgendes berichtet: Marcel Christmann war ein zurückhaltender, höflicher und strebsamer Schüler. Allerdings musste er anscheinend sehr viel lernen, um einigermaßen gute Noten zu erzielen. Die Mitschüler hätten ihn zwar akzeptiert, aber den Kontakt zu ihm nicht unbedingt gesucht. Also ein typischer Einzelgänger. Von einer festen Freundin wisse er nichts.«
»Okay, Sabrina, hast du die Namen und Adressen seiner Mitschüler?«
»Ja, der Direktor hat sie mir gefaxt.«
»Gut, dann machst du dich gemeinsam mit deinem Mann auf die Socken und befragst alle, die du auftreiben kannst.« Mit einem Seitenblick auf den nach wie vor schmollenden Geiger, ergänzte er: »Vielleicht war er ja doch ein Drogendealer.«
»Okay, wir kümmern uns gleich drum«, erklärte Michael Schauß.
»Und sobald ihr damit fertig seid, stattet ihr dem Trainer des Jungen einen Besuch ab. Der muss ihn ja wohl auch ziemlich gut gekannt haben. Ich fahre zu seiner Mutter.«
»Und was soll ich machen, Chef?«, raunzte der Kriminalhauptmeister. »Soll ich vielleicht wieder runter ins Archiv?«
»Du hast es erraten, Geiger. Intensive Recherchearbeit ist angesagt. Ich will alles über ähnliche Fälle wissen, egal, wo diese passiert sind.«
»Also soll ich das LKA und das BKA um Amtshilfe ersuchen.«
Bei diesem Gedanken richteten sich Tannenbergs Nackenhaare auf. Er raufte sich die Haare. »Um Gottes willen, nein, Geiger. Die würden sich doch sofort selbst den Fall unter den Nagel reißen und dann wären wir mal wieder draußen. Nein, ich will diese arroganten Typen nicht in meinem Revier haben.«
»Auf Dauer kannst du das aber wohl nicht verhindern«, stellte Dr. Schönthaler lapidar fest. »Bei so einer spektakulären Sache.«
»Klar, irgendwann werden die garantiert hier auftauchen. Deshalb müssen wir uns mit unseren Ermittlungen beeilen.« Er wandte sich abermals an den feisten Kriminalhauptmeister: »Geiger, du durchforstest unauffällig alle verfügbaren Datenbanken und stöberst außerdem ein bisschen im Internet rum. Druck mir alles aus, was du über ähnliche Kriminalfälle finden kannst.«
»Okay.« Knurrend stemmte Geiger die Handflächen auf die Tischplatte und hievte sich in die Höhe.
»Nachher, werter Kollege, nicht jetzt«, gebot ihm sein Vorgesetzter Einhalt. »Wir müssen uns erst noch mit einigen zentralen Fragen beschäftigen, wie zum Beispiel mit folgender: Wie ist der Täter zu diesem Baum hingekommen? Ist er …«
»Reifenspuren gab es dort keine, weder von einem Auto noch von einem Fahrrad«, fiel ihm Mertel ins Wort und fügte hinzu: »Nur Schuhabdrücke, und zwar recht tiefe: Größe 45, grobes Profil. Wir haben sie an der Stelle entdeckt, wo der Mann nach seinem Sprung von der Buche auf dem Waldboden gelandet ist. Die gleichen Sohlenspuren fanden sich an mehreren Ästen, die ihm als Trittleiter gedient haben dürften.«
»Sonst noch irgendwas, Karl? Kaugummi, Zigarettenkippen, Hautpartikel, die von Abschürfungen herstammen könnten?«
Der Spurenexperte schüttelte mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. »Nein, bislang haben wir rein gar nichts gefunden, woraus man die DNA des Täters gewinnen könnte. Auch nicht eine einzige Fingerspur. Der Mann hat offenbar Handschuhe getragen.«
»Also doch ein Profikiller«, konnte sich Geiger nicht verkneifen. Er hatte sich wieder hingesetzt und malte nun Kreuze in die Schweißspuren, die seine feuchten Handflächen auf der Tischplatte hinterlassen hatten.
Tannenberg überging den trotzigen Einwurf. »Wie weit konntet ihr die Fußspuren zurückverfolgen?«
»Bis zu einem etwa zehn Meter entfernten Wanderweg«, antwortete der Kriminaltechniker und wies dabei auf eine topografische Karte, die er neben seine Tatortskizze gepinnt hatte. »Von dort aus führen die Fußspuren in Richtung Humbergturm.«
»Wieso nicht zur Bremerstraße?«, fragte Michael Schauß. »Von der Buche aus sind es doch nur ein paar hundert Meter bis dahin. Dort hätte er sein Auto abstellen und gleich nach dem Schuss damit flüchten können.«
»Gute Frage«, lobte Tannenberg. »Vielleicht war ihm aufgrund der unmittelbaren Tatortnähe einfach das Risiko zu groß, und er hatte Angst, dass irgendein Passant oder Autofahrer sich später an ihn erinnern könnte. Wegen des Waffentransportes muss er schließlich einen ziemlich großen Rucksack mit sich geführt haben.«
»Das kann, muss aber nicht so gewesen sein.«
»Wieso?«
»Na ja, er kann ihn doch auch irgendwo im Wald versteckt haben. Vielleicht hat er sich umgezogen und ist als unauffälliger Jogger durch den Wald getrabt«, brachte Dr. Schönthaler eine weitere Möglichkeit ins Spiel.
Tannenberg brummte zustimmend. »Kann sein.« Er fasste sich ins Genick und knetete es ein wenig. Dann klatschte er in die Hände. »Also jagen wir eine Hundertschaft durch die Walachei und geben einen Aufruf an die Bevölkerung raus. Wer informiert die Pressestelle?« Als sich niemand freiwillig meldete, bestimmte er kurzerhand den augenscheinlich gelangweilten Kriminalhauptmeister: »Das machst du auch noch, Geiger. Die sollen das morgen in ihre Sonntagsausgabe reinpacken.«
»Ja«, gab der feiste Beamte einsilbig zurück.
»Rainer, hast du noch was für uns?«
Mit Blick auf die Tischplatte zupfte der Rechtsmediziner an seiner Fliege herum. »Nee, eigentlich nicht«, antwortete er. »Aber ich hab auch noch nicht alle Daten. Die Ergebnisse der toxikologischen Analyse erhalte ich erst frühestens morgen Nachmittag. Sobald ich sie habe, kriegst du deinen vorläufigen Bericht.«
»Gut. Das war’s, meine Herrschaften«, beendete Tannenberg die Dienstbesprechung. Als sich der Kriminalhauptmeister nicht sofort erhob, fragte er ihn: »Geiger, wie heißt Andi mit Nachnamen?«
»He?«, machte sein kleinster und gewichtigster Mitarbeiter. Er wischte sich mit der Hand Schweißperlen von der gekrausten Stirnpartie.
»Arbeit.«
»Wie ›Arbeit‹?«
»An-die-Arbeit.«
Mit einem spitzbübischen Grinsen drehte er Geiger den Rücken zu und bedeutete seinem Freund mit einer Geste, dass dieser noch bleiben solle.
Tannenberg wartete ungeduldig, bis alle K 1-Mitarbeiter sein Büro verlassen hatten. Dann wandte er sich an den altgedienten Gerichtsmediziner und Hobbykriminalisten: »Rainer, glaubst du, dieser arme Marcel war ein Zufallsopfer?«
Dr. Schönthaler lupfte schweigend die Schultern.
»Oder eher, dass er gezielt ausgewählt wurde?«
»Ich weiß es nicht, Wolf.« Er seufzte tief. »Aber es wäre mir auf alle Fälle viel lieber, wenn Letzteres zuträfe.«
»Weshalb?«
»Na ja, dann könnten wir meines Erachtens darauf hoffen, dass der Täter damit aufhört. Mein Bauchgefühl signalisiert mir aber leider, dass es jeden dieser Sportler hätte treffen können.«
»Auch Tobias«, murmelte Tannenberg, der bei diesem Gedanken erschauderte.
»Sicher, auch Tobias.«
»Du glaubst also an einen psychopathischen Serienkiller?«
Der Pathologe nickte. »Ja, ich befürchte, das war möglicherweise erst die Ouvertüre für eine Mordserie.«
»Und das Motiv?«
»Keine Ahnung.«
Tannenberg wühlte mit beiden Händen in den Haaren und warf einen beschwörenden Blick an die Decke. »Oh nein, nicht schon wieder ein irrer Serienkiller.«
»Irgendwie scheinst du diese durchgeknallten Typen magisch anzuziehen.« Dr. Schönthaler schlug die Beine übereinander und klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Dann senkte er den Kopf und strich ein paar Mal an seiner rechten Braue entlang.
»Was ist los? Hast du mal wieder deinen Moralischen?«
Erst nach einem tiefen Atemzug antwortete der Gerichtsmediziner: »Es existiert allerdings noch eine andere Möglichkeit.«
»Und welche?« Tannenbergs verdutzte Mimik sprach Bände über seinen aktuellen Geisteszustand.
»Zum jetzigen Zeitpunkt können wir leider nicht ausschließen, dass der Täter möglicherweise Tobias erschießen wollte.« Er zögerte, so als müsse er sich die richtigen Worte erst zurechtlegen. »Vielleicht hat er es auch noch auf weitere Mitglieder deiner Familie abgesehen.«
»Aber warum?«, keuchte Tannenberg. Von der einen zur anderen Sekunde wurde sein Mund trocken. Die Zunge klebte am Gaumen fest. Mit zitternder Hand ergriff er sein Wasserglas und führte es an die Lippen.
»Vielleicht steckt jemand hinter dem Anschlag, der mitgekriegt hat, dass Emma die Entführung«, er reckte den Zeigefinger in die Höhe, »die ja ein Racheakt an dir war, unbeschadet überstanden hat und …«
»Und der mich nun mit Tobias’ Ermordung bestrafen will?«, vollendete Tannenberg.
Schmerzlich erinnerte er sich an die Höllenqualen, die er und seine Familie damals durchleiden mussten. Doch dann vergegenwärtigte er sich, dass die beiden Täter nicht mehr am Leben waren. Ein Ruck wie ein Stromschlag fuhr ihm in die Glieder. Er pumpte seinen Oberkörper auf und verkündete mit fester Stimme: »Also, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.«
Er warf den Kopf hin und her und ergänzte in einem Ton, der deutlich machte, dass es nichts weiter zu diskutieren gab: »Nein, nein, Rainer. Das ist völlig an den Haaren herbeigezogen. Du siehst mal wieder Gespenster.«
»Wieso, Wolf? Du solltest doch am besten wissen, dass es bei unseren Artgenossen nichts gibt, was es nicht gibt. Willst du denn nicht lieber Tobi vorsichtshalber warnen? Vielleicht solltest du ihn sogar unter Personenschutz stellen lassen.«
»Quatsch.«
Vor der mehrgeschossigen Wohnanlage im Westen Landstuhls hatten sich die Anwohner zu einem Grillfest versammelt. Als Tannenberg die fröhlichen, unbekümmerten Menschen erblickte, hätte er sich am liebsten zu ihnen gesellt. Aber er musste zu Marcels Mutter, die hier im dritten Obergeschoss in einer kleinen Wohnung lebte.
Als Karin Christmann im Türrahmen erschien, stellte er verblüfft fest, dass diese Frau völlig anders aussah, als er erwartet hatte. Ohne darüber nachzudenken hatte er von Marcels Sportleidenschaft auf das äußere Erscheinungsbild seiner Mutter geschlossen.
Karin Christmann hingegen sah man auf den ersten Blick an, dass sie mit sportlichen Aktivitäten rein gar nichts am Hut hatte. Die etwa ein Meter sechzig große, ungepflegt wirkende Frau hatte ein rundes Gesicht, das in der Mitte gescheitelte hellbraune, strähnige Haaren einrahmten.
Sie trug ein ausgebeultes Sweatshirt und schlabberige Jogginghosen. Trotzdem konnten diese Kleidungsstücke nicht kaschieren, dass sie mindestens einhundert Kilogramm Lebendgewicht durch die Gegend schleppte. Überdies wiesen die in der Wohnung herumwabernden Rauchschwaden und die Alkoholfahne der Frau nicht gerade auf einen gesundheitsbewussten Lebensstil hin.
Nachdem Tannenberg ihre teigige Hand gedrückt und sein Beileid ausgesprochen hatte, führte ihn Marcels Mutter durch einen engen Korridor in ein unaufgeräumtes, stickiges Wohnzimmer. Die curryfarbene Couch war mit Kissen und Decken belagert. Auf dem niederen Holztisch stand eine angebrochene Flasche billiger Rotwein. Mehrere Zigarettenpäckchen, ein Feuerzeug, ein überquellender Aschenbecher und ein fleckiges Weinglas komplettierten dieses deprimierende Stillleben.
Ächzend sank sie auf die Polster nieder. Tannenberg nahm ihr gegenüber auf einem Cordsessel Platz und schlug die Beine übereinander. Er benötigte eine Weile, bis er dieses bedrückende Ambiente einigermaßen verdaut hatte.
Mann, reiß dich zusammen, die arme Frau hat schließlich heute Morgen ihren Sohn verloren!, versuchte ihn seine innere Stimme zur Räson zu bringen.
Verlegen senkte er den Blick auf sein rechtes Knie und schnippte einen unsichtbaren Krümel von der Hose. Gleich darauf hob er wieder den Kopf und musterte das bleiche Gesicht der trauernden Mutter. Sie schien in den letzten Minuten um weitere Jahre gealtert zu sein.
»Frau Christmann, ich möchte Sie in Ihrem Schmerz wirklich nicht noch zusätzlich quälen. Aber Sie werden sicherlich nachvollziehen können, dass wir so schnell wie möglich versuchen müssen, den Täter zu fassen«, bat er um Verständnis. »Damit er nicht noch weiteres Unheil anrichten kann.«
Marcels Mutter nickte tapfer und wischte sich dabei schniefend die Feuchte von den Wangen. Mit fahriger Hand schenkte sie Wein ein und leerte das Glas mit mehreren großen Schlucken. Dann steckte sie eine Zigarette zwischen die farblosen Lippen, entzündete sie und inhalierte einen tiefen Zug.
»Fragen Sie ruhig«, hauchte sie in den ausströmenden weißen Qualm hinein.
»Danke für Ihre Unterstützung«, sagte der Kriminalbeamte. »Sie leben mit Ihrem Sohn alleine in dieser Wohnung?«
Wieder quollen Karin Christmann dicke Tränen aus den Augenwinkeln. Sie griff erneut nach dem Tempo und tupfte die Nässe weg. »Ja, wir haben hier alleine gewohnt«, erwiderte sie schniefend. Sie hatte bereits einiges an Alkohol intus und sprach deshalb nur langsam und behäbig. Ihre Bewegungen führte sie wie in Zeitlupe aus.
»Was ist eigentlich mit Marcels Vater?« Tannenberg blickte sich um. »Lebt er auch hier in der Stadt?«
Leere, mit grauen Tränensäcken unterlegte Augen schauten Tannenberg an. »Nein, er lebt nicht mehr. Er ist vor zwölf Jahren bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen«, hauchte die ungepflegte Frau. Schluchzend ließ sie die Schultern sinken und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Mein ganzes Leben hab ich mich von morgens bis abends abgerackert, nur, damit es meinem Jungen gut geht. Sogar heute Morgen hab ich arbeiten müssen. Ich konnte noch nicht mal zu seinem Wettkampf kommen. Und jetzt bin ich ganz alleine auf dieser Scheiß-Welt.«
»Marcel hat also keine Geschwister?«
Wimmernd schüttelte Karin Christmann den Kopf.
»Haben Sie irgendeine Vermutung, wer hinter diesem Anschlag stecken könnte?« Als die sichtlich verstörte Frau nicht antwortete, schob Tannenberg behutsam nach: »Hatte Ihr Sohn Feinde?«
Marcels Mutter blickte ihn mit ihren todtraurigen, wässrigen Augen an. »Feinde? Mein Marcel?«, fragte sie verwundert. »Nein. Er war doch der friedlichste Mensch auf der ganzen Welt.«
Das reicht fürs Erste, entschied Tannenberg im Stillen. »Vielen Dank, Frau Christmann. Dürfte ich zum Schluss noch einen Blick in Marcels Zimmer werfen?«, fragte er und erhob sich gemächlich.
Ein kaum merkliches, stummes Nicken.
Während Marcels Mutter im Wohnzimmer zurückblieb und sich eine weitere Zigarette anzündete, betrat der Kriminalbeamte das Zimmer des Mordopfers. Diesmal entsprach der Anblick exakt den Vorstellungen, die er sich vom Domizil eines jungen Leistungssportlers gemacht hatte: An den Wänden hingen Poster seiner Zehnkampf-Idole: Jürgen Hingsen, Roman Sebrle, Frank Busemann, Sigi Wentz. Auch sonst ähnelte das Zimmer frappierend dem seines Neffen: Überall lagen wild verstreut Kleidungsstücke, Sportschuhe, Plastikflaschen, Zeitschriften und CDs herum. Auf dem von einer Computeranlage dominierten Schreibtisch herrschte das reinste Chaos – ein kreatives, wie Tobias stets behauptete.
An der Wand am Fußende seines Bettes hatte Marcel Christmann unter ein großformatiges Foto, das ihn mit einem Pokal in den Händen zeigte, auf einen Pappkarton mehrere Daten aufgemalt. Dabei handelte es sich offenbar um seine persönlichen Bestleistungen. Als Tannenberg ›100 Meter: 11,3 Sek.‹ las, verspürte er einen schneidenden Schmerz in der Magengegend.
Und jetzt ist der arme Junge tot. Verdammter Mist!, schimpfte er tonlos. Er presste die Kiefer dabei so fest aufeinander, dass sie knirschten. Hinterrücks ermordet von einem Heckenschützen. Aber warum ausgerechnet er? Oder war es vielleicht doch nur reiner Zufall und der Täter hat sein Opfer völlig willkürlich ausgewählt?
Wolfram Tannenberg setzte sich auf den Drehstuhl und fuhr den Computer hoch. Während der PC startete, schaute er aus dem Fenster – hinunter in eine Horde fröhlicher Menschen, die an Biertischen beisammen saßen.
Ein Piepser riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf den Monitor. Natürlich passwortgeschützt, stellte er resigniert fest.
Er ging zurück ins Wohnzimmer und fragte Marcels Mutter, ob sie zufällig das Codewort kenne. Karin Christmann hatte inzwischen die Weinflasche restlos geleert und wiegte nur lethargisch den Kopf hin und her. Er fragte, ob er den PC zu seiner Dienststelle mitnehmen dürfe. Als kein Widerspruch erfolgte, kehrte er in Marcels Zimmer zurück, entkabelte den Computer und klemmte den Tower unter den Arm. Neben der Zimmertür entdeckte er eine Pinnwand, auf der mehrere Fotos des jungen Sportlers angebracht waren.
Er nahm eins davon und steckte es in sein Sakko.