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Inhaltsverzeichnis

Widmung
Erster Teil
Der Geist im Computer
Klingelton des Grauens
Der Wechselbalg
Puck
Das Nimmernie
Die Wilde Jagd
Kobolde und Grimalkin
Das Mondscheinwesen
Am Lichten Hof
Die Tochter des Erlkönigs
Zweiter Teil
Titanias Versprechen
Elysium
Flucht vom Lichten Hof
Das Blue Chaos
Puck kehrt zurück
Die Eisernen Feen
Das Orakel
Das Voodoomuseum
Die Dryaden aus dem Stadtpark
Dritter Teil
Eisendrachen und Elsterlinge
Die Ritter der Eisernen Krone
Ashs letzter Kampf
Der Eiserne König
Machina
Endlich zu Hause
Danksagung
Copyright

Danksagung

Der Weg bis zu einer Veröffentlichung ist lang und beschwerlich. Es gibt viele Menschen, denen ich dafür danken möchte, dass sie mich bis zu seinem Ende begleitet haben. Meinen Eltern, weil sie mich darin bestärkt haben, meine Träume zu verwirklichen, statt mir einen richtigen Job zu suchen. Meiner Schwester Kimiko und meinem Schwager Mike, weil sie bereit waren, die grauenhaften ersten Entwürfe zu lesen. Meiner Mentorin Julianne Lee und den großartigen Autoren, Lehrern und Studenten bei den Green River Writers in Louisville, Kentucky. Meiner fantastischen Agentin Laurie McLean, weil sie mir eine Chance gegeben hat, und meiner Lektorin Natashya Wilson, weil sie den Traum wahr gemacht hat. Meiner Autorengruppe für die vielen Wochenenden, die wir gemeinsam verbracht, über den Manuskripten geschwitzt und unsere Charaktere zerfetzt haben und ewig auf Kleinigkeiten herumgeritten sind.

Doch am meisten möchte ich meinem wunderbaren Mann Nick danken, der für mich Schreibpartner, Cheerleader, Lektor, Diskussionsgruppe, Korrekturleser und Stimme der Vernunft war und immer zur Verfügung stand, um mit mir über Story, Entwicklung und Charaktere zu reden, wenn ich mich mal wieder festgebissen hatte. Ohne ihn wäre das alles nicht möglich gewesen.

Der Geist im Computer

Vor zehn Jahren an meinem sechsten Geburtstag verschwand mein Vater.

Nein, er ist nicht abgehauen. Das würde ja bedeuten, dass er seine Koffer gepackt hätte, dass Schubladen plötzlich leer gewesen wären und dass ich von ihm, wenn auch verspätet, Geburtstagskarten mit einem Zehndollarschein darin bekommen hätte. Abhauen würde auch bedeuten, dass er mit Mom und mir nicht mehr glücklich gewesen wäre oder dass er irgendwo anders eine neue Liebe gefunden hätte. So war es aber nicht. Und er ist auch nicht gestorben, denn davon hätten wir gehört. Es gab keinen Autounfall, keine Leiche, keine Polizisten, die am Tatort eines grausamen Mordes herumgestanden hätten.

Es geschah in aller Stille.

An meinem sechsten Geburtstag nahm mein Vater mich mit in den Park, was damals einer meiner Lieblingsplätze war. Es war ein verschwiegener kleiner Park mitten im Nirgendwo, mit einem Pfad für Jogger und einem trüben grünen Teich, der von Nadelbäumen umgeben war. Wir standen am Ufer und fütterten die Enten, als plötzlich auf dem Parkplatz hinter dem Hügel die Glocke eines Eiswagens bimmelte. Ich bettelte meinen Dad an, mir ein Eis zu kaufen. Er lachte, gab mir ein paar Scheine und ließ mich zu dem Wagen laufen.

Da habe ich ihn das letzte Mal gesehen.

Als die Polizei später die Gegend absuchte, entdeckten sie am Ufer seine Schuhe, sonst nichts. Sie haben Taucher in den Teich geschickt, aber der war kaum drei Meter tief, und auf dem Grund fanden sie nur Zweige und Schlamm. Mein Vater war spurlos verschwunden.

Noch Monate später hatte ich immer wieder diesen Alptraum, in dem ich oben auf dem Hügel stand, hinunterschaute und sah, wie mein Vater in den Teich watete. Sobald das Wasser über seinem Kopf zusammenschlug, hörte ich das Lied des Eiswagens im Hintergrund – eine schleppende, unheimliche Melodie mit einem Text, den ich nicht richtig verstehen konnte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, wachte ich auf.

Kurz nachdem mein Vater verschwunden war, zog meine Mutter mit mir in ein winziges Nest mitten in den Sümpfen von Louisiana. Mom sagte, sie wolle »ganz neu anfangen«, aber tief in mir drin wusste ich immer, dass sie vor irgendetwas davonlief. Es sollte allerdings noch zehn Jahre dauern, bis ich herausfand, wovor.

 

Mein Name ist Meghan Chase.

In weniger als vierundzwanzig Stunden werde ich sechzehn Jahre alt.

Sweet Sixteen. Das hat etwas Magisches. Mit sechzehn werden Mädchen angeblich zu Prinzessinnen, verlieben sich, gehen auf Bälle und all so was. Unzählige Geschichten, Lieder und Gedichte wurden über dieses wundervolle Alter geschrieben, in dem ein Mädchen seine wahre Liebe findet, die Sterne nur für sie leuchten und der umwerfend gut aussehende Prinz mit ihr in den Sonnenuntergang reitet.

Ich glaubte nicht, dass es bei mir so laufen würde.

Am Tag vor meinem Geburtstag wachte ich auf, stellte mich unter die Dusche und wühlte dann in meinem Kleiderschrank, um etwas zum Anziehen zu finden. Normalerweise hätte ich mir das nächstbeste, halbwegs saubere Teil geschnappt, das auf dem Boden herumlag, aber heute war ein besonderer Tag. Heute war der Tag, an dem Scott Waldron mich endlich bemerken würde. Ich wollte perfekt aussehen.

Allerdings war die Abteilung für angesagte Klamotten in meinem Schrank hoffnungslos unterbesetzt. Während andere Mädchen stundenlang heulend vor ihrem Kleiderschrank verbrachten, weil sie sich nicht entscheiden konnten, was sie anziehen sollten, gab es in meinem lediglich drei Kategorien: Klamotten von der Wohlfahrt, Sachen aus dem Secondhandladen und Arbeitskleidung.

Ich wünschte, wir wären nicht so arm. Ich weiß ja, dass Schweinezucht nicht gerade ein glamouröser Job ist, aber man sollte doch meinen, dass Mom es sich leisten könnte, mir wenigstens eine schicke Jeans zu kaufen. Angewidert starrte ich in meinen spärlich bestückten Kleiderschrank. Na ja, ich schätze, ich werde Scott einfach mit meinem natürlichen Charme und meiner Anmut umhauen müssen, vorausgesetzt, ich mache mich vor ihm nicht total zum Idioten.

Schließlich entschied ich mich für eine Cargohose, ein neutrales grünes T-Shirt und mein einziges ausgelatschtes Paar Sneakers. Dann zog ich noch schnell die Bürste durch meine weißblonden Haare. Meine Haare waren glatt und sehr fein und gerade mal wieder dabei, dämlich um meinen Kopf zu schweben, sodass ich aussah, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Ich band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen und lief nach unten.

Mein Stiefvater Luke saß am Tisch, trank Kaffee und blätterte in der jämmerlichen Lokalzeitung, die sich mehr wie die Klatschkolumne unserer Highschool las und nicht wie eine wirkliche Nachrichtenquelle. »Pattersons Kuh wirft fünfbeiniges Kalb«, sprang mir die Schlagzeile von der Titelseite entgegen, den Rest könnt ihr euch denken.

Mein vierjähriger Halbbruder Ethan saß auf dem Schoß seines Vaters, aß eine Apfeltasche und krümelte Lukes Overall voll. Mit einem Arm umklammerte er sein Lieblingsstofftier Floppy, einen Hasen, und versuchte immer wieder, ihm etwas von seinem Frühstück abzugeben. Das Gesicht des Hasen war mit Krümeln und Stücken der Fruchtfüllung übersät.

Ethan war ein süßes Kind. Auf seinem Kopf ringelten sich die braunen Locken seines Vaters, aber genau wie ich hatte er die großen blauen Augen unserer Mutter geerbt. Er war eines dieser Kleinkinder, bei denen alte Damen stehen blieben und entzückte Laute ausstießen und denen Wildfremde von der anderen Straßenseite aus grinsend zuwinkten. Mom und Luke waren völlig verrückt nach ihrem kleinen Liebling, aber Gott sei Dank schien ihm das nicht zu schaden.

»Wo ist Mom?«, fragte ich, als ich in die Küche kam. Während ich die Schranktüren aufriss und unter den Cornflakespackungen nach denen suchte, die ich mochte, fragte ich mich, ob Mom daran gedacht hatte, welche für mich zu kaufen. Natürlich nicht. Nur fades Müsli und diese widerlichen Marshmallow-Cornflakes für Ethan. War es denn wirklich so schwierig, an die Cheerios zu denken?

Luke ignorierte mich und schlürfte seinen Kaffee. Ethan kaute auf seiner Apfeltasche herum und nieste auf den Ärmel seines Vaters.

Ich schlug die Schranktüren mit einem deutlichen Knall zu. »Wo ist Mom?«, fragte ich wieder, diesmal etwas lauter.

Luke fuhr ruckartig hoch und sah mich endlich an. In seinen trägen braunen Augen, die stark an die einer Kuh erinnerten, spiegelte sich milde Überraschung.

»Oh, hallo Meg«, sagte er ruhig. »Ich habe gar nicht gehört, wie du hereingekommen bist. Was hast du gesagt? «

Seufzend wiederholte ich die Frage zum dritten Mal.

»Sie hat einen Termin mit einigen Damen von der Kirche«, murmelte Luke und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. »Das wird ein paar Stunden dauern, du musst also den Bus nehmen.«

Ich nahm immer den Bus. Ich wollte Mom eigentlich nur daran erinnern, dass sie an diesem Wochenende mit mir zur Führerscheinstelle fahren sollte, damit ich meinen Führerschein auf Probe bekam. Luke war ein hoffnungsloser Fall. Ich konnte ihm etwas vierzehn Mal sagen, er vergaß es trotzdem wieder, sobald ich den Raum verlassen hatte. Es war nicht so, dass Luke gemein war oder bösartig – oder gar dumm. Er liebte Ethan abgöttisch, und Mom schien mit ihm wirklich glücklich zu sein. Aber jedes Mal, wenn ich mit meinem Stiefvater sprach, sah er mich so überrascht an, als hätte er völlig vergessen, dass ich auch in diesem Haus lebte.

Ich nahm mir einen Bagel aus der Schachtel auf dem Kühlschrank und kaute genervt darauf herum, während ich gleichzeitig die Uhr im Auge behielt. Beau, unser Deutscher Schäferhund, kam herein und legte seinen großen Kopf auf mein Knie. Ich kraulte ihn hinter den Ohren, bis er selig schnaufte. Wenigstens der Hund wusste meine Anwesenheit zu schätzen.

Luke stand auf und setzte Ethan sanft auf seinen Stuhl. »Alles klar, mein Großer«, meinte er und drückte Ethan einen Kuss auf den Scheitel. »Dad muss jetzt den Abfluss im Bad reparieren, also bleib schön hier sitzen und sei brav. Wenn ich fertig bin, gehen wir die Schweine füttern, okay?«

»’kay«, zwitscherte Ethan und wackelte mit seinen strammen Beinchen. »Floppy will sehen, ob Miss Daisy schon ihre Babys hat.«

Lukes Lächeln war so ekelhaft stolz, dass mir ganz schlecht wurde.

»Hey, Luke«, sagte ich, als er gerade gehen wollte. »Rate mal, was morgen ist.«

»Mm?« Er drehte sich nicht einmal um. »Keine Ahnung, Meg. Wenn du für morgen etwas geplant hast, besprich das mit deiner Mutter.« Er schnippte mit den Fingern, und sofort ließ Beau mich stehen und folgte ihm. Ihre Schritte verklangen auf der Treppe, und ich blieb allein mit meinem Halbbruder zurück.

Ethan strampelte mit den Beinen und musterte mich bedeutungsvoll, wie er es oft tat. »Ich weiß es«, verkündete er leise und legte seine Apfeltasche auf den Tisch. »Morgen ist dein Geburtstag, stimmt’s? Floppy hat es mir erzählt, und ich habe mich dran erinnert.«

»Stimmt«, murmelte ich, drehte mich um und warf den Bagel in den Mülleimer. Bevor er hineinfiel, schlug er mit einem satten Geräusch gegen die Wand und hinterließ dort einen Fettfleck. Ich grinste und beschloss, den Fleck nicht wegzumachen.

»Floppy wünscht dir alles Gute zum Vor-Geburtstag.«

»Sag Floppy Danke.« Ich wuschelte Ethan durchs Haar und verließ die Küche. Jetzt war ich wirklich sauer. War ja klar. Mom und Luke würden meinen Geburtstag morgen völlig vergessen. Ich würde keine Karte kriegen, keinen Kuchen, nicht einmal ein »Happy Birthday« von irgendwem. Außer von dem blöden Stoffhasen meines kleinen Bruders. Wie erbärmlich war das?

Zurück in meinem Zimmer schnappte ich mir meine Bücher, Hausaufgaben, Sportsachen und den iPod, für den ich ein ganzes Jahr lang gespart hatte, auch wenn Luke diese »nutzlosen, hirnlosen Elektronikspielereien« verabscheute. Wie es sich für einen echten Hinterwäldler gehörte, hegte mein Stiefvater ein tiefes Misstrauen und eine starke Abneigung gegen alles, was einem das Leben erleichterte. Handys? – Keine Chance, wir hatten doch einen soliden Festnetzanschluss. Computerspiele? – Werkzeuge des Teufels, die aus Kindern Verbrecher und Serienkiller machten. Wieder und wieder hatte ich Mom angebettelt, mir einen Laptop für die Schule zu kaufen, aber Luke beharrte darauf, dass sein uralter, monströser PC gut genug für ihn sei und damit auch gut genug für die ganze Familie. War ja egal, dass es mit dem analogen Modem eine Ewigkeit dauerte, sich einzuwählen. Ich meine, wer hatte heutzutage noch ein analoges Modem?

Ein Blick auf die Uhr ließ mich fluchen. Der Bus würde bald kommen, und ich musste bis zur Hauptstraße noch gute zehn Minuten laufen. Ich warf einen Blick aus dem Fenster auf die dicken grauen Regenwolken am Himmel und schnappte mir auch noch eine Jacke. Und wünschte nicht zum ersten Mal, wir würden näher an der Stadt wohnen.

Ich schwöre, wenn ich erstmal meinen Führerschein und ein Auto habe, sieht mich dieses Haus nie wieder.

»Meggie?« Ethan stand im Türrahmen und drückte sich seinen Hasen unters Kinn. Seine blauen Augen musterten mich traurig. »Kann ich heute mit dir mitkommen?«

»Was?« Ich schlüpfte in meine Jacke und sah mich suchend nach meinem Rucksack um. »Nein, Ethan. Ich gehe zur Schule. Die Schule für große Kinder – Hosenscheißer verboten.«

Als ich mich abwandte, schlangen sich zwei kleine Arme um mein Bein. Ich stützte mich mit einer Hand an der Wand ab, um nicht umzufallen, und sah genervt auf meinen Halbbruder hinab. Ethan klammerte sich an mich, sah zu mir hoch und schob entschlossen das Kinn vor. »Bitte!«, flehte er. »Ich werde auch ganz brav sein, versprochen. Nimm mich mit, nur heute!«

Seufzend bückte ich mich und nahm ihn hoch. »Was ist denn los, Zwerg? «, fragte ich ihn und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Mom würde sie bald wieder schneiden müssen, sie sahen schon aus wie ein Vogelnest. »Du bist heute Morgen furchtbar anhänglich. Was ist denn?«

»Angst«, murmelte Ethan und versteckte sein Gesicht an meinem Hals.

»Du hast Angst?«

Er schüttelte den Kopf. »Floppy hat Angst.«

»Und wovor hat Floppy Angst?«

»Vor dem Mann im Schrank.«

Ich spürte, wie mir ein leichter Schauer über den Rücken lief. Manchmal war Ethan so still und ernst. Man vergaß dabei fast, dass er erst vier war. Doch er hatte immer noch die Ängste eines Kindes, vor Monstern unter dem Bett und dem schwarzen Mann im Schrank. In Ethans Welt konnten Stofftiere sprechen, winkten unsichtbare Männer ihm aus den Büschen zu und kratzten unheimliche Kreaturen mit ihren langen Krallen über sein Fenster. Mit seinen Geschichten von Monstern und dem Schwarzen Mann ging er nur selten zu Mom oder Luke. Seit er laufen konnte, kam er damit zu mir.

Ich seufzte, weil ich wusste, was er erwartete. Er wollte, dass ich raufging und nachschaute, um ihm dann zu versichern, dass in seinem Kleiderschrank oder unter seinem Bett nichts lauerte. Aus genau diesem Grund hatte ich eine Taschenlampe auf seiner Kommode deponiert.

Draußen zuckte ein Blitz, und Donner grollte in der Ferne. Ich fuhr zusammen. Der Weg zum Bus würde nicht gerade angenehm werden.

Verdammt, ich habe keine Zeit für diesen Mist.

Ethan rückte ein Stück von mir ab und sah mich mit flehenden Augen an.

Ich seufzte noch einmal. »Also schön«, murmelte ich und setzte ihn ab. »Dann schauen wir eben nach den Monstern.«

Schweigend folgte er mir die Treppe hinauf und beobachtete angespannt, wie ich die Taschenlampe nahm, mich auf die Knie fallen ließ und unter das Bett leuchtete.

»Keine Monster«, verkündete ich und erhob mich. Dann ging ich zum Kleiderschrank und riss die Tür auf, während Ethan zwischen meinen Beinen hindurchspähte. »Hier sind auch keine Monster. Meinst du, du kommst jetzt klar?«

Er nickte und schenkte mir ein dünnes Lächeln. Ich wollte gerade die Tür schließen, als ich in einer Ecke einen seltsamen grauen Hut entdeckte. Er war oben rund, hatte eine umlaufende Krempe und ein rotes Band: eine Melone.

Seltsam. Wie kam der hierher?

Als ich mich aufrichtete und umdrehen wollte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Ein Schatten verschwand hinter der Zimmertür und fahle Augen beobachteten mich durch den Türspalt. Ich drehte ruckartig den Kopf, aber natürlich war da nichts.

Mann, jetzt hat Ethan es geschafft, dass ich auch schon Monster sehe. Ich muss aufhören, mir spätnachts Horrorstreifen reinzuziehen.

Als direkt über uns ein heftiger Donner krachte, zuckte ich zusammen. Dann klatschten dicke Regentropfen gegen die Scheiben. Ich hetzte an Ethan vorbei, rannte aus dem Haus und sprintete die Einfahrt hinunter.

 

Als ich an der Bushaltestelle ankam, war ich klatschnass. Der Frühlingsregen war zwar nicht mehr eisig, aber immer noch kalt genug, um verdammt unangenehm zu sein. Ich verschränkte die Arme und stellte mich unter eine moosbewachsene Zypresse, um dort auf den Bus zu warten.

Wo bleibt denn Robbie?, fragte ich mich und spähte die Straße hinunter. Normalerweise ist er um diese Zeit doch schon da. Vielleicht hat er keine Lust, nass zu werden, und ist daheimgeblieben. Schnaubend verdrehte ich die Augen. Wieder mal Schule schwänzen, was? Faulpelz! Ich wünschte, ich könnte das bringen.

Wenn ich nur ein Auto hätte. Ich kannte welche, die bekamen von ihren Eltern zum sechzehnten Geburtstag eines geschenkt. Ich konnte mich schon glücklich schätzen, wenn ich einen Kuchen kriegte. Die meisten in meiner Klasse hatten bereits einen Führerschein und konnten allein in Klubs und zu Partys und so fahren. Ich stand dann immer dumm da – die Hinterwäldlerin, die niemand einlud.

Bis auf Robbie, korrigierte ich mich mit einem kleinen gedanklichen Achselzucken. Robbie wird wenigstens dran denken. Ich frage mich, was er diesmal für meinen Geburtstag plant. Ich könnte fast drauf wetten, dass es etwas Seltsames oder total Irres sein würde. Letztes Jahr hatte er mich aus dem Haus geschmuggelt, und wir hatten im Wald ein Mitternachtspicknick veranstaltet. Es war seltsam: Ich konnte mich noch genau an das kleine Tal mit dem Teich und den Glühwürmchen erinnern, die überall herumschwirrten. Doch obwohl ich seitdem unzählige Male den Wald hinter unserem Haus durchstreift hatte, hatte ich die Stelle nie wiedergefunden.

In den Büschen hinter mir raschelte etwas. Ein Opossum, ein Reh oder vielleicht sogar ein Fuchs, der Schutz vor dem Regen suchte. Die Tiere hier draußen waren so dreist, dass es schon an Dummheit grenzte, und hatten kaum Angst vor den Menschen. Hätten wir Beau nicht, Moms Gemüsegarten wäre längst ein Büfett für Kaninchen und Rehe, und die ortsansässige Waschbärenfamilie würde sich aus unseren Schränken bedienen.

Ein Ast knackte, diesmal viel näher. Ich trat unbehaglich auf der Stelle, weigerte mich jedoch, mich wegen eines blöden Eichhörnchens oder Waschbären umzudrehen. Ich war schließlich nicht wie diese aufgeblasene Tussi Angie, Miss Perfect Cheerleader, die schon ausflippte, wenn sie eine Maus im Käfig oder einen Fleck auf ihrer Markenjeans entdeckte. Ich habe Heu gemacht, Ratten getötet und Schweine durch knietiefen Matsch getrieben. Wilde Tiere machten mir keine Angst.

Trotzdem starrte ich angestrengt die Straße hinunter in der Hoffnung, dass der Bus bald um die Ecke bog. Vielleicht lag es am Regen oder an meiner kranken Vorstellungskraft, aber der Wald wirkte wie die Kulisse von Blair Witch Project.

Hier draußen gibt es keine Wölfe oder Serienkiller, ermahnte ich mich. Spar dir die Paranoia.

Plötzlich war es um mich herum totenstill. Zitternd lehnte ich mich gegen den Baum und versuchte, den Bus durch meinen bloßen Willen herbeizuzwingen. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich war nicht allein. Vorsichtig hob ich den Kopf und spähte durch die Nadeln über mir. Auf einem Ast hockte ein riesiger schwarzer Vogel. Seine Federn hatte er aufgeplustert, um sich vor dem Regen zu schützen, doch er saß völlig regungslos da, wie eine Statue. Während ich ihn anstarrte, drehte er plötzlich den Kopf und erwiderte meinen Blick. Seine Augen waren grün wie farbiges Glas.

Und dann schob sich eine Hand um den Baum herum und packte mich.

Ich schrie auf und machte einen Satz. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich wirbelte herum und wollte weglaufen. Durch meinen Kopf schossen Gedanken an Vergewaltiger, Mörder und Leatherface aus dem Kettensägenmassaker.

Hinter mir ertönte lautes Gelächter.

Robbie Goodfell, mein nächster Nachbar – was bedeutete, dass er fast drei Kilometer weit weg wohnte – lehnte lässig am Baumstamm und keuchte vor Lachen. Er war groß und schlaksig und trug zerschlissene Jeans und ein altes T-Shirt. Er hielt inne, musterte mein bleiches Gesicht und prustete wieder los. Seine roten Haare, die normalerweise wild vom Kopf abstanden, hingen ihm nass in die Stirn, seine Kleidung klebte an seiner Haut, was noch betonte, wie schmal und knochig er war – so als würden seine Gliedmaßen nicht richtig zusammenpassen. Doch völlig durchnässt und mit Zweigen, Blättern und Schlamm bedeckt zu sein, schien ihn nicht weiter zu stören. Es gab nur wenig, was Robbie störte.

»Verdammt, Robbie!«, fauchte ich, stapfte zu ihm rüber und trat nach ihm.

Er wich aus und stolperte auf die Straße. Sein Gesicht war knallrot vor Lachen.

»Das war nicht witzig, du Idiot. Ich hätte fast einen Herzinfarkt gekriegt!«

»T-tut mir leid, Prinzessin«, keuchte Robbie und griff sich ans Herz, während er nach Luft schnappte. »Das war einfach zu gut.« Er gab einen letzten Gluckser von sich, dann richtete er sich auf, wobei er sich den Bauch hielt. »Mann, das war echt beeindruckend. Du bist fast einen Meter hoch gesprungen. Was hast du denn geglaubt, wer ich bin? Leatherface, oder was?«

»Natürlich nicht, Blödmann.« Ich wandte mich schnaubend ab, damit er nicht sah, wie rot ich geworden war. »Und ich habe dir gesagt, du sollst aufhören, mich so zu nennen! Ich bin keine zehn mehr.«

»Geht klar, Prinzessin.«

Ich verdrehte die Augen. »Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ungefähr so reif bist wie ein Vierjähriger? «

Er lachte fröhlich. »Das sagt die Richtige. Ich bin nicht die ganze Nacht wach geblieben und habe das Licht angelassen, nachdem ich das Kettensägenmassaker geschaut hatte. Dabei hatte ich dich gewarnt.« Er verzog das Gesicht zu einer grotesken Grimasse und wankte mit ausgestreckten Armen auf mich zu. »Huhuuu, pass auf, hier kommt Leatherface.«

Mürrisch trat ich in eine Pfütze und bespritzte ihn mit Wasser. Lachend spritzte er zurück. Als ein paar Minuten später der Bus neben uns hielt, waren wir beide so verdreckt und tropfnass, dass der Busfahrer sagte, wir sollten uns ganz nach hinten setzen.

»Was machst du heute nach der Schule?«, fragte Robbie, als wir auf der hintersten Bank kauerten. Um uns herum saßen andere Schüler und unterhielten sich, rissen Witze, lachten und ignorierten uns. »Hast du Lust auf einen Kaffee? Oder wir könnten uns ins Kino schleichen und uns einen Film ansehen.«

»Heute nicht, Rob«, erwiderte ich, während ich versuchte, mein T-Shirt auszuwringen. Jetzt, wo es vorbei war, bereute ich unsere kleine Schlammschlacht. Ich würde in Scotts Augen aussehen wie ein Wesen aus dem Sumpf. »Du musst dich heute mal ohne mich reinschleichen. Ich gebe nach der Schule noch Nachhilfe.«

Robbies grüne Augen wurden schmal. »Du gibst Nachhilfe? Wem denn?«

In meinem Magen kribbelte es, und ich versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. »Scott Waldron.«

»Was?« Angewidert verzog Robbie die Lippen. »Mr. Suspensorium? Will er denn, dass du ihm das Lesen beibringst? «

Ich blickte ihn strafend an. »Nur weil er der Kapitän des Footballteams ist, musst du dich nicht gleich wie ein Idiot aufführen. Oder bist du etwa eifersüchtig?«

»Oh, klar, das ist es«, erklärte Robbie höhnisch. »Ich wollte schon immer den IQ eines Steins haben. Nein, warte mal. Das wäre ja eine Beleidigung für den Stein.« Er schnaubte abfällig. »Ich fasse es nicht, du stehst also auf Mr. Suspensorium. Dabei hättest du etwas viel Besseres verdient, Prinzessin.«

»Nenn mich nicht so.« Ich wandte mich ab, damit er nicht mitkriegte, dass ich knallrot geworden war. »Es ist ja nur eine Nachhilfestunde und nicht so, als hätte er mich zum Abschlussball eingeladen. Mann!«

»Genau.« Robbie klang wenig überzeugt. »Und das wird er auch nicht, aber du hoffst, dass er es tut. Gib’s zu. Du bist genauso scharf auf ihn wie die ganzen hohlköpfigen Cheerleader.«

»Und wenn es so wäre?«, fauchte ich und fuhr zu ihm herum. »Das geht dich einen feuchten Dreck an, Rob. Was interessiert es dich überhaupt?«

Er wurde ziemlich still und murmelte nur irgendetwas Unverständliches. Ich drehte ihm wieder den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. Mir war egal, was Robbie dachte. Heute Nachmittag würde Scott Waldron für eine glückselige Stunde mir ganz allein gehören, und das würde ich mir von niemandem kaputtmachen lassen.

 

Der Unterricht zog sich. Die Lehrer brabbelten unverständliches Zeug, und die Uhren schienen rückwärts zu laufen. Der Nachmittag verging im Schneckentempo, ich nahm ihn nur wie durch einen nebelhaften Schleier wahr. Endlich, endlich verkündete der Gong das Ende der letzten Stunde und befreite mich von der nervtötenden Folter von X ist gleich Y.

Heute ist es so weit, sagte ich mir, während ich mich durch die überfüllten Gänge schob, wobei ich mich immer am Rand der lärmenden Menge hielt. Nasse Sneakers quietschten über die Fliesen, und eine widerwärtige Mischung aus Schweiß, Rauch und Körpergerüchen hing schwer in der Luft. Ein nervöses Kribbeln breitete sich in mir aus. Du schaffst das. Bloß nicht drüber nachdenken. Geh einfach rein und bring es hinter dich.

Ich wich einigen Schülern aus, arbeitete mich den Gang entlang und spähte schließlich in den Computerraum.

Da war er. Er saß an einem der Tische, beide Füße auf einen anderen Stuhl gestützt. Scott Waldron, Kapitän des Footballteams. Der umwerfende Scott, König der Schule. Er trug seine rot-weiße Teamjacke, die seine breite Brust betonte, und seine dichten dunkelblonden Haare streiften gerade so seinen Kragen.

Mein Herz raste. Eine ganze Stunde in einem Raum mit Scott Waldron und niemand, der uns stört.

Normalerweise kam ich nicht einmal in die Nähe von Scott. Entweder schwänzelten Angie und ihre Cheerleader-Groupies um ihn herum, oder seine Footballkumpels umringten ihn. Außer uns waren noch ein paar andere Schüler im Computerraum, aber das waren Nerds und Streber und damit so minderwertig, dass Scott sie nicht einmal wahrnahm. Die Sportler und Cheerleader würden sich niemals hier drin erwischen lassen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Ich holte tief Luft und ging hinein.

Er sah nicht auf, als ich neben ihm stehen blieb. Stattdessen hing er in seinem Stuhl, die Füße hochgestellt und den Kopf in den Nacken gelegt, und tat so, als würde er einen imaginären Ball durch den Raum werfen. Ich räusperte mich. – Nichts. Ich räusperte mich etwas lauter. – Immer noch nichts.

Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, stellte mich vor ihn hin und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. Endlich richteten sich seine kaffeebraunen Augen auf mich. Einen Moment lang schien er erschrocken zu sein. Dann zog er lässig eine Augenbraue hoch, als käme er einfach nicht darauf, warum ich mit ihm reden wollte.

Oh-oh. Sag was, Meg. Irgendwas Intelligentes.

»Ähm …«, stammelte ich. »Hi. Ich bin Meghan. Ich sitze hinter dir. Also, im Computerkurs.« Er starrte mich immer noch völlig ausdruckslos an, und ich spürte, wie ich rot wurde. »Äh … ich schaue mir eigentlich nicht viel Sport an, aber ich finde, du bist ein fantastischer Quarterback – auch wenn ich noch nicht viele gesehen habe, na ja, eigentlich nur dich, bisher. Aber du scheinst echt Ahnung von dem zu haben, was du da tust. Weißt du, ich sehe mir alle eure Spiele an. Für gewöhnlich sitze ich immer ganz hinten, deshalb hast du mich wahrscheinlich noch nie bemerkt.«

Oh Gott. Halt die Klappe, Meg. Halt sofort die Klappe. Ich presste die Lippen fest zusammen, um mein unablässiges Geplapper zu stoppen, und hätte mich am liebsten in irgendeinem Loch verkrochen, um zu sterben. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, als ich dieser Sache zustimmte? Es war immer noch besser, unsichtbar zu sein, als sich zum totalen Vollidioten zu machen, besonders vor Scott.

Er blinzelte träge, richtete sich auf und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren. »Tut mir leid, Süße«, sagte er gedehnt mit seiner wundervollen tiefen Stimme. »Konnte dich nicht hören.« Er musterte mich eingehend und grinste dann. »Sollst du mir Nachhilfe geben?«

»Äh, ja.« Ich richtete mich auf und kratzte den letzten Rest meiner Würde zusammen. »Ich bin Meghan. Mr. Sanders hat mich gebeten, dir bei deinem Computerprojekt zu helfen.«

Er grinste mich an. »Bist du nicht diese Bauerntussi, die draußen im Sumpf lebt? Weißt du überhaupt, was ein Computer ist?«

Meine Wangen brannten und mein Magen krampfte sich zu einem harten, kleinen Ball zusammen. Okay, ich hatte keinen tollen Computer zu Hause. Deswegen verbrachte ich ja auch den Großteil meiner Nachmittage hier im Computerraum, um meine Hausaufgaben zu machen oder einfach nur im Internet zu surfen. Genau genommen hoffte ich, in ein paar Jahren auf eine technische Universität gehen zu können. Programmieren und Webdesign flogen mir einfach zu. Verdammt, ich wusste, wie man mit einem Computer umging.

Doch im Angesicht von Scotts Kritik konnte ich nur stammeln: »J-ja, schon. Ich meine, ich weiß eine Menge.« Er sah mich zweifelnd an, und ich spürte, wie sich mein verletzter Stolz aufbäumte. Ich musste ihm einfach beweisen, dass ich nicht das zurückgebliebene Landei war, für das er mich hielt. »Okay, ich werde es dir beweisen«, erklärte ich und zog die Tastatur, die auf dem Tisch lag, zu mir heran.

Da passierte etwas Seltsames.

Ich hatte die Tasten noch gar nicht berührt, da leuchtete der Bildschirm auf. Während meine Finger noch zögernd über den Tasten schwebten, erschienen bereits Wörter auf dem Bildschirm.

Meghan Chase. Wir sehen dich. Wir kommen dich holen.

Ich erstarrte. Es erschienen immer mehr Wörter, aber immer nur diese drei Sätze, die sich ständig wiederholten. Meghan Chase. Wir sehen dich. Wir kommen dich holen. Meghan Chase wir sehen dich wir kommen dich holen. Meghan Chase wir sehen dich wir kommen dich holen … wieder und wieder, bis der ganze Bildschirm voll war.

Scott lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und starrte erst mich an, dann den Bildschirm. »Was soll das?«, fragte er missmutig. »Was zum Teufel machst du da, du Freak?«

Ich schob ihn zur Seite, schüttelte die Maus, hämmerte auf die Escape-Taste ein und drückte Strg-Alt-Entf, um den endlosen Wortstrom abzubrechen. Nichts davon half.

Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, kamen keine neuen Wörter mehr. Der Bildschirm wurde für einen Moment schwarz. Dann erschien in riesigen Buchstaben eine andere Botschaft auf dem Schirm.

SCOTT WALDRON BEOBACHTET ANDERE JUNGS UNTER DER DUSCHE. LOL.

Ich keuchte. Die Botschaft erschien auch auf allen anderen Monitoren und sprang durch den Raum, ohne dass ich sie hätte aufhalten können. Die Schüler an den anderen Tischen schienen einen Moment lang geschockt zu sein und hielten inne, dann zeigten sie mit dem Finger auf uns und lachten.

Ich spürte Scotts Blick wie ein Messer im Rücken. Ängstlich drehte ich mich um. Er starrte mich tatsächlich an. Seine Brust hob und senkte sich angestrengt. Vor Wut oder Scham war sein Gesicht knallrot angelaufen und er zeigte mit einem Finger in meine Richtung.

»Findest du das witzig, Sumpfhuhn? Hä? Warte nur ab. Ich werde dir zeigen, was witzig ist. Du hast dir gerade dein eigenes Grab geschaufelt, du Miststück!«

Er stürmte aus dem Raum, verfolgt von einer Welle lauten Gelächters. Einige der anderen grinsten mich an, applaudierten und reckten triumphierend die Daumen nach oben. Einer zwinkerte mir sogar verschwörerisch zu.

Ich bekam weiche Knie und ließ mich auf einen Stuhl fallen. Verständnislos starrte ich auf den Monitor, der sich plötzlich abschaltete. Die anstößige Nachricht erlosch, doch es war bereits zu spät. Mein Magen rebellierte, und meine Augen brannten.

Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Ich bin tot. Ich bin sowas von tot. Das war’s, Meghan, Game over. Ob Mom mich wohl auf ein Internat in Kanada wechseln lässt?

Ein feines Kichern drang in meine trübseligen Gedanken, und ich hob den Kopf.

Oben auf dem Monitor kauerte etwas. Vor dem hellen Fenster zeichnete sich die dunkle Silhouette eines winzigen missgestalteten Dings ab. Es war dürr, hatte lange dünne Arme und riesige Fledermausohren. Schmale grüne Augen musterten mich über den Tisch hinweg, und in ihnen blitzte Intelligenz. Das Ding grinste, wobei es zwei Reihen spitzer Zähne entblößte, die neonblau leuchteten, bevor es wie ein Bild auf einem Computerbildschirm verschwand.

Ich saß einen Moment lang einfach nur da und starrte auf die Stelle, wo ich das Wesen gesehen hatte, während meine Gedanken rotierten.

Okay. Großartig. Nicht nur, dass Scott mich jetzt hasst, nein, ich habe auch noch Halluzinationen. Meghan Chase erlitt einen Tag vor ihrem sechzehnten Geburtstag einen Nervenzusammenbruch. Schickt mich einfach direkt in die Klapse, ich überlebe hier an dieser Schule sowieso keinen einzigen Tag mehr.

Mühsam stemmte ich mich hoch und schlurfte wie ein Zombie auf den Flur hinaus.

Robbie wartete an den Schließfächern auf mich, in jeder Hand eine Limoflasche. »Hey, Prinzessin«, begrüßte er mich, als ich an ihm vorbeiwankte, »du bist aber früh dran. Wie ist denn deine Nachhilfe gelaufen?«

»Nenn mich nicht so«, murmelte ich und knallte meine Stirn gegen mein Schließfach. »Die Nachhilfe ist fantastisch gelaufen. Bitte bring mich jetzt um.«

»So gut also?« Er warf mir die Cola light zu, die ich gerade noch auffing, und drehte den Deckel seiner Kräuterlimonade auf, die aus dem Flaschenhals schäumte. Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. »Tja, ich schätze, ich könnte jetzt antworten: ›Ich hab’s dir gleich gesagt‹ …«

Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, der ihn verstummen lassen sollte.

Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. »… aber das werde ich nicht tun.« Er verzog die Lippen und versuchte nicht zu grinsen. »Weil … es falsch wäre.«

»Was machst du überhaupt hier?«, wollte ich wissen. »Die Busse sind doch alle längst weg. Bist du etwa wie so ein gruseliger Stalker um den Computerraum herumgeschlichen? «

Rob räusperte sich vernehmlich und nahm einen tiefen Schluck von seiner Limo. »Hey, ich habe mich gefragt, was du morgen an deinem Geburtstag so vorhast«, meinte er dann strahlend.

Mich in meinem Zimmer verstecken und mir die Bettdecke über den Kopf ziehen, dachte ich, aber ich zuckte nur die Schultern und riss meinen rostigen Spind auf. »Keine Ahnung. Ist auch egal. Ich habe nichts Bestimmtes geplant.« Ich packte meine Bücher, stopfte sie in meinen Rucksack und schmiss die Spindtür zu. »Warum?«

Robbie schenkte mir dieses Lächeln, das mich immer nervös machte – ein Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht zog, sodass sich seine Augen zu grünen Schlitzen verengten. »Ich habe noch eine Flasche Champagner, die ich mal aus dem Weinkeller stibitzt habe«, flüsterte er und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Wie wäre es, wenn ich morgen bei dir vorbeikomme? Dann könnten wir deinen Geburtstag angemessen feiern.«

Ich hatte noch nie Champagner getrunken. Einmal hatte ich an Lukes Bier genippt und gedacht, ich müsste kotzen. Mom brachte manchmal Wein im Tetrapack mit, der war gar nicht so schlimm, aber eigentlich trank ich kaum Alkohol.

Aber was soll’s? Du wirst schließlich nur einmal sechzehn, oder? »Sicher«, sagte ich und zuckte resigniert mit den Schultern. »Klingt gut. Schließlich kann ich genauso gut mit einem Paukenschlag untergehen.«

Er legte den Kopf schief und musterte mich prüfend. »Alles okay mit dir, Prinzessin?«

Was sollte ich ihm sagen? Dass der Kapitän des Footballteams, auf den ich seit zwei Jahren insgeheim stand, es auf mich abgesehen hatte – und zwar nicht im positiven Sinne? Dass mir hinter jeder Ecke Monster aufzulauern schienen? Oder dass die Schulcomputer entweder gehackt worden waren oder von Geistern besessen? Ja, klar. Vom größten Witzbold der Schule hatte ich bestimmt kein Mitleid zu erwarten. So wie ich Robbie kannte, würde er das alles für einen grandiosen Witz halten und mir auch noch dazu gratulieren. Wenn ich ihn nicht so gut kennen würde, hätte ich vielleicht sogar geglaubt, dass er das Ganze eingefädelt hatte. So schenkte ich ihm nur ein müdes Lächeln und nickte. »Mir geht’s gut. Wir sehen uns dann morgen, Robbie.«

»Bis dann, Prinzessin.«

Mom verspätete sich mal wieder. Die Nachhilfe hätte nur eine Stunde dauern sollen, aber ich hockte noch eine gute halbe Stunde länger im Nieselregen an der Straße, dachte über mein erbärmliches Leben nach und schaute zu, wie Autos ein- und ausparkten. Endlich bog ihr blauer Kombi um die Ecke und kam neben mir zum Stehen. Der Beifahrersitz wurde von Einkaufstüten und Zeitungen blockiert, also schlüpfte ich hinten rein.

»Meg, du bist ja klatschnass!«, rief meine Mutter aus, nachdem sie einen Blick in den Rückspiegel geworfen hatte. »So kannst du dich nicht auf den Sitz setzen – leg ein Handtuch unter oder so. Hast du denn keinen Schirm dabei gehabt?«

Auch schön, dich zu sehen, Mom, dachte ich, während ich missmutig eine Zeitung vom Boden aufhob und auf den Sitz legte. Kein »Wie war dein Tag?«, oder »Tut mir leid, dass ich so spät komme.« Ich hätte einfach die blöde Nachhilfestunde mit Scott sausen lassen und den Bus nehmen sollen.

Schweigend fuhren wir dahin.

Früher hatten die Leute mir immer erzählt, ich würde wie sie aussehen – also, bevor Ethan kam und das ganze Scheinwerferlicht für sich beanspruchte. Bis heute weiß ich nicht, wo sie diese Ähnlichkeit sahen. Mom gehört zu den Frauen, die dafür geboren zu sein scheinen, Hosenanzüge und Pumps zu tragen. Ich bevorzuge weite Cargohosen und Sneakers. Moms Gesicht wird von ihren dicken goldblonden Locken umrahmt; mein Haar ist schnurgerade, fein und fast silbern, wenn das Licht im richtigen Winkel darauffällt. Sie wirkt königlich, elegant und ist schlank; ich bin einfach nur knochig.

Mom hätte jeden heiraten können — einen Filmstar, einen reichen Geschäftsmann –, aber sie nahm Luke den Schweinebauern und seine schäbige kleine Farm draußen im Sumpf. Was mich daran erinnerte …

»Hey, Mom, vergiss nicht, dass du mich am Wochenende zur Führerscheinstelle fahren musst.«

»Oh Meg.« Mom seufzte. »Ich weiß nicht. Ich habe dieses Wochenende jede Menge zu tun, und dein Vater will, dass ich ihm dabei helfe, die Scheune zu reparieren. Vielleicht nächste Woche.«

»Mom, du hast es versprochen!«

»Bitte, Meghan. Es war ein langer Tag.« Mom seufzte wieder und musterte mich im Rückspiegel. Ihre Augen waren gerötet und ihre Wimperntusche verschmiert. Unruhig rutschte ich auf meinem Sitz herum. Hatte Mom etwa geweint?

»Was ist los?«, fragte ich vorsichtig.

Sie zögerte. »Zu Hause hat es … einen Unfall gegeben«, setzte sie an, und beim Klang ihrer Stimme wurde mir ganz anders. »Dein Vater musste Ethan heute Nachmittag ins Krankenhaus bringen.« Sie hielt erneut inne, blinzelte hektisch und holte krampfhaft Luft. »Beau hat ihn angefallen.«

»Was?« Mein Aufschrei ließ sie zusammenzucken. Unser Schäferhund sollte Ethan angefallen haben? »Geht es Ethan gut?«, fragte ich und spürte, wie sich mein Magen vor Angst verkrampfte.

»Ja.« Mom lächelte erschöpft. »Er ist ziemlich durch den Wind, aber Gott sei Dank hat er keine ernsten Verletzungen. «

Ich seufzte erleichtert auf. »Wie ist das passiert?«, fragte ich, weil ich immer noch nicht glauben konnte, dass unser Hund tatsächlich ein Familienmitglied angegriffen haben sollte. Beau liebte Ethan abgöttisch. Er wurde ja schon unruhig, wenn einer von uns nur mit meinem Halbbruder schimpfte. Ich hatte beobachtet, wie Ethan Beau am Fell, an den Ohren und am Schwanz gezogen hatte und die einzige Reaktion des Hundes gewesen war, dass er ihn ableckte. Ich hatte gesehen, wie Beau Ethans Ärmel geschnappt und den Kleinen vorsichtig von der Auffahrt gezogen hatte. Unser Schäferhund war ja vielleicht der Schrecken aller Eichhörnchen und Rehe, aber er hatte bisher bei keinem aus der Familie auch nur die Zähne gefletscht. »Warum ist Beau so durchgedreht? «

Mom schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Luke hat gesehen, wie Beau die Treppe raufgerannt ist, und dann hat er gehört, wie Ethan geschrien hat. Als er in sein Zimmer kam, hat der Hund Ethan über den Boden geschleift. Sein Gesicht war böse zerkratzt, und er hatte Bissspuren am Arm.«

Mir gefror das Blut in den Adern. Ich stellte mir vor, wie Ethan angefallen wurde – seine schreckliche Angst, als sich unser bis dahin so zuverlässiger Schäferhund auf ihn stürzte. Es war kaum zu glauben. Wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Ich wusste, dass Mom genauso fassungslos war wie ich. Sie hatte Beau blind vertraut.

An der Art, wie sie die Lippen zusammenpresste, erkannte ich jedoch, dass Mom mir noch etwas verschwieg. Da war etwas, was sie mir nicht sagen wollte, und ich befürchtete, bereits zu wissen, was es war.

»Was passiert jetzt mit Beau?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und bei dem Anblick rutschte mir das Herz in die Hose.

»Wir können einen so gefährlichen Hund nicht frei herumlaufen lassen, Meg«, erklärte sie, und ihr Ton bettelte um Verständnis. »Falls Ethan fragt, sag ihm, wir hätten ein neues Zuhause für Beau gefunden.« Sie holte tief Luft und umklammerte das Lenkrad, ohne mich anzusehen. »Es geht um die Sicherheit der Familie, Meghan. Gib nicht deinem Vater die Schuld. Aber nachdem Luke mit Ethan aus dem Krankenhaus zurückgekommen ist, hat er Beau ins Tierheim gebracht.«