Titel
Widmung
Prolog
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Danksagung
Impressum
Richelle Mead
Blutschwur
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link
Im Gedenken an meine Großmutter, eine beherzte Dame aus dem Süden und die beste Köchin, die ich je gekannt habe.
Prolog
Als ich in der neunten Klasse war, musste ich einmal einen Aufsatz über ein Gedicht schreiben. Eine der Zeilen lautete: „Wenn deine Augen nicht offen wären, würdest du den Unterschied zwischen Träumen und Wachen nicht kennen.“ Damals hatten mir diese Worte eigentlich nichts gesagt. Schließlich gab es einen Jungen in der Klasse, den ich gern hatte, wie konnte man da von mir erwarten, meine Aufmerksamkeit einer literarischen Analyse zu widmen? Jetzt, drei Jahre später, verstand ich das Gedicht vollkommen.
Denn in letzter Zeit schien mir mein Leben wirklich, als wäre es nur ein Traum. An manchen Tagen glaubte ich aufzuwachen und festzustellen, dass die jüngsten Ereignisse in meinem Leben gar nicht wirklich geschehen waren. Ich konnte eigentlich nur eine Prinzessin in einem verzauberten Schlaf sein. Und dieser Traum – nein, dieser Albtraum – würde jetzt jeden Moment enden, und ich würde endlich meinen Prinzen und mein Happy End bekommen.
Doch es war kein glückliches Ende in Sicht, zumindest nicht in absehbarer Zukunft. Und mein Prinz? Nun, das war eine lange Geschichte. Mein Prinz war in einen Vampir verwandelt worden – in einen Strigoi, um genau zu sein. In meiner Welt gibt es zwei verschiedene Arten von Vampiren, die sich vor den Menschen verborgen halten. Die Moroi sind lebende Vampire, gute Vampire, die über Elementarmagie verfügen und niemals töten, wenn sie sich das Blut nehmen, das sie für ihr Überleben brauchen. Die Strigoi hingegen sind untote Vampire, unsterblich und widernatürlich, die sinnlos töten, wenn sie Nahrung aufnehmen. Moroi werden geboren; Strigoi werden geschaffen – mit Gewalt oder aus freien Stücken – und sind böse.
Und Dimitri, der Mann, den ich liebte, war gegen seinen Willen zu einem Strigoi gemacht worden. Er wurde während einer Schlacht verwandelt, einer dramatischen Rettungsmission, an der auch ich teilgenommen hatte. Strigoi hatten an meiner Schule Moroi und Dhampire in ihre Gewalt gebracht und sie vom Schulgelände entführt, und wir hatten sie, um unsere Leute zu retten, zusammen mit noch einigen anderen verfolgt. Dhampire sind halb Vampire und halb Menschen – ausgestattet mit der Stärke und Robustheit eines Menschen und den schnellen Reflexen und scharfen Sinnen eines Moroi. Dhampire werden zu Wächtern ausgebildet, zu elitären Leibwächtern, die die Moroi beschützen. Genau das bin ich. Und genau das war Dimitri.
Nach seiner Verwandlung galt er für den Rest der Moroi-Welt als tot. Und bis zu einem gewissen Maß war er das ja auch. Jene, die zu Strigoi wurden, empfanden keine Güte mehr und hatten jedes Gefühl für ihr vorheriges Leben verloren. Das war so, selbst wenn sie nicht aus freien Stücken verwandelt worden waren. Sie wurden genauso böse und grausam wie alle Strigoi. Die Person, die sie einst waren, existierte nicht mehr, und, ganz ehrlich, es wäre viel angenehmer gewesen, sich vorzustellen, dass sie in den Himmel oder in das nächste Leben eingegangen wären, als sich auszumalen, wie sie nachts auf die Pirsch gingen und ihre Opfer jagten. Aber ich hatte Dimitri weder vergessen, noch konnte ich akzeptieren, dass er im Grunde tot war. Er war der Mann, den ich liebte, der Mann, mit dem ich so dermaßen gut harmonisierte, dass ich schon nicht mehr sagen konnte, wo ich aufhörte und er anfing. Mein Herz weigerte sich, ihn gehen zu lassen – selbst wenn er rein technisch gesehen ein Ungeheuer war, war er trotzdem noch immer irgendwo dort draußen. Und ich erinnerte mich noch sehr gut an eines unserer Gespräche. Wir waren uns beide einig gewesen, dass wir lieber tot sein wollten – wirklich und wahrhaftig tot –, denn als Strigoi auf dieser Welt wandeln zu müssen.
Und nachdem ich meine Trauer um das verlorene Glück beendet hatte, gelangte ich zu dem Schluss, dass ich mich an seine Wünsche halten sollte. Auch wenn er selbst nicht länger daran glaubte. Ich musste ihn finden. Ich musste ihn töten und seine Seele aus diesem dunklen, unnatürlichen Zustand befreien. Ich wusste, der Dimitri, den ich mal geliebt hatte, hätte es so gewollt. Es ist allerdings gar nicht so einfach, einen Strigoi zu töten. Sie sind irrsinnig schnell und stark. Und sie kennen keine Gnade. Ich hatte schon einige von ihnen erledigt – ziemlich verrückt für jemanden, der gerade erst achtzehn geworden war. Aber ich wusste, dass der Kampf mit Dimitri sowohl physisch als auch emotional meine größte Herausforderung darstellte.
Tatsächlich machten sich die emotionalen Konsequenzen bereits bemerkbar, sobald ich meine Entscheidung getroffen hatte. Denn bei der Verfolgung von Dimitri warteten einige grundlegende Veränderungen auf mich (und dabei zählte ich die Tatsache, dass ein Kampf mit ihm höchstwahrscheinlich zum Verlust meines eigenen Lebens führen konnte, noch nicht einmal mit). Ich ging noch zur Schule und stand gerade mal ein paar Monate vor meinem Abschluss, und danach würde ich eine richtige Wächterin sein. Jeder Tag, den ich in der St.-Vladimir-Akademie verblieb – eine entlegene, gut bewachte Schule für Moroi und Dhampire –, bedeutete, dass ein weiterer Tag verstrich, an dem Dimitri sich noch dort draußen befand, in einem Zustand, den er nie gewollt hatte. Ich liebte ihn zu sehr, um das zuzulassen. Also musste ich die Schule vorzeitig abbrechen, mich unter die Menschen mischen und die Welt, in der ich fast mein ganzes Leben verbracht hatte, hinter mir lassen.
Wenn ich wegging, bedeutete das außerdem, dass ich noch etwas anderes zurücklassen musste – oder vielmehr eine Person: meine beste Freundin Lissa, die mit vollem Namen Vasilisa Dragomir hieß. Lissa war eine Moroi, die letzte einer königlichen Linie. Ich sollte nach meinem Abschluss als ihre Leibwächterin fungieren, und meine Entscheidung, Dimitri zu jagen, hatte meine Zukunft an ihrer Seite so ziemlich zunichtegemacht. Doch ich hatte keine andere Wahl.
Abgesehen von unserer Freundschaft unterhielten Lissa und ich eine wirklich einzigartige Verbindung. Jeder Moroi spezialisiert sich auf einen bestimmten Typus Elementarmagie – Erde, Luft, Wasser oder Feuer. Bis vor Kurzem glaubte man, dass es nur die Magie dieser vier Elemente gab. Dann entdeckten wir die eines fünften: die Magie des Geistes.
Das war Lissas Element, aber da es auf der Welt nur so wenige Geistbenutzer gab, wussten wir kaum etwas darüber. Größtenteils schien dieses Element mit psychischen Kräften zusammenzuhängen. Lissa konnte in erstaunlichem Maße Zwang ausüben und beinahe jedem ihren Willen aufzwingen. Außerdem war sie in der Lage, andere zu heilen, und das ist genau der Punkt, an dem die Dinge zwischen uns ein bisschen seltsam wurden. Technisch gesehen bin ich nämlich bei dem Autounfall gestorben, der ihre ganze Familie das Leben gekostet hat. Ohne es zu bemerken, hatte Lissa mich damals aus der Welt der Toten zurückgeholt und damit ein übernatürliches Band zwischen uns geschaffen. Seither war ich mir ihrer Existenz und ihrer Gedanken stets bewusst. Ich konnte erkennen, was sie dachte, und spüren, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Außerdem hatten wir herausgefunden, dass ich Geister sehen konnte, die diese Welt noch nicht verlassen hatten. Das beunruhigte mich allerdings etwas, und ich bemühte mich ständig, diese Gabe auszublenden. Das ganze Phänomen wurde in der knappen Aussage zusammengefasst, ich sei „schattengeküsst“.
Unser besonderes Band – das der Schattengeküssten zu der Geistesbenutzerin, die sie aus dem Schattenreich zurückgeholt hatte – machte mich zur idealen Kandidatin, um Lissa zu beschützen, da ich immer sofort wusste, wenn sie in Schwierigkeiten war. Ich hatte versprochen, sie mein Leben lang zu beschützen, doch dann hatte Dimitri – der hochgewachsene, umwerfende, leidenschaftliche Dimitri – alles verändert. Ich stand vor der schrecklichen Entscheidung, Lissa weiterhin zu beschützen oder Dimitris Seele zu befreien. Mich zwischen den beiden entscheiden zu müssen hatte mir das Herz gebrochen und mir einen tiefen Schmerz in der Brust und reichlich Tränen beschert. Mein Abschied von Lissa war qualvoll gewesen. Seit dem Kindergarten waren wir beste Freundinnen, und mein Aufbruch war ein Schock für uns beide. Um fair zu sein, muss ich sagen, dass sie es nicht einmal kommen gesehen hatte. Denn meine Romanze mit Dimitri hatte ich geheim gehalten. Er war mein Lehrer gewesen, sieben Jahre älter als ich und ebenfalls dazu auserkoren, ihr Wächter zu sein. Als ihre beiden zukünftigen Wächter hatten er und ich uns natürlich besonders große Mühe gegeben, gegen unsere Gefühle anzukämpfen, wohl wissend, dass wir uns mehr auf Lissa als auf alles andere konzentrieren mussten und dass wir wegen unserer Schüler-Lehrer-Beziehung außerdem eine Menge Ärger bekommen konnten.
Aber der ständige Verzicht auf Dimitri – obwohl ich dem zugestimmt hatte – führte dazu, dass sich in mir ein unausgesprochener Groll gegen Lissa aufbaute. Wahrscheinlich hätte ich mit ihr darüber reden und ihr die Frustration über mein durchgeplantes Leben erklären sollen. Irgendwie schien es mir unfair, dass Lissa lieben und leben konnte, wie sie wollte, während ich mein eigenes Glück immer würde opfern müssen, um ihren Schutz zu gewährleisten. Sie war jedoch meine beste Freundin, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sie zu kränken. Lissa war besonders verletzbar, denn die Benutzung von Geist hatte die unangenehme Nebenwirkung, Leute in den Wahnsinn zu treiben. Also hatten sich meine Gefühle so lange in mir aufgestaut, bis sie schließlich explodierten, und ich die Akademie – und Lissa – für immer hinter mir ließ.
Einer der Geister, die ich gesehen hatte – Mason, ein Freund, der von Strigoi getötet worden war –, berichtete mir, dass Dimitri in seine Heimat Sibirien zurückgekehrt war. Masons Seele hatte kurz darauf Frieden gefunden und diese Welt verlassen, ohne mir noch irgendwelche Hinweise darauf zu geben, wo genau sich Dimitri in Sibirien aufhalten könnte. Also hatte ich einfach blindlings dorthin reisen müssen und einer Welt von Menschen und einer Sprache, die ich nicht kannte, getrotzt, um das Versprechen einzuhalten, das ich mir selbst gegeben hatte.
Nachdem ich einige Wochen allein unterwegs gewesen war, hatte ich es endlich bis nach Sankt Petersburg geschafft. Ich suchte noch immer, quälte mich noch immer – war jedoch fest entschlossen, ihn zu finden, obwohl mir gleichzeitig davor graute. Denn wenn ich diesen irrwitzigen Plan tatsächlich in die Tat umsetzte, wenn es mir wirklich gelang, den Mann zu töten, den ich liebte, würde das bedeuten, dass Dimitri die Welt wirklich und wahrhaftig verlassen hätte. Und ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich in einer solchen Welt weiterleben konnte.
Nichts von alldem kommt mir real vor. Wer weiß? Vielleicht ist es das auch nicht. Vielleicht geschieht das Ganze in Wirklichkeit jemand anderem. Vielleicht habe ich mir alles auch bloß eingebildet. Vielleicht werde ich bald aufwachen und feststellen, dass mit Lissa und Dimitri alles wieder in Ordnung ist. Wir werden alle zusammen sein, und er wird mich anlächeln und im Arm halten und mir sagen, dass alles gut sein wird. Vielleicht war es wirklich nur ein Traum.
Aber das glaube ich nicht.
1
Ich wurde verfolgt.
Schon irgendwie lustig, wenn man bedachte, dass ich während der letzten Wochen ständig andere verfolgt hatte. Aber wenigstens war es kein Strigoi. Das hätte ich bereits gewusst. Da ich schattengeküsst war, besaß ich neuerdings die Fähigkeit, die Untoten zu spüren – bedauerlicherweise durch Anfälle von Übelkeit. Trotzdem wusste ich das Frühwarnsystem meines Körpers zu schätzen und war erleichtert, dass mein Verfolger heute Nacht zumindest kein irre schneller, irre bösartiger Vampir war. Gegen solche hatte ich in letzter Zeit schon oft genug gekämpft, und jetzt wünschte ich mir zu Abwechslung mal einen freien Abend.
Ich musste also davon ausgehen, dass mein Verfolger wie ich ein Dhampir war, wahrscheinlich einer aus dem Klub. Allerdings verhielt sich diese Person wesentlich unvorsichtiger, als ich es von einem Dhampir erwartet hätte. Ich konnte seine Schritte auf dem Pflaster der dunklen Seitenstraßen deutlich hören, und einmal bekam ich sogar flüchtig eine schattenhafte Gestalt zu Gesicht. Trotzdem, wenn man meine übereilten Taten heute Nacht bedachte, handelte es sich höchstwahrscheinlich um einen Dhampir.
Das Ganze hatte schon früher am Abend in der Nachtigall angefangen. Das war jedoch nicht der richtige Name des Klubs, sondern eine Übersetzung. Der eigentliche Name war etwas Russisches, doch den konnte ich beim besten Willen nicht aussprechen. Zu Hause in Amerika war die Nachtigall unter den reichen Moroi, die ins Ausland reisten, wohlbekannt, und jetzt verstand ich auch, warum. Ganz gleich, wie spät es war, die Leute kleideten sich dort immer, als befänden sie sich auf einem fürstlichen Ball. Und, nun ja, mit den elfenbeinfarbenen Wänden voller goldener Schnörkeleien und Zierleisten erinnerte das ganze Lokal irgendwie an das alte zaristische Russland. Es ähnelte in gewisser Weise dem Winterpalast, einer königlichen Residenz aus der Zeit, als Russland noch von Zaren regiert worden war. Gleich nach meiner Ankunft in Sankt Petersburg hatte ich den Palast besichtigt.
In der Nachtigall glitzerten kunstvolle, mit echten Kerzen ausgestattete Kronleuchter und beleuchteten die goldene Einrichtung, sodass das ganze Lokal trotz des schummrigen Lichts hell funkelte. Es gab einen großen Speisesaal, darin mit Samt verhängte Tische und Sitznischen, außerdem eine Lounge und einen Barbereich. Spät am Abend würde dort eine Band spielen und die Tanzfläche sich mit Paaren füllen.
Nachdem ich vor einigen Wochen in der Stadt angekommen war, hatte ich mich mit der Nachtigall zunächst gar nicht abgegeben. Ich war so arrogant gewesen zu glauben, ich könnte problemlos Moroi finden, die mir den Weg zu Dimitris Heimatstadt in Sibirien weisen würden. Ohne auch nur den kleinsten Hinweis darauf, wo Dimitri sich in Sibirien aufhalten könnte, war die Reise in die Stadt, in der er aufgewachsen war, meine einzige Chance, näher an ihn heranzukommen. Nur dass ich nicht wusste, wo diese Stadt lag. Darum versuchte ich, Moroi zu finden, die mir weiterhelfen könnten. Es gab in Russland eine ganze Anzahl von Dhampir-Städten und -kommunen, aber kaum welche in Sibirien, was in mir die Hoffnung weckte, dass die meisten einheimischen Moroi seinen Geburtsort bestimmt kennen müssten. Bedauerlicherweise stellte sich aber heraus, dass die Moroi, die in den Städten der Menschen lebten, sehr gut darin waren, sich zu verstecken. Ich klapperte alle Plätze ab, von denen ich dachte, dass dort wahrscheinlich Moroi zu finden wären, doch ich hatte keinen Erfolg. Und ohne diese Moroi bekam ich keine Antworten.
Also fing ich an, den Klub zu überwachen, was gar nicht so leicht war. Für eine Achtzehnjährige war es sogar recht schwierig, sich in einem der elitärsten Klubs der Stadt aufzuhalten, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Doch schon bald fand ich heraus, dass teure Kleider und hinreichend große Trinkgelder eine Menge dazu beitrugen, dort zurechtzukommen. Die Kellner kannten mich inzwischen, und falls sie meine Anwesenheit im Klub für seltsam hielten, so sagten sie es nicht und gaben mir mit Freuden den Ecktisch, um den ich immer bat. Wahrscheinlich dachten sie, ich sei die Tochter irgendeines Magnaten oder Politikers. Woher ich auch kommen mochte, ich hatte jedenfalls das nötige Kleingeld, um mich dort aufzuhalten, und das war alles, was sie interessierte.
Trotzdem waren meine ersten Abende in dem Klub ziemlich entmutigend gewesen. Die Nachtigall mochte ein elitärer Treffpunkt für Moroi gewesen sein, aber es wurde auch von Menschen besucht. Zuerst hatte es für mich sogar so ausgesehen, als seien Menschen die einzigen Gäste. Im Laufe des Abends füllte sich das Lokal, aber wenn ich die voll besetzten Tische und die Bar absuchte, konnte ich keinen Moroi entdecken. Dann bemerkte ich eine Frau mit langem platinblondem Haar, die mit ein paar Freunden die Lounge betrat. Einen Moment lang stockte mir der Atem. Die Frau hatte mir zwar den Rücken zugewandt, aber sie sah Lissa so ähnlich, dass ich davon überzeugt gewesen war, aufgespürt worden zu sein. Seltsamerweise hatte ich nicht gewusst, ob ich deswegen froh oder entsetzt sein sollte. Ich vermisste Lissa so sehr, gleichzeitig wollte ich nicht, dass sie in meine gefährliche Reise verwickelt wurde. Dann hatte sich die Frau umgedreht. Es war nicht Lissa gewesen. Sie war nicht einmal eine Moroi, nur ein Mensch. Langsam hatte meine Atmung sich wieder normalisiert.
Endlich, vor etwa einer Woche, hatte ich Glück. Eine Gruppe von Moroi-Frauen war zu einem späten Mittagessen hereingekommen, begleitet von zwei Wächtern, einem männlichen und einem weiblichen, die pflichtschuldig und still am Tisch saßen, während ihre Schützlinge bei einigen Gläsern Champagner schwatzten und lachten. Diese Wächter zu umgehen war besonders knifflig gewesen. Für jene, die wussten, wonach sie suchen mussten, waren Moroi leicht zu erkennen: größer als die meisten Menschen, blass und ultraschlank. Außerdem hatten sie so eine komische Art zu lächeln und mit den Lippen ihre Reißzähne zu verbergen. Wir Dhampire mit unserem menschlichen Blut wirkten … nun ja, menschlich.
Zumindest für das ungeübte menschliche Auge sah ich so aus. Ich war ungefähr einen Meter siebzig groß, und während Moroi zu unwirklichen Laufsteg-Model-Körpern neigten, war ich athletisch gebaut und hatte einen üppigen Busen. Gene meines unbekannten türkischen Vaters und zu viel Zeit in der Sonne hatten mir eine leichte Bräune beschert, die ziemlich gut zu meinem langen, fast schwarzen Haar und meinen gleichermaßen dunklen Augen passte. Aber jene, die in der Moroi-Welt aufgewachsen waren, konnten mich bei genauerer Betrachtung als Dhampir entlarven. Ich bin mir nicht sicher, woran es lag – vielleicht irgendein Instinkt, der uns zu unseresgleichen zog und die Mischung von Moroi-Blut erkannte.
Nichtsdestoweniger war es von entscheidender Wichtigkeit, dass diese Wächter mich für einen Menschen hielten, damit ich sie nicht in Alarmbereitschaft versetzte. Ich saß also auf der anderen Seite des Raums in meiner Ecke, stocherte in einer Portion Kaviar herum und tat so, als wäre ich in mein Buch vertieft. Nur der Vollständigkeit halber, ich finde Kaviar widerwärtig, aber es schien ihn überall in Russland zu geben, vor allem in den netten Lokalen. Das und Borschtsch – eine Art Rote-Bete-Suppe. In der Nachtigall aß ich fast nie ganz auf, was ich bestellt hatte, und ging anschließend ausgehungert zu McDonald’s, auch wenn sich die russischen McDonald’s-Restaurants ein wenig von denen unterschieden, mit denen ich aufgewachsen war. Trotzdem, ein Mädchen muss schließlich essen.
So wurde das Ganze zu einem Test meiner Fähigkeiten, die Moroi zu betrachten, wenn ihre Wächter gerade nicht hinschauten. Zugegeben, die Wächter hatten tagsüber wenig zu befürchten, da im hellen Sonnenlicht keine Strigoi unterwegs sein würden. Aber es lag in der Natur eines jeden Wächters, alles zu beobachten, und sie ließen ihre Blicke ständig durch den Raum wandern. Da ich aber die gleiche Ausbildung genossen hatte und ihre Tricks kannte, gelang es mir, die Moroi unbemerkt auszuspionieren.
Die Frauen kamen recht häufig in den Klub, meistens spätnachmittags. Das Leben in St. Vladimir verlief nach einem nächtlichen Zeitplan, aber Moroi und Dhampire, die unter Menschen lebten, hielten sich entweder an einen Tageslichtzeitplan oder an etwas dazwischen. Für eine Weile hatte ich mit dem Gedanken gespielt, an sie heranzutreten – oder sogar an ihre Wächter. Irgendetwas hielt mich zurück. Wenn jemand wissen würde, wo eine Stadt voller Dhampire zu finden war, dann wären es männliche Moroi. Viele von ihnen besuchten Dhampir-Städte in der Hoffnung, leichte Dhampir-Mädchen aufzureißen. Also nahm ich mir vor, noch eine Woche abzuwarten, ob hier auch irgendwelche Männer vorbeikamen. Falls nicht, wollte ich herausfinden, was für Informationen die Frauen mir geben konnten.
Vor einigen Tagen waren dann endlich zwei Moroi-Männer aufgetaucht. Sie neigten dazu, sich erst später am Abend einzufinden, wenn die richtigen Partygänger kamen. Die Männer waren etwa zehn Jahre älter als ich und sahen auffallend gut aus, sie trugen Designeranzüge und Seidenkrawatten. Ihre Haltung verriet Macht und Einfluss, und ich hätte viel Geld darauf gewettet, dass sie von königlichem Geblüt waren – vor allem, da jeder von ihnen mit einem eigenen Wächter kam. Die Wächter waren immer dieselben: junge Männer, die Anzüge trugen, um nicht aufzufallen, die aber trotzdem den Raum sorgfältig im Auge behielten, wie es eben in der Natur aller Wächter liegt. Und immer waren da auch Frauen – viele Frauen. Die beiden Moroi flirteten auf Teufel komm raus und hatten es auf alle anwesenden Frauen abgesehen – selbst auf Menschenfrauen, die sie jedoch niemals mit nach Hause nahmen. Das ist ein Tabu, das in unserer Welt noch immer fest verankert ist. Die Moroi hatten sich jahrhundertelang von den Menschen fernhalten müssen, aus Furcht vor Entdeckung durch eine Rasse, die so groß und mächtig geworden war.
Das hieß allerdings nicht, dass die Männer allein nach Hause gingen. Irgendwann im Laufe des Abends tauchten für gewöhnlich auch Dhampir-Frauen auf – jeden Abend andere. Sie trugen tief ausgeschnittene Kleider und Unmengen von Make-up, sie tranken viel und lachten über alles, was die Männer sagten – was vermutlich nicht einmal besonders witzig war. Keine dieser Frauen hatte das Haar jemals hochgesteckt, aber hin und wieder drehten sie den Kopf so zur Seite, dass ihre Hälse entblößt wurden und man die dunkelblauen Flecken erkennen konnte. Sie waren Bluthuren – Dhampire, die einen Moroi beim Sex ihr Blut trinken lassen. Auch das war ein Tabu – obwohl es insgeheim dennoch geschieht.
Ich wünschte mir, einen der Moroi-Männer allein zu erwischen, abseits der wachsamen Augen seiner Wächter, sodass ich ihn befragen konnte, aber es war unmöglich. Die Wächter ließen ihre Moroi niemals unbeaufsichtigt. Ich versuchte sogar, ihnen zu folgen, aber wann immer die Gruppe den Klub verließ, verschwanden sie sofort in einer Limousine – und machten es mir damit unmöglich, ihnen zu Fuß zu folgen. Es war frustrierend.
Schließlich hatte ich beschlossen, mich heute Abend der ganzen Gruppe zu nähern und eine Entdeckung durch die Dhampire zu riskieren. Ich wusste nicht, ob tatsächlich jemand von zu Hause nach mir suchte, oder ob es die Gruppe überhaupt interessieren würde, wer ich war. Wahrscheinlich nahm ich mich selbst viel zu wichtig. Es lag definitiv im Bereich des Möglichen, dass sich niemand um eine entlaufene Schulabbrecherin scherte. Aber wenn tatsächlich jemand nach mir suchte, war meine Beschreibung zweifellos weltweit unter den Wächtern bekannt gemacht worden. Obwohl ich inzwischen achtzehn war, hätte ich es einigen Leuten durchaus zugetraut, mich an den Haaren zurück nach Amerika zu schleifen. Doch ich konnte auf keinen Fall zurückkehren, solange ich Dimitri nicht gefunden hatte.
Dann, gerade als ich darüber nachdachte, wie ich die Moroi ansprechen sollte, verließ eine der Dhampir-Frauen den Tisch, um zur Theke zu gehen. Die Wächter beobachteten sie natürlich, schienen sich aber keine Sorgen um ihre Sicherheit zu machen und waren mehr auf die Moroi fixiert. Die ganze Zeit über hatte ich gedacht, es wäre das Beste, mithilfe der Moroi-Männer an Informationen über ein Dorf voller Dhampire und Bluthuren zu kommen, aber was konnte besser sein, als gleich eine Bluthure nach diesem Ort zu fragen?
Ich schlenderte lässig durch den Raum an die Bar, als wollte ich mir ebenfalls einen Drink holen. Während die Frau auf den Barkeeper wartete, stand ich daneben und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie war blond und trug ein langes silbernes Paillettenkleid. Schwer zu sagen, ob mein schwarzes Etuikleid aus Satin daneben geschmackvoll oder eher langweilig wirkte. All ihre Bewegungen – selbst die Art, wie sie dastand – waren anmutig wie die einer Tänzerin. Der Barkeeper hatte mit anderen Gästen zu tun, und ich wusste, das hieß jetzt oder nie. Ich beugte mich zu ihr.
„Sprechen Sie Englisch?“
Sie zuckte überrascht zusammen und sah mich an. Sie war älter, als ich erwartet hatte; sie hatte ihr Alter geschickt unter dem Make-up verborgen. Sie taxierte mich schnell mit ihren blauen Augen und erkannte mich als Dhampir. „Ja“, sagte sie wachsam. Selbst das eine Wort wurde mit schwerem Akzent gesprochen.
„Ich suche nach einer Stadt … einer Stadt, wo viele Dhampire leben, draußen in Sibirien. Wissen Sie, wovon ich spreche? Ich muss diese Stadt finden.“
Wieder musterte sie mich, aber ich konnte ihre Miene unmöglich deuten. So wenig ihr Gesicht verriet, hätte sie genauso gut eine Wächterin sein können. Vielleicht war sie irgendwann im Laufe ihres Lebens zu einer solchen ausgebildet worden.
„Tun Sie’s nicht“, sagte sie schroff. „Lassen Sie’s gut sein.“ Sie wandte sich ab und richtete ihren Blick auf den Barkeeper, der gerade einen blauen, mit Kirschen dekorierten Cocktail mixte.
Ich berührte sie am Arm. „Ich muss diese Stadt finden. Da ist ein Mann …“ Die Worte blieben mir im Halse stecken. So viel zu meiner sachlichen Befragung. Allein der Gedanke an Dimitri genügte, dass mir das Herz in der Kehle pochte. Wie sollte ich das bloß dieser Frau erklären? Dass ich einem vagen Hinweis folgend den Mann suchte, den ich auf der ganzen Welt am meisten liebte – einen Mann, der in einen Strigoi verwandelt worden war und den ich jetzt töten musste? Selbst in diesem Moment konnte ich mir die Wärme seiner braunen Augen und die Berührung seiner Hände genau vorstellen. Wie sollte ich nur tun, wozu ich einen ganzen Ozean überquert hatte?
Konzentrier dich, Rose. Konzentrier dich.
Die Dhampir-Frau sah mich wieder an. „Er ist es nicht wert“, sagte sie. Offensichtlich hatte sie mich missverstanden. Zweifellos hielt sie mich für ein liebeskrankes Mädchen auf der Suche nach irgendeinem Typen – was ja gewissermaßen auch zutraf. „Sie sind zu jung … Für sie ist es noch nicht zu spät, all das zu vermeiden.“ Mochte ihr Gesicht auch leidenschaftslos sein, in ihrer Stimme lag eine tiefe Traurigkeit. „Gehen Sie und fangen Sie etwas anderes mit Ihrem Leben an. Halten Sie sich von diesem Ort fern.“
„Sie wissen, wo die Stadt ist!“, rief ich aus, zu aufgeregt, um ihr zu erklären, dass ich nicht dort hingehen wollte, um eine Bluthure zu werden. „Bitte – Sie müssen es mir sagen. Ich muss dorthin!“
„Gibt es ein Problem?“
Sowohl sie als auch ich drehten uns um und blickten in das grimmige Gesicht eines Wächters. Die Dhampir-Frau war sicher nicht ihre oberste Priorität, aber sie würden auf jeden Fall bemerken, wenn sie von jemandem schikaniert würde. Der Wächter war nur wenig älter als ich, und ich schenkte ihm ein süßes Lächeln. Zwar mochten meine Brüste nicht wie bei dieser anderen Frau beinahe aus dem Kleid hüpfen, aber ich wusste, dass der kurze Rock meine Beine ungemein vorteilhaft zur Geltung brachte. Dagegen war doch gewiss nicht einmal ein Wächter immun, oder? Nun, er anscheinend schon. Seine harte Miene zeigte deutlich, dass meine Reize ihn kaltließen. Aber ich schätzte, dass ich mein Glück genauso gut bei ihm versuchen und ihn einfach nach ein paar Informationen fragen könnte.
„Ich versuche, eine Stadt in Sibirien zu finden, eine Stadt, in der Dhampire leben. Kennen Sie sie?“
Er zuckte mit keiner Wimper. „Nein.“
Wunderbar. Beide stellten sich quer. „Ja, na ja, vielleicht weiß Ihr Boss etwas?“, fragte ich geziert und hoffte, wie eine angehende Bluthure zu klingen. Wenn die Dhampire nicht reden wollten, würde es womöglich einer der Moroi tun. „Vielleicht wünscht er ein wenig Gesellschaft und würde gerne mit mir reden.“
„Er hat bereits Gesellschaft“, antwortete der Wächter gelassen. „Mehr braucht er nicht.“
Ich hörte nicht auf zu lächeln. „Sind Sie sicher?“, schnurrte ich. „Vielleicht sollten wir ihn selber fragen.“
„Nein“, erwiderte der Wächter. In diesem einen Wort hörte ich die Herausforderung und den Befehl: Zieh dich zurück! Er würde nicht zögern, es mit jedem aufzunehmen, der eine mögliche Bedrohung für seinen Herrn darstellen könnte – selbst wenn es sich um ein niederes Dhampir-Mädchen handelte. Ich spielte mit dem Gedanken, es noch weiter zu versuchen, beschloss dann jedoch schnell, die Warnung ernst zu nehmen und mich tatsächlich zurückzuziehen.
Ich zuckte sorglos die Achseln. „Sein Pech.“
Ohne weitere Worte ging ich lässig zurück zu meinem Tisch, als sei die Zurückweisung keine große Sache. Doch während der ganzen Zeit hielt ich den Atem an und erwartete halb, dass der Wächter mich an den Haaren aus dem Klub schleifen würde. Das passierte allerdings nicht. Aber als ich meinen Mantel holte und etwas Kleingeld auf den Tisch legte, sah ich, dass er mich mit wachsamem, berechnendem Blick beobachtete.
Ich verließ die Nachtigall mit derselben gleichgültigen Haltung und trat hinaus auf die belebte Straße. Es war Samstagabend, und in der näheren Umgebung gab es jede Menge anderer Klubs und Restaurants. Partygänger füllten die Straßen, einige so herausgeputzt wie die Gäste der Nachtigall, während andere in meinem Alter und eher lässig gekleidet waren. Endlose Menschenschlangen vor den Klubs, laute, von starken Bässen begleitete Tanzmusik. Restaurants mit gläsernen Fronten zeigten elegante Gäste und üppig gedeckte Tische. Während ich, umgeben von russischen Gesprächen, durch die Menge ging, widerstand ich dem Verlangen, hinter mich zu schauen. Ich wollte keinen weiteren Verdacht erregen, falls dieser Dhampir mich noch beobachtete.
Doch als ich in eine stille Seitenstraße einbog, eine Abkürzung zurück zu meinem Hotel, konnte ich hinter mir leise Schritte hören. Ich hatte den Wächter anscheinend so sehr beunruhigt, dass er mir folgte. Nun, ich würde auf keinen Fall zulassen, dass er mir zuvorkam. Ich mochte kleiner sein als er – und ein Kleid und hochhackige Schuhe tragen –, aber ich hatte schon gegen einige Männer gekämpft, darunter auch Strigoi. Ich konnte mit diesem Burschen fertig werden, vor allem, wenn ich das Überraschungsmoment auf meiner Seite hatte. Nachdem ich mich mittlerweile so lange in diesem Viertel aufgehalten hatte, kannte ich seine Winkel und Wege sehr gut. Ich beschleunigte meinen Schritt und huschte um ein paar Ecken, bis ich in einer dunklen, verlassenen Gasse landete. Unheimlich, ja, aber sie bot eine gute Möglichkeit für einen Hinterhalt, wenn ich mich in einem Türrahmen versteckte. Leise stieg ich aus meinen hochhackigen Schuhen. Sie waren schwarz mit hübschen Lederriemchen, aber nicht gerade ideal für einen Kampf, es sei denn, ich wollte jemandem mit dem Absatz ein Auge ausstechen. Das war eigentlich gar keine schlechte Idee. Aber ganz so verzweifelt war ich nicht. Da es tagsüber geregnet hatte, war das Pflaster unter meinen nackten Füßen ohne die Schuhe empfindlich kalt.
Ich brauchte jedoch nicht lange zu warten. Einige Sekunden später hörte ich die Schritte und sah den langen Schatten meines Verfolgers auf dem Boden. Er blieb stehen, suchte nach mir. Also wirklich, dachte ich, dieser Bursche war extrem unvorsichtig. Kein Wächter, der jemanden verfolgte, wäre dabei so offensichtlich vorgegangen. Er hätte sich unauffälliger bewegen und sich nicht so leicht verraten sollen. Vielleicht war die Wächterausbildung hier in Russland nicht so gut wie die, mit der ich aufgewachsen war. Nein, das konnte nicht sein. Nicht wenn man bedachte, wie Dimitri sich seiner Feinde entledigt hatte. In der Akademie galt er als ein Gott.
Mein Verfolger ging noch einige Schritte weiter, und das war der Moment, in dem ich aktiv wurde. Ich sprang mit erhobenen Fäusten aus meinem Versteck. „Okay“, rief ich. „Ich wollte nur einige Fragen stellen, also verschwinden Sie, sonst …“
Ich erstarrte. Vor mir stand nicht der Wächter aus dem Klub.
Sondern ein Mensch.
Ein Mädchen, nicht älter als ich und ungefähr gleich groß, mit kurzem dunkelblondem Haar und einem marineblauen Trenchcoat, der ziemlich teuer aussah. Darunter trug sie eine schicke Anzughose und Lederstiefel, die genauso kostspielig wirkten wie der Mantel. Noch verblüffender war jedoch die Tatsache, dass ich sie kannte. Ich hatte sie zweimal in der Nachtigall mit Moroi-Männern reden sehen. Da ich annahm, dass sie einfach eine von den Frauen war, mit denen die Moroi gern flirteten, hatte ich prompt das Interesse an ihr verloren. Welchen Nutzen konnte ein Mensch schon für mich haben?
Ihr Gesicht lag zum Teil im Schatten, aber selbst in der schlechten Beleuchtung konnte ich ihre verärgerte Miene erkennen. Das war nicht ganz das, was ich erwartet hatte. „Du bist es, nicht wahr?“, fragte sie. Apropos Verblüffung. Ihr Englisch klang genauso amerikanisch wie mein eigenes. „Du bist diejenige, die überall in der Stadt eine Spur von Strigoi-Leichen hinterlässt. Ich habe dich heute Abend im Klub gesehen und wusste gleich, dass du es gewesen sein musst.“
„Ich …“ Mehr kam mir nicht über die Lippen, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Ein Mensch, der beiläufig über Strigoi sprach? So etwas hatte es noch nie gegeben. Das war noch erstaunlicher, als hier draußen tatsächlich einem Strigoi über den Weg zu laufen. Ich hatte noch nie zuvor etwas Derartiges erlebt. Doch meine Verblüffung schien sie überhaupt nicht zu kümmern.
„Hör mal, so etwas kannst du einfach nicht machen, okay? Weißt du, wie nervig es ist, mich darum zu kümmern? Diese Hospitanz ist schon schlimm genug, auch ohne dass du solch ein Chaos veranstaltest. Die Polizei hat übrigens die Leiche gefunden, die du im Park liegen gelassen hast. Du kannst dir nicht einmal vorstellen, an wie vielen Strippen ich ziehen musste, um das zu vertuschen.“
„Wer … wer bist du?“, fragte ich endlich. Es stimmte. Ich hatte wirklich eine Leiche im Park zurückgelassen, aber im Ernst, was hätte ich denn sonst tun sollen? Ihn in mein Hotel zurückschleppen und dem Pagen erzählen, mein Freund habe zu viel getrunken?
„Sydney“, sagte das Mädchen erschöpft. „Mein Name ist Sydney. Ich bin die für dieses Gebiet eingeteilte Alchemistin.“
„Die was?“
Sie seufzte laut, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie die Augen verdrehte. „Natürlich. Das erklärt alles.“
„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte ich, nachdem ich endlich die Fassung zurückgewonnen hatte. „So wie ich das sehe, bist du hier diejenige, die eine Menge zu erklären hat.“
„Ach, auch noch frech. Hat man dich hergeschickt, um mich zu testen? Oh Mann. Das ist es.“
Ich wurde langsam wütend. Es gefiel mir gar nicht, zurechtgewiesen zu werden. Erst recht nicht von einem Menschen, der es so klingen ließ, als sei es etwas Schlechtes, Strigoi zu töten.
„Hör mal, ich weiß nicht, wer du bist oder wieso du über diese Dinge Bescheid weißt, aber ich werde nicht hier stehen und …“
Übelkeit überkam mich, und ich spannte mich an, wobei ich mit der Hand unverzüglich nach dem silbernen Pflock griff, den ich stets in der Manteltasche bei mir hatte. Sydney stellte noch immer diese verärgerte Miene zur Schau, aber jetzt war diese angesichts der abrupten Veränderung meiner Körperhaltung mit Verwirrung gemischt. Sie war scharfsinnig, das musste ich ihr lassen.
„Was ist los?“, fragte sie.
„Du wirst dich gleich noch um eine weitere Leiche kümmern müssen“, sagte ich, gerade in dem Moment, als der Strigoi sie angriff.