Unter Hausarrest in den Tuilerien in Paris

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»Ihr wisst nicht, meine Tochter, was das Schicksal für Euch vorgesehen hat; ob Ihr in diesem Königreich bleibt oder ob Ihr in einem anderen wohnen werdet«,

sagte Louis XVI. am 8. 4. 1790, dem Tag ihrer Erstkommunion, zu seiner Tochter Marie Thérèse, bevor sie zur Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois fuhren. Die Mutter hatte sie am Morgen in das Zimmer des Königs gebracht, wo sie vor ihm niederkniete, damit er sie segnete. Seine Worte sind durch den Kammerdiener Hue überliefert. Sie solle aber niemals vergessen, dass sie von Gott ihren hohen Rang nur bekommen habe, damit sie für das Wohl ihrer Untergebenen wirke und deren Leiden mindere.1

Was Marie Thérèse dabei gedacht hat, wissen wir nicht. Sie lebte mit ihren Eltern zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Monaten im Stadtschloss zu Paris und hatte des Öfteren eine früher nicht denkbare Respektlosigkeit des Volkes ihren Eltern gegenüber miterlebt. Auch die Tatsache, dass sie nicht, wie es zur Erstkommunion im Königshaus Tradition war, ein kostbares Diamantengeschmeide bekam, war ein deutliches Zeichen dafür, wie sehr sich die Zeiten geändert hatten. Louis XVI. hatte beschlossen, diesen kostspieligen Brauch in Anbetracht der innenpolitischen Situation abzuschaffen. Er appellierte dabei an die Vernunft seiner Tochter. Das Volk leide, und sie würde sicher eher auf Juwelen verzichten wollen, als dass das Volk für ihre Juwelen auf Brot verzichten müsse.2

Versailles mit seiner unvorstellbaren Pracht war weit weg. Als die Familie am 6. Oktober 1789 nach über sechs Stunden Fahrt in Paris angekommen war, war das ehemalige Stadtschloss der französischen Könige, das Palais des Tuileries, in dem die Familie für die nächsten zwei Jahre wohnen sollte, in keiner Weise vorbereitet. Nachdem Louis XIV. 1665 seine Residenz nach Versailles verlegt hatte, war das Schloss nur noch selten bewohnt worden. »Äußerlich wirkte der zerfallene Bau eindrucksvoll altertümlich«, schrieb Madame de Staël, eine gute Freundin der Königin, über ihren ersten Besuch. »Da man durchaus nicht mit der Ankunft der königlichen Familie gerechnet hatte, waren nur wenig Räume bewohnbar, und die Königin musste für ihre Kinder im gleichen Raum, in dem sie empfing, Feldbetten aufstellen lassen. Sie entschuldigte sich bei uns und meinte: Ihr wisst, dass ich nicht erwartet habe, hierher zu kommen.«3

Pauline de Tourzel, später verheiratet mit dem Marquis de Béarn, beschreibt in ihren Memoiren, dass das Schloss eine Baustelle war. Überall standen Leitern herum, die wichtigsten Möbel fehlten, die vorhandenen seien verfallen und die Tapeten alt und ausgeblichen. »Alles atmete ein Gefühl der Trauer zusammen mit den Eindrücken, die wir nach der schmerzhaften Reise mit uns trugen.«4

Es dauerte einige Wochen, bis das Stadtschloss einigermaßen wohnlich eingerichtet war. Möbel, Gemälde, Kleider, Geschirr und andere Einrichtungsgegenstände wurden aus Versailles gebracht. Nach dem Frühstück, das alle getrennt einnahmen, traf man sich zur Messe. Gegen ein Uhr wurde das Mittagessen gereicht. Zur Zerstreuung spielten die Männer Billard, die Damen stickten. Zum Abendessen kamen regelmäßig der Graf de Provence, der Bruder des Königs, und seine Frau, die nun auch in Paris wohnten.

Um wenigstens ihrer Tochter ein wenig Normalität und fröhliche Abwechslung zu bieten, lud Marie Antoinette öfter Kinder in Marie Thérèses Alter ein, die in den Räumen der Madame de Tourzel Verstecken spielen durften. Die ältere Pauline beaufsichtigte sie.5 Oft spielte sie das bis heute beliebte strategische Brettspiel Reversi mit ihr. Wie die Listen im Archiv zeigen, lebte auch hier die kleine Ernestine bei der königlichen Familie.6

In den ersten Wochen lebte das Königspaar zurückgezogen im Schloss. Aber auf Anraten sowohl der französischen Minister als auch des österreichischen Gesandten Mercy zeigte sich die Familie immer öfter in der Stadt. Der König nahm Truppenparaden ab, Marie Antoinette unternahm mit ihren Kindern Ausflüge, die ihr die Sympathie des Volkes sichern sollten: zum Beispiel ins Findelhaus oder zur Spiegelmanufaktur im Vorort Saint-Antoine.

Zweimal in der Woche gab es einen Empfang bei der Königin, öffentliches Speisen war sonntags angesagt. Bälle, Konzerte, Theateraufführungen aber waren Vergnügungen der Vergangenheit. »Man würde nicht vermuten, dass es in Paris einen Hof gibt«, schreibt der Comte de Mercy. Wie in Versailles stand auch in Paris die Königsresidenz dem Volk offen. Im Saal der Schweizer Garden trafen Menschen aller sozialen Stände friedlich aufeinander, wie Graf Esterházy einem Freund schrieb. »Schlagende und Geschlagene fanden sich hier in einem bunten Gemisch wieder … Die Urbanität und Gegenwart des Hofes mäßigt, sorgt für Annäherung und anscheinend für Eintracht …«7

Pauline de Tourzel berichtet in der Rückschau auf diese Wochen – und sie hatte, als sie dies schrieb, schon drei Revolutionen mitgemacht –, dass es in einer Revolution immer wieder Phasen der Ruhe gebe. Dies lasse jedes Mal trügerische Hoffnung aufkommen, dass alles vorbei sei, und aus Furcht, diese relative Ruhe zu stören, versäume man es, Vorkehrungen zu treffen. Nur so kann man wohl verstehen, warum das Königspaar nicht die sich mehrfach bietenden Fluchtmöglichkeiten ergriff, sondern abwartete, ob sich nicht doch die Revolution nur als kurzer Albtraum erwies, aus dem man bald wieder aufwachen würde.8

Auch wenn es noch immer vereinzelte Hochrufe beim Erscheinen der Königsfamilie gab, so war die Stimmung im Volk keinesfalls kalkulierbar. Immer wieder zogen Menschenmassen am Schloss vorbei, die skandierten: »Keine Not mehr an Brot! Wir haben den Bäcker, die Bäckerin und den Bäckergesellen unter uns!«9

Manche drangen unter dem Vorwand, sie seien Abgeordnete, bis zum König vor. Beleidigungen und Bedrohungen waren an der Tagesordnung. Noch weigerte sich der König, das Schloss zu sperren – er glaubte an eine kurzzeitige Verwirrung seiner Untertanen; nur für die kurze Zeit, wenn sie im Park spazieren gingen, wurde dieser für das Publikum geschlossen. Der König sei feige, hieß es daraufhin.10

»Eure Majestät ist (eine) Gefangene«, brachte Marie Antoinettes Sekretär Augeard die Situation auf den Punkt11 – zum Entsetzen der Königin, die genau wie ihr Mann dies nicht wahrhaben wollte und die Wachen im und vor dem Schloss als Beschützer und nicht als Bewacher ansah. Sie waren beides, wie sich in der folgenden Zeit immer wieder zeigen sollte.

In der Nationalversammlung, die dem König nach Paris gefolgt war, wurden die Monarchisten stetig weiter zurückgedrängt. Die Auseinandersetzungen um das Schicksal des Königtums wurden von den Vertretern der konstitutionellen Monarchie und den sogenannten Demokraten wie Robespierre, Pétion und Buzot, die für die Abschaffung der Monarchie und die Errichtung einer Republik waren, immer härter geführt.

Die Menschen in den Provinzen verfolgten das Geschehen in Paris mit wachsender Sorge. Viele waren anfangs durchaus aufseiten der Revolutionäre, wandten sich aber mit Beginn der Grausamkeiten angeekelt ab. Andere wie die Baronin Oberkirch lehnten jede Änderung im System von vorneherein ab. Sie beendete ihre Memoiren im Herbst 1789 gleichzeitig mit dem Ende des Ancien Régimes, dessen Teil sie war: »Ich will nicht, ich kann nicht mehr sagen. Alles, was ich verehre, stirbt; was ich liebe, ist bedroht; es bleibt mir nur noch die Kraft, um zu leiden, und um nichts in der Welt würde ich diese furchtbaren Tage [der Revolution, Anm. d. Autorin] in die Länge ziehen. Adieu also an diese verronnenen Stunden, um die Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Was die Zukunft betrifft, möge Gott sie schützen.«12

Am 4. 2. 1790 verkündete der König auch im Namen der Königin feierlich vor der Nationalversammlung, dass er die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie, an der die Abgeordneten arbeiteten, annehmen würde. Er sagte in seiner umjubelten Ansprache, dass er sich als Führer einer Revolution, die dem Willen des Volkes entspreche, betrachte.13 Vor den Delegierten, die das Königspaar zurück in die Tuilerien brachten, hielt auch Marie Antoinette eine Rede, für die sie Applaus erntete. »Die unglückliche Fürstin schwamm in Tränen und zeigte, wie viel Überwindung sie dieser Schritt kostete.«14 Die Schwester des Königs, Madame Elisabeth, schreibt an ihre Freundin, Madame de Bombelles: »Die Monster sind die Herren. Der König – könnt Ihr es glauben? – soll nicht einmal die nötige exekutive Macht bekommen, die ihn davor bewahrt, eine absolute Null in seinem Königreich zu sein.«15

Die Unterzeichnung der Verfassung durch den König am 14. September löste in Paris Freudenfeste aus, denen sich auch die Königsfamilie nicht ganz entziehen konnte, ohne unglaubwürdig zu werden. Die Königin, Marie Thérèse und Madame Elisabeth gingen ins Theater. Man spielte die komische Oper »Die vermutliche Gouvernante« von Jean-Louis Laruette. Unglücklicherweise, wie Madame Campan schreibt, wandte sich die Sängerin der Königin zu, während sie die Zeilen sang: »Ah! Wie liebe ich meine Herrin!« Sofort erhoben sich 20 Stimmen im Parterre, die schrien: »Keine Herrin mehr! Keinen Herrn! Freiheit!« Einige Herren antworteten aus den Logen und von den Balkonen: »Es lebe die Königin! Es lebe der König! Sie sollen für immer leben!!« Und man widersprach aus dem Parterre: »Keinen Herrn! Keine Königin!« Der Streit wurde hitziger, das Parterre war gespalten, man schlug sich, die Jakobiner waren unterlegen. Büschel schwarzer Haare flogen durch den Saal, bis eine zahlreiche Wachmannschaft eingriff. Die Königin bewahrte Haltung und blieb ruhig. Als sie schließlich das Theater verließ, applaudierten viele. Es war das letzte Mal, dass sie und ihre Familie ein Theater betraten.16

Nur die wenigsten Franzosen glaubten, dass der König und seine Frau wirklich mit den Ideen der Verfassung einverstanden waren. Von Anfang an wurde deshalb in Paris jeder ihrer Schritte misstrauisch beobachtet. In dieser Zeit herrschte große Furcht vor der Konterrevolution. Sowohl die Deputierten der Nationalversammlung als auch das Volk befürchteten einen Angriff auf Frankreich, der von den königlichen Prinzen und anderen Adligen, die aus Frankreich geflüchtet waren, angeführt würde, um mithilfe der europäischen Mächte die Errungenschaften der Revolution zu zerstören. Als Haupt dieser vermuteten Konterrevolution galt das Königspaar, wobei man hier vor allem der »Österreicherin« seit Langem jede nur erdenkliche Schlechtigkeit zutraute. Jedes Gerücht, mochte es auch noch so sehr der realen Basis entbehren, führte daher zu unkontrollierbarer Hysterie bei der Masse des Pariser Volkes.

In den Archiven der Königshäuser Europas liegen die Beweise für das Doppelspiel, das Louis XVI. und Marie Antoinette – aus nachvollziehbarer Verzweiflung heraus – tatsächlich spielten. Zunächst war man in Europa allerdings irritiert, als die Kunde von der Rede des Königs die Runde machte. »Der König von Frankreich muss zeigen, dass er Unterstützung verdient; es wäre unsinnig und unmöglich, ihn gegen seinen Willen zum Monarchen zu machen«, monierte der spanische König.17

Die meiste Hilfe versprach sich das Königspaar von den Verwandten Marie Antoinettes in Wien, wo am 20. 2. 1790 Kaiser Joseph II. gestorben war, dem sein Bruder Leopold auf dem Thron folgte. »Nur in den Ausländern finden wir Hilfsmittel und Mitgefühl«, schrieb Marie Antoinette an ihn.18

Während der König im Ausland um Hilfe nachsuchte, überlegten sich in Paris die unterschiedlichsten Gruppierungen, wie sie den König für ihre eigenen Zwecke nutzen könnten. Da war zum Beispiel der Graf de Provence, der Bruder des Königs und spätere Nachfolger (Louis XVIII.), der plante, seinen Bruder samt Familie zu entführen, um sich dann selber zum Regenten und später zum König zu machen. Diese Pläne flogen jedoch auf, und während sich der Graf ohne Schaden aus der Affäre ziehen konnte, schädigte sein Vorhaben das Ansehen der Königsfamilie in den Tuilerien nachhaltig.

Andere, wie der Abgeordnete Mirabeau, versuchten den König weiter für eine konstitutionelle Monarchie zu gewinnen19, und wenn das Königspaar seine Chancen realistisch eingeschätzt hätte und sich damit hätte anfreunden können, wäre vieles wohl anders ausgegangen.

Im Mai 1790 gab es erneut große Aufregung wegen eines angeblich bevorstehenden Komplotts der aristokratischen Partei. Hinzu kam die Veröffentlichung des sogenannten Véritable Livre rouge, in denen die heimlichen Ausgaben Louis’ XV. und Louis’ XVI. verzeichnet waren. Die unvorstellbare Verschwendung von Steuergeldern durch die Vorgänger-Könige in Versailles machte in Paris, wo die Menschen hungerten, die Runde und löste eine ungeheure Wut auf das Königspaar und alle Adligen aus. Diese Wut konzentrierte sich vor allem auf das »österreichische Komitee …, diese Kette wider das Volk, deren erstes Glied in den Tuilerien sitzt und die alle Höfe Europas durchzieht … überall erblickt das Volk Verräter und Verschwörer«.20

Die Stimmung war so aufgeheizt, dass die Nationalversammlung dem Wunsch der Königsfamilie, Anfang Juni in den Urlaub nach Saint-Cloud vor den Toren der Hauptstadt zu fahren, gern nachgab. Unter der Bewachung von Nationalgardisten, die den König vor Angriffen aus dem Volk schützen sollten, fuhren die Kutschen davon. Im Schloss von Saint-Cloud führten sie ein Leben, das an Versailles erinnerte. Der König ging auf die Jagd, es gab Theateraufführungen und Konzerte, Kutschfahrten und Abendgesellschaften. Noch konnte es sich Madame Elisabeth, die Schwester des Königs, leisten, mit Galgenhumor und beißender Ironie aus Saint-Cloud den folgenden Brief an ihre Freundin Madame de Bombelles zu schicken, die fern von Paris in Madrid weilte: »Ich werde dir nicht von den Dekreten schreiben, die täglich herausgegeben werden, nicht einmal von dem, das an einem gewissen Samstag herausgekommen ist [in dem die Abschaffung adliger Titel bekannt gegeben worden war, Anm. d. Autorin]. Es bekümmert die Leute, die es betrifft, nicht, aber es plagt die Übelwollenden und die, die es herausgegeben haben, denn in allen Gesellschaftsschichten wurde es viel diskutiert. Was mich betrifft, ich denke, ich werde mich Mademoiselle Capet, oder Hugues, oder Robert nennen, denn ich denke, man wird mir nicht erlauben, meinen richtigen Namen zu tragen: von Frankreich. All dies amüsiert mich sehr, und wenn diese Gentlemen nur solche Dekrete wie dieses verfassten, würde ich auch noch Liebe zu dem tiefen Respekt hinzufügen, den ich für sie empfinde.«21

Auch hier in Saint-Cloud hätten sich Möglichkeiten zur Flucht geboten, denn das Königspaar konnte sich ohne jede Bewachung relativ frei außerhalb des Schlosses bewegen. Vielleicht täuschten sie sich gerade deshalb über ihre Situation und lehnten entsprechende Angebote ab.22