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Verlagshinweis
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Viel Spaß damit!

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Für Judith

mein Nord
mein Süd
mein Ost
mein West

Inhalt

Prolog

Leinen los! | Von Hamburg bis Holland

Härtetest | England

Starkstromrevier | Der Englische Kanal

Bissige Biskaya | Frankreich

Pura vida und pura Werft | Spanien

Ursprünglichkeit am Atlantik | Portugal

Mahlzeit-Mustapha | Marokko

Antipoden am Affenfelsen | Gibraltar

Unter Gleichgesinnten | Kanarische Inseln

Über den Teich | Atlantischer Ozean

Maximum chill! | Karibik/Antillenbogen

Wir rocken die Roques | Karibik/Los Roques

In Nemos Welt | Karibik/Bonaire

Altstadt und Arbeit | Kolumbien

Kuna Yala | Panama

Hauruck-Aktion | Panamakanal

Schräge Welt | Überfahrt nach Galapagos

Unter Tieren | Galapagosinseln

Stiller Ozean | Pazifischer Ozean

Südsee-Samstage | Französisch-Polynesien/Marquesas

Tolle Atolle | Französisch-Polynesien/Tuamotus

Palmenhütte mit Pool | Französisch-Polynesien/Gesellschaftsinseln

Corned Beef für Bill Clinton | Cookinseln

Königreich und Kiwis | Niue/Tonga/Neuseeland

Am Ende der Welt | Neuseeland

Aotearoa | Neuseeland

In einem sehr gelassenen Land | Vanuatu

The good people of Asubuo | Salomonen/Santa-Cruz-Inseln

Lagunenleben | Salomonen

Temporäre Millionäre | Indonesien

Merkwürdige Weihnachtsinsel | Australien

Tage am Meer | Australien/Kokosinseln

Hochs und Tiefs | Indischer Ozean

Drei Inseln | Rodrigues/Mauritius/La Réunion

Zitterpartie | Überfahrt nach Südafrika

Im Vollwaschgang zum Tiefpunkt der Reise | Südafrika

Um die Kaps nach Kapstadt | Südafrika

Langer Weg nach Norden | Atlantischer Ozean

Archipel im Aufbruch | Kapverden

Die Erde ist rund | Überfahrt zu den Azoren

Inmitten des berühmten Hochs | Azoren

Heimreise | England/Deutschland

Epilog

Tank yu tumas!

Prolog

If you can dream it, you can do it!

(Walt Disney)

Wie beginnt man ein Buch über eine Weltumseglung, wenn man eigentlich gar keine machen wollte? Eine Weltumseglung zu planen, ist ja auch nicht unbedingt normal. Last-Minute in die Türkei fliegen, einen Kluburlaub auf den Kanaren buchen, ein Ferienhaus an der Nordsee mieten oder in Ägypten die Pyramiden ansehen – das ist wohl eher normal. Aber freiwillig in einem nur zehn Meter langen Boot wochenlang einen Ozean zu überqueren, in einem schaukelnden Bett zu schlafen, mit Seewasser zu duschen und auf engstem Raum zusammenzuleben – nein, das ist nicht normal. Zumindest auf den ersten Blick nicht.

Aus heutiger Sicht weiß ich selbst nicht mehr so genau, wie wir eigentlich zu der Reise kamen. Irgendwie ist die Idee in unseren Köpfen gewachsen, bis eines Tages klar war, dass wir es wagen wollen. So gesehen beginnt unsere Geschichte vermutlich im Herbst 2003, als Judith und ich uns kennengelernt haben. Ich war damals Segler – sie nicht. Judith ist im Badener »Ländle« aufgewachsen. Mit wandern, Rad fahren und Wohnmobilurlaub in Irland oder der Bretagne. Von einem kurzen Chartertörn im Mittelmeer mal abgesehen, hatte sie, bis wir uns das erste Mal trafen, keinen Kontakt mit dem Segeln gehabt. Ich hingegen bin damit groß geworden und habe schon früher gelegentlich mit dem Gedanken gespielt, einmal einen Ozean zu überqueren. Aber das war eher ein Hirngespinst als ein fester Plan.

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Konkreter wurde die Idee im Sommer 2004. Ich hatte einen zeitintensiven Managerposten inne, war überarbeitet und brauchte eine Auszeit. Zusammen mit einem guten Freund umrundete ich fünf Monate lang die Ostsee. Während wir durch das Baltikum und Skandinavien segelten, ging Judith im Labor ihrer Doktorarbeit nach. Zwischendrin besuchte sie uns an Bord und lernte die schönen Seiten des Reisens mit einem Segelboot kennen. Etwa die Freiheit, in Buchten zu fahren, die man anders nicht erreicht. Das einfache, schöne Leben im Einklang mit der Natur. Das Entdecken von Land und Leuten. Nicht zu vergessen die ständige frische Luft, die Stille am Ankerplatz oder die Freiheit auf See. Mich brauchte man von alledem nicht mehr zu überzeugen. Das Bordleben gefiel mir längst. Die Ostseereise begeisterte mich sogar so sehr, dass es für mich nahelag, eines Tages zu neuen Ufern aufzubrechen.

Glücklicherweise wurde aus meiner Idee mit der Zeit immer mehr unsere Idee. Judith begann, in Weltumseglerbüchern zu stöbern und fand Gefallen daran. Es waren nicht die Reiseberichte von Helden, die im Orkan alleine um Kap Hoorn jagten, sondern die von Fahrtenseglern von nebenan – Menschen mit nachvollziehbaren Ideen und den gleichen Sorgen im Vorfeld.

Im Mai 2006 heirateten Judith und ich, und in den Flitterwochen sagte meine Frau plötzlich: »Wenn andere das können, können wir das auch!« Wunderbar! Noch im selben Urlaub entschieden wir, ein Jahr später mit dem Passatwind im Rücken von Hamburg nach Neuseeland an das andere Ende der Welt zu segeln. Eineinhalb Jahre. Für mehr würde unser Erspartes nicht reichen.

Am Ende waren es gut drei Jahre und wir sind um die Welt gesegelt. Wir haben drei Ozeane überquert, 35 000 Seemeilen zurückgelegt und mehr als 30 Länder besucht. Wir haben Stürmen getrotzt, mit Seekrankheit gekämpft, beinahe unser Schiff verloren und uns so manches Mal nach Hause gewünscht. Wir haben aber auch paradiesische Orte entdeckt, faszinierende Menschen getroffen, Ängste besiegt, Glück gefunden und gemeinsam das größte Abenteuer unseres Lebens gelebt. Davon handelt dieses Buch.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Mitreisen auf einer nicht ganz alltäglichen Reise um die Welt.

Sönke Roever

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Leinen los!

Hotel, India, Papa, Papa, Oscar,
Papa, Oscar, Tango, Alpha, Mike, Uniform, Sierra

(Unser Bootsname nach dem NATO-Alphabet buchstabiert)

»Moin Moin!«, begrüßt uns der Hafenmeister in Cuxhaven an der Niederelbe. Quietschend klappt er den Ständer seines Dienstfahrrads aus und stellt es vor unserem Schiff ab. Während er Quittungsblock und Kugelschreiber aus einer Umhängetasche fummelt, fragt er: »Wie lang ist Ihr Schiff?«

»Zehn Meter sechzig.«

»Und der Name?«

»Hippopotamus.«

»Wie bitte?«

»Hippopotamus«, wiederhole ich. »Das kommt aus dem Griechischen. Es bedeutet Flusspferd.«

»Aha!« Mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen trägt mein Gegenüber »Hippo« in die Zeile für den Bootsnamen ein. »Das reicht so.«

Ein Gesprächsverlauf, der mich nicht sonderlich überrascht. Ich kenne das schon. 1992 taufte ich mein erstes Schiff auf den Namen HIPPOPOTAMUS, weil ich das Wort lustig fand, und seither bringe ich Hafenmeister zur Verzweiflung. Die Schiffe haben gewechselt, der Name ist geblieben. Ebenso die dunkelblaue Rumpffarbe und ein rund zwei Meter langer Aufkleber zu beiden Seiten des Bugs, der ein schwimmendes Flusspferd zeigt. Es ist eine Art Markenzeichen. Wenn wir segeln, pflügt es mit der Nase durch die Wellen.

»Gut. Das mit dem Namen hätte ich überstanden«, grinst der Hafenmeister. »Woher kommen Sie?«

»Hamburg.«

»Wohin wollen Sie?«

»Meinen Sie den nächsten Hafen oder mehr so generell?« Jetzt bin ich es, der sich ein Grinsen nicht ganz verkneifen kann.

»Eigentlich meinte ich den nächsten Hafen.«

»Helgoland.«

»Alles klar. Das macht zwölf Euro.« Er reicht mir den Hippo-Zettel. Ich krame mein Portemonnaie aus der Hosentasche hervor, bezahle, und Judith klebt die Quittung innen an unser Kajütfenster, sodass man sie von außen lesen kann.

Der Hafenmeister verabschiedet sich und schiebt sein Fahrrad ein Schiff weiter. Als er es erreicht hat, dreht er sich noch einmal um: »Und generell?«

»Neuseeland«, rufe ich ihm zu. Er zieht die Augenbrauen hoch und wendet sich kopfschüttelnd ab. Ohne ein Wort zu sagen, klopft er bei unserem Nachbarn.

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Cuxhaven liegt von Hamburg aus gesehen gerade mal 50 Seemeilen elbabwärts. Im Vergleich zur Reststrecke bis Neuseeland sind wir noch nicht weit gekommen. Natürlich hätten wir in Hamburg die Segel setzen und sie irgendwo in England oder Frankreich wieder runternehmen können. Aber das ist nichts für uns. Noch nicht. Statt in einem Rutsch durchzusegeln, lassen wir uns Zeit und gehen die Reise in Ruhe an. Wir werden noch früh genug lange Seestrecken zurücklegen. Vor Ende November hat eine Fahrt von den Kanaren über den Atlantischen Ozean in die Karibik ohnehin keinen Sinn, weil bis dahin die Hurrikansaison den Segelspaß zwischen den Karibischen Inseln trübt. Somit bleiben uns noch sechs Monate, um die 2000 Seemeilen bis zu den Kanaren zurückzulegen.

Nach ein paar Karibik-Monaten mit türkisfarbenem Wasser und Kokosnüssen satt wollen wir durch den Panamakanal in den Pazifik reisen. Wir sind gespannt auf die einzigartige Flora und Fauna der Galapagosinseln, auf die Exotik Französisch-Polynesiens im Herzen der Südsee oder das Königreich Tonga, dessen Ankerplätze zu den schönsten der Welt zählen. Das Ziel der Reise heißt Neuseeland. Was dann kommt, haben wir noch nicht entschieden. Wahrscheinlich verkaufen wir das Schiff und fliegen nach Hause. Aber das ist noch lange hin. Eineinhalb Jahre, um genau zu sein. Ein Zeitraum, der meine Vorstellungskraft sprengt. Sonst dauern Segelurlaube – von der längeren Auszeit im Sommer 2004 mal abgesehen – maximal drei Wochen und nun liegen plötzlich eineinhalb Jahre vor uns. Mehr als 500 Tage. Dazu noch die unglaubliche Entfernung: 15 000 Seemeilen, fast 28 000 Kilometer. Mit dem Flugzeug ist das einfach. Aber mit unserem Zehn-Meter-Schiff jede Meile selbst dorthin zu segeln – das ist etwas anderes. Da haben wir uns viel vorgenommen.

Zwei Tage später stimmt die Wettervorhersage für die Weiterfahrt und wir brechen früh morgens mit dem einsetzenden Ebbstrom zur nächsten Tagesetappe nach Helgoland auf. Mittlerweile ist es vier Tage her, dass wir Hamburg nach einem rauschenden Abschiedsfest verlassen haben, und jetzt endlich geht es raus auf die Nordsee. Es ist Mitte Mai und die Temperaturen sind noch frisch. Das Deck ist feucht und ich trage Mütze, Fleecepullover und Ölhose. Erste Sonnenstrahlen brechen durch eine leichte Wolkendecke und verkünden, dass es ein schöner Tag wird. Die Sicht ist hervorragend, der Blick reicht weit. In der Ferne sehe ich einige Frachter und zwei Fischkutter, die ihre Netze in den Strom halten. Der Wind weht leicht aus Süd bis Südost. Rückenwind.

Wir passieren die Kugelbake – ein hölzernes Seezeichen, das seit rund 300 Jahren die Grenze zwischen Elbe und Nordsee markiert. »Sieh mal, wie schön sie im Morgenlicht leuchtet«, sage ich zu Judith. Sie nickt und nimmt einen großen Schluck Kaffee aus dem dampfenden Becher.

Zwei Containerschiffe fahren vorbei und die Küste verschwindet in der Ferne. An Backbord liegen die Inseln Neuwerk und Scharhörn und an Steuerbord der Große Vogelsand. Wellen bilden sich kaum und alles sieht unglaublich friedlich aus.

Als am Vormittag beim Blick durchs Fernglas die Umrisse von Helgoland sichtbar werden, schläft der Wind endgültig ein. »Dumm gelaufen«, kommentiert Judith die Flaute, während sie den Motor startet und ich das Vorsegel einrolle.

Auf Helgoland verabschieden wir uns nach zwei Tagen von unseren Familien und einigen Freunden, die uns auf den ersten Meilen mit drei Schiffen begleitet haben. Abschiede liegen mir nicht und es fällt mir schwerer als erwartet, den Bug nach Westen zu richten. Wer weiß, wann wir uns alle wiedersehen. Judith scheint es ähnlich zu gehen. Als wir zwischen den dicken Hafenmolen hindurch auf die Nordsee fahren und Kurs auf Norderney nehmen, schauen wir beide immer mal wieder zurück. Wir legen die Arme umeinander und sagen nichts.

In Tagesetappen bummeln wir über die ungewohnt friedliche Nordsee mit Stopps auf den Inseln Norderney und Borkum nach Emden. Wir genießen es, Zeit zu haben, uns einzugewöhnen und unser Schiff in Ruhe kennenzulernen. Wir haben es erst zehn Monate vor dem Start gekauft und sind bisher kaum damit gesegelt.

Es ist vom Typ Gib’Sea 106, aus Kunststoff und 23 Jahre alt. Ein solides Fahrtenschiff mit klassischer Raumaufteilung, das von der französischen Werft Gibert Marine für das Chartergeschäft konzipiert wurde. Entsprechend großzügig ist das Platzangebot unter Deck. Es gibt einen großen Salon mit Kartentisch, Kombüse, Tisch und Sitzecke sowie eine Nasszelle mit Waschbecken und Pumptoilette, eine Vorschiffskabine, in der wir schlafen, und zwei Achterkabinen, die wir als Stauraum nutzen.

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Innenansicht der Gib’Sea 106

Aber nicht nur das Schiff ist neu für uns. Auch wir müssen uns erst einmal als Team an Bord einspielen. Außer auf ein paar kurzen Sommertörns sind wir noch nicht viel zusammen unterwegs gewesen. Wie schon angedeutet, ist Judith erst durch mich zum Segeln gekommen und eher ein Neuling, während ich von klein auf den Umgang mit Wind und Wellen gelernt und viele Tausend Seemeilen im Kielwasser gelassen habe. Zwar hat Judith vor der Abfahrt den Sportbootführerschein gemacht, aber bei dem Kurs wurde eher Theorie als Praxis vermittelt. Unser Ziel ist daher, dass ich ihr bis zur Atlantiküberquerung möglichst viel zeige und sie vor allem eigene Erfahrungen sammelt. Mein Wunsch ist, dass sie eines Tages genauso selbstverständlich wie ich mit dem Schiff umgeht. Wobei ich zugeben muss, dass ich meine Meilen überwiegend auf Elbe, Nord- und Ostsee gesammelt habe und genau genommen selbst ein Laie bin, wenn es um Ozeanüberquerungen geht. So gesehen ist es auch in meinem Sinne, wenn wir uns langsam und vor allem gemeinsam an das Langstreckensegeln herantasten. Da passt es gut, dass wir erst einmal die als rau geltende Nordsee meiden und gegenüber der deutschen Hafenstadt Emden am holländischen Ufer der Ems bei Delfzijl auf die sogenannte Staandemastroute einbiegen – die stehende Mastroute.

Sie wird so genannt, weil Segelschiffe auf ihr trotz etlicher Brücken quer durch den holländischen Teil Frieslands auf einem Netz aus Kanälen, Flüssen und Grachten ohne den Mast legen zu müssen, zum IJsselmeer gelangen können. Wir haben im Vorwege viel Positives über die Binnenwasserstraße gelesen und sind neugierig auf den Törn durch Felder, Wiesen und Wälder.

Tatsächlich werden wir nicht enttäuscht. Gemütlich schleichen wir unter Segeln durch eine uns endlos erscheinende grüne Landschaft ohne jegliche Form von Erhebung. Kühe grasen am Ufer, Enten quaken im Schilf und hin und wieder hören wir sogar einen Kuckuck in der Ferne. Es ist ein Bummeltörn durch Hollands Vorgärten. Draußen auf der Nordsee wäre das derzeit anders. Da weht es laut Wetterbericht mit fünf bis sechs Beaufort, aber hier im Windschatten des Binnenlands zeigt der Windmesser im Cockpit gerade mal zwei bis drei Beaufort an. Mit Groß und Genua dümpeln wir nach Westen.

»Bisher läuft das ja sehr entspannt«, findet Judith. Provozierend pustet sie ins Vorsegel. »Bin mal gespannt, wann wir uns das erste Mal so richtig auf die Seite legen und ich mich in den nächsten Hafen wünsche.«

»Das wird hier wohl eher schwierig. Aber den Englischen Kanal und die Biskaya lernen wir noch früh genug kennen!«

Abzweigungen kommen und gehen. Kurve nach links. Kurve nach rechts. Und immer wieder versperren Brücken den Weg. Aber das stört nicht, weil sie uns nicht einschränken. Ein Großteil der Staandemastroute wird videoüberwacht und Sportboote haben Vorfahrt. Kaum dass wir uns einer Brücke auch nur annähern, signalisiert der Brückenwärter bereits »Bereitschaft« und passt deren Öffnung der Geschwindigkeit des Schiffes an.

Nach zwei Tagen Binnen-Bummeltörn liegt Leeuwarden vor dem Bug – eine Universitäts-Kleinstadt im Herzen Frieslands. Je näher wir ihr kommen, desto flacher wird die Fahrrinne. Immer häufiger zeigt unser Tiefenmesser null Meter unter dem Schiff an. Womit wir beim einzigen Haken der Staandemastroute wären. Denn was »nach oben« sehr komfortabel klingt, ist »nach unten« schon komplizierter. Als maximaler Tiefgang werden im Törnführer 1,80 Meter empfohlen. Ab Werft hat HIPPOPOTAMUS 1,80 Meter. Passt also theoretisch. Praktisch sind wir aber derart beladen, dass wir eher 1,90 Meter, wenn nicht sogar 2,00 Meter Tiefgang haben.

»Irgendwie haben wir zu viel eingepackt«, suche ich nach einer Erklärung, als wir im Boden stecken bleiben. Kleidung und Proviant müssen mit, aber bei den Unmengen an Büchern für die langen Ozeanpassagen sollten wir ausmisten. »Da waren unsere Augen wohl größer als der Schiffsbauch!«

Außerdem lagern jede Menge Ersatzteile unter Deck. Wenn wir mitten auf dem Ozean ein technisches Problem haben, wollen wir uns nach Möglichkeit selbst helfen können. Epoxykleber, Gewebematte, Schläuche, Schrauben, Werkzeuge, Beschläge, Schäkel, Blöcke, Leinen, Drähte, Motorteile, Filter, Fette, Farben, Öle, Kabel, Sicherungen und vieles, vieles mehr haben wir unter Deck verstaut. Im 21. Jahrhundert steckt ein Schiff voll mit Technik. Sie reicht von »A« wie Autopilot über »K« wie Kühlschrank und »N« wie Navigations-PC bis hin zu »Z« wie Zylinderkopfdichtung. Zu den ganzen Ersatzteilen kommen unzählige Seekarten, diverse Handbücher und zwei Tauchausrüstungen samt vier Flaschen, weil wir unterwegs tauchen lernen wollen. Nicht zu vergessen Anker, Gasflaschen, Treibstoffkanister, Außenbordmotor, Schlauchboot und sieben Segel – Groß, Fock, Passatfock, Sturmfock, Genua, Gennaker und Spinnaker.

Kein Wunder, dass unser Packesel HIPPOPOTAMUS zu tief im Wasser liegt und stecken bleibt, wenn es flach wird und der Vortrieb unter Segeln bei dem leichten Binnenwind nicht ausreicht. Also Motor an und das Schiff durch den weichen Untergrund schieben. Es klappt. Fünfmal wiederholen wir die Prozedur bis wir – im wahrsten Sinne des Wortes – über den Berg sind.

Kurz vor Leeuwarden wird das Fahrwasser wieder tiefer, aber dafür enger. Häuser stehen direkt am Ufer und die Enden ihrer Terrassen begrenzen den Kanal. Paddelboote liegen vor der Tür, Rasensprenger duschen auch uns, und keine 30 Meter entfernt stehen Autos im Feierabendstau. Ein Maler streicht ein Fenster an einer Wohnung und ein Lkw-Fahrer lädt Bierfässer für ein Restaurant aus. Wir passieren einige Plattbodenschiffe, die scheinbar schon immer im Kanal liegen. Ihre Festmacherleinen sind mit Moos überzogen und die Segel abgeschlagen. An Deck stehen Blumenkübel oder Wäscheständer.

»Ist schon verrückt. Wir starten hier an Bord unseren Langzeiturlaub, und direkt neben uns läuft der Alltag ab!«

Es folgt eine letzte Brücke, neben der ein paar Arbeiter Schrott aus dem Kanal ziehen – im Wesentlichen handelt es sich dabei um Fahrräder – und dann machen wir im Stadtgraben von Leeuwarden am Ufer eines parkartigen Geländes fest.

Der Liegeplatz ist perfekt. Mit Stromanschluss, Dusche und Wasserhahn. Zudem gibt es in Laufweite Supermärkte und Geschäfte aller Art, zwei Schiffsausrüster und ein nettes Kneipenviertel. Bestens. Wir beschließen, länger zu bleiben, um einige Arbeiten an HIPPOPOTAMUS zu erledigen. Ganz fertig geworden ist unser schwimmendes Zuhause vor der Abfahrt leider nicht.

Der Windgenerator muss noch verkabelt werden, ebenso der Batteriemanager, das Autoradio und der Navtex-Wetterempfänger. Der Cockpittisch könnte auch mal angeschraubt werden und der Autopilot wartet immer noch gut verpackt in der Achterkabine auf seinen ersten Einsatz. Anstatt alles zu montieren, war es uns wichtiger, erst einmal die Leinen zu lösen und dann weiterzusehen. Wir kennen genug Menschen, die jahrelang nicht in See stechen, obwohl sie es fest vorhaben, weil es immer noch irgendwas zu tun gibt. Dieses Argument sollte uns nicht aufhalten!

Gemütlich basteln wir vor uns hin. Ohne Zeitdruck, mit Nickerchen am Mittag, Stadtbummel und Grillvergnügen am Abend. Die Zeit plätschert dahin und wir haken Punkt für Punkt auf unserer Arbeitsliste ab, bis der Weiterfahrt nach einer Woche nichts mehr im Wege steht.

Über den Van-Harinxma-Kanaal segeln wir nach Harlingen und weiter durch Seegatten und Priele zum IJsselmeer. Es ist Anfang Juni – Hochsaison auf dem Binnenrevier. Der Horizont ist mit weißen Segeln übersät und die Gastliegeplätze in den Häfen werden bereits ab Mittag knapp.

Einer der beliebteren Häfen ist Medemblik. Wir erreichen ihn gegen Mittag und freuen uns, als wir einen letzten freien Platz erblicken. Ich steuere HIPPOPOTAMUS und Judith steht mit einer Leine in der Hand auf der Kajüte. Spiegelglattes Wasser, kein Seegang. Eine Routinearbeit. Kurz vor dem Übersteigen an Land tritt Judith aus Versehen auf den Schotwagen und knickt um. Schmerzverzerrt blickt sie auf: »Verdammt! Das war gar nicht gut.« Tränen schießen in ihre Augen. Sie humpelt ins Cockpit, fummelt den Schuh ab, wirft ihn entnervt in die Kajüte und hält sich den Fuß. »Ich glaube, das muss ich röntgen lassen.«

Ratlos schauen wir uns an. Knochenbruch, Bänderdehnung, Kapselanriss? Ich mache unser Schiff provisorisch fest, wickle eine kalte Dose Cola in ein Geschirrhandtuch und reiche sie ihr zum Kühlen, während meine Gedanken Achterbahn fahren. Müssen wir jetzt eine Reisepause einlegen? Natürlich ist mir Judiths Wohlergehen wichtiger als unser Törn, aber die Gedanken an den Fortgang unseres Traumes sind auch da.

»Hauptsache, wir bleiben wegen meiner bescheuerten Aktion nicht irgendwo hängen«, scheint Judith meine Gedanken zu lesen.

Entnervt nimmt sie sich das Buch Medizin auf See aus dem Bücherregal am Kartentisch und beginnt zu blättern. Um auch etwas Sinnvolles zur angespannten Situation beizutragen, schlage ich derweil vor, dass sie den Fuß vor die Antenne vom Radargerät halten könnte und ich ihr sage, was ich auf dem Display sehe. Viel mehr kann ich als Betriebswirt ohnehin nicht beisteuern. Allerdings ist Judith gerade ihr Sinn für Humor abhandengekommen.

Am Abend gibt meine Frau Entwarnung. Sie spielt seit Jahren Handball und kennt sich mit Verletzungen ein wenig aus. »Das ist nicht so schlimm!« Aus unserem Koffer mit der Bordapotheke kramt sie eine passende Schiene und Salbe hervor. »Ich denke, dass ich in ein paar Tagen wieder laufen kann.« Erleichterung breitet sich aus.

Leider zu früh, wie sich zwei Tage später herausstellt. Wir liegen in Hoorn und Judiths Fuß geht es nicht besser. Im Gegenteil. Sie humpelt immer stärker, sucht das lokale Krankenhaus auf und kehrt mit einer schlechten Nachricht zurück. Ein Mittelfußknochen ist angebrochen und für die nächsten vier Wochen fest eingegipst. Glücklicherweise in einen Gehgips, sodass sie in ihren Segelschuhen vorsichtig auftreten kann. »Und nun?«, schaue ich sie mitleidig an. »Willst du eine Pause?«

»Was, wieso das denn?«

Wir diskutieren eine Weile das Für und Wider einer Weiterfahrt und beschließen folgende Lösung: Ab sofort steht Judith aufgrund der eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten zwangsweise bei allen An- und Ablegemanövern am Ruder. Ich gebe ihr, sofern erforderlich, vorher Tipps und belege die Leinen an Land. Ehrlich gesagt finde ich das gar nicht schlecht. Bisher war die Rollenverteilung eher anders herum. Das hat mich gestört und so können wir das ändern – wenn auch nicht ganz freiwillig. Während Judith also notgedrungen ein ums andere Mal unser Schiff an- und ablegt, segeln wir über Amsterdam weiter nach IJmuiden, einer Stadt an der Nordsee.

www.hippopotamus.de/buch/1200tage/ql/1/index.htm

Härtetest

Nordsee ist Mordsee!

(Seglerspruch – aus dem gleichnamigen Film hervorgegangen)

Wir stehen am Strand von IJmuiden und blicken auf den Vorgarten des Atlantiks – die Nordsee. Sie fasziniert mich. Ständig sieht sie anders aus. Gezeichnet vom Rhythmus der Gezeiten und ewigem Westwind. Rau, gefährlich und unberechenbar. Mit solchen Eigenschaften wird sie gerne beschrieben. Wer hier segeln lernt, kann überall auf der Welt segeln, heißt es. Mag sein. Heute ist von alledem nichts zu spüren. Die See ist glatt, nur ein paar kleine Wellen plätschern vor unseren Füßen auf den Strand. Alles wirkt friedlich und ruhig. Lediglich einige Wolkentürme über dem Horizont lassen erahnen, welche Kräfte hier toben können, wenn Deiche brechen oder Sandbänke verschoben werden.

Judiths Blick wandert über die See: »Dahinten liegt England und etwas links davon die Biskaya.« Sie dreht den Kopf und sieht mich an: »Wenn ich daran denke, bin ich ein bisschen aufgeregt.«

»Ja.« Ich merke, wie ich eine Gänsehaut bekomme: »Und dann kommen die Kanaren, der Atlantik und die Karibik. Und irgendwann Neuseeland. Einfach immer weiter fahren. Schon faszinierend – oder? Für mich wird es Zeit, dass wir da rausfahren«, sage ich, während neben uns eine Möwe scheinbar lustlos im Sand nach Essbarem sucht.

Inzwischen ist es mehr als einen Monat her, dass wir Hamburg im Kielwasser gelassen haben. Viel Strecke haben wir noch nicht gemacht. Zudem waren wir fast nur binnen unterwegs. Dafür hat sich das Bordleben eingespielt. Trotzdem schlagen derzeit zwei Herzen in meiner Brust. Denn so schön die Zeit auf Hollands Kanälen auch war, allmählich reicht mir die Schleichfahrt. Natürlich ist mit dem gebrochenen Fuß Vorsicht angesagt, aber ich will jetzt endlich raus auf See. Es ist, als wenn mich die Nordsee rufen würde. Salz und Weite. Wind und Wellen. Segeln. Am liebsten sofort.

Fünf Tage später sehe ich das ganz anders. Wir sind auf dem Weg von der französischen Stadt Dünkirchen nach Dover in England und wünschen uns nur noch in den Hafen.

Doch der Reihe nach: Bereits um drei Uhr früh kehren wir gezeitenbedingt Dünkirchen den Rücken zu. Für die kommenden Tage sind stürmische Winde aus West vorhergesagt und wir wollen vor ihnen nach England durchhuschen. Es ist dunkel. Kein Mond, keine Sterne. Stattdessen sehen wir eine tief hängende Wolkendecke. Sie ist trotz der Nacht gut auszumachen, weil entlang der französischen Küste Unmengen an Industrieanlagen stehen, deren Scheinwerfer alles merkwürdig orange beleuchten. Kräne, Schornsteine, Förderbänder. Überall qualmt es. Ein gespenstischer Anblick. Es riecht nach Schwefel, Teer und Öl. Vor allem aber ist es unangenehm kalt. Judith und ich tragen Mützen, Ölzeug und Schwimmwesten. Großsegel und Genua sind oben und wir kommen bei einem frischen Südostwind flott mit sechs Knoten voran. Bestens.

Der Morgen graut. Das Bild wird trister. Über der Küste gehen Schauer nieder und die Wolkendecke ist zerfetzt. Aber HIPPOPOTAMUS läuft. Die Tidenströmung schiebt und die Restmeilen nehmen schnell ab. Um 6.30 Uhr notiere ich im Logbuch: England in Sicht. Zeitgleich kommt die Sonne raus. Einzig dass der Wind immer mehr dreht, passt uns nicht. Mittlerweile kommt er aus Südwest, sodass wir Dover nicht mehr anliegen können, wenn auch nur um ein paar Grad. Das ist nicht weiter schlimm. Damit können wir leben. Auch dass der Wind zulegt und inzwischen mit satten sechs Beaufort bläst, ist erst einmal nicht weiter schlimm. Wetterwechsel gehören hier zum Tagesablauf wie die Priele zum Watt. Wir rollen die Genua ein wenig ein und reffen das Groß, um nicht zu viel Segelfläche zu tragen. Der Seegang hat zwei Meter Höhe erreicht.

»Na, da wird unser Zuhause ja mal einem ordentlichen Härtetest unterzogen«, nimmt Judith die Situation mit Humor. Ich freue mich, dass sie das alles trotz Fußbruch so locker sieht und derart unverkrampft an die Sache herangeht. Immerhin ist das alles ziemlich neu für sie.

Wir weichen einem Dampfer aus und kommen Dover rasch näher. Hell und klar schimmert die markante Steilküste aus Kreidefelsen im Morgenlicht vor dem Bug. Innerlich feiern wir bereits den Triumph, die englische Küste erreicht zu haben. Doch dann kippt die Tide. Aus rund zehn Grad Kursabweichung werden dreißig. Judiths Laune schlägt um: »Mist! Kann die Tide nicht noch warten? Uns fehlen doch nur noch fünf Meilen!«

»Das wäre natürlich schön. Fünf Meilen. Normalerweise segeln wir die in einer Stunde ab.«

Logischerweise haben die Gezeiten kein Einsehen mit uns. Im Gegenteil. Gnadenlos schiebt uns die Strömung nordwärts an der britischen Hafenstadt vorbei. Wir fahren eine Wende und versuchen, Dover auf dem anderen Bug näher zu kommen. Vergeblich. Unser Wendewinkel beträgt ernüchternde 150 Grad! Den Motor zu benutzen, um direkt zum Ziel zu fahren, ist auch keine Lösung. Bei dem Seegang würden wir uns feststampfen.

Frustriert kämpfen wir gegen die Naturgewalten an. Gischt spritzt übers Deck. Um möglichst wenig Höhe zu verschenken, steuere ich von Hand. Das ist anstrengend, weil HIPPOPOTAMUS auf den kurzen Wellen wie ein Bulle beim Rodeo bockt und ich mich nur schwer auf den Beinen halten kann. Judith verkeilt sich derweil mit zwei Kissen auf der Cockpitbank. Mit ihrem kaputten Fuß kann sie nicht viel machen.

Mühevolle Stunden vergehen, bis wir am Mittag endlich die Hafeneinfahrt von Dover erreichen. Knapp vier Stunden haben wir für die fünf letzten Seemeilen gebraucht. Eine gefühlte Ewigkeit. Wir sind genervt und ausgelaugt.

Nach einer ausgiebigen heißen Dusche und einer Stärkung mit fettigen Pommes und dicken Hamburgern von einer Fish-and-Chips-Bude – »Genau das Richtige jetzt!« – beginnen wir, das Schiff aufzuklaren. Was normalerweise eine Routineaufgabe ist, wird jetzt zu einer Kette von Hiobsbotschaften. Im gesamten Schiff stinkt es nach Diesel, im Bad ist alles durchnässt und die Steuerbordbackskiste steht halb voll Wasser. »Vielleicht hätte ich das mit dem Härtetest besser nicht gesagt.« Judith nimmt eine triefende Leine aus der Backskiste und lässt sie klatschend auf den Cockpitboden fallen.

»Oha!« Ich muss lachen, obwohl das eigentlich gar nicht witzig ist. »Auf jeden Fall ist es besser, wenn wir die Kinderkrankheiten jetzt finden, als mitten auf dem Atlantik.«

Fehleranalyse: Der Borddurchlass vom Schlauch der Bilgepumpe ist gebrochen, daher konnte die Backskiste volllaufen, als wir mit Schräglage gesegelt sind und der Auslass unterhalb der Wasserlinie war. Im Bad hingegen müssen wir zukünftig am Waschbeckenablauf das Seeventil schließen. Auch hier wurde bei Schräglage Wasser hochgedrückt. Am schlimmsten aber ist das Problem mit dem Dieselgeruch. Er ist mittlerweile ziemlich penetrant. Ich öffne den Motorraum und traue meinen Augen nicht. Da ist überall Kraftstoff auf dem Boden zu sehen. Sofort nehme ich ein paar Bodenbretter im Salon hoch und stelle fest, dass in nahezu allen Bilgen Diesel steht. In Summe mindestens zehn Liter! Das bedeutet auch, dass der Diesel bei dem Geschaukel, das wir bis eben erlebt haben, vermutlich im ganzen Schiff in viele Fächer und hinter die Wandverkleidungen gelaufen ist. Frustriert nehmen wir systematisch die Dieselleitungen unter die Lupe und stellen fest, dass an der Oberkante unseres Dieseltanks die Rücklaufleitung vom Motor abgerissen ist, weil – und das muss man sich jetzt auf der Zunge zergehen lassen – der Tank nicht richtig befestigt ist. Vielmehr kann der 90-Liter-Behälter drei bis vier Zentimeter hin- und herrutschen. Da auch keine Spuren einer alten Fixierung zu erkennen sind, gehen wir davon aus, dass es überhaupt noch nie eine Befestigung des Tanks gegeben hat. Interessanterweise hat das bis dato scheinbar keiner der Voreigner bemerkt.

Uns bleibt nur eins: Handeln und das Schiff reinigen. Auf keinen Fall wollen wir, dass sich der Geruch überall festsetzt. Hinzu kommt, dass Diesel die Eigenschaft besitzt, derart ölig zu sein, dass einfach nur aufwischen nichts nützt. Wir beschließen daher, dem Übel mit heißem Wasser und viel Seife zu Leibe zu rücken.

Um es kurz zu machen: Acht Stunden lang nehmen wir Bodenbretter hoch, räumen Fächer aus und wieder ein und wischen Diesel auf. Morgens um drei Uhr wringen wir zum letzten Mal den Schwamm aus. Seit 24 Stunden sind wir auf den Beinen. Nun reicht es. Das war der bisher anstrengendste Tag der Reise. Völlig erschöpft und todmüde fallen wir in die Kojen.

Als wir am Mittag wieder aufwachen, trommelt heftiger Regen auf die Kajüte und im Rigg pfeift es mit acht Windstärken. Der angekündigte Weststurm ist da. »Egal, wir sind in England und das ist gut so«, sage ich zu Judith.

www.hippopotamus.de/buch/1200tage/ql/2/index.htm

Starkstromrevier

Das ist der schlechteste Sommer, seit ich denken kann!

(Hafenmeister Eastbourne, England, 2007)

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Der Englische Kanal gleicht derzeit einer Tiefdruck-Autobahn. Vom Atlantik kommen die Wettergebilde angerauscht und schieben neben ihren Fronten Wind aus Südwest bis West vor sich her. Dummerweise ist das die falsche Richtung. Da wollen wir hin! Erst hängen wir fünf Tage in Dover fest, dann liegen wir mehr als eine Woche in Eastbourne an der Südküste Großbritanniens. Böen der Stärke acht sind keine Seltenheit. Dazu Schauer, Schauer und Schauer. Der morgendliche Blick auf die Wetterkarte wird zur Farce. Eigentlich könnte der Hafenmeister auch die Kopie vom Vortag hängen lassen. Es würde ausreichen, wenn er das Datum überklebt.

Eastbourne ist zudem ein langweiliger Hafen. Auf dem Reißbrett entworfen, funktional und ohne Charme. Teure Apartments mit Marinablick rahmen die Steganlagen ein. Moderne Architektur aus Glas, Stahl und Holz. Außerdem ist das Hafengeld unverschämt hoch. 30 Euro zahlen wir pro Nacht.

Ich muss zugeben, das klingt alles etwas negativ. Dennoch empfinden wir die Zwangspause nicht als Belastung – von den Liegegebühren mal abgesehen. Vielmehr sehen wir sie als Mittel zum Zweck, HIPPOPOTAMUS dem Zustand »fertig« näher zu bringen. An einem Boot gibt es ja bekanntlich immer etwas zu tun und jeder Eigner kennt wohl die Herausforderung, dass die Liste der zu erledigenden Dinge einfach nicht kürzer wird. So ist es auch bei uns. Trotz der Basteltage in Holland gibt es immer noch ein paar Punkte, die erledigt werden müssen. Dank der Schlechtwetterlage kommen wir zumindest in dieser Richtung voran. Im Cockpit bauen wir die mittlere Backskiste zu einer Gasbox um. Auch fehlte bis dato noch die Installation des elektrischen Autopiloten. Ebenso stehen Annehmlichkeiten wie Leselampen im Salon oder Netze zum Lagern von Obst und Gemüse nicht mehr länger auf der Aufgabenliste. Und nicht zuletzt fixiere ich den Dieseltank und ersetze den maroden Borddurchlass.

Am elften Eastbourne-Tag hält die morgendliche Wetterlotterie überraschend eine Wende bereit. Schwarz auf weiß erkennen wir auf der ausgehängten Langfristprognose eine Verkehrsberuhigung auf der Tiefdruck-Autobahn. Frei nach dem Motto: »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.« Die gute: Es flaut ab! Die schlechte: Der Wind kommt aus Südwest bis West – also weiterhin genau von vorne! Wir wollen endlich los und nehmen das meteorologische Friedensangebot mit Haken in Kauf. 115 Seemeilen sind es bis zur Kanalinsel Alderney und unser Plan ist es, in einem Rutsch bis dahin durchzusegeln. Wenn das klappt, sind wir dem Westausgang des Kanals ein gehöriges Stück näher.

Der Plan scheint aufzugehen. Bereits drei Stunden nach dem Ablegen überqueren wir den Nullmeridian. Bis auf Weiteres steht nun ein kleines »W« statt einem »E« hinter der Position im Display unseres GPS-Gerätes. Allerdings lernen wir unterwegs auch einmal mehr, was es bedeutet, in einem Gezeitenrevier zu reisen. Während uns der Ebbstrom am Vormittag angenehm beschleunigt, bremst uns der Flutstrom ab Mittag rigoros aus und versetzt uns heftig nach Osten. Erinnerungen an die Dover-Überfahrt werden wach – nur mit dem Unterschied, dass dieses Mal mit dem Schiff alles in Ordnung ist.

27 Stunden später tauchen nach einem wolkenverhangenen Tag mit vielen Wenden und einer sehr kalten Nacht mit Windlöchern in der Morgensonne die Umrisse von Alderney am Horizont auf. Gemütlich motoren wir mit fünf Knoten in Richtung der Kanalinsel durchs bleierne Wasser des Race of Alderney – einer Enge zwischen der gleichnamigen Insel und der französischen Landzunge Cap de La Hague. Über den Meeresboden des Race rauschen wir sogar mit mehr als zehn Knoten hinweg, weil uns die starke Strömung mit fünf Knoten beschleunigt. Wir müssen 30 Grad vorhalten, damit wir nicht an Alderney vorbeigeschoben werden. Würde der Strom in die umgekehrte Richtung laufen, stünden wir auf der Stelle. Dagegen anzufahren wäre aussichtslos. Würden dann auch noch Wind und Tide aus entgegengesetzten Richtungen kommen, wäre die Ecke hier äußerst gefährlich. Laut Törnführer entstehen in solch einer Situation meterhohe Brecher und gewaltige Wirbel.

Judith schaut auf den Windmesser: »Gut, dass wir Flaute haben.«

»Ja, das finde ich auch. Von zu Hause sind wir ja durchaus das Auf und Ab der Gezeiten gewöhnt, aber die Strömungen hier machen einem klar, dass wir auf der Elbe nur in der Bundesliga der Gezeiten segeln. Das hier ist die Champions League!«

»Starkstromrevier könnte man es auch nennen!«, ergänzt Judith.

Die 30 Grad Vorhaltewinkel erweisen sich als richtig und wir erreichen zielsicher den »Hafen« von Alderney. Wobei das eine sehr wohlmeinende Bezeichnung ist – einen wirklichen Hafen gibt es nicht. Vielmehr liegen die Schiffe hinter einem riesigen Wellenbrecher an Bojen oder vor Anker. Wir suchen uns eine freie Boje und binden HIPPOPOTAMUS fest.

Und dann ist er da! Der Sommer. Endlich. Von einem stahlblauen Julihimmel schickt die Sonne ihre kräftigen Strahlen zu uns herab und es wird warm im Ölzeug. T-Shirt-und-kurze-Hose-Wetter. Seit Holland hatten wir nicht mehr solche Temperaturen. Wir schälen uns aus der Schwerwetterkleidung und lassen mit ihr die Anspannung der Fahrt durch den Englischen Kanal zurück. Wir haben es geschafft.

Judith setzt am nächsten Morgen noch einen drauf und rückt mit einer Schere dem Gipsverband an ihrem Fuß zu Leibe. »Vier Wochen Schongang reichen!« Schnitt für Schnitt legt sie ihren Fuß frei. Und auch ich ziehe meine Schuhe aus und werfe sie demonstrativ unter Deck. »Die brauchen wir jetzt nicht mehr!«

»Aha, und wieso?«, will Judith wissen.

»Na, die Strecke nach Neuseeland heißt doch im Seglermund Barfußroute, und jetzt, wo der Sommer da ist, kann ich meine Füße ja schon mal daran gewöhnen!«

»Auch wenn wir bald auf der Barfußroute segeln, wirst du die hier trotzdem brauchen.« Judith stellt mir meine Wanderschuhe hin.

»Danke – und wofür?«

»Mein Fuß ist wieder heil und ich will die Insel sehen.«

»Dann lass uns aber erst bei Hochwasser losgehen, dann müssen wir weniger bergauf gehen!«

Judith rollt mit den Augen und zeigt mit einem Grinsen auf meine Schuhe: »Anziehen!«

Ich schiebe meine Barfuß-laufen-Idee beiseite und beuge mich dem Willen meiner Frau. Wir lassen das Schlauchboot zu Wasser und tuckern an Land. Möwen kreischen und es riecht nach Salz. Vom Hafen aus folgen wir einer sandigen Straße und sind beeindruckt, wie viel Ruhe und Frieden Alderney ausstrahlt. Irgendwie scheint die Insel zu schlafen. Menschen sehen wir nur vereinzelt, über die Schienen der Inseleisenbahn wächst Gras, und beim Schiffsausrüster hängt ein Schild »closed« an der Tür.

Alles ist unglaublich grün. Bäume gibt es zwar nur ein paar, aber jeder freie Inselfleck ist mit Gras, Büschen oder Hecken überzogen. Durchbrochen wird die Idylle von Bunkerresten und Befestigungsanlagen, die unweigerlich ins Auge fallen. Sie sind Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges und passen nicht so recht zur ansonsten harmonischen Atmosphäre.

Je mehr wir uns vom Hafen entfernen und dem südwestlichen Ende der Insel nähern, desto weniger Bunkerreste sehen wir. Vielmehr sind wir irgendwann nur noch von Natur umgeben. Wir wandern über einen Trampelpfad auf einen 85 Meter hohen Hügel und genießen den Blick über Alderney. Die Kulisse erinnert an Rosamunde-Pilcher-Filme. Sommersonne, Wasser, Wiesen, Klippen. Es würde mich nicht wundern, wenn wir gleich auf ein Fernsehteam treffen. Glücklicherweise ist jedoch weit und breit kein Mensch zu sehen.

Wir folgen eine Zeit lang der Küstenlinie, bis wir eine hölzerne Sitzbank erblicken, in deren Rückenlehne eine Messingplakette eingelassen ist. Darauf steht: »In liebevoller Erinnerung an Geoff und Wendy Gent, die Alderney so geliebt und viele glückliche Urlaube zwischen 1956 und 1993 hier verbracht haben«.

Zeit für eine Pause. Wir setzen uns auf die Geoff-und-Wendy-Bank und lassen den Inselfrieden auf uns wirken. Die Sonne wärmt unsere Gesichter, neben uns tanzen Gänseblümchen im Wind, über uns kreisen Falken und unter uns rauscht die See. Am Horizont sehe ich die Umrisse der Nachbarinseln Guernsey und Sark fahl im Gegenlicht schimmern. Ein schöner Anblick.

Judith lehnt sich zurück, streckt sich und sagt: »Ich glaube, für mich beginnt hier die Reise.«

»Ja, das ist der erste Ort, an dem ich wirklich das Gefühl habe, weg zu sein. Ich meine, Holland war nett, England ist es auch – vom anstrengenden Segeln mal abgesehen – aber solange man immer noch irgendwo eine deutsche Zeitung kaufen kann und die Supermärkte Schwarzbrot und Fleischsalat führen, fühle ich mich nicht so richtig weit weg.«

Eine ganze Weile sitzen wir einfach nur da, schauen in die Ferne und lassen unsere Gedanken schweifen.

Zwei Tage später segeln wir mit Zwischenstopp auf Guernsey nach Sark – einer kleinen Insel, die unter Seglern als Geheimtipp gilt. Wir steuern eine Bucht im Nordosten an und machen an einer Boje fest.

Als wir uns an Land umsehen, haben wir das Gefühl, eine Zeitreise zu machen. Auf sandigen Wegen verkehren Pferdefuhrwerke. Ortschaften gibt es nicht, lediglich Ansammlungen von Häusern. Im Herzen der Insel verläuft die »Hauptstraße«, die ganz unbescheiden The Avenue heißt. Hier befinden sich einige Läden, in denen lokale Kunst angeboten wird. Fast alle haben nur den Sommer über geöffnet, wenn die Fähren Urlauber auf die Insel bringen.

Wir wandern zum Südende des verträumten Eilands und erblicken die touristische Hauptattraktion: einen kleinen, im Gegensatz zu allen anderen Straßen betonierten, Verbindungsweg, der auf einem kurzen Grat hoch über dem Meer die Inselteile Great und Little Sark miteinander verbindet. Zu beiden Seiten fällt der Hang steil in die Tiefe und bietet uns einen faszinierenden Ausblick.

Erst am Abend kehren wir zum Schiff zurück. Obwohl die Sonne bereits untergegangen ist, sind die Temperaturen immer noch sommerlich warm. Wir holen die Sitzkissen raus, klappen den Tisch auf und machen es uns im Cockpit gemütlich. Judith liest Sofies Welt von Jostein Gaarder und ich schaue mich um. Dabei fällt mir auf, dass unsere Umgebung genau so aussieht, wie ich mir unser Reiseziel Neuseeland vorstelle. Beeindruckende Klippen, überzogen mit saftigem Grün, ragen hinter dem Heck empor. Es ist dieses saftige Grün, das mich daran denken lässt. In mein Bild passt auch, das am Rande der Felsen ein alter weißer Leuchtturm steht. Daneben liegt die See. Ruhig, blau und weit.

»Weißt du, was mir gerade auffällt?«, frage ich Judith.

»Moment, den Absatz noch.« Judith ist zwischen den philosophischen Gedanken des Bestsellers versunken. Ich sehe einer Möwe hinterher und freue mich, dass meine Mitseglerin offensichtlich im Urlaub unseres Lebens angekommen ist. Vergessen sind das schlechte Wetter im Englischen Kanal und die ganze Bastelei am Boot. Stattdessen Inseln ansehen, segeln, Beine hochlegen oder ein Buch lesen. Wir sind unterwegs und die Kanalinseln markieren einen ersten Höhepunkt.

Absatzende. Judith klappt Sofies Welt zu und kehrt in unsere Welt zurück. »Was ist dir aufgefallen?«

»Ist nicht so wichtig«, sage ich.

Unsere Reise hat begonnen.

www.hippopotamus.de/buch/1200tage/ql/3/index.htm

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Die Insel Sark erinnert an das Ziel unserer Reise: Neuseeland.

Bissige Biskaya

Mitten auf der Biskaya befindet sich das nächstgelegene Land rund 4000 Meter unter dem Kiel am Meeresboden.

(Aus unserem Logbuch)

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Die Biskaya ist für ihre schwierigen Bedingungen berühmt-berüchtigt. Starke Strömungen vor der Küste, unangenehmer Seegang mit überdurchschnittlich hohen Wellen und unstete Windverhältnisse kennzeichnen die 350-Seemeilen-Passage zwischen Frankreich und Spanien.

Unser Absprunghafen für die Überfahrt ist Camaret-sur-Mer vor den Toren der Stadt Brest – ein kleines Fischerdorf mit bretonischem Charme. Eingerahmt von einer felsig-grünen Steilküste liegt es gut geschützt hinter einem großen Wellenbrecher am Scheitel einer kleinen Bucht. Segelboote dümpeln in zwei Yachthäfen und auf dem steinigen Strand ein paar Meter daneben verrosten ausrangierte Fischkutter in der Sommersonne. Im Zentrum werden an Marktständen Fisch, Obst und Gemüse angeboten und bunte Wimpel wehen über den Straßen im Wind. Urlaubsgäste und Einheimische sitzen in Brasserien bei Kaffee und Eis oder auch Baguette, Käse und Wein. Hier lässt es sich aushalten. Savoir-vivre.

Die Windvorhersage ist wenig rosig und wir beschließen, ein paar Tage in dem idyllischen Küstenort zu bleiben. Ohnehin wollen wir mit der Überfahrt nichts überstürzen. Keiner von uns ist bisher eine so lange Strecke am Stück gesegelt. Außerdem ist auf der Biskaya der nächste sichere Liegeplatz oft mehr als 100 Meilen entfernt. Mit anderen Worten: Die Überquerung der Biskaya ist alles andere als eine Routineaufgabe für uns, weshalb wir eine gute Wetterprognose abpassen wollen.

Am 29. Juli 2007 ist es schließlich soweit. Trotz Nieselregen und schlechter Sicht tauschen wir morgens um sechs Uhr die warme Koje gegen das feuchtkalte Cockpit. Der zu erwartende Sommer an der spanischen Nordküste ist Motivation genug.

Groß hoch, Fock raus. Ziehen, kurbeln, trimmen. HIPPOPOTAMUS beschleunigt, und schon bald ist Camaret-sur-Mer hinter einem Dunstvorhang verschwunden. Ein satter Westwind mit Böen der Stärke sechs schiebt uns mit der Tide im Rücken und über acht Knoten Geschwindigkeit durch den grauen Einheitsbrei zwischen Hier und Horizont. Die Aufregung verfliegt, dafür rückt der Segelspaß mehr und mehr in den Vordergrund. Petrus, Rasmus und Neptun meinen es gut mit uns und lassen mit jeder Meile, die wir weiter nach Südwesten segeln, den Himmel aufreißen und die Temperaturen steigen.

Am nächsten Morgen dreht der Wind zudem noch auf Ost und flaut ab. Wir setzen den Gennaker, schalten den Autopiloten ein und rasen weiter südwärts. Wellen kommen, Wellen gehen und Stunden verstreichen. Ich lese in der Sonne. Judith kocht Essen. Ein Delfin spielt mit HIPPOPOTAMUS. Sonst passiert nichts. Herrlich. Das alles ist neu für uns. Aber genau so stelle ich mir den Blauwasseralltag auf der Barfußroute vor. Daher ziehe ich auch einmal mehr die Schuhe aus und werfe sie unter Deck. Als sie auf den Bodenbrettern aufkommen, zuckt Judith zusammen. »Entschuldigung! Komm mir jetzt aber nicht wieder mit den Wanderschuhen!«, sage ich. »Hier ist weit und breit kein Land zu sehen!«

»Spinner! Klapp lieber den Cockpittisch auf. Essen ist fertig.«

Zwei Schüsseln Hochseenudeln später legt der Wind schlagartig auf fünf Beaufort zu. Die Schot ächzt, das Fall ruckt kurz, und HIPPOPOTAMUS legt sich ordentlich auf die Seite. Bei den Bedingungen ist es zu gefährlich, mit dem blau-weißen 78-Quadratmeter-Tuch weiterzufahren. Das ist zu viel Segelfläche! Auf solch einer Fläche haben wir vor der Abreise gewohnt. Wir müssen zusehen, dass wir das Segel schnellstmöglich bergen. Bisher haben wir das Manöver allerdings nur bei wenig Wind geübt. Ich stehe auf dem Vorschiff und denke noch: »Nützt ja nichts – dann wollen wir mal«, als das Segel auch schon von oben kommt und Judith von achtern »Achtung!« schreit. Schneller als ich sehen kann, liegt der Gennaker auf dem Wasser statt an Deck und wir fahren mit HIPPOPOTAMUS drüber weg.

»Alles klar?«, rufe ich nach achtern.

»Ja, aber mir ist das Fall ausgerauscht.«

Das Segel hängt unter dem Boot, wo es heftig am Fall und den Schoten zieht. Keine Zeit für tiefsinnige Gedanken – wir müssen handeln. »Beleg die Schot auf Ende«, rufe ich meine Anweisungen durch den Wind. Wenn es brenzlig wird, habe ich das letzte Wort. Das haben wir abgemacht. Derweil hake ich das Fall aus und versuche, den Segelhals an Deck zu lösen. So ist das Segel nur noch an einem Punkt befestigt. Mit etwas Glück wird es hinter dem Heck zum Vorschein kommen. Es klappt. Gemeinsam greifen wir das Segel und hieven den klatschnassen Stoff ins Cockpit. Leider nicht vollständig. Unschwer erkennen wir, dass ein Teil des Segels und eine Schot noch irgendwo unter dem Schiff festhängen. Vermutlich in der Schiffsschraube. Wir sind manövrierunfähig.

Der Seegang hat mittlerweile eineinhalb Meter erreicht. HIPPOPOTAMUS