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eISBN 978-3-89425-808-5
Prolog
Erster Teil Der Stich
1 Norderney, Alter Postweg
2 Berlin, U-Bahn
3 Norderney, Richthofenstraße
4 Berlin, Bundesinstitut für Infektionskrankheiten
5 Norden, B70
6 Berlin, Bundesinstitut für Infektionskrankheiten
7 Betreff: Fürchte dich nicht!
Zweiter Teil Die Blutmahlzeit
8 Bremen, Osterdeich
9 Norderney, Fähranleger
10 Norderney, Kaiserstraße
11 Norderney, Knyphausenstraße
12 Berlin, Bundesinnenministerium
13 Norderney, Polizeistation
14 Berlin, Bundesinstitut für Infektionskrankheiten
15 Betreff: Verkünde, du sahst uns hier liegen, wie das Gesetz es befahl
Dritter Teil Die Übertragung
16 Norderney, Polizeistation
17 Berlin, Kreuzberg
18 Berlin, Innenministerium
19 Norderney, Polizeistation
20 Berlin, Wilmersdorf
21 Münster, Altstadt
22 Münster, Aasee
23 Betreff: Alarm in der Amygdala
Vierter Teil Das Wachstum
24 Münster, Paulus-Dom
25 B54, Münster-Ochtrup
26 Ochtrup, Gewerbegebiet
27 Berlin, Innenministerium
28 Telgte, Klatenberge
29 Landstraße Telgte-Davert
30 Betreff: Kongo
Fünfter Teil Die Verwandlung
31 Hamburg, Reeperbahn
32 Münster, Altstadt
33 Kongo, nördlich von Kisangani
34 Münster, Universitätsklinik
35 Münster, Universitätsklinik
36 Münster, Universitätsklinik
37 Betreff: Du und ich
Sechster Teil Die Fortpflanzung
38 Norderney, Up Süderdün
39 Berlin, Wilmersdorf
40 Ochtrup, Dia-Lab
41 Autobahn A28 Leer – Oldenburg
42 Münster, Erphoviertel
43 Berlin, Wilmersdorf
44 Berlin, Wilmersdorf
45 Leer, Bahnhof
46 Betreff: Die Gemeinschaft der Freien
Siebter Teil Der Tod
47 Berlin, Innenministerium
48 Norderney, Nordhelm-Siedlung
49 Norderney, Nordhelm-Siedlung
50 Norden, Ubbo-Emmius-Klinik
51 Spiekeroog, Süderloog
52 Kleinheide, Moorhof
53 Norderney, Hotel Britannia
54 Spiekeroog, Nordstrand
Danksagung
Jürgen Kehrer, geboren 1956 in Essen, lebt in Münster. Er ist der geistige Vater des Buch- und Fernsehdetektivs Georg Wilsberg. Neben bisher achtzehn Wilsberg-Krimis veröffentlichte er auch historische Kriminalromane sowie Sachbücher zu realen Verbrechen. Zuletzt erschien Todeszauber, der zweite Wilsberg-Roman, der in Zusammenarbeit mit der Autorin Petra Würth entstand. Außerdem verfasste Kehrer mehrere Wilsberg-Drehbücher für das ZDF.
Weitere Informationen unter: www.juergen-kehrer.de
Vor uns saß auf einem riesengroßen, in romantischer Art schräg gestellten Bett die Herrin: die Angst. Sie hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Pferd, aber einem sehr hässlichen. Ihr Morgenrock bestand aus lebenden Fledermäusen, die an den Flügeln zusammengenäht waren.
Leonora Carrington
Mit ihm war die Kraft und die Herrlichkeit. Er schwebte durch den Raum wie eine junge Gottheit, sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig. Die Mission, die er zu erfüllen hatte, bedeutete nicht mehr und nicht weniger als das Ende der Welt, in die er hineingeboren, in der er aufgewachsen und an der er sich abgerieben hatte. Wenn die Mission gelingen würde – und daran zweifelte er keinen Moment –, begann ein neues Zeitalter, alles würde besser werden, der Menschheit stand eine Epoche der Freiheit bevor.
Es lag nicht an ihm allein, natürlich nicht. Aber seine Brüder und Schwestern, die in den anderen Hotels das Gleiche versuchten, waren ebenfalls gut vorbereitet. Letztlich stand jeder für jeden ein und so hatten sie gelost, und er hatte den britischen Premierminister gezogen. Es war ihm vollkommen egal, mit derselben Überzeugung hätte er den französischen Präsidenten oder den spanischen Ministerpräsidenten übernommen. Der Premierminister war – wie jeder seiner Amtskollegen – nur ein Mensch, ein fehlbarer, von Zwängen, Umfragen und falschen Einflüsterungen getriebener Mensch.
Die Sicherheitsleute am Eingang des Hotels hatten keinen Verdacht geschöpft, weil er sich nicht wie ein Attentäter verhielt. Attentäter konnten ihre Nervosität nicht verbergen, sie schwitzten und stanken nach Angst und Entschlossenheit. Geschulte Personenschützer – und die deutschen und britischen Beamten im Hotel gehörten zu den besten – erkannten einen Attentäter auf zehn Meter Entfernung.
Ihn nicht. Er war ruhig geblieben und hatte den Männern lächelnd seinen Ausweis gezeigt, der ihn als Kellner identifizierte, zugelassen für die höchste Sicherheitsstufe. Das gefälschte Dokument war nicht perfekt, aber gut genug für einen langen kritischen Blick. Der Mann, dessen Rolle er einnahm, lag gefesselt in seiner Dienstbotenkammer. Mit einem blutigen Daumen. Denn nicht der Ausweis, bei dem sie das Foto und einige Daten ausgewechselt hatten, sondern der Daumenabdruck in der Sicherheitsschleuse stellte das größere Problem dar. Vorsichtig drückte er seinen rechten Daumen, an dem die abgezogene Haut des echten Kellners klebte, auf den Scanner. Das grüne Lämpchen leuchtete auf, die Sicherheitsleute nickten ihn weiter zum Metalldetektor und tasteten ihn anschließend gründlich ab. Sie fanden nichts. Für das, was er vorhatte, brauchte er keine Waffen.
In den letzten Wochen hatte er gehungert und fünf Kilo abgenommen, unter seiner Nase wuchs ein kratziger Schnurrbart und die vormals aschblonden Haare klebten dunkelbraun und glänzend an seinem Schädel. Nicht den Sicherheitsleuten galt das Versteckspiel, die kamen von auswärts und hatten keinen blassen Schimmer von seiner wahren Identität. Aber einigen der Hotelangestellten war er sicher schon mal auf der Straße begegnet. Als freundlicher Polizist, stets bereit, Auskünfte und Ratschläge zu erteilen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen, soweit das auf Norderney überhaupt nötig war. Eine sprechende Uniform, bei der man Hilfe suchen oder sich über die Idiotie der anderen beklagen konnte. Dass in der Uniform ein Mensch mit Gefühlen steckte, interessierte niemanden.
Die Arbeitskleidung des Kellners passte ihm wie angegossen. Vor dem Spiegel kontrollierte er den Sitz der Fliege und wischte ein paar Flusen von den Ärmeln. Dann stieg er in den Kühlkeller hinab und holte das, was er brauchte, aus dem markierten Fach. Früher als erwartet hatte sich eine günstige Gelegenheit ergeben. Jetzt durfte er nicht zögern. Doch Zweifel gehörten ohnehin nicht zu seinem neuen Leben.
Leichtfüßig näherte er sich dem Eingang zum Speisesaal. Seine ganze Erscheinung hatte eine Wandlung durchgemacht. Er ging aufrechter, straffer, voller Energie, die er seinem baufälligen Körper nicht mehr zugetraut hätte.
Vor dem Speisesaal fing er erstaunte Blicke von anderen Kellnern auf, die sich ihm entgegendrängten. Und dann stand er im Saal. Der Premierminister war die Sonne, um die herum sich konzentrische Kreise von wichtigen und weniger wichtigen Menschen bildeten. Sein bernhardinerhaftes Gesicht wirkte noch griesgrämiger als auf den Fotos, die der Expolizist kannte. Bellend stieß der Premier Kommentare aus, die von seiner Tischgesellschaft mit wohlwollendem Nicken aufgenommen wurden.
Den Kellner, der ein Tablett auf dem Tisch abstellte, beachtete er nicht mehr als die Tapete an der Wand.
Martin Geis kam sich vor wie ein Inselführer. Nur waren es keine gewöhnlichen Touristen, die hinter ihm hertrotteten und alles Mögliche über die Strände, den Hafen und das Wattenmeer wissen wollten, sondern Anzugträger aus Berlin und Hannover. Ihr Interesse galt nicht der Fauna des Nationalparks oder der Geschichte der Badekultur, stattdessen musste Geis Zahlen referieren: Schiffsbewegungen, Hotelbelegungen, Länge der Strände und Entfernungen zum Festland und den nächsten Inseln. Natürlich hätte man das alles am Schreibtisch mit ein paar Klicks im Internet erfahren können, doch dann wäre den Herren der dreitägige Ausflug auf die Insel entgangen, Luxusversorgung in einem der besten Norderneyer Hotels inklusive.
Man wolle sich vor Ort ein Bild machen, das war die Formulierung, die Geis in den letzten Tagen ständig gehört hatte. Seine Reisegruppe bestand aus lauter Sicherheitsexperten, im Bundesinnenministerium und in verschiedenen Bundes- und Landesbehörden zuständig für die Abwehr von militanten Demonstranten und Terroranschlägen.
Geis graute vor den nächsten Monaten. Denn die Sicherheitsexperten waren erst die Vorhut. Bis zum sechsten September würde es jetzt so weitergehen. Bis zu dem Tag, an dem das Gipfeltreffen der europäischen Regierungschefs beendet war. Delegationen und Komitees aus allen EU-Ländern würden die Insel überrollen. Sein Chef in Aurich hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er sich jederzeit für Auskünfte und Führungen bereithalten müsse. Als hätte er nichts Besseres zu tun, als den Animateur für politische Spitzenbeamte zu spielen.
»Sie sind doch nicht ausgelastet«, hatte Fokke Janssen alle von Geis erhobenen Einwände abgeschmettert. »Mit den paar Kneipenschlägereien und Strandtaschendiebstählen werden Ihre Leute auch ohne Sie fertig.«
In der Woche vor dem Gipfeltreffen, so sahen die bisherigen Planungen vor, würden über tausend Polizisten auf der Insel stationiert werden. Janssen und ein paar hohe Tiere aus Hannover wollten dann selbst nach Norderney kommen und das Kommando übernehmen. Für Martin Geis, den Leiter der kleinen Norderneyer Polizeistation, war ab diesem Zeitpunkt nur noch die Rolle eines Parkwächters vorgesehen.
Nach den Erfahrungen vom G8-Gipfel in Heiligendamm war die Idee aufgekommen, die nächste Mammutkonferenz auf eine Insel zu verlegen, die sich viel leichter überwachen ließ als jeder Ort auf dem Festland. Doch warum musste es ausgerechnet Norderney sein? Warum nicht eine der anderen ostfriesischen Inseln oder, noch besser, Helgoland, der Felsbrocken mitten in der Nordsee?
Natürlich kannte Geis die Antwort. Norderney verfügte über die notwendige Infrastruktur. Die Staats- und Regierungschefs kamen ja nicht allein, sondern mit Horden von Beratern, Bodyguards und Journalisten, die alle angemessen logieren wollten. Und Norderney bot genügend Unterbringungsmöglichkeiten und Konferenzräume, um einen solchen Ansturm zu bewältigen.
Geis stapfte über den Alten Postweg in Richtung Dünen. Mit verhohlener Schadenfreude registrierte er, dass sich die Männer in seinem Schlepptau immer missmutiger gegen den Nordseewind stemmten. Trotz der giftigen gelben Sonne, die am fahlen Himmel hing, waren die Temperaturen alles andere als sommerlich. Und dünne Trenchcoats über Maßanzügen, die Uniform seiner Begleiter, eigneten sich für eine Dünenwanderung in etwa so gut wie ein Taucheranzug für die Durchquerung der Wüste.
Seit drei Stunden liefen die Männer mittlerweile hinter ihm her. Geis hatte die Sicherheitsexperten kreuz und quer durch den Ort und dann über die Strandpromenade bis zum Hafen geführt. Jetzt würde sich zeigen, ob sie es ohne Erfrierungen bis zum Flugplatz schafften.
»Warten Sie mal!« Lange, ein Abteilungsleiter aus dem Bundesinnenministerium und offenbar der Anführer der Reisegruppe, schnappte nach Luft. Sonne, Wind und Anstrengung hatten das Gesicht des korpulenten Mannes schweinchenrosa gefärbt. »Wohin kommen wir, wenn wir da geradeaus gehen?«
»Am Golfplatz vorbei zum Leuchtturm und dem Flugplatz.«
»Ist das Gebiet relevant?«
»Kommt darauf an, was Sie darunter verstehen«, gab Geis zurück.
Um den Leiter der Polizeistation bildete sich eine Traube. In einigen Gesichtern war die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Führung zu erkennen.
»Uns interessieren vor allem die sicherheitsrelevanten Bereiche«, erklärte ein Mann, dessen Glatze von einem Sonnenbrand glühte. »Östlich der Lippestraße ist die Insel doch weitgehend unbewohnt.«
»Richtig.«
»Und die Nord-Süd-Richtung der Straße eignet sich optimal, um einen Auffangzaun zu errichten. Wir müssten nur noch bis zum Wasser verlängern.«
»Sie wollen den gesamten Ostteil der Insel absperren?«, fragte Geis.
»Warum nicht?« Lange hatte sich erholt. »Wir können nicht jeden Meter Strand bewachen. Eine Auffanglinie vor dem Tagungskomplex spart eine Menge Einsatzkräfte.«
»Und wer soll aufgefangen werden?« Geis deutete auf die Dünenkette. »Dort gibt es keinen Hafen.«
»Unterschätzen Sie nicht, mit wem wir es zu tun haben«, sagte der Glatzenmann. »Schlauchboote können an jeder Stelle der Insel landen. Außerdem lässt sich das Watt bei Ebbe zu Fuß durchqueren.«
»Nur mithilfe eines erfahrenen Wattführers. Alles andere wäre Selbstmord.«
Lange lachte auf. »Nichts für ungut, Herr Hauptkommissar. Das sind fanatische Spinner. Wenn die Möglichkeit besteht, versuchen sie es. Und falls einer absäuft, schieben sie uns dafür die Schuld in die Schuhe.«
»Was Herr Dr. Lange damit sagen will«, mischte sich ein Dritter ein. »Wir gehen nicht vom Normalfall aus. Auch nicht von vernünftigen, die Risiken abwägenden Gegnern. Unsere Planungen sind immer auf den Worst Case ausgerichtet.«
Worst Case, dachte Geis. Mein Worst Case ist der verdammte Gipfel.
Lange fixierte den Mann, der es gewagt hatte, ihn zu interpretieren. »Was ich damit sagen will, ist ganz einfach: Die Insel wird zweigeteilt. Daran gibt es nichts zu rütteln.«
»Das wird den Urlaubern aber nicht gefallen.« Geis schob die Hände tiefer in die Taschen der Lederjacke. »Die Strände vor der Weißen Düne sind im Sommer sehr beliebt.«
»Welche Urlauber?« Lange guckte amüsiert. »Am ersten Septemberwochenende wird es keine Urlauber geben.«
»Die Stammgäste buchen meist ein Jahr im Voraus.«
»Sorry. Dann haben sie in diesem Jahr Pech gehabt. Alle Hotels sind für die Gipfelteilnehmer reserviert. Ebenso die Fähren und der Flugplatz. Gewöhnliche Sterbliche werden keinen Zutritt haben. Glauben Sie, der französische Präsident will den Frühstückssaal mit kreischenden Kindern teilen?«
Geis’ Handy fiepte. Er trat ein paar Schritte zur Seite und meldete sich.
»Gefährliche Körperverletzung«, sagte Britta Hartweg.
»Wer?«
»Hannah Berends vom Hotel Strandblick.«
»Ist der Täter bekannt?«
»Ihr Mann, Eiko Berends. Hat sie in der Küche verprügelt. Die Restaurantgäste haben uns gerufen. Der Hubschrauber ist bereits angefordert. Hannah muss so schnell wie möglich nach Norden ins Krankenhaus.«
»Hast du den Scheißkerl verhaftet?«
»Natürlich.«
Geis schaute zu den Sicherheitsexperten, die ihre Ohren aufstellten, um etwas von dem Telefonat mitzubekommen. Der Vorfall bot eine einmalige Gelegenheit, diesen Idioten zu entkommen.
Geis senkte die Stimme: »Hol mich ab! Ich bin an der Kreuzung Alter Postweg und Lippestraße. Und bring Thedinga mit. Er soll die Führung zu Ende machen.«
»Wir kommen auch ohne dich klar, Martin.« Hartweg klang ein wenig enttäuscht.
»Schon möglich. Aber ich will den Fall selbst übernehmen.«
Geis beendete das Gespräch. Vom Festland näherte sich der Hubschrauber, auch die Sicherheitsexperten hatten bereits das Motorengeräusch gehört.
»Was ist passiert?«, fragte Lange.
»Jemand ist schwer verletzt worden. Genaueres weiß ich noch nicht. Ich nehme an, es ist in Ihrem Sinn, wenn ich mich persönlich darum kümmere. Einer meiner besten Männer wird mich ersetzen.«
Der wortkarge Thedinga würde die Wichtigtuer hoffentlich noch eine Weile durch die Dünen scheuchen.
»Sollten Sicherheitsfragen auch nur am Rande …«
»… werde ich Sie unverzüglich unterrichten«, sagte Geis.
Eiko Berends war tatsächlich ein Sicherheitsrisiko. Hauptsächlich für die Menschen, die ihm am nächsten standen. Fast alle Einheimischen wussten, dass Berends seine Frau und sein Kind schlug. Geis selbst hatte Hannah Berends ins Gewissen geredet und ihr dringend geraten, Anzeige zu erstatten. Doch Hannah war, wie viele Ehefrauen in ähnlichen Fällen, stur geblieben. Der Bluterguss in ihrem Gesicht, behauptete sie, stamme von einem unglücklichen Zusammenprall mit einer Schranktür.
Diesmal würde er Berends drankriegen. Falls Hannah ihren Mann nicht belasten wollte, würden die Zeugenaussagen ausreichen, ihn für eine Weile ins Gefängnis zu schicken.
Es war eine idiotische Idee von ihr gewesen, die U-Bahn zu nehmen. Schon vor dem Einstieg hatte sie weiche Beine bekommen. Aber ihr Stolz hielt sie davon ab, einfach wieder umzukehren. Blöde, saublöde. Der Zug war voll. Natürlich. Was hatte sie erwartet? Um acht Uhr morgens? Zum Glück hatte sie einen Fensterplatz ergattert. Wenigstens eine Seite frei. Nur das kühle, glatte Glas. Sie lehnte sich so weit wie möglich zum Fenster. Stehend, eingezwängt zwischen anderen, hätte sie die Fahrt nicht überstanden. Höchstens eine Station. Neben ihr saß ein älterer Mann, nach abgestandenem Schweiß stinkend. Warum duschten die Menschen morgens nicht? Was gab es an dieser zivilisatorischen Errungenschaft auszusetzen? Sie duschte jeden Morgen, manchmal auch abends, um den Dreck des Tages abzuwaschen. Die Nützlichkeit von Deorollern war ebenfalls nicht zu verachten. Es boten sich eine Menge Möglichkeiten, die olfaktorische Belästigung seiner Mitmenschen zu vermeiden. Aber davon hatte der Typ neben ihr anscheinend keine Ahnung. Schob seinen breiten Arsch immer näher an sie heran. Den von langen Jahren sitzender Tätigkeit breit gewordenen Arsch. Herrgott noch mal, das war ihr Sitz! Was bildete der Kerl sich ein? Jetzt faltete er auch noch seine Zeitung auseinander, hielt ihr das Blatt direkt vor die Nase. Immerhin, es roch nach Papier und Druckerschwärze. Angenehm, im Vergleich zu seinen Körperausdünstungen.
Ihr Herz raste. Der verdammte Muskel strengte sich an, als würde sie einen Achttausender ohne Sauerstoffmaske erklimmen. Dabei hockte sie regungslos auf ihrem Sitz. Zugegeben, tief unter der Erde. Über ihr viele Meter Stein, Lehm, Beton. In einer Metallbüchse, die vollgestopft war mit Pendlern. Wieso konnten die anderen das ertragen? Warum gab es kein Grundrecht auf mindestens einen Meter Abstand zum nächsten Menschen? Die Kopfschmerzen wurden stärker, bohrten sich von den Schläfen aus in die Hirnlappen. Saure Übelkeit stieg vom Magen auf. Ablenken, nicht an den eigenen Körper denken. Sei brav, Viola, beschäftige dich! Was war mit den Frauen auf der Bank gegenüber? Die ältere mit der billigen blonden Perücke zählte die Monate bis zur Rente. Verhärmter, schmaler Mund, das Gesicht zerklüftet wie ein Alpenpanorama. Saß vermutlich im Supermarkt an der Kasse. Oder stand sich in einem Kaufhaus die Beine krumm. Gelenkschäden in den Knien und Wasser in den Füßen. Und das für ein paar Hundert Euro monatlich.
Ihr Magen rebellierte. Sie stieß auf, ein Schwall Magensäure schwappte in ihren Mund. Nur jetzt nicht kotzen. Kein brauner Strahl auf den Boden, keine Spritzer auf Hosenbeine und Schuhe, keine angeekelten Blicke. Das wäre der GAU. Dann lieber ohnmächtig werden, einfach umkippen, rausgetragen werden an die frische Luft, abgelegt auf den herrlich harten Steinplatten des Gehsteigs. Lassen Sie mich hier liegen. Ich komme schon zurecht. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Nur eine kleine Panikattacke. Passiert mir häufiger. Rein psychisch, verstehen Sie?
Woran hatte sie zuletzt noch gedacht? Richtig, an die Frauen gegenüber. Die junge wirkte ein wenig anämisch. Schwarz gefärbte Haare, weiße, fast durchscheinende Haut, unter der ein paar blaue Äderchen zu sehen waren. Ringe in der Nase, in der Unterlippe, in den Augenbrauen und wahrscheinlich auch im Schambereich. Die schlabberigen Klamotten ein paar Nummern zu groß. Mager, vielleicht magersüchtig. Das würde die Anämie erklären. Hätte sie heute Morgen etwas gegessen, würde sie vermutlich gleich mitkotzen.
Nein, das wollte sie jetzt nicht denken. Gestern Abend. Gestern Abend hatte sie sich stark gefühlt. So stark wie schon lange nicht mehr. Sie hatte sogar ihre Wohnung verlassen und war einmal um den Block gegangen. Vorbei an den Gestalten, die die Berliner Nacht in der Nähe des Ku’damms bevölkerten: Junkies, japanische Touristen, verwirrte alte Damen, türkische Jugendliche, Frauen mit großflächigem Make-up in osteuropäischen Farben, alternde Tunten und betrunkene Russen. Die Männer, soweit heterosexuell, über zwanzig und in der Lage, den Blick zu fokussieren, hatten sie taxiert, die Größe ihres Busens, die Grifffestigkeit ihres Hinterns, hatten darüber nachgedacht, wie sie wohl im Bett sein würde. Und ihr hatte das nichts ausgemacht, fast nichts. Sie war unantastbar gewesen. Wie ein schwarzer Engel, der unter Sterblichen wandelt. Kurz hatte sie überlegt, ob sie in eine Kneipe gehen und ein Bier bestellen sollte. Aber das wäre dann doch zu wahnwitzig gewesen.
Als sie wieder zu Hause war, hatte sie so etwas Ähnliches wie Zufriedenheit gefühlt. Ihr Körper, der sie so oft schmählich im Stich ließ, war angenehm locker und leicht gewesen. Die Sache mit Heiner schien endlich überwunden. Ein paar Wochen war das jetzt her, dass er seine Zahnbürste mitgenommen hatte. Dabei hatte sie von vornherein gewusst, dass die Beziehung zum Scheitern verurteilt war. Sie konnte nicht mit einem Mann zusammenleben, sie konnte es nicht ertragen, mit ihm in einem Bett zu liegen, seinen Atem im Nacken zu spüren. Seine Hände, die ihren Körper abtasteten. Sie hatte es wirklich gewollt. Sie mochte Heiner. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie für einen Mann Gefühle entwickeln können. Und Heiner gab sich Mühe. Er zeigte Verständnis, verlangte nicht viel von ihr. Doch das wenige war mehr, als ihr Körper geben konnte. Wenn Heiner in sie eindrang, verkrampfte sie. Danach kamen die üblichen Beschwerden, Vaginalpilz, Blasenentzündung, morgendliche Übelkeit. Sie wollte, aber ihr Körper wollte nicht. Schließlich hatte sie die Entscheidung ihres Körpers akzeptiert. Heiner musste gehen.
Gestern Abend war das fast vergessen. Gestern Abend. Verdammt lange her. Mehr als acht Stunden. Sie hatte Pläne geschmiedet. Mal wieder laufen. Nicht auf dem Stepper in ihrer Wohnung, sondern open air. In dem Park ganz in der Nähe. Jeden Morgen nach dem Aufstehen ein paar Runden drehen. So wie früher. Vor dem Tag X.
Verrückt! Genauso verrückt wie die Idee, mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren.
Der Mann neben ihr faltete seine Zeitung zusammen und stand auf. Endlich. Hansaplatz. Noch drei Stationen. Das würde sie überstehen. Das musste sie überstehen. Ein großer Dunkelhäutiger setzte sich neben sie. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Sie bekam keine Luft mehr. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie würde hier ersticken.
»Alles in Ordnung?«
Der Farbige starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er meinte es freundlich.
Sie nickte. Alles in Ordnung. Bestens. Sprechen war nicht möglich.
Ihr Blick verengte sich. In der Mitte war noch alles scharf, aber an den Rändern verschwammen die Konturen. Tunnelblick. Sauerstoffmangel. Die Frauen auf der Bank gegenüber hatten mitbekommen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Guckten sie an, mitleidig die alte, sensationslüstern die junge. Warum quietschte die U-Bahn wie eine ausgeleierte Luftpumpe? Nein, das war nicht die Bahn, das war sie selbst. Sie hyperventilierte. Kein Sauerstoffmangel, sondern zu viel Sauerstoff. Himmel noch mal, was für ein Schauspiel. Peinlich, entsetzlich peinlich! Junge, relativ gut aussehende Wissenschaftlerin hyperventiliert in U-Bahn. Komischerweise konnte sie nicht aufhören daran zu denken, wie sie auf andere wirkte. Nie. Noch im Sterben würde sie sich Gedanken über ihr Aussehen machen. Dabei waren alle Leichen hässlich.
Sie presste ihre linke Hand vor den Mund und tastete mit der rechten in ihrer Handtasche.
»Kann ich Ihnen helfen?« Der Farbige.
Sie schüttelte den Kopf. Wo war das verdammte Taschentuch? Da: Taschentuch vor den Mund und flach atmen. Sie musste raus. Raus, raus, raus. Sofort. Die U-Bahn wurde langsamer. Gott sei Dank. Aufstehen. Irgendwie. Sie schaffte es. Sie stand.
»Ihre Tasche!«
Was? Der Farbige hielt ihre Tasche hoch. Sie nahm die Tasche und zwängte sich durch die Menschen, stieß jemanden zur Seite, trat einem anderen auf den Fuß. Nur raus. Auf dem Bahnsteig noch mehr Menschen. Sie stieß durch die Menge, rannte jetzt, immer noch das Taschentuch vor dem Mund. Die Treppe hinauf. Sterne blitzten auf, rot, gelb, grün. Kometen rasten durch ihr Blickfeld. Endlich Licht. Tageslicht. Luft zum Atmen.
Sie taumelte ein wenig und lehnte sich gegen einen Laternenmast. Wartete darauf, dass sich ihr Atem beruhigte.
»Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein?«
Noch jemand, der ihr helfen wollte. Ein alter Mann, weißes Hemd und Krawatte, schmaler, schwarz gefärbter Schnurrbart. Alte Schule.
»Danke.« Ihre Stimme klang belegt.
»Soll ich Ihnen etwas holen? Einen Kaffee vielleicht?«
»Nicht nötig. Mir war nur ein bisschen schlecht.«
Der alte Mann ging weiter. Wo war sie hier eigentlich? Sie schaute sich um. Zu Fuß würde sie eine gute Viertelstunde bis zum Institut brauchen. Allemal besser als ein neues Experiment mit dem öffentlichen Nahverkehr.
Mit jedem Schritt fühlte sie sich besser. Die Panikattacke war überwunden. Man musste das positiv sehen. Schlimmer konnte es heute kaum werden.
Als sie die Kanalbrücke überquerte, erblickte sie das Gebäude, in dem sie arbeitete. Bald würde sie bei ihren Zecken sein.
»Der Wichser tut so, als ginge ihn das nichts an.« Britta Hartweg starrte durch die Frontscheibe auf die Straße. »Wie tickt so ein Mensch? Schlägt seine Frau krankenhausreif und ist anschließend kalt wie ein Fisch. Als ich ihm sagte, dass er mitkommen muss, hat er mich nur dumm angegrinst. Ich hatte große Lust, ihm eine reinzuhauen.«
»Was du hoffentlich nicht getan hast?«
»Natürlich nicht. Ich habe bloß die Handschellen ein bisschen enger gestellt.«
So wütend hatte Martin Geis seine Stellvertreterin noch nie erlebt. Britta war normalerweise nicht aus der Ruhe zu bringen. Gab es Probleme mit randalierenden Jugendlichen oder Zechern, die über die Stränge schlugen – ein paar Worte von Britta genügten, um den Frieden wiederherzustellen. Ihre äußere Erscheinung erklärte einen Teil dieser Wirkung. Rund einhundert Kilo, auf einhundertachtzig Zentimeter Körpergröße verteilt, schüchterten die meisten männlichen Großmäuler ein. Den Rest erledigte ihre tiefe, raue Stimme.
Geis schätzte an Britta, dass sie ihre Arbeit kompetent und zuverlässig erledigte. Ansonsten wusste er nicht viel über die Frau, die vermutlich seinen Job bekommen hätte, wäre er nicht vor zwei Jahren von Hannover aus in die Wüste geschickt worden. Britta war in Ostfriesland geboren und hatte jedes ihrer neununddreißig Jahre, abgesehen von der Zeit, während der sie Lehrgänge besuchte, in diesem Landstrich verbracht. Sie lebte allein und schien diesen Zustand auch nicht ändern zu wollen. Ob sie auf Männer, Frauen oder etwas ganz anderes stand, Geis hatte nicht die geringste Ahnung. Am Anfang, als er neu auf der Insel gewesen war, hatte er Britta zu einem Bier eingeladen, weil er dachte, dass sie das von ihm erwartete. Nach einer halben Stunde war ihm klar geworden, dass sie aus dem gleichen Grund eingewilligt hatte. Von da an waren sie stillschweigend übereingekommen, ihre Gespräche auf das Dienstliche zu beschränken. Was sich vor allem im Winter schwierig gestaltete, wenn die Stammbesatzung der Norderneyer Polizeiwache aus lediglich fünf Beamten bestand, die viel Zeit miteinander verbrachten. Während der Sommersaison kamen sieben weitere Kolleginnen und Kollegen aus ganz Niedersachsen hinzu. Freiwillige, die unter chronischen Lungen- und Hautkrankheiten litten oder für ein paar Monate dem Stress der Straße entfliehen wollten. Denn die Arbeit auf Norderney bestand hauptsächlich darin, Präsenz zu zeigen – zu Fuß oder auf dem Fahrrad. Schwere Straftaten waren die absolute Ausnahme.
»Wie geht es Hannah?«, fragte Geis.
»Dr. Habibi hält es für möglich, dass sie innere Verletzungen erlitten hat. Sie klagt über starke Schmerzen.«
»Habibi hat sie untersucht?«
»Er war mit seiner Familie im Restaurant, als es passierte.«
»Und was genau ist passiert?«
»Hannah hat im Restaurant bedient, Eiko war in der Küche.« Britta Hartweg ließ den Polizeiwagen über den Onnen-Visser-Platz rollen. Gleich gegenüber befand sich die hell geklinkerte Polizeistation. »In der Küche ist es dann zum Streit gekommen. Dr. Habibi sagt, die beiden hätten sich angebrüllt. Kurz darauf habe man Schmerzensschreie gehört. Als er in die Küche kam, lag Hannah bereits auf dem Boden. Habibis Frau und ein anderer Restaurantgast haben fast gleichzeitig die Notrufnummer gewählt.«
»War noch jemand in der Küche?«
»Zwei Köche und eine Kellnerin.«
»Und?«
»Alle drei haben weggeguckt. Behaupten sie.«
Geis stöhnte. »Das heißt, wir haben keinen unmittelbaren Augenzeugen.«
Britta stoppte vor der Polizeiwache und stellte den Motor aus. »Doch. Hannah.«
»Ich glaube nicht, dass sie gegen Eiko aussagt. Hast du mit ihr gesprochen?«
»Ja. Auf dem Weg zum Hubschrauber. Sie sagt, wir sollen diesen verdammten Schläger in einer Zelle vermodern lassen.«
Geis schaute seine Stellvertreterin erstaunt an. »Das hat sie gesagt?«
»Mit exakt diesen Worten.«
»Entweder sie hat dazugelernt oder er ist diesmal noch brutaler gewesen als sonst.« Geis öffnete die Autotür und stieg aus. »Wie auch immer, ich bin bereit, ihren Wunsch zu erfüllen.«
Sie betraten die Schleuse. Der Wachhabende drückte auf den Türöffner für die innere Tür.
»Wo ist er?«, fragte Geis.
»Im Vernehmungsraum. Fischer und Kielinger sind bei ihm.«
»Hast du ihnen gesagt, dass sie die Klappe halten sollen, bis ich da bin?«
Britta Hartweg blieb stehen. »Hör mal, Martin!«
»Was ist denn?« Er drehte sich unwillig um.
»Wir sind Dorfpolizisten, schon klar. Und du hast in Hannover Mordkommissionen geleitet, warst einer von den ganz wichtigen Jungs.«
»Na und?« Als er es ausgesprochen hatte, wurde Geis bewusst, wie arrogant das klingen musste.
Auf Brittas Hals breitete sich ein roter Fleck aus. »Aber wir sind nicht blöd. Wir wissen, wie man eine Vernehmung durchführt. Du hättest deinen Termin nicht abbrechen müssen, um uns zu zeigen, wie man mit einem Schläger umgeht.«
Geis atmete tief durch. »Du hast recht. Ihr hättet das auch ohne mich geschafft. Ich wollte nur …« Er versuchte ein Lächeln. »Ehrlich gesagt, wollte ich diesen Typen entkommen. Die sind mir tierisch auf die Nerven gegangen. Und bei Berends dürfen wir keine Zeit verlieren. Sonst kommt in Aurich jemand auf die Idee, uns den Fall wegzunehmen.«
Britta ging nicht auf sein Lächeln ein. »Ich möchte dabei sein.«
»In Ordnung.« Er nickte. »Besorg ein Aufnahmegerät. Ich geh schon mal rein.«
Sie verschwand in ihrem Büro. Vor der letzten Tür am Ende des Flurs blieb Geis stehen. Brittas Vorwurf war berechtigt. Er nahm die Leute, die unter seinem Kommando standen, nicht ernst. Er nahm auch seinen Job nicht ernst. Hier auf Norderney war er nichts anderes als ein Dorfsheriff. Für einen Mann, der Mordkommissionen mit zwanzig und mehr Mitgliedern geleitet hatte, ein gewaltiger Abstieg. Nach seiner Versetzung war er in ein tiefes Loch gefallen. Aber inzwischen hatte er sich mit seinem Schicksal arrangiert. Manchmal genoss er es sogar, auf einer friedlichen, kleinen Insel zu leben, weit weg vom Dreck und menschlichen Müll der Großstadt. Trotzdem waren seine Instinkte noch da. Ein Mann wie Berends konnte sie mühelos wecken.
Mit einem Ruck riss Geis die Tür auf. Eiko Berends saß an dem Tisch in der Mitte des Raums. Ein Mann um die vierzig mit schütterem blondem Haar und Übergewicht. Vermutlich war er schon als Jugendlicher aus dem Leim gegangen. Jetzt wirkte er wie eine große, fette Qualle. Eine Qualle mit blauen Schweinsaugen, in denen nicht die Spur von Reue zu erkennen war.
»Na endlich. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich muss mich um mein Hotel kümmern.«
Saskia Fischer und Björn Kielinger lehnten nebeneinander am Fenster. Sie gehörten zur Sommertruppe und waren erst seit zwei Wochen auf der Insel. Beide trugen die hautenge Uniform der Fahrradstreife. Fischer sah aufreizend gut darin aus. Modelfigur, blonde, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare, braune Haut an den Armen und Unterschenkeln. Eine echte Schönheit.
»Danke.« Geis nickte Fischer zu. »Halten Sie sich bitte zur Verfügung.«
»Was ist jetzt?«, fragte Berends. »Können wir den Quatsch hinter uns bringen?«
Nachdem die beiden Polizisten den Raum verlassen hatten, setzte sich Geis an den Tisch, ohne den Hotelier eines Blickes zu würdigen.
»Was wird das?« Die Stimme klang ein wenig heiser. »Ist das so eine Psychonummer, die Sie hier abziehen?«
Die Tür wurde geöffnet. Britta Hartweg schob sich auf den Stuhl neben ihren Chef und stellte ein Diktiergerät auf den Tisch. »Läuft.« Sie kontrollierte das Display.
»Beginn der Vernehmung: Dienstag, achter Juni …«, Geis warf einen Blick auf seine Armbanduhr, »… fünfzehn Uhr siebenunddreißig. Anwesend sind Hauptkommissar Martin Geis und Oberkommissarin Britta Hartweg. Herr Berends, würden Sie bitte Ihren Namen, Ihre Adresse und Ihr Geburtsdatum nennen.«
»Den kennen Sie doch.«
»Fürs Protokoll.«
Der sachliche Ton erzielte die gewünschte Wirkung. Berends rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Sie tun ja so, als wäre ich ein Schwerverbrecher.«
Sekunden verstrichen.
»Ich habe ein Kind zu Hause. Meine Mutter ist mit Marcel überfordert. Und das Hotel läuft auch nicht von allein.«
»Dann sollten Sie möglichst schnell eine Aussage machen«, sagte Geis. »Wir haben nämlich Zeit. Wenn es sein muss, bis morgen früh.«
»Na schön.« Die Qualle beugte sich vor. »Eiko Berends, wohnhaft im Hotel Strandblick an der Kaiserstraße. Geboren vor einundvierzig Jahren auf Norderney. Wie bereits meine Eltern. Und der Vater meines Vaters. Wir sind Insulaner, keine Zugezogenen.«
»Hannah Berends ist Ihre Frau?«
Ein keuchendes Lachen. »Seit zehn Jahren. Haben Sie nicht schon mal mit ihr geredet, Herr Hauptkommissar? Haben Sie ihr nicht geraten, mich anzuzeigen? Wir haben uns köstlich darüber amüsiert.«
Geis reagierte nicht auf die Bemerkung. »Sie werden der schweren Körperverletzung beschuldigt. Ich weise Sie darauf hin, dass Sie keine Aussage machen müssen.«
Berends grunzte. »Warum so förmlich?«
»Dann schildern Sie uns bitte, was heute Mittag zwischen Ihnen und Ihrer Frau vorgefallen ist!«
»Hannah ist ausgerastet. Weiß der Henker, was plötzlich in die Frau gefahren ist. Wir waren in der Küche, Hochbetrieb, der Speisesaal voller Mittagsgäste. Da brüllt sie mich an, ich soll mich zum Teufel scheren.«
»Und weiter?«
»Sie ist rabiat geworden, wie eine Furie. Hat geschlagen und getreten.«
»Hannah hat Sie angegriffen?« Britta konnte ihre Empörung nicht verbergen.
Geis schob seinen Fuß neben den ihren und tippte ihn an. Nur nicht provozieren lassen.
»Sag ich doch.« Berends’ Schweineaugen funkelten. »Vollkommen verrückt. Ich musste ihr einen Klaps geben, damit sie sich wieder beruhigt.«
»Einen Klaps?« Geis übernahm die Gesprächsführung.
»Vielleicht zwei. Nicht kräftig. Kein Grund, sich auf den Boden zu werfen und den sterbenden Schwan zu mimen. Das hat sie absichtlich gemacht. Damit alle es mitbekommen. Und dieser Araber hatte nichts Besseres zu tun, als sofort die Polizei zu rufen.«
»Dr. Habibi hat richtig gehandelt.« Wieder Britta. »Er hat dafür gesorgt, dass Ihre Frau ins Krankenhaus kommt.«
»Ach was.« Berends machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein paar Beruhigungspillen hätten es auch getan. Heute Abend wäre die Sache vergessen gewesen. Das ganze Theater hätten wir uns sparen können.«
Britta holte Luft. »Sie …«
»Wie groß ist Ihre Frau?«, fragte Geis schnell.
»Einen Meter sechzig. Steht in ihrem Pass.«
»Und wie schwer?«
»Was weiß ich? Fünfundfünfzig, sechzig Kilo. Ist das wichtig?«
»Sie sind rund zwanzig Zentimeter größer und vierzig Kilo schwerer. Und da wollen Sie uns weismachen, dass Ihre Frau Sie bedroht hat?«
Berends lehnte sich zurück und zog sein Hemd aus der Hose. Auf der schwammigen Brust zeichnete sich ein runder roter Fleck ab, der am Rand ins Bläuliche überging. »Und was ist das? Sie hat mich mit einer Pfanne geschlagen. Das Biest.«
»Vielleicht aus Notwehr.«
»Sehe ich aus wie ein Idiot? Ich werde einen Teufel tun, vor meinen Angestellten handgreiflich zu werden. Und schon gar nicht, wenn im Restaurant zwei Drittel der Tische besetzt sind. Das erledigt man anders.«
Geis spürte, wie das Blut in seinen Schläfen pochte. »Und wie erledigt man das?«
»Abends. Ohne Zeugen.«
»Sie geben also zu, dass Sie Ihre Frau schlagen?«
»Gar nichts gebe ich zu. Aber manchmal muss man Hannah zeigen, wer der Herr im Haus ist. Das schadet Frauen genauso wenig wie Kindern.« Berends verzog den Mund. »Da lasse ich mir von einem Festländer nicht reinreden.«
Die Hitze im Kopf nahm zu. Geis warf einen Blick zu Britta hinüber. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Er musste verhindern, dass die Situation außer Kontrolle geriet.
Der Hotelier grinste. »Sie haben doch damit Erfahrung.«
Geis begriff nicht. »Was?«
»Glauben Sie, wir wissen nicht, warum Sie hier sind? Ihre Frau hat Ihren Chef gefickt. Und Sie haben ihn vermöbelt. Deshalb hat man Sie abgeschoben. Den Superbullen aus Hannover. An Ihrer Stelle hätte ich meine Kraft nicht an dem Typen verschwendet. Ist doch normal, dass ein Mann so was macht, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Ich hätte meiner Frau gezeigt, wo der Hammer hängt.«
Der Stuhl kippte um. Geis war aufgesprungen.
»Martin!« Britta stand neben ihm und hielt seinen Arm umklammert. »Martin, kann ich dich kurz sprechen?«
Berends lachte. »War es das? Oder muss ich meinen Anwalt rufen?«
»Kommst du!« Britta zog ihn zur Tür. Geis war wie betäubt. Ein Teil seines Bewusstseins bekam mit, wie seine Stellvertreterin Fischer und Kielinger in das Vernehmungszimmer schickte, registrierte Fischers erstaunten Blick. Dann waren sie in Brittas Büro.
»Hier! Trink einen Schluck!«
Erst jetzt merkte Geis, dass sein Mund vollkommen ausgedörrt war. Er kippte das Glas Wasser in einem Zug.
»Tut mir leid.« Er räusperte sich. »Ich habe mich unprofessionell verhalten.«
Die große Frau hievte eine Pobacke auf den Schreibtisch. »Niemand dreht dir einen Strick daraus. Der Typ ist ein absolutes Arschloch.«
»Trotzdem. Ich hätte mich nicht gehen lassen dürfen.«
»Was machen wir jetzt mit ihm?«
»Wir halten ihn fest.«
»Ohne Haftbefehl?«
»Ich rede mit dem Staatsanwalt. Bis morgen ist Berends vorläufig festgenommen. Dann sehen wir weiter. Wir brauchen Zeugenaussagen. Sprich noch mal mit den Angestellten, die in der Küche gearbeitet haben. Die müssen etwas gesehen haben. Und morgen fahre ich aufs Festland. Falls Hannah in der Lage ist, eine Aussage zu machen, kriegen wir ihn.«
»Und wenn Berends die Wahrheit sagt? Wenn Hannah ihn tatsächlich angegriffen hat?«
Geis hob den Kopf. »Glaubst du das?«
Britta zuckte mit den Schultern. »Möglich wäre es. Aufgestaute Wut. Nach langen Jahren der Demütigung.« Sie blickte ihm in die Augen. »Tu mir einen Gefallen, Martin: Halt dich von ihm fern! Mach Schluss für heute!«
Geis nickte. »Ich erledige nur noch ein bisschen Bürokram.«
Er hatte keine Lust, den Abend in seiner Wohnung zu verbringen. Das Zweizimmerapartment befand sich nur wenige Meter von der Polizeistation entfernt. Praktisch für einen Single. Und so sah es auch aus. Unpersönlich. In den zwei Jahren hatte er es nicht geschafft, alle Umzugskartons auszupacken oder Bilder aufzuhängen. Die Wohnung war ein Provisorium. Wie sein Leben.
Geis schlenderte durch die Fußgängerzone Richtung Hafen. Der Platz, an dem er sich am liebsten aufhielt, lag auf dem Wasser. Eine Motorjacht. Nichts Protziges. Ein kleines Shetland-Boot mit Verdeck und Kajüte, das er vor einem Jahr gebraucht gekauft hatte. Bedingt hochseetauglich, aber es reichte, um zum Festland oder einer der anderen ostfriesischen Inseln zu schippern. Was er selten genug tat. Oft saß er im Sommer einfach nur auf dem Boot und guckte zu, wie die Sonne unterging. Leerte dabei ein oder zwei Flaschen Bier und hing seinen Gedanken nach. Kroch anschließend in die Koje. Auf dem Boot fühlte er sich geborgen. Wie in einem Kokon, der ihn vor der Welt abschirmte.
Im Jachthafen war noch nicht viel los. Auf zwei großen Booten brannte Licht, die anderen dümpelten verlassen in Reih und Glied. Vom Holzsteg aus kletterte Geis über mehrere andere Jachten, bis er sein Shetland erreichte. Den Namen Makabo hatte er vom Vorbesitzer übernommen, er wusste nicht einmal, was er bedeutete. Es bringe Unglück, ein Boot umzubenennen, hatte man ihm gesagt, also ließ er den Schriftzug unverändert. In der Kühlbox standen noch drei Flaschen Bier. Eigentlich war es zu kalt, um auf dem Deck zu sitzen, aber er musste einen klaren Kopf bekommen. Nachdenken. Verstehen. Begreifen. Warum er die alte Geschichte nicht abschließen konnte. Was ihn daran hinderte, ein neues Kapitel anzufangen. Es ging nicht nur um Michaela, seine Exfrau. Oder um Goronek, seinen Exchef. Dass er den Kontakt zu Annika, seiner dreizehnjährigen Tochter, verlor, traf ihn am härtesten. Warum war er nicht in der Lage, eine vernünftige Beziehung zu pflegen?
Geis zog sein Handy aus der Tasche und schaltete es ein. Drei Anrufe von Fokke Janssen. Auf der Mailbox die Bitte, eher ein Befehl, umgehend zurückzurufen.
»Geis hier.«
»Warum melden Sie sich nicht?«
»Tu ich doch.«
»Ich habe in der Station angerufen. Ich habe …«
»Um was geht es?«
»Wieso erfahre ich vom Staatsanwalt, dass Sie einen Haftbefehl beantragen? So etwas fällt in unsere Zuständigkeit. Dafür haben wir Fachkommissariate.«
»Bis Ihre Leute hier sind …«
»Anfangsermittlungen«, unterbrach ihn Janssen. »Alles andere übersteigt Ihre Kompetenz.«
»Nichts anderes haben wir gemacht.« Geis schilderte den Fall in groben Zügen.
»Morgen früh habe ich Ihren Bericht«, sagte Janssen. »Einschließlich der Zeugenaussagen. Und dieser Hotelier …«
»Berends.«
»… wird nach Aurich überstellt. Sie können ihn nicht auf Ihrer Wache festhalten.«
»In Ordnung.«
Geis beendete das Gespräch und wählte die nächste Nummer. »Martin. Kann ich Annika sprechen?«
»Sie ist bei einer Freundin. Ruf morgen wieder an!«
»Werde ich.«
Michaela hatte schon aufgelegt. Die Sonne tauchte ins Wasser.
Zecken waren faszinierende Tiere. Seit über hundert Millionen Jahren gab es Zecken auf der Erde. Sie hatten schon den Dinosauriern Blut abgezapft, alle Klimaveränderungen überstanden, konnten sich unterschiedlichsten Umweltbedingungen anpassen, jahrelang ohne Nahrungsaufnahme überleben, die Körperfunktionen auf ein Minimum reduzieren und innerhalb weniger Tage ihr eigenes Körpergewicht um das Zweihundertfache steigern. Ein Prunkstück der Evolution. Viel besser geeignet, fremde Planeten zu besiedeln, als der Mensch es jemals sein würde. Allerdings würden sie dazu wohl kaum eine Gelegenheit bekommen. Denn Zecken waren bei allen anderen Lebewesen ziemlich unbeliebt. Was die Zecken nicht störte. Sie hielten Wirbeltiere für große, leckere Mahlzeiten.
Im Grunde bestand der Sinn des Zeckenlebens darin, auf die nächste Nahrung zu warten. Darauf waren alle Sinnesorgane ausgerichtet. Zecken nahmen einen möglichen Wirt schon aus weiter Entfernung wahr. Sie spürten Vibrationen, kleinste Temperaturveränderungen. Mit ihrem mobilen Chemielabor, dem hallerschen Organ am letzten Beinelement des ersten Beinpaares, registrierten sie Ammoniak, Kohlendioxid, Milchsäure und Buttersäure, das, was Menschen und Tiere absonderten, wenn sie atmeten und schwitzten. Hatte die Zecke einen Wirt gefunden, ließ sie sich Zeit. Kein Quickie wie bei einer Mücke oder einer Bremse, Stachel rein und wieder weg – das kam für die Zecke nicht infrage. Mit Muße suchte sie eine optimale Einstichstelle. Zecken waren sehr wählerisch, sie bevorzugten warme, gut durchblutete, dünne Haut, eine Kniekehle oder den Haaransatz. Oft dauerte es Stunden, bis die Zecke ihre Blutmahlzeit begann. Und dann ging sie sehr umsichtig vor. Sie benutzte Gerinnungshemmer, Betäubungsmittel und entzündungshemmende Wirkstoffe, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Denn für eine ausgewachsene, weibliche Zecke war das mehrtägige, opulente Blutschlemmen gleichzeitig die Henkersmahlzeit. Danach kamen nur noch Eierlegen und Tod.
Viola de Monti beschäftigte sich seit Jahren mit Zecken. Sie kannte die Namen fast aller achthunderfünfzig auf der Erde lebenden Arten, ihre Verbreitungsgebiete und die Krankheiten, die sie übertrugen. De Montis Aufgabe war es, die von Zecken ausgehenden Gefahren einzuschätzen. Wo traten neue Fälle von Borreliose und Frühsommer-Meningoenzephalitis auf, wo lagen Risikogebiete, für die Warnungen und Impfempfehlungen ausgesprochen werden mussten? Welche Wanderbewegungen brachten neue Zeckenarten und bislang unbekannte Krankheiten nach Deutschland? Musste man sich vor Anaplasmen, Rickettsiosen, dem Krim-Kongo-Fieber oder dem Q-Fieber wappnen, Plagen, die im südlichen Europa oder in anderen Erdteilen von Zecken ausgingen? Denn dass Zecken zu den Gewinnern der Klimaerwärmung gehörten, stand außer Frage. Sie kletterten in größere Höhen und strebten unaufhaltsam nordwärts. In Schweden hatten sie innerhalb von zehn Jahren rund hundert Kilometer überwunden. Auch in Deutschland nahm die Zeckenpopulation infolge der milden Winter rasant zu. Und der Gemeine Holzbock, die verbreitetste Zeckenart, war längst nicht mehr der einzige Krankheitsüberträger. Von Osten näherte sich die Taigazecke und von Süden rückte Dermacentor reticulatus, die Auwaldzecke, heran.
Viola griff nach einem Untersuchungsbericht, der sich mit der bakteriellen Verseuchung von Auwaldzecken beschäftigte. In vierzig Prozent der Tiere hatte man Rickettsien gefunden, kleine Bakterien, die für eine ganze Reihe von Krankheiten verantwortlich waren, von harmlosen Haut- und Lymphknotenveränderungen bis hin zu hohem Fieber und Herzmuskelentzündungen. Opfer von Stichen berichteten zudem von Taubheitsgefühlen, was darauf schließen ließ, dass Auwaldzecken Toxine absonderten.
Neben der Auwaldzecke würden bestimmt auch andere Zeckenarten in Deutschland eine neue Heimat finden. Vereinzelt waren bereits Braune Hundezecken und aus dem Balkan stammende Laufzecken gesichtet worden. Das Arbeitsgebiet von Dr. Viola de Monti stand nicht in Gefahr, demnächst überflüssig zu werden.
Darüber machte sich die Mikrobiologin ohnehin keine Sorgen. Als hoch qualifizierte Spezialistin würde sie immer einen Job finden. Probleme bereiteten ihr die Menschen, mit denen sie zu tun hatte. All die gutmeinenden, wohlwollenden, eifersüchtigen und besitzergreifenden Exemplare der Gattung Homo sapiens, die in ihren Lebensraum eindrangen. Wie heute Morgen, in der U-Bahn. Gegen Zecken konnte man sich schützen, gegen Menschen nicht.
War es pervers, dass sie im Laufe der Zeit eine gewisse Bewunderung für die blutsaugenden Spinnentiere entwickelt hatte? Oder eine professionelle Deformation, so wie Sargschreiner den Geruch von frischen Särgen liebten oder Generäle den Klang von Kanonenfeuer? Viele Menschen sammelten Schmetterlinge, Viola besaß eine Zeckensammlung. Auf einige, seltene Arten aus Südamerika war sie richtiggehend stolz. Abends, bei einem Glas Wein, konnte sie herrlich abschalten, wenn sie die Tiere durch eine Lupe betrachtete. Und als Heiner sie zum ersten Mal in ihrer Wohnung besuchte, hatte sie den Satz gesagt, der ihr schon lange auf der Zunge lag: Möchtest du meine Zeckensammlung sehen? Anschließend hatte sie schallend gelacht, sein Zusammenzucken und der entgeisterte Gesichtsausdruck waren zu putzig gewesen. Und das bei einem Mann, der immerhin im Gesundheitsministerium arbeitete.
Die blaue Stahltür ihres Büros öffnete sich. Daniel Felsenburg, einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter ihrer Abteilung, kam herein.
»Wir haben zwei neue Fälle von FSME. Ein älteres Paar.«
»Wo?« Viola ärgerte sich, dass Daniel schon wieder das Anklopfen vergessen hatte. Obwohl sie ihm mehrfach gesagt hatte, wie wenig sie es leiden konnte, wenn er einfach hereinplatzte.
»Du wirst es nicht glauben.« Ein Lächeln spielte um seine Lippen. Daniel sah aus wie ein junger Römer. Adlernase, braune Augen und lockiges schwarzes Haar. Trotzdem nicht Violas Typ. Auch wenn er sich anstrengte.
»Mach’s nicht so spannend!«
»In Köln.«
Das Lächeln verstärkte sich und bekam einen sexuellen Unterton. Er konnte es nicht lassen, sie anzumachen. Aus reiner Gewohnheit, vermutete Viola. Wahrscheinlich zog er die Masche bei jeder Frau ab, die in sein Beuteschema passte.
»Gibt es Hinweise auf den Ort der Infektion?«
»Die beiden haben Köln nicht verlassen.«
»Klingt nicht sehr glaubwürdig.« Viola blickte ihm kühl in die Augen. »Vielleicht haben sie vergessen, dass sie letzte Woche einen Ausflug in den Schwarzwald gemacht haben.«
»Denke ich nicht. Es handelt sich um Hartz-IV-Empfänger. Die würden sich an einen Ausflug erinnern. Angeblich haben sie sich die Zecken in einem Park in der Innenstadt eingefangen.«
»Ein Park in der Innenstadt?«, wiederholte Viola skeptisch. »Das wäre ungewöhnlich.«