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© 2011 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe: 978-3-99003-546-7
ISBN e-book: 978-3-99026-492-8
Lektorat: Angelika Glock
Umschlagfoto: Cyrill Seifert
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
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AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND
Juliette besteigt in Neuchâtel den Zug Richtung Zürich, von wo aus sie direkt nach Rorschach fahren kann.
Beim nächsten Halteort steigen zwei Damen in ihrem Alter ein. Juliette blickt kurz hinüber und erkennt eine davon, die öfter mit ihrem Partner in ihrem Restaurant einkehrte.
„Hallo.“
„Guten Tag, sie arbeiten doch in Auvernier, ja?“
„Genau, Sie waren schon oft bei uns zu Besuch.“
„Richtig, ich komme gerne dorthin.“
„Danke.“
„Wenn ich fragen darf, wo fahren sie hin?“ fragt die eine.
„Ich fahre nach Rorschach, Verwandte besuchen.“
„Aha, übrigens, ich bin Catherine, und sie heißt Helène.“
„Ach so. Und macht ihr einen Ausflug?“
„Nein“, lächelt Catherine. „Wir haben uns bei einem Wettbewerb angemeldet. Es geht darum, wer auf besonders spezielle oder kuriose Art seinen Partner kennengelernt hat. Wir mussten alles aufschreiben und einsenden. Helène und ich haben es unter die ersten 15 geschafft. Jetzt gehen wir zum Finale. Der oder die Siegerin darf zwei Wochen nach Mauritius.“
„Wow, nicht schlecht.“
Da Juliette nichts zum Lesen mitgenommen hat, fragt sie etwas schüchtern:
„Wie habt ihr den eure Partner kennengelernt?“
Catherine beginnt zu erzählen:
„Ich war damals 23 Jahre alt. Nach der Abschlussfeier meines Studiums in Zürich stieg ich in den Zug nach Biel. Ich wollte mich an den letzten freien Platz setzen, sah jedoch, dass dieser ziemlich dreckig war. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu irgendjemandem hinzusetzen. Doch kaum hatte ich mich gesetzt, stand eine Sitzreihe weiter vorne ein älterer Herr auf, der offenbar gemerkt hatte, dass er im falschen Zug sitzt. Ich stand umgehend auf und setzte mich sogleich in das leere Viererabteil. Auf dem Gleis gegenüber stand auch ein Zug. Auf der gleichen Höhe setzte sich ein junger, gut aussehender Mann und blickte kurz herüber. Ich war wie erstarrt und wäre am liebsten wieder ausgestiegen. Er blickte abermals herüber und lächelte mich kurz an. Ich errötete, und mir wurde heiß. Er zwinkerte mit dem einen Auge und winkte. Ich konnte nicht mehr ruhig sitzen und wollte aufstehen. In diesem Moment setzte sich sein Zug in Bewegung. Alles aus, dachte ich. Doch beinahe gleichzeitig fuhr auch mein Zug ab. Da er etwas schneller fuhr, holten wir den anderen Zug wieder ein. Plötzlich waren wir gleich schnell, und der Zufall wollte es, dass wir uns wieder „gegenübersaßen“. Er lächelte mich abermals an und machte mit der Hand eine Geste wie beim Telefonieren.
Ich suchte wie wild in meiner Handtasche einen Zettel und einen Schreiber. Dann begann er, für mich mit Handzeichen seine Telefonnummer in die Luft zu malen. Ich wusste, dass ich keine Sekunde verlieren durfte. Prompt wechselte mein Zug das Gleis, und zwischen uns standen ein paar abgestellte Wagen. Trotzdem fuhren wir immer noch auf gleicher Höhe, wie das ja oft bei Ausfahrten der Fall ist, als wir uns wieder erblickten. Dann begann er:
0, dann 4, dann 1, danach 8. Ich schrieb unglaublich schnell auf. Dann merkte ich, dass mein Zug beschleunigte. Ich sprang hoch und rannte einen Wagen weiter hinten in die erste Klasse. Er sah mich zum Glück noch und machte sofort weiter. 7, 6, 1, 3 und 9. Erneut fuhr ein einfahrender Zug zwischen unsere Züge. Doch ich wusste, dass da noch eine Ziffer fehlte. Als der einfahrende Zug vorbei war, konnte ich ihn nicht mehr sehen. Doch immerhin, neun von zehn Ziffern hatte ich beisammen. Es gibt also zehn Möglichkeiten.
Zu Hause setzte ich mich sofort ans Telefon und bei dem vierten Versuch hatte ich Glück. Ich weinte vor Freude. Wir hatten uns fürs darauffolgende Wochenende verabredet und uns dann näher kennengelernt. Zwei Jahre später haben wir geheiratet und wohnen heute in Biel.“
„Das ist wirklich was Besonderes. Eine schöne Geschichte.“
Juliette stellt sich vor, wie überglücklich Catherine war, als sie seine Stimme am anderen Telefon hörte. Dann fragt sie:
„Wie war es bei Ihnen, Helène?“
„Ich war mit einer Schulfreundin in Lugano in den Ferien. Wir hatten ein Auto gemietet und jeden Tag Ausflüge gemacht. In einer ländlichen Gegend, in der Nähe der Grenze bei Camedo, fuhr ich etwas zu schnell. Auf der schmalen Straße, auf der zwei entgegenkommende Autos nur an bestimmten Stellen passieren konnten, stießen wir mit einem anderen Auto zusammen. Zum Glück blieben wir unverletzt. Wir stiegen aus und fürchteten uns, angebrüllt zu werden. Der junge Mann aus dem anderen Wagen war zuerst etwas mürrisch, dann konnten wir uns aber entschuldigen. Er gefiel mir eigentlich auf Anhieb. Als wir dann unsere Wagen genauer betrachteten, fiel mir auf, dass er exakt dieselbe fünfstellige Autonummer aus Solothurn hatte, wie wir an unserem Mietwagen aus dem Tessin. Somit lernten wir uns besser kennen und trafen uns danach ab und zu einmal. Dann verlor sich aber der Kontakt wieder. Ein Jahr später traf ich ihn überraschend während meinen Ferien in Andorra wieder. Zufälligerweise reiste er einen Tag später ab, als ich ankam. Wir hatten sogar dasselbe Hotel gebucht und tauschten unsere Adressen ein zweites Mal aus, da wir sie nicht mehr auswendig wussten. Wieder zurück in Biel, traf ich ihn öfter in Solothurn, und wir verliebten uns. Nur wenige Wochen nach Catherine heiratete ich ebenfalls.“
„Ich finde beide Geschichte unglaublich faszinierend. Wenn man bedenkt, dass es so viele Zufälle gibt. Jeden Tag, Hunderte davon, aber meistens im ganzen Leben nur einen, der alles ändern kann.“
„Das stimmt“, erwidert Helène. „Schon allein wenn man beim Einkaufen jemanden trifft, den man schon eine Weile nicht mehr gesehen hat, ist das ein Zufall, wenn auch nicht so ein besonderer.“
Juliette weiß, dass auch ihr so etwas passiert ist: Hätte sie nicht noch in den Spielzeugladen gehen wollen, wäre sie Sébastien nicht über den Weg gelaufen. Hätte sie nicht den Schirm im Bus vergessen und wäre nicht wieder ausgestiegen, würde sie nichts von Jeans Seitensprung wissen. Es wäre alles anders gekommen.
Sie hat zwar Jean auf nicht allzu interessante Weise kennengelernt (im Kino), doch vielleicht ist es dieser Zufall der Begegnung im Bus, der ihr Leben verändern sollte.
„Ich habe mir dann zur Angewohnheit gemacht, solche schönen und interessanten Geschichten zu sammeln. Da gibt es wirklich total verrücktes Zeug.“
„Sie dürfen gerne noch eine erzählen“, sagt Juliette ziemlich fasziniert.
„Vielleicht die außergewöhnlichste in meiner Sammlung ist eine aus Mailand:
Ein 21-jähriger Angestellter einer italienischen Fluggesellschaft, Nino war sein Name, liebte ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Jenes Mädchen aber, Sofia heiß sie, liebte einen anderen und beachtete Nino kaum. Das brach ihm fast das Herz, und er beschloss, weiter in den Süden zu ziehen, um von seinen Gedanken wegzukommen.
Er wohnte eine Zeit lang in der Nähe von Neapel, arbeitete danach auf der Insel Capri. Eines Tages machte eben jenes Mädchen mit ihrer Familie für eine Woche auf Capri Urlaub. Nino hatte das Vergnügen, ihre Zimmer zu reinigen, da er für jenes Hotel arbeitete. Doch das Mädchen zeigte ihm immer noch die kalte Schulter und reiste nach einer Woche mit ihrer Familie wieder ab, ohne sich zu verabschieden. Nino, wieder zurück in Neapel, lernte dann eine andere junge Dame kennen, welche aus Malta eingewandert war. Sie verliebten sich und wollten etwas später heiraten. Doch einen Tag vor der Hochzeit kam die junge Malteserin bei einem tragischen Autounfall ums Leben. Nino spielte mit dem Gedanken, sich umzubringen, brachte es aber dann doch nicht fertig.
Fast zwei Jahre später kehrte er Italien den Rücken und wanderte nach Toronto, Kanada, aus. Genau an demselben Datum, als er und die Malteserin heiraten wollten, traf er Sofia mit einer Kollegin in Toronto wieder. Und das auch nur, weil er an jenem Tag betrunken war und den Hauseingang mit jenem des Hotels verwechselt hatte. Sofia fiel ihm weinend in die Arme, und ein halbes Jahr später wurde geheiratet. Zwischen seiner Abreise aus Mailand und der Hochzeit mit Sofia vergingen genau 1.000 Tage.“
„Das ist wirklich was Besonderes“, grinst Juliette.
„Ich weiß, aber es gibt noch viel mehr.“
„Sind eigentlich dieser Nino und jene Sofia noch zusammen?“
„Das weiß ich nicht, es würde mich aber schon interessieren. Sind Sie denn auch verheiratet?“, fragt Catherine Juliette.
„Ja, aber … Ich habe meinen Mann im Kino kennengelernt. Doch irgendwie passen wir nicht mehr so zusammen“, sagt sie etwas bedrückt.
„Schade. Aber zwischendurch ist eine Krise gut, ja, das braucht es sogar manchmal.“
„Ich weiß, aber es ist etwas anderes.“
Die beiden Damen ahnen etwas, möchten aber Juliette nicht darauf ansprechen, da sie etwas deprimiert wirkt.
„Also, dann drücke ich euch die Daumen. Wenn Sie wieder einmal nach Auvernier kommen, würde es mich interessieren, wie es ausging.“
„Natürlich, wir werden öfter mal vorbeikommen.“
„Also, ich muss bald umsteigen. Schönen Tag noch und alles Gute fürs neue Jahr.“
„Danke, gleichfalls.“
Sie verabschieden sich, und Juliette steigt aus.
Eine junge Dame betritt das „Chez Henry.“
„Guten Abend, ich suche … na ja, ist … kennen Sie einen Jean?“, fragt sie etwas verunsichert den Wirt.
„Ich kenne drei Jeans“, sagt er gut gelaunt. „Worum geht es denn?“
„Nun, ich … Jean ist mein Cousin und … äh wir haben uns sehr lange nicht gesehen. Ich möchte ihn mit einem spontanen Besuch überraschen, ja.“
„Ach so. Wie sieht er denn aus?“
„Hier, ich habe ein Foto.“
„Ja, das ist Jean, richtig. Der ist oft hier, heute Abend aber nicht. Versuchen Sie es doch mal im ‚Ulysse‘, da ist er auch öfter.“
„Okay, vielen Dank“, sagt die junge Dame und geht wieder.
Kurz vor 21 Uhr betritt sie das ‚Ulysse‘, eine Art Dancing Club. Nach kurzer Zeit entdeckt sie Jean, der sie im selben Moment anblickt. Sie erschrickt etwas, versucht aber, sich nichts anmerken zu lassen und blickt absichtlich in die entgegengesetzte Richtung. Wenige Augenblicke später kommt eine auffällig gekleidete Dame aus den Toilettenräumen und setzt sich neben Jean. Er küsst und umarmt sie.
„Alles klar“, flüstert Marie und geht wieder hinaus.
Bei der nächsten Telefonkabine nimmt sie einen Zettel hervor und wählt:
„Hallo?“, meldet sich eine Stimme.
„Guten Abend, entschuldigen Sie bitte die Störung, könnte ich Juliette sprechen?“
„Klar, Moment, ich hole meine Cousine ans Telefon.“
„Juliette, bist du es?“
„Ja, hallo Marie.“
„Es tut mir leid, Juliette, aber ich habe Jean gesehen. Er sitzt mit so irgendeinem Flittchen im ‚Ulysse‘.“
„Habe ich’s doch gewusst. Diese verdammte elende Kröte.“
„Ich hoffe nur, es …“
„Ach schon gut, Marie, danke für deine Spionage. Du hast was gut bei mir.“
Juliette hatte das Gefühl, dass sich Jean wieder mit dieser Schlampe treffen wird, deshalb hat sie eine ehemalige Schulfreundin damit beauftragt. Trotzdem freut sie sich, ihm ins Gesicht sagen zu können, dass er allein nach Rom gehen kann und dass sie sowieso bald nach Afrika gehen wird.
Juliette hat immer noch keinen Schlaf gefunden. Sie liegt im Bett, hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt und schaut durchs Fenster.
Ihr geht immer noch die Geschichte durch den Kopf, welche die Dame im Zug erzählt hat. Ungern erinnert sie sich daran, wie sie Jean kennengelernt hat. Damals, im Kino, als er sie ansprach und sie von seinem Aussehen und seinen teuren Kleidern begeistert war.
„Wie dumm warst du nur?“, sagt sie leise zu sich selbst.
Kurz vor 2 Uhr findet sie dann doch noch etwas Schlaf.
Freitagmorgen. Es ist kalt in Rorschach. Fast noch kälter als in Neuchâtel. Juliette genießt das Frühstück und plaudert mit ihrer Cousine, während ihr Mann den Hund spazieren führt.
„Was? Du gehst nach Afrika? Für immer?“
„Nein, für immer vermutlich nicht, aber zumindest vorübergehend.“
„Allein?“
„Nein, ein ehemaliger Schulkollege wird dort arbeiten, und ich werde mich sicher auch irgendwie nützlich machen können.“
„Ist ja toll, wann fliegst du denn?“
„Vermutlich März oder April, es ist da noch allerlei zu erledigen: Impfungen, Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung …“
„Hast du keine Angst, dass es dir nicht gefallen könnte?“
„Angst nicht, aber zurzeit bin ich um jeden Tapetenwechsel froh. Langsam habe ich hier alles satt: meine Arbeit, meinen Mann, die Kälte, den Nebel … irgendwann drehe ich noch durch hier.“
„Ich verstehe, was du meinst, ist vielleicht gar keine schlechte Idee.“
„Eben. Und wie gesagt, ich kann ja jederzeit wieder zurückkommen.“
„Falls ja und du nicht sofort was finden würdest, könntest du einige Wochen hier wohnen.“
„Das ist lieb. Wenn nötig, werde ich dein Angebot gerne annehmen.“
„Gut. Wann fährt denn dein Zug?“
„Um 15 Uhr.“
„Ich werde dich dann zum Bahnhof begleiten. Schließlich sehen wir uns so selten.“
„Danke.“
Sébastien arbeitet in seinem Bürozimmer. Ständig telefoniert er, um alle Vorkehrungen für die Abreise zu treffen.
„Hallo?“
„Hallo Ingrid, ich bin’s, Seb.“
„Hallo Seb. Wie geht es dir und Michel?“
„Uns geht’s gut, danke. Dir auch?“
„Ja.“
„Michel und ich, wir haben uns entschieden, Mitte Januar wieder nach Libréville zu gehen. Ich dachte, ich sage es dir früh genug.“
„Okay.“ Sie schweigt.
„Ich dachte nur … na ja, vielleicht möchtest du auch mitkommen? Es wäre vor allem wegen Michel.“
„Ich überlege es mir. Klingt verlockend. Aber vermutlich nicht schon im Januar. Vielleicht Mitte des Jahres oder so.“
„Kein Problem, überlege es dir in Ruhe. Ich möchte dich zu nichts drängen. Du kannst ja auch nur für ein oder zwei Monate kommen.“
„Das wäre mir lieber. Ich mag meinen Job sehr und möchte ihn nicht einfach so aufgeben.“
„Ist mir klar. Wir telefonieren sicher noch einmal, bevor wir gehen. Michel möchte sicher auch noch mit dir sprechen.“
„Klar, grüß ihn von mir und gib ihm einen dicken Kuss.“
„Mach ich. Also, alles Gute noch und viel Spaß im Ultimo.“
„Ja, geht ja nicht mehr lange. Tschüss.“
Sébastien schmunzelt. Dass sich Ingrid derart freut und eventuell auch mitkommt, hätte er nicht erwartet. Erleichterung macht sich breit. Er hat oft darüber gegrübelt, was er Michel zur Antwort geben solle, falls er seine Mutter plötzlich sehen möchte, die dann einige Tausend Kilometer weg sein wird.
Juliette steigt aus dem Bus und geht den schmalen Weg zu den paar Blocks entlang. Sie sieht Licht und sagt leise:
„Aha, der Mistbock ist zu Hause.“
Sie schreitet durch den Hauseingang und geht die Treppen hi-nauf. Etwas zögernd öffnet sie die Wohnungstür und tritt ein.
„Hallo Liebes“, ruft er aus der Küche. Juliette antwortet nicht.
„Julie?“
„Hallo Jean“, sagt sie in langweiligem Ton.
„Ist etwas nicht in Ordnung? Hat dir dein Zweitagesausflug nicht gefallen?“, fragt er.
„Doch, war schön.“
„Liebes, fehlt dir was?“
„Fehlen tut mir nichts, aber ich weiß etwas zu viel.“
„Jetzt komm ich nicht mit.“
„So? Dann helfe ich dir etwas“, sagt sie ziemlich energisch.
„Gestern Abend? Ulysse? Na …?“
Er fährt zusammen und lässt beinahe den Teller fallen.
„Jetzt bist du platt, hä? Du hast wohl gedacht, ich merke es nicht, dass du dich wieder mit dieser … dieser elenden Hure triffst. Aber ich bin eben nicht von gestern.“
„Juliette, ich …“
„Halt’s Maul, ja? Tu mir den Gefallen und halt einfach dein verlogenes Maul.“
„Hör zu, Julie, es …“
„Hör du auf mit dieser „Es-tut-mir-leid-Scheiße“, ich kann das nicht mehr hören. Das ist wohl unter Männern die Standardausrede Nummer eins, oder nicht?“
„Ich war doch nur mit ihr etwas trinken gegangen.“
„Aha, und seit wann küssen und umarmen sich alle, die etwas trinken gehen?“
„Ich …“
„Ja, frag dich nur, woher ich es weiß.“
„Julie, es tut mir wirklich leid und …“
„Fass mich nicht an!! Klar?! Nie mehr! Hast du das verstanden?“
Etwas deprimiert geht Jean wieder in die Küche und schält Kartoffeln.
Juliette kommt mit wässrigen Augen wieder aus dem Zimmer zurück.
„Und nach Rom kannst du mit dieser Schlampe gehen. Ich komme sicher nicht mit, sonst kriege ich noch einen Brechreiz.“
Schweigen tritt ein.
Juliette setzt sich auf die Couch und stellt den Fernseher an. Jean kommt hinzu und möchte sich setzen.
„Setzt dich, wo du willst, aber nicht neben mich!!“, brüllt sie ihn an und steht wieder auf.
„Weißt du? So etwas wie dich habe ich echt nicht nötig. Ich hätte dir das eine Mal verziehen und wäre wirklich gerne mit dir nach Rom gereist, aber wenn du mich unbedingt verarschen möchtest, dann tu es doch. Aber glaube mir, jetzt ist Schluss. Ich ziehe aus!“
„Julie, lass uns noch einmal darüber reden. Vielleicht …“
„Bleib, wo du bist! Mir wird sonst übel. Ich packe meine Sachen und verschwinde. Dann musst du auch kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn du mit dieser Hure ins Bett gehst. Vielleicht war ich ja nicht gut genug für dich, aber das ist ja jetzt egal“, sagt sie mit zittriger Stimme.
„Ja, dann geh doch. Vielleicht brauchen wir mal eine Pause.“
„Ja, das wird aber eine sehr lange Pause!“
„Wie du willst. Aber sag mir bitte, wo ich dich erreichen kann.“
„Klar doch, in Hongkong!!!“
„Julie, bitte!“
„Nichts ‚Julie bitte‘! Julie geht jetzt und ist froh, vom verlogenen Mistbock weg zu sein“, sagt sie in abschätzigem Tonfall.
„Ja, glotze mich noch blöder an, aber keine Angst, bist mich gleich los. Meine wenigen Sachen habe ich schnell beisammen, und dann kannst du sie ja anrufen, die Luft sei rein.“
Jean schüttelt den Kopf.
„Und deine Scheißkartoffeln kannst du allein fressen, hoffentlich erstickst du daran!“
„Vielen Dank, und wenn du schon beim Packen bist, vergiss deine Lärmguge nicht.“
„Lärmguge!? Das ist ein Saxofon, du Mistbock“, schreit sie.
Nach gut einer halben Stunde hat sie ihre wenigen Sachen, welche ihr allein gehören, zusammengepackt und ruft ein Taxi.
„Das meiste kannst du behalten. Ich möchte diesen Plunder nicht mehr sehen, sonst wird mir übel.“
„Okay Julie, ich bewahre es auf. Aber sag mir doch bitte, wo ich dich erreichen kann.“
„Auf dem Mond!“, brüllt sie und knallt die Tür zu.
Weinend geht sie zweimal die Treppen auf und ab, bis sie ihre wenigen Sachen alle unten hat. Das Taxi kommt bereits, und sie lädt alles ein.
Gut 15 Minuten später klingelt sie bei Mina.
„Hallo Julie. Aber was hast du denn?“
„Darf ich reinkommen?“
„Natürlich, aber was ist denn los?“
„Jean und ich … wir haben uns gestritten. Dieser verdammte Mistbock ist wieder fremdgegangen und tut so, als sei nur ein Glas Wasser ausgeschüttet worden.“
„Komm, setz dich, ich bringe dir was zu trinken.“
„Danke, Mina.“
Mina bringt etwas Orangensaft und sagt:
„Du darfst gerne ein paar Tage hierbleiben.“
„Ich möchte dir nicht zur Last fallen.“
„Das ist doch kein Problem. Du bist immer willkommen.“
Als sich Juliette wieder etwas beruhigt hat, erzählt sie Mina, dass sie bald nach Afrika gehe.
„Wow, toll. Nach Afrika?“
„Ja, eine Luftveränderung tut mir gut.“
„Da würde ich auch nicht Nein sagen!“
„Dann komm doch mit. Seb wird sicher nichts dagegen haben.“
„Ich würde gerne mitkommen, aber ich kann doch einfach nicht so plötzlich abreisen. Obwohl es eine genauere Überlegung sicher wert ist.“
„Du brauchst ja nicht für immer zu kommen. Ich bleibe sicher auch nicht für immer.“
„Also Julie, das werde ich mir noch einmal überlegen müssen. Es klingt wirklich verlockend.“
„Und weißt du, irgendwie habe ich Seb echt lieb gewonnen. Er hat so eine Art, die mich beeindruckt.“
„Wie meinst du das?“
„Früher war er doch mit Paul zusammen, das Großmaul, heute hat er so eine … wie soll ich sagen … eine schüchterne Art. Er wirkt fast etwas verklemmt.“
„Verklemmt?“
„Nicht verklemmt in dem Sinn. Ich weiß auch nicht, seine Art gefällt mir einfach. Sie imponiert mir sogar.“
„Ich habe Seb seit der Schulzeit nicht mehr gesehen. Sieht er denn gut aus?“
„Er sieht nicht mal so besonders gut aus, aber eben seine Art gefällt mir. Er ist so … so … ach ich weiß auch nicht.“
„Gut. Julie, pack doch jetzt mal alle deine Sachen aus, und ich koche was für uns. Wie wäre es mit Bratkartoffeln?“
„Nein! Keine Kartoffeln! Das wollte der Mistbock auch gerade machen.“
„Gut, dann mach ich uns … lass dich überraschen!“
„Okay, danke, Mina.“
Juliette stützt ihren Kopf auf und weint abermals. Doch sie versucht es zu verbergen, als Mina mit zwei wohlriechenden Suppentellern aus der Küche kommt.
29. Dezember
Juliette steigt aus dem Bus und geht den Weg entlang. Jean ist nicht zu Hause. Sie schließt auf und sieht sich kurz um. Auf dem Bett liegt ein handgeschriebener Brief von Jean:
Liebe Julie,
es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Es war wirklich dumm von mir, denselben Fehler zweimal zu machen. Ich hoffe trotzdem, dass alles wieder gut wird. Ich werde versuchen, meinen Teil dazu beizutragen. Wenn du weggehst, wäre es nett von dir, mir eine Adresse oder eine Telefonnummer zu hinterlassen.
Ich werde …
Sie liest nicht weiter und legt den Brief beiseite. Mit einem Stift in der Hand kommt sie ins Zimmer zurück und schreibt unter den Brief:
Hallo Jean,
ich gehe bald für einige Zeit weit weg. Ich verstehe, dass dir an mir noch etwas liegt. Doch du hast in mir viel zu viel kaputt gemacht. Wenn mir danach ist, werde ich mich bei dir melden. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es wird mir gut gehen. Besser sogar.
Julie
„So, das reicht“, murmelt sie.
Wenige Augenblicke danach wartet sie wieder an der Bushaltestelle, um zur Arbeit zu fahren.
Sébastien sitzt im Büro und sortiert Formulare, als jemand an die Tür klopft.
„Es ist offen“, sagt er.
Es klopft abermals.
„Bitte, es ist offen!“, sagt er etwas lauter.
Nichts tut sich. Er steht auf und geht zur Tür. Just in diesem Moment geht die Tür auf, und jemand mit einer Hexenmaske steht vor ihm.
„Was soll das?“, fragt er schief lächelnd.
Die Person nimmt die Maske ab.
„Ingrid, was für eine Überraschung?!“, ruft er erfreut.
„Hallo Seb!“
Sie umarmen sich freundschaftlich.
„Komm doch herein.“
„Danke.“
Sie beginnt das Gespräch.
„Ich wollte euch mit einem spontanen Besuch überraschen. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich Silvester mit euch feiern.“
„Das finde ich wirklich toll von dir, Michel wird sich freuen.“
„Ist er noch in der Schule?“
„Nein, bei Armand und seiner Familie. Ich hole ihn heute Abend um 17 Uhr ab.“
„Gut, dann könnte ich bei euch warten und ihn überraschen.“
„Genau, gute Idee.“
Sébastien schaut auf die Uhr.
„Gehen wir was essen? Ich hätte sowieso in zehn Minuten Mittagspause.“
„Sicher, gerne.“
Er schließt ab und geht mit Ingrid in ein nahe gelegenes Restaurant.
„Wann fliegt ihr nach Libréville?“
„Am 12. Januar. Es ist schon alles arrangiert.“
Ingrid nickt. Das Essen kommt.
„Michel freut sich wohl sehr, ja?“
„Und wie. Er erzählt ununterbrochen davon.“
„Ich komme vermutlich im April. Länger als zwei Monate kann ich aber nicht bleiben.“
„Zwei Monate? Das ist doch toll. Weißt du, wie sich Michel freuen wird?“
„Ich weiß. Ich kann für diese Zeit unbezahlten Urlaub nehmen. Ich hatte zuvor etwas Angst, dass es mein Chef nicht erlauben würde. Aber ich habe ihm die ganze Geschichte geschildert, und dann sagte er, ich könne ohne Probleme einen Monat gehen. Und als ich mich bedankte und hinausgehen wollte, sagt er, ich dürfe auch zwei Monate gehen. Ich war so erfreut, dass ich kurzum meine Tasche packte und hierher fuhr.“
„Toll!“
Punkt 17 Uhr holt Sébastien den bereits wartenden Michel ab, und sie fahren gemeinsam zurück.
„Michel, für dich hat es dort im Schrank eine Überraschung.“
„Was denn, Papa?“
„Schau nach, dann weißt du es.“
Michel öffnet den Schrank und schreit:
„Mama!!!“
Sie umarmt ihn und kämpft mit den Tränen.
„Hallo, mein Lieber, wie geht es dir? Du wirst ja immer größer!“
„Mir geht es gut. Dir auch?“
„Natürlich, mein Schatz.“
„Komm, Michel, Mama hat für uns gekocht.“
Während des Essens fragt Ingrid:
„Sollen wir heute noch etwas unternehmen?“
„Nein, Mama, heute kommen die Marx Brothers im Fernsehen“, sagt Michel.
„Gut, dann sehen wir uns den Film zu dritt an, okay?“
„Ja.“
„Er liebt die Marx Brothers über alles. Vor allem den Stummen“, erklärt Sébastien.
„Der heißt Harpo“, ergänzt Michel.
„Ja, die Marx Brothers. Die habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen“, bemerkt Ingrid lächelnd.
„Sie kommen auch nicht so oft im Fernsehen.“
„Ich weiß, irgendwie schade. Ich finde, sie zeigen allgemein zu wenig gute Filme.“
„Ja, und immer in die Videotheken zu gehen ist auch etwas mühsam.“
„Da hast du recht, Seb.“
Michel kann es kaum noch erwarten, bis der Film endlich beginnt.
Silvester.
Julie ist mit Mina in einer Diskothek in Yverdon.
„Toll hier, nur die Musik ist etwas zu laut“, sagt sie zu Mina.
„Das ist hier immer so, dafür ist sie wenigstens gut.“
Mina schaut auf die Uhr: „Noch drei Minuten.“
„Juliette stellt sich vor, wie Jean mit dieser Ziege in Rom ist. Sie weiß nicht einmal hundertprozentig, ob er überhaupt gegangen ist. Trotzdem sieht sie Bilder, wie er mit ihr Arm in Arm durch Rom spaziert. Mit diesem blutjungen Flittchen, das sich wahrscheinlich immer nur an gut aussehende, mindestens zehn Jahre ältere Männer heranmacht.
Tischbomben explodieren beim Jahreswechsel. Julie und Mina stoßen mit den Champagnergläsern an. Dasselbe tun auch Ingrid und Sébastien in Neuchâtel. Michel hat ebenfalls ein klein wenig Champagner in seinem Glas. Allerdings hustet er nach dem ersten Schluck.
Am 3. Januar begleiten Sébastien und Michel Ingrid zum Bahnhof. Ingrid wirkt etwas deprimiert.
„Es waren schöne Tage bei euch, Seb. Und ich freue mich schon jetzt auf ein Wiedersehen in Afrika.“
„Danke. Du hast uns wirklich einen großen Gefallen getan.“
„Geh noch nicht, Mama“, sagt der Kleine.
Sie beugt sich zu ihm herunter.
„Ich muss, Mami muss wieder arbeiten gehen. Aber ich komme bald wieder. Wir sehen uns ja in Afrika!“
Das Gesicht des kleinen Burschen hellt sich wieder auf.
„Aber du musst dann lange bleiben.“
„Ich bleibe dann so lange, wie es mir möglich ist.“
„Okay.“
Ingrid steigt in den Zug ein und winkt durchs Fenster. Michel rennt einige Meter winkend mit, bis der Zug zu schnell wird. Danach kehrt er mit traurigem Gesicht zu seinem Vater zurück.
„Michel, nicht weinen.“
„Mama fährt wieder weg.“
„Wir sehen sie ja bald wieder.“
„Aber es dauert so lange.“
„Die Zeit geht schneller vorbei, als du denkst.“
Michel weint immer noch.
„Michel, was würde Harpo sagen, wenn er …“
„Harpo kann gar nicht reden“, sagt er wieder etwas fröhlicher.
Am Abend des 4. Januar treffen sich Sébastien und Juliette in einem Restaurant, um noch einige Dinge zu klären.
„Also, Julie, diese drei Formulare musst du ausgefüllt an diese Adresse senden. Dann musst du das hier ausfüllen und am Zoll in Gabun abgeben. Nächste Woche erhältst du dann noch deine Impfbescheinigung, die du ebenfalls zur Einreise benötigst.“
„Ist das alles?“
„Vorerst schon, es wird dann in Libréville noch einiges zu erledigen geben, aber da werde ich dir dann vor Ort helfen. Ach ja, bevor ich es vergesse, hier schreibst du am besten ‚administrative Arbeiten/Büro‘ darauf, dann gibt es keine unnötige Fragerei.“
„Gut, vielen Dank. Am liebsten würde ich heute schon mit euch fliegen und nicht mehr bis Ende Februar warten müssen.“
„Es tut dir vielleicht gut, noch etwas hierzubleiben.“
„Wieso meinst du?“
„Es ist besser, wenn man noch etwas Zeit hat, alles in Ruhe erledigen zu können. Für mich ist es nicht das erste Mal, aber für dich ist es besser so. Sonst kaum sitzt du im Flugzeug, kommen dir noch Dinge in den Sinn, welche du eigentlich noch hättest erledigen sollen.“
Da ist wieder die Art von Sébastien, die ihr so imponiert. Die irgendwie fast etwas unbeholfen wirkende Art von Erklärung und das nicht hundertprozentig sicher sein klingende Etwas in seiner Stimme.
„Okay. Ich werde mich dann bei dir melden, bevor ich abfliege.“
„Klar, hier ist noch die Telefonnummer, aber am besten schickst du eine E-Mail.“
„Dann sehen wir uns vor deinem Abflug nicht mehr?“
„Lieber nicht, wir haben doch noch einiges zu erledigen. Aber wir sehen uns danach lange genug“, sagt er etwas sarkastisch.
„Gut. Also, ich muss noch weg, Seb. Danke noch für alles und bis bald.“
„Ja, bis bald.“
Sie verabschiedet sich und verschwindet durch die Tür.
Die Wohnung ist beinahe leer. Alles ist bereits gepackt, und das Wichtigste in einer mittelgroßen Frachtkiste zum Flughafen geschickt worden, wo es dann nach Gabun weitergeleitet wird.
„Hast du dich auch bei allen verabschiedet?“, fragt Sébastien seinen Sohn.
„Ja, wann fliegen wir denn endlich?“, fragt er ganz ungeduldig.
„Morgen, morgen früh geht’s los.“
Michels Augen glänzen vor Freude, als er sich danach zum letzten Mal ins Kinderzimmer begibt, um auf einer Decke auf dem Boden zu schlafen.
Was er nicht mehr brauchen konnte, konnte Sébastien verkaufen.
Kurz vor 20 Uhr zieht er sich noch einmal an und verlässt die Wohnung.
Im ‚Profile‘ setzt er ich neben einen unsympathisch aussehenden Typ.
Er blickt hinüber und sagt:
„Ich möchte Enya freikaufen.“
Der andere nimmt einen Schluck Bier und sagt ohne ihn anzublicken:
„Die ist nicht zu kaufen.“
„Wie viel?“, fragt Sébastien.
„Bist du Clown taub? Ich habe doch gesagt …“
„9.000!“
„12.000 und keinen Scheißfranken weniger.“
„9.000, ich habe sie hier.“
„11.000.“
„9.500.“
„Du nervst mich langsam. Wenn ich 11.000 sage, meine ich das auch.“
„10.000.“ Er nimmt einen Umschlag hervor.
„Hier zähl nach, es sind genau 10.000.“
Der Zuhälter nimmt ihm den Umschlag aus der Hand und blickt hinein.
„Okay, du elende Nervensäge, 10.000, und sie gehört dir.“
„Abgemacht?“
„Ja, und jetzt verschwinde wieder.“
Sébastien verlässt die Bar und geht zu Fuß zurück. Er ist stolz auf sich, dass er eine gute Tat getan hat, auch wenn Enya sich bei ihm nicht mehr dafür bedanken können wird.
Kurz vor 15 Uhr klingelt Enya bei ihrem Boss.
„Los, komm rein“, mault er.
„Hier, ich habe 400 für dich.“
„Du gibst mir alles, sonst knallt es.“
„Warum?“
„Warum wohl? Du kannst abhauen, heute hat irgendein Idiot für dich 10.000 hingeblättert.“
„Ja?“
„Ja, und jetzt zisch ab, du Flöte.“
Etwas verstört verlässt Enya die Wohnung des Zuhälters und begibt sich auf dem Weg nach Hause.
Er hat es wirklich getan. Warum nur? Warum gerade ich? Hätte er es bei jeder anderen auch getan?
Punkt 10.55 Uhr startet das Flugzeug Richtung Zentralafrika.
Enya steigt aus dem Taxi und geht zum Hauseingang. Etwas stutzig stellt sie fest, dass das Namensschild neben den Türklingeln fehlt. Sie klingelt trotzdem. Nichts geschieht. Sie klingelt abermals. Kurz darauf öffnet ein älterer Herr und ruft etwas auf die Straße hinunter.
„Äh … wohnen Sie jetzt hier?“, fragt Enya erstaunt nach oben blickend.
„Nein, ich bin von der Reinigungstruppe. So viel ich weiß, ist der Mieter abgereist.“
„Abgereist? Wohin denn?“
„Das weiß ich auch nicht. Ich muss hier nur alles reinigen, und ab Dienstag kommt ein neuer Mieter. Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.“
„Wo könnte ich erfahren, wo er hingegangen ist?“
„Fragen Sie doch mal seine Nachbarn.“
„Okay, danke.“
Enya geht die Treppen hinauf. Auch beim Wohnungseingang wurde das Namensschild entfernt. Die Tür steht offen. Der Boden ist voller Zeitungen, und in der ganzen Wohnung stehen diverse Reinigungsgeräte.
Sie klingelt nebenan.
Eine ältere Dame öffnet.
„Guten Tag, kann ich Ihnen helfen?“
„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber wissen Sie, wohin der Herr gegangen ist, welcher vorher neben ihnen gewohnt hat?“
„Der junge Herr mit seinem Sohn? Er ist abgereist.“
„Ja, das weiß ich. Aber wohin?“
„Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Wir hatten kaum Kontakt miteinander.“
„Okay, trotzdem vielen Dank.“
Etwas geknickt schreitet Enya wieder die Treppen hinunter. Dann geht ihr ein Licht auf: Afrika! Genau, Afrika! Er hat doch mal davon erzählt. Aber Afrika ist groß, sehr groß.