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GUILLERMO DEL TORO

CHUCK HOGAN

DIE

NACHT

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von

Alexander Lang

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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel THE NIGHT ETERNAL
bei HarperCollins, New York
Copyright © 2011 by Guillermo Del Toro & Chuck Hogan
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: René Nibose-Mistral
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-07191-2
V002
www.heyne.de

Für meine Eltern.

Jetzt weiß ich, dass es ganz

schön viel Arbeit für euch war …

GDT

Für Charlotte – auf ewig

CH

ASCHEREGEN

Aus dem Tagebuch von Ephraim Goodweather

Am zweiten Tag der Dunkelheit hatte man sie alle erwischt. Die Besten, die Klügsten. Die Mächtigen, die Reichen, die Bedeutenden. Abgeordnete und Minister, Wirtschaftsbosse und Intellektuelle, Oppositionsführer und andere Berühmtheiten. Aber sie wurden nicht verwandelt. Sie wurden getötet. Ihre Exekution ging schnell und vor aller Augen vonstatten. Und sie war von ausgesuchter Brutalität.

Nur einige wenige aus jeder Gruppe wurden verschont – alle anderen wurden ausgelöscht. Wurden aus ihren River Houses gezerrt, ihren Dakotas, ihren Beresfords und wie Vieh zusammengetrieben: auf der National Mall in Washington, auf der Nanjing Road in Shanghai, auf dem Roten Platz in Moskau, im Fußballstadion von Kapstadt, im Central Park von New York City. Und dort, in einer Orgie aus Blut und Gewalt, entledigte man sich ihrer.

Es hieß, dass über tausend strigoi die Lexington Avenue hinunter kamen und alle Gebäude rund um den Gramercy Park stürmten. Weiche, manikürte Hände baten und bettelten. Aber ihr ganzes Geld war nutzlos. Ihre zuckenden Körper baumelten von den Straßenlaternen auf der Madison Avenue. Und auf dem Times Square verbrannte wohlgenährtes Fleisch auf über sechs Meter hohen Scheiterhaufen. Die Elite Manhattans erleuchtete – im wahrsten Sinne des Wortes – die leergefegten Straßen, die verschlossenen Läden (»ALLES MUSS RAUS!«) und die dunklen LED-Schirme.

Der Meister hatte sich genau überlegt, wie viele Vampire er benötigte, um die Herrschaft über den Planeten an sich zu reißen, ohne zugleich die Versorgung mit Blut zu gefährden; er ging methodisch, ja geradezu mathematisch vor. Es war nicht nur ein Umsturz – es war eine Säuberungsaktion. Etwa ein Drittel der menschlichen Bevölkerung wurde in den ersten zweiundsiebzig Stunden ausgelöscht – zweiundsiebzig Stunden, die sich im kollektiven Gedächtnis als »Night Zero« einbrannten.

Die Vampirhorden übernahmen die Kontrolle auf den Straßen. Die Polizei, die SWAT-Teams, die U.S. Army – sie alle wurden überrannt. Diejenigen von ihnen, die sich unterwarfen, die sich den Geschöpfen der Nacht auslieferten, wurden auch unter den neuen Herren als Aufseher eingesetzt. Nach einem brutalen darwinistischen Ausleseverfahren machte sich der Meister die gehorsamsten Überlebenden untertan.

Und sein Plan war ein durchschlagender Erfolg. Es gab nun niemanden mehr, der sich ihm in den Weg stellen konnte: Die Alten waren vernichtet, die Macht des Meisters über die Vampire – und dadurch über die Welt – war absolut. Nun wüteten die strigoi nicht länger durch die Städte wie wild gewordene, gierige Zombies, sondern ihre Aktionen waren koordiniert. Wie in einem Bienenstock oder einem Ameisenbau hatte nun jeder von ihnen eine klar definierte Rolle und Aufgabe. Sie waren die Augen des Meisters auf den Straßen. Und sie waren überall. Wie Spinnen hatten sie sich in jeder Ecke eingenistet und sorgten dafür, dass sich die Menschen, die sie am Leben gelassen hatten, in die neue Ordnung fügten.

Am Anfang herrschte Dunkelheit. Nur für einige Sekunden, wenn sie im Zenit stand, konnte man die Sonne erahnen – sonst war ihr Licht völlig verschwunden. Nun, zwei Jahre später, drang die Sonne vielleicht für zwei, drei Stunden am Tag durch die vergiftete Atmosphäre, aber ihr fahles Licht hatte nichts mehr mit jenem hellem Leuchten zu tun, das einst den Planeten gewärmt hatte.

Und doch: Das Erschreckendste war, wie wenig sich geändert hatte. Der Meister hatte sich das Chaos, das in den ersten Monaten herrschte, geschickt zunutze gemacht. Es mangelte so sehr an Nahrungsmitteln, an sauberem Wasser, an öffentlicher Sicherheit, dass sich die Menschen – kaum dass eine Art von Infrastruktur wieder hergestellt war, die Versorgung mit dem Nötigsten einigermaßen funktionierte und das reparierte Stromnetz für Licht in dieser ewigen Nacht sorgte – dankbar unter seine Obhut begaben. Eine Viehherde braucht das Gefühl von Ordnung und Routine – die Grundlagen jeder Machtausübung –, um sich zu unterwerfen.

Und so waren schon nach zwei Wochen die meisten Versorgungssysteme wieder in Betrieb. Wasser, Strom … sogar die Fernsehstationen sendeten wieder. Natürlich waren die Filme und Nachrichten und Sportberichte nur Wiederholungen aus der Zeit davor – aber die Menschen freuten sich trotzdem darüber.

Transportmittel hatten eine zentrale Bedeutung in dieser neuen Welt, denn kaum jemand besaß noch ein eigenes Auto. Jeder Wagen konnte eine potenzielle Bombe sein, und so wurden die meisten von ihnen beschlagnahmt und zerstört. Die verbliebenen Fahrzeuge gehörten zur Polizei, zur Feuerwehr oder zu anderen Versorgungsdiensten, die von jenen Menschen betrieben wurden, die sich den Vampiren gebeugt hatten.

Auch dem Flugverkehr war es nicht besser ergangen. Die einzigen Flugzeuge, die noch in Betrieb waren – kaum mehr als sieben Prozent der Maschinen, die einst um die Erde geflogen waren –, gehörten der Stoneheart Group, jenem multinationalen Konzern, dessen Kontrolle über Nahrungsmittel, Energie und Militärgüter sich der Meister zunutze gemacht hatte.

Silber wurde verboten und damit zu einer äußerst begehrten Schattenwährung, die man gegen Essensgutscheine tauschen konnte. Ja, mit der richtigen Menge an Silber konnte man sich – oder seine Liebsten – sogar von den Farmen freikaufen.

Die Farmen … Sie waren das Einzige, was sich wirklich radikal geändert hatte. (Die Farmen und die Tatsache, dass es kein Erziehungssystem mehr gab – keine Schulen, keine Bücher, keine freien Gedanken mehr.) Sie waren rund um die Uhr in Betrieb, sieben Tage die Woche. Von Experten für Viehzucht mit dem nötigen Grundwissen ausgestattet, errichteten die strigoi ein biologisches Kastensystem. Sie bevorzugten B positiv. Natürlich diente ihnen jede Blutgruppe als Nahrung, aber B positiv hatte offenbar einen erhöhten Nährwert – so wie unterschiedliche Milchsorten – oder verdarb nicht so schnell außerhalb des menschlichen Körpers und konnte so besser aufbewahrt werden. Die Menschen mit anderen Blutgruppen bildeten die niederen Kasten, sozusagen die Arbeiterklasse; diejenigen mit B positiv waren die Filetstücke. Sie wurden gehätschelt und mit ausgewählten Nährstoffen versorgt, ja, sie bekamen sogar die doppelte Menge an UV-Licht, damit ihr Blut genug Vitamin D aufbauen konnte. Ihr Tagesablauf, ihr Hormonspiegel und schließlich auch ihre Fortpflanzung wurden streng kontrolliert und dem Bedarf angepasst.

Das also ist die Welt, in der wir jetzt leben. Die Menschen gehen zur Arbeit, sehen fern, essen ihre Mahlzeiten und legen sich nachts ins Bett. Aber dort, in der Dunkelheit und Stille, weinen und zittern sie, weil sie wissen, dass die, die ihnen nahestehen – ja, sogar die, mit denen sie das Bett teilen – von einem Moment auf den anderen verschwinden können, verschluckt vom dunklen Beton der Farmen. Und sie beißen sich auf die Lippen und wischen sich die Tränen aus den Augen, weil sie keine Wahl haben: Sie müssen sich unterwerfen. Müssen für jene, die von ihnen abhängig sind – ihre betagten Eltern oder ihre kleinen Kinder – da sein. Und so haben sie immer eine Rechtfertigung für ihre Angst. Und für ihre Feigheit.

Wer hätte gedacht, dass wir einmal mit nostalgischer Wehmut auf die Zeit der Jahrhundertwende zurückblicken würden? Jene Zeit politischer Verwirrung und ökonomischer Turbulenzen, die dem Zusammenbruch vorausging – eine goldene Zeit im Vergleich zur Gegenwart. Alles, was wir waren, alles, was unsere Väter und deren Väter erschaffen hatten – verloren, vernichtet. Jetzt sind wir nicht mehr als eine Herde Vieh.

Und diejenigen von uns, die noch am Leben sind und sich nicht unterworfen haben … sind die Anomalität. Das Ungeziefer. Die Gejagten.

Und wir haben keine Mittel, uns gegen unsere Jäger zur Wehr zu setzen.

Kelton Street, Woodside, Queens

Ein Schrei erklang in der Ferne und riss Ephraim Goodweather aus dem Schlaf. Er fuhr blitzschnell auf, rollte sich von dem Sofa, auf dem er lag, griff nach dem Silberschwert, das aus der Tasche auf dem Boden ragte, und ließ – alles in einer einzigen fließenden Bewegung – die Klinge durch die Luft zischen.

Sein heiserer, sich überschlagender Kampfschrei, Nachhall seiner Alpträume, brach jäh ab. Das Schwert zitterte in seiner Hand.

Er war allein.

Kellys Wohnzimmer … Kellys Sofa … All die vertrauten Dinge … Er war im Haus seiner Exfrau. Und der Schrei, den er im Traum gehört hatte, war der Ton einer Sirene, die einige Straßen weiter losgegangen war.

Wieder dieser Traum! Von Feuer und Gestalten aus glänzendem Licht, die vage an Menschen erinnerten. Ein Kampf. Im Traum kämpfte er mit diesen Gestalten – bis das Licht so gleißend wurde, dass es alles verschluckte. Und immer wachte er völlig erschöpft auf, als ob er tatsächlich mit jemandem gekämpft hätte. Der Traum kam wie aus dem Nichts; er träumte auf die normalste Weise vor sich hin – er war bei einem Picknick oder steckte in einem Verkehrsstau oder saß im Büro –, und plötzlich wurde alles ganz hell, und die silbrig glänzenden Gestalten erschienen.

Er tastete nach den anderen Waffen in der umgerüsteten Baseballtasche, die er in einer geplünderten Modell’s-Filiale auf der Flatbush Avenue gefunden hatte. Er war in Queens. Okay? Okay! Allmählich kam die Erinnerung zurück. Und mit ihr die Kopfschmerzen – er hatte gestern Abend, wie so oft in letzter Zeit, zuviel getrunken und einen Blackout gehabt. Er steckte das Schwert in die Tasche zurück, setzte sich auf das Sofa und legte den Kopf in die Hände, als wäre er eine zerbrechliche Kristallkugel. Sein Haar fühlte sich wirr und borstig an, seine Schläfen pochten.

Die Hölle auf Erden. Ja, das ist es!

Die Wirklichkeit war der eigentliche Alptraum. Eph war noch am Leben und er war noch ein Mensch – das war nicht viel, aber immerhin.

Ein weiterer Tag in der Hölle …

Das Letzte, an das er sich von seinem Traum erinnerte, jener Teil, der an seinem Bewusstsein haftete wie eine klebrige Nachgeburt, war ein Bild von Zack. Sein Sohn Zack – umgeben von gleißendem, silbernem Licht. Und aus diesem Licht waren die Gestalten gekommen. »Dad!«, hatte Zack gerufen oder geflüstert, und sein Blick hatte sich an den seines Vaters geklammert, und dann hatte das Licht sie alle verschluckt.

Der Gedanke daran ließ Eph zittern. Warum fand er keine Ruhe, keinen Trost in seinen Träumen? Waren Träume nicht dafür da? Sollten sie nicht diesem Gefängnis, das sich Realität nannte, Bilder vom Entkommen entgegensetzen? Was hätte er nicht für einen jener rührseligen Träume von früher gegeben, für einen Löffel Zucker für sein geplagtes Unterbewusstsein:

Eph und Kelly kurz nach dem Collegeabschluss, wie sie händchenhaltend über einen Flohmarkt schlendern und nach billigen Möbeln und anderem Krimskrams Ausschau halten, mit dem sie ihre erste gemeinsame Wohnung einrichten wollen …

Zack als Dreikäsehoch, der mit seinen dicken Füßen durch das Haus stapft, ein kleiner Tyrann in Windeln …

Eph und Kelly und Zack beim Abendessen, die Hände vor den Tellern gefaltet, während Z mit ernster Miene das Gebet aufsagt, das er auswendig gelernt hat …

Nein, jetzt waren Ephs Träume ganz anders, glichen eher verwackelten Snuff-Filmen. Menschen aus seiner Vergangenheit – Freunde oder Bekannte oder Feinde – wurden gejagt und verschleppt, und er musste dabei zusehen, unfähig, ihnen zu helfen, unfähig, sich abzuwenden …

Er stand wieder auf, versuchte das Gleichgewicht zu halten. Ging zu dem großen Fenster, von dem aus man den Hinterhof sah. Der LaGuardia Airport war nicht weit entfernt, aber der Anblick eines Flugzeugs, das Geräusch eines Düsenjets – das alles war inzwischen äußerst selten geworden. Die Lichter waren vom Himmel verschwunden. Eph musste an den 11. September 2001 denken – jenen Tag, an dem der leere Himmel ihnen allen so unwirklich erschienen war – und daran, was es für eine Erleichterung gewesen war, als eine Woche später die Flugzeuge zurückgekehrt waren. Jetzt gab es keine Erleichterung. Keine Rückkehr zur Normalität.

Wie spät war es wohl? Irgendwann am Vormittag – das sagte ihm jedenfalls seine innere Uhr, die noch nach dem Tag-Nacht-Rhythmus funktionierte. Und es war Sommer, zumindest dem Kalender nach, also hätte die Sonne hoch und heiß am Himmel stehen sollen.

Stattdessen war es dunkel. Eine ewige Dunkelheit, so schien es. Die natürliche Abfolge von Tag und Nacht war aufgehoben; die Sonne wurde von einem düsteren Schleier aus Asche verdeckt, der sich am Himmel ausgebreitet hatte – die Folge der weltweiten Nuklearexplosionen und Vulkanausbrüche – und kein Licht und keine Wärme mehr durchließ. Der Planet hatte sich in ein blasses, ausgemergeltes Niemandsland verwandelt, eine Welt aus Kälte und Finsternis.

Der perfekte Lebensraum für Vampire.

Und wenn man den allerletzten Live-Nachrichten Glauben schenken wollte – die wie Pornos im Internet hin und her geschickt worden waren –, dann war es überall auf der Erde dasselbe: ein sich verdunkelnder Himmel, schwarzer Regen, finstere Wolken, die sich zusammenballten und wie riesige Felsen in der Luft hingen … Zog man die Rotation und die Windverhältnisse auf dem Planeten in Betracht, so waren der Nord- und Südpol die einzigen Orte, an denen noch wie früher die Sonne schien. Theoretisch. Denn niemand wusste das genau.

Der radioaktive Fallout nach den Explosionen und Kernschmelzen an den zahllosen »Ground Zeros« war äußerst intensiv gewesen; Eph und die anderen hatten beinahe zwei Monate tief unter der Erde verbringen müssen, im North River Tunnel unter dem Hudson. Erst als Stürme und Windböen den kontaminierten Staub in der Atmosphäre verteilt und schwere Regenfälle die Radioaktivität aus der Luft gewaschen hatten, war es wieder möglich, zumindest jene Gebiete zu betreten, die den Explosionen nicht direkt ausgesetzt gewesen waren.

Die langfristigen Folgen dieses brutalen Eingriffs in das Ökosystem des Planeten würden verheerend sein: die Auswirkungen auf die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit, die Schäden im Genom, die Krebserkrankungen … Aber niemand machte sich über die Zukunft Gedanken – zwei Jahre nach den Explosionen, zwei Jahre nach der Machtübernahme der Vampire lebte die Menschheit in einer ewigen Gegenwart. In einem ewigen Alptraum.

Die Sirene verstummte. Diese Alarmsysteme, die früher dazu gedacht gewesen waren, vor menschlichen Eindringlingen zu warnen, schlugen immer noch gelegentlich an; aber längst nicht mehr so oft wie in den ersten Tagen nach den Explosionen, als sie ständig geheult hatten – wie der Todesschrei einer sterbenden Spezies, einer vergehenden Zivilisation.

Nun, da es wieder still war, lauschte Eph seinerseits auf Eindringlinge. Durch Fenster, durch modrige Keller, durch staubige Dachböden – die Vampire konnten von überall her kommen. Selbst in den wenigen Stunden am Tag, in denen die Sonne durch die Asche brach – ein fahles bernsteinfarbenes Licht, das irgendwie unnatürlich wirkte –, war man nicht sicher vor ihnen. Dies waren die einzigen Stunden, in denen sich Eph und die anderen in der Stadt bewegen konnten, ohne eine direkte Konfrontation mit den strigoi zu riskieren, aber es waren auch die gefährlichsten Stunden, denn die Straßen wurden von Überläufern bewacht – Menschen, die glaubten, ihrem Schicksal entgehen zu können, indem sie den Vampiren zu Diensten waren.

Er drückte die Stirn gegen das Fenster. Das Glas war kalt und fühlte sich gut an; es linderte das Dröhnen in seinem Kopf.

Das Schlimmste war zu wissen. Zu wissen, dass man verrückt war, machte einen nicht weniger verrückt; zu wissen, dass man ertrank, ließ einen nicht weniger ertrinken, ganz im Gegenteil: Es trug dazu bei, dass man noch panischer wurde. Zu wissen, dass es einmal eine bessere, hellere Welt gegeben hatte, war ebenso ein Grund für Ephs Qual wie die Vampirseuche selbst.

Er brauchte Essen. Proteine. Aber in diesem Haus war nichts mehr; schon vor Monaten hatte er sämtliche Nahrungsmittel verbraucht, die Kelly gelagert hatte – inklusive des Alkohols. Ja, er hatte sogar einen geheimen Butterfinger-Vorrat entdeckt, den Kellys damaliger Freund Matt in seinem Zimmer gehortet hatte.

Eph wandte sich vom Fenster ab und blickte sich im Wohnzimmer um, als würde er es zum ersten Mal sehen. Wie war er nur hierher gekommen? Warum war er hierher gekommen? Er sah die Kratzer an der Wand, dort, wo er Matt – Matt, den Vampir – getötet hatte. Geköpft hatte. Das war in jenen Anfangstagen gewesen, als einen Vampir zu töten genauso beängstigend gewesen war wie der Gedanke, von einem Vampir verwandelt zu werden. Selbst wenn in diesem Fall der Vampir der Freund seiner Exfrau gewesen war, der Eph als Vaterfigur in Zacks Leben zu ersetzen gedroht hatte.

Aber dieser Reflex einer nur allzu menschlichen Moral gehörte längst der Vergangenheit an. Die Welt hatte sich verändert, und Dr. Ephraim Goodweather, einst ein bedeutender Epidemiologe in Diensten der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC, hatte sich mit ihr verändert. Das Vampirvirus hatte die gesamte Menschheit befallen. Hatte die menschliche Zivilisation ausgelöscht. Wer sich gegen die Seuche zur Wehr gesetzt hatte – und war er noch so stark gewesen –, war getötet oder verwandelt worden, und übrig waren jene geblieben, die sich dem Willen des Meisters gebeugt hatten und nun seinen Befehlen folgten.

Eph ging wieder zur Waffentasche, öffnete ein Seitenfach, das eigentlich für Baseballhandschuhe oder Schweißbänder gedacht war, und zog ein leicht zerfleddertes Moleskine-Notizbuch heraus. Was er nicht aufschrieb, vergaß er. Und so schrieb er alles auf, das Banale ebenso wie das Tiefsinnige. Alles musste dokumentiert, archiviert werden – es war wie ein innerer Zwang. Sein Tagebuch war ein nie endender Brief an seinen Sohn. Es enthielt die Geschichte seiner Suche nach Zack. Und es enthielt – schließlich war er Wissenschaftler – die Theorien, die er in Bezug auf das Vampirvirus anstellte, die Beobachtungen, die er gemacht, die Erkenntnisse, die er gewonnen hatte.

Außerdem war es eine gute Methode, um bei Verstand zu bleiben – oder zumindest den Anschein zu erwecken.

Seine Handschrift war in den letzten zwei Jahren so unleserlich geworden, dass er die Einträge kaum entziffern konnte. Er notierte jeden Tag das Datum – die einzige Möglichkeit, ohne Kalender das Vergehen der Zeit zu dokumentieren. Nicht dass das irgendetwas bedeutet hätte …

Aber heute bedeutete es etwas. Als Eph das Datum aufschrieb, war es, als würde sein Herz für eine Sekunde aussetzen. Natürlich! Wie hatte er das nur vergessen können? Das war der Grund, warum er heute hier war, hier in Kellys Haus.

Heute war Zacks dreizehnter Geburtstag.

EINTRITT NUR UNTER LEBENSGEFAHR!, stand auf dem Schild, das an der Tür im ersten Stock hing. Die Worte waren mit dickem Filzstift geschrieben und mit Grabsteinen, Skeletten und Kreuzen verziert. Zack hatte das Schild gemalt, als er sieben oder acht war; Eph wusste es nicht mehr ganz genau.

Das Zimmer seines Sohnes war in mehr oder weniger demselben Zustand, in dem Zack es zuletzt verlassen hatte. Es glich darin wohl allen Zimmern verschwundener Kinder – Orte, an denen die Zeit ebenso still stand wie in den Herzen der Eltern. Immer wieder kehrte Eph in dieses Zimmer zurück, wie ein Taucher zu einem versunkenen Schiff. Zacks Zimmer war sein geheimes Museum, sein Fenster in die Vergangenheit.

Er setzte sich auf das Bett, spürte das vertraute Nachgeben der Matratze, hörte das leise Knarren des Holzgestells. Alles in diesem Raum war ihm vertraut – all die Dinge, die Zack in seinem früheren Leben berührt hatte. Eph war der Kurator dieses Museums; er kannte jedes Spielzeug, jedes Stofftier, jedes T-Shirt, jedes Buch. Und doch war er nicht der Ansicht, dass er sich hier in der Vergangenheit verlor. Man ging nicht in die Kirche oder Synagoge oder Moschee, um sich in etwas zu verlieren; man ging dorthin, um seinem Glauben Ausdruck zu verleihen. Zacks Zimmer war wie ein Schrein, dort – und nur dort – spürte Eph eine Art inneren Frieden und fühlte sich in seiner Überzeugung bestätigt.

Seiner Überzeugung, dass Zack noch am Leben war.

Das war kein Wunschdenken, keine blinde Hoffnung. Nein, Eph wusste, dass sein Sohn noch am Leben war. Und dass er noch nicht verwandelt war.

Früher – in der Zeit davor – hatten sich die Eltern eines verschwundenen Kindes an jemanden wenden können: an die Polizei, an Hunderte, wenn nicht Tausende anderer Menschen, die Mitleid mit ihnen hatten und sich an der Suche beteiligten. Zack jedoch war in einer Welt ohne Polizei, ohne menschliche Gesetze entführt worden. Und es gab nicht den geringsten Zweifel, wer der Täter war: Zack war von jener Kreatur verschleppt worden, die einst seine Mutter gewesen war. Aber hinter ihr verbarg sich ein noch viel mächtigeres, dunkleres Wesen.

Der Herr der Vampire. Der Meister.

Was Eph nicht wusste, war, warum Zack entführt worden war. Vermutlich um ihn, seinen Vater, zu verletzen. Und um die Gier seiner Mutter zu stillen, die es nach jenen verlangte, die sie früher einmal geliebt hatte. Um sich auszubreiten, machte sich das Vampirvirus auf perverse Weise die menschliche Liebe zunutze: Wenn man einen Menschen in einen strigoi verwandelte, war man auf ewig mit ihm verbunden, in einer Form der Existenz, in der die Probleme und Sorgen des menschlichen Daseins keinerlei Rolle mehr spielten, einer Existenz, in der es nur noch um Nahrung, um Fortpflanzung, ums Überleben ging.

Deshalb war Kelly – die Vampir-Kelly – so fixiert auf ihren Sohn, und deshalb war es ihr trotz Ephs heftiger Gegenwehr gelungen, mit dem Jungen zu entkommen.

Doch genau deshalb – aufgrund derselben Obsession, jene zu verwandeln, die einem früher am nächsten gestanden hatten – wusste Eph auch, dass Zack nicht verwandelt worden war. Denn hätten der Meister oder Kelly den Jungen mit dem Virus infiziert, wäre Zack längst zu ihm zurückgekehrt: als Vampir. Diese Vorstellung – seinem untoten Sohn von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen – war in den letzten zwei Jahren Ephs ständiger Begleiter gewesen.

Blieb nur die Frage: Warum? Warum hatte der Meister Zack nicht verwandelt? Was hielt ihn davon ab? War der lebende, nicht-verwandelte Zack eine nützliche Waffe gegen Eph und gegen den gesamten Widerstand? Oder gab es noch einen anderen Grund?

All das lastete schwer auf Ephs Schultern. Wenn es um seinen Sohn ging, war er verwundbar. Aber es war eine Schwäche, aus der er zugleich seine Kraft schöpfte: Es war unmöglich für ihn, seinen Sohn loszulassen.

Wo war Zack in diesem Moment? War er eingesperrt? Wurde er gefoltert? Gedanken wie scharfe Klauen, die sich in Ephs Bewusstsein geschlagen hatten … Und so war es das Schlimmste für ihn, nicht zu wissen. Während die anderen – Vasiliy, Nora, Gus – sich mit aller Kraft dem Widerstand gegen die Vampire widmen konnten, musste er immer daran denken, dass sein Sohn eine Geisel in diesem Krieg war.

Wenn er in Zacks Zimmer war, fühlte er sich etwas weniger allein. Heute jedoch hatte dieser Ort den geradezu gegenteiligen Effekt – Eph hatte sich noch nie so allein gefühlt wie in diesem Augenblick.

Wieder musste er an Kellys Exfreund Matt denken – den er in diesem Haus getötet hatte –, daran, wie er sich über Matts Einfluss auf seinen Sohn aufgeregt hatte. Wie lächerlich! Jetzt stand Zack unter dem Einfluss einer ganz anderen Kreatur, eines wirklichen Monsters …

Eph spürte, wie ihn die Traurigkeit übermannte. Er schlug das Notizbuch auf und notierte diese eine Frage, die Frage, die er in all der Zeit immer wieder notiert hatte:

»Wo ist Zack?«

Dann ging er, wie er es oft tat, die Einträge der letzten paar Tage durch. Und blieb an einigen Worten hängen, die offenbar mit Nora in Verbindung standen.

»Gerichtsmedizin« … »Treffen« … »Bei Sonnenlicht«

Eph kniff die Augen zusammen, versuchte sich zu erinnern.

Verdammt!

Ja, das war es: Er hatte sich mit Nora und ihrer Mutter am früheren Hauptsitz der New Yorker Gerichtsmedizin verabredet. In Manhattan. Heute!

Die Silberklingen klirrten, als er nach der Baseballtasche griff und sie sich über die Schulter warf; die Schwertgriffe ragten hinter ihm auf wie lederbezogene Antennen. Dann sah er sich noch einmal im Zimmer um – und aus irgendeinem Grund fiel ihm neben dem CD-Spieler auf der Kommode eine alte Transformers-Figur auf. Ihr Name war Sideswipe, wenn Eph sich recht erinnerte; er hatte sie Zack vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt. Einer von Sideswipes Armen wies bereits deutliche Abnutzungserscheinungen auf. Eph nahm die Figur in die Hand und drückte daran herum – und dachte daran, wie Zack früher mit scheinbar nie endender Begeisterung Sideswipe von einem Auto zu einem Roboter und wieder zu einem Auto verwandelt hatte, ganz so, als wäre es ein Rubik’s Cube.

»Alles Gute zum Geburtstag, Z«, flüsterte er, steckte die Spielzeugfigur zu den Schwertern in die Tasche und verließ das Zimmer seines Sohnes.

Woodside

Die frühere Kelly Goodweather erreichte ihr früheres Haus in der Kelton Street nur wenige Minuten, nachdem Eph es verlassen hatte. Sie war ihm – diesem Menschen, den sie einmal geliebt hatte – auf der Spur, seit sie vor etwa fünfzehn Stunden das Pulsieren seines Blutes vernommen hatte. Doch dann war mittags der Himmel aufgerissen, und für jene zwei, drei Stunden fahlen, aber für Vampire tödlichen Sonnenlichts hatte sie sich in einem Keller verstecken müssen. Dort hatte sie entscheidende Minuten verloren.

Zwei schwarzäugige Späher begleiteten Kelly – zwei jener Kinder, die damals während der Sonnenfinsternis, die den Beginn der Vampirseuche in New York begleitet hatte, erblindet und darauf vom Meister persönlich verwandelt worden waren. Trotz des fehlenden Augenlichts nahmen sie alles um sich herum wahr, schärfer und deutlicher als andere Vampire. Wie hungrige Spinnen liefen sie auf allen Vieren neben Kelly her.

Normalerweise hätte Kellys vampirischer Instinkt, der sie zu einst geliebten Menschen trieb, ausgereicht, um Ephs Aufenthaltsort zu bestimmen. Doch der Alkohol und all die anderen Aufputsch- und Beruhigungsmittel, die er regelmäßig konsumierte, beeinflussten sein Nervensystem und die Gehirntätigkeit so sehr, dass sein »Signal« stark abgeschwächt wurde – so wie eine Radioübertragung durch atmosphärische Störungen.

Der Meister aber hatte ein spezielles Interesse an Ephraim Goodweather; vor allem wollte er wissen, wie und wohin sich Eph innerhalb der Stadt bewegte. Deshalb hatte er Kelly die beiden Späher mitgegeben – früher Bruder und Schwester, waren sie jetzt nicht mehr auseinander zu halten, nachdem ihr Haar ausgefallen war und sie ihre Genitalien und anderen menschlichen Geschlechtsmerkmale verloren hatten. Die beiden liefen ihr voraus auf das Haus zu und warteten aufgeregt am Gartenzaun, bis sie sie endlich einholte.

Kelly öffnete das Gartentor und schlich vorsichtig einmal um das Haus herum. Ihre Vampirsinne registrierten keine Anzeichen für eine Falle. Schließlich ging sie zu einem der kleinen Fenster im Erdgeschoss, schlug mit dem Handballen ein Loch in das Glas, griff hindurch und zog den Fenstergriff nach unten.

Blitzschnell sprangen die Späher an ihr vorbei in das Haus. Kelly schob zunächst ein nacktes, dreckiges Bein durch das Fenster und verkrümmte sich dann mühelos so weit, dass ihr Körper durch die schmale Öffnung passte. Im Wohnzimmer stiegen die Späher wie Polizeihunde über das Sofa und suchten nach einer Spur, während Kelly für einen Moment still verharrte und in die Wohnung hinein horchte.

Sie waren allein.

Sie waren zu spät gekommen.

Aber Eph war hier gewesen. Und das war noch nicht allzu lange her.

Jetzt liefen die Späher zu einem der Fenster, die nach Norden gingen, und berührten das Glas, als könnten sie dadurch vergangene Ereignisse wieder aufleben lassen. Dann wandten sie sich unvermittelt ab und rannten die Treppe hoch. Kelly folgte ihnen und fand sie schließlich in Zacks Zimmer, wo sie hektisch hin und her sprangen, all ihre Sinne auf die Spuren gerichtet, die Eph hier hinterlassen hatte – wie Tiere, die von einem überwältigenden, ihnen jedoch unverständlichen Impuls geleitet wurden.

Kelly sah sich um. Die Hitze, die ihr vampirischer Stoffwechsel erzeugte, ließ die Temperatur im Raum um einige Grad ansteigen. Im Gegensatz zu Eph überkamen sie hier – in ihrem früheren Haus, im ehemaligen Zimmer ihres Sohnes – keinerlei nostalgische Empfindungen. Keine Wehmut. Kein Gefühl des Bedauerns. Ja, sie hatte überhaupt keine emotionale Verbindung mehr zu diesem Ort, so wie sie auch keine emotionale Verbindung mehr zu ihrer menschlichen Vergangenheit hatte. Der Schmetterling blickt nicht auf sein Leben als Raupe zurück – er fliegt einfach davon.

Ihre Gefühle waren nun anderer Art, und das stärkste dieser neuen Gefühle empfand sie jetzt – als plötzlich ein Summen in ihrem Körper erklang. Etwas war in ihrem Kopf, war überall in ihr. Eine Präsenz. Der Meister.

Der Meister sah mit ihren Augen. Fühlte mit ihren Sinnen. Erkannte, dass Ephraim Goodweather vor Kurzem hier gewesen war …

Und dann, so plötzlich, wie es gekommen war, verstummte das Summen wieder. Kelly spürte keine Vorwürfe von Seiten des Meisters dafür, dass sie Eph so knapp verpasst hatte. Nein, sie spürte, dass sie dem Herrn der Vampire nach wie vor von großem Nutzen war – wegen ihrer Verbindung zu Eph.

Und wegen ihrer Verbindung zu Zack.

Noch immer sehnte sich Kelly Goodweather danach, ihren Sohn in einen Vampir zu verwandeln. Dieses Verlangen erzeugte eine Leere in ihr. Sie brauchte ihren Sohn, um Vollkommenheit zu erlangen; alles andere widersprach ihrer vampirischen Natur. Aber sie ertrug den nagenden Schmerz in ihrem Inneren – weil der Meister es so wollte. Es war sein Wille, dass Zack ein Mensch blieb. Dass ihr Sohn unvollendet blieb. Der Meister hatte ihr keinen Grund dafür genannt – es stand ihr offenbar noch nicht zu, diesen Grund zu kennen.

Alles, was ihr zustand, war, Zack an der Seite des Meisters zu sehen.

Während Kelly die Treppe wieder hinunterging, strichen die Späher um ihre Beine. Sie durchquerte das Wohnzimmer und sprang durch die Fensteröffnung nach draußen. Es hatte inzwischen zu regnen begonnen; dicke, schwarze Tropfen prasselten auf Kellys erhitzte Haut und verdampften zu winzigen Wölkchen. Sie stand in der Mitte der Straße. Lauschte. Spürte Ephs pulsierendes Blut … Nun, da sich der Alkohol langsam daraus verflüchtigte, war es wieder deutlicher.

Einen Schweif aus Dampf hinter sich lassend, lief Kelly die Straße hinunter, die beiden Späher ihr immer einen Schritt voraus. Doch dann, während sie sich einer U-Bahn-Station näherten, wurde das Signal wieder schwächer. Die Distanz zwischen ihnen und Eph nahm schlagartig zu. Er war in einem Zug.

Er war auf dem Weg zurück nach Manhattan.