Jacques Berndorf
Eifel-Filz
Kriminalroman
Originalausgabe © 1995 by GRAFIT Verlag GmbH
E-Book © 2014 by GRAFIT Verlag GmbH,
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Umschlagillustration: Peter Bucker
eISBN 978-3-89425-824-5
Jacques Berndorf – Pseudonym des Journalisten Michael Preute – wurde 1936 in Duisburg geboren und lebt heute in der Eifel. Er war viele Jahre als Journalist tätig, arbeitete unter anderem für den stern und den Spiegel, bis er sich ganz dem Krimischreiben widmete.
Seine Siggi-Baumeister-Geschichten haben Kultstatus, im Grafit Verlag sind erschienen: Eifel-Blues, Eifel-Gold, Eifel-Filz, Eifel-Schnee, Eifel-Feuer, Eifel-Rallye, Eifel-Jagd, Eifel-Sturm, Eifel-Müll, Eifel-Wasser, Eifel-Liebe, Eifel-Träume und Eifel-Kreuz.
Wissen Sie, was die Leute in Kolumbien sagen?
Du hast die Wahl. Entweder machen wir dich reich,
oder wir machen dich tot.
John le Carré in Der Nacht-Manager
Für die Römers und Matthias Nitzsche. Dankbar an Birgit Rath, die kluge Fragen stellte, und Manfred Silwanus, der unermüdlich den Computer besprach – und an Gaby Trosdorff und Andreas Kittler, die sehr resolut geholfen haben.
Impressum
Der Autor
Zitat
Widmung
ERSTES KAPITEL
ZWEITES KAPITEL
DRITTES KAPITEL
VIERTES KAPITEL
FÜNFTES KAPITEL
SECHSTES KAPITEL
SIEBTES KAPITEL
ACHTES KAPITEL
NEUNTES KAPITEL
ZEHNTES KAPITEL
ELFTES KAPITEL
Meine Katze Krümel ist tot. Leukose. Sieben Jahre begleitete sie mich, dann warf es sie nieder. Sie lag zwei Tage herum, fraß nicht mehr, hatte hochgelbe Ohren, der Blick war verschleiert. Sie maunzte nicht, sie hatte Fieber, 39,8 Grad, sie schleppte sich, konnte die Hinterläufe nicht mehr bewegen, fühlte wohl auch starke Schmerzen. Ich fuhr an einem Samstag mit ihr zum Berthold Mettler nach Daun. Es war nichts mehr zu machen, das Zauberwort hieß T 61, ein starkes Barbiturat, das augenblicklich zum Blackout führt.
Sie hat nichts gespürt, oder wenigstens machte das so den Anschein. Wahrscheinlich hockt sie jetzt auf der Wolke sieben im Katzenhimmel und grinst über mich, weil ich trauere. Sie hatte so eine unnachahmliche Art, sich quer über das Telefon zu legen oder diagonal über die Tastatur der Schreibmaschine, sie war so unnachahmlich arrogant.
Momo ist mir geblieben, der fuchsige Kater, der nach acht Monaten satte fünf Kilo wiegt und den Kopf eines kleinen Löwen hat. Zuweilen rennt er gehetzt durch das Haus auf der Suche nach Krümel, und es hat den Anschein, als trauere auch er. Wahrscheinlich ist das Theater, wahrscheinlich hat er nur ausgerechnet, um wie viel sein Anteil am Fressen steigt. Wenn ich ihm einen Napf voll erstklassiger Katzenkonserve hinstelle, frisst er den im Handumdrehen leer, wendet sich mir mit großen Bernsteinaugen zu und maunzt sich mit weit offenem Maul das Hungerelend aus der Katzenseele. Nach etwa fünf Minuten geht er dann genussvoll kacken, kehrt zurück, dreht und wendet sich, als wolle er sagen: »Guck mal, wie schlank der Hunger macht!« – und maunzt weiter. Er gehört zu den Kreaturen, die ich gelegentlich gerne strangulieren würde, aber wenn er den Hass in meinen Augen sieht, verschwindet er.
Das dritte Familienmitglied ist Paul. Paul ist ein grau getigertes Wesen, das ein paar Wochen alt und vater- und mutterlos irgendwo im Dorf aufgefunden worden ist. Wahrscheinlich hat jemand gesagt: »Frag mal bei diesem Baumeister nach«, und so stand eine verlegene Zwölfjährige vor der Tür, die stockend erklärte: »Also, jemand meinte, dass Sie vielleicht die Katze nehmen …«
Ich nahm sie, ich hob ihr den Schwanz, ich taufte sie Paul, und dann war Momo da, der der Konkurrenz die erste Tracht Prügel verabreichte.
Nach etwa vierundzwanzig Stunden drehte sich der Spieß um, weil Paul als der wesentlich Jüngere blitzschnell herausgefunden hatte, wie er Momo um die Katzenpfote wickeln konnte. Man neigt elegant das Köpfchen bis auf den Boden und bietet den Bauch. Das wird sofort zum Ritual: Wann immer sich Momo oder Baumeister nähern, fällt Paul mit der Geschwindigkeit eines Infanteristen im Gefecht zu Boden und mimt toten Mann. Umgekehrt hat er in Zeiten jugendlichen Übermutes herausgefunden, dass Jeans an menschlichen Beinen hervorragende Kratzbäume sind. Er springt locker aus einer Entfernung von einem Meter an den Oberschenkel und nagelt sich fest. Baumeister wimmert, hat aber Disziplin genug, nicht sofort nach dem Hackebeilchen zu greifen.
Also Momo und Paul. Meine Katzenwelt ist wieder in Ordnung, und wenn ich beobachte, wie Momo Paul beibringt, die Zahl der heimischen Mäuse zu dezimieren, wird mir warm ums Herz.
Momo weckte mich an jenem Morgen gegen sechs Uhr, legte eine nicht ganz tote Maus neben den Wecker und knurrte dann wild, weil Paul hinter ihm auftauchte und die Maus für sich beanspruchte. Wenn Katzen sich prügeln, ist die Nacht grundsätzlich zu Ende. Momo hatte das Schwanzende der Maus im Maul und Paul den zierlichen grauen Kopf. Vor dem Frühstück ist mir so viel Natur einfach zuwider. Ich brüllte also: »Raus!«, und sprang auf. Das hatte zur Folge, dass ich mit einer geköpften Maus allein blieb, schlecht gelaunt war und überlegte, ob das Landleben wirklich so schön ist, wie ich immer zu behaupten pflege.
Es war ein Montag, die Eifel explodierte in den wildesten Herbstfarben, der Indian Summer in Vermont ist dagegen ein matter Abklatsch. Über den Hügeln drückte sich behutsam der Nebel, und die Sonne lag noch im Schlaf. Die Katzen erschienen wieder und rieben sich an meinen Beinen, weil ich der Herr des Dosenöffners bin. Paul schnurrte, und Momo behauptete wieder, in den letzten Zügen zu liegen. Katzen können ekelhaft sein.
Ich machte mir einen Pulverkaffee von der Sorte Zementmixer, hockte mich an den kleinen Küchentisch und starrte in den Garten. Ich sah zu, wie mein Hausmaulwurf mitten im frisch gemähten Rasen langsam und stetig einen wunderschönen Hügel hochschob und wie die Amsel die ganze Sache neugierig mit schief gehaltenem Kopf beobachtete und dabei von fetten Regenwürmern träumte. Landleben ist aufregend.
Gegen sieben Uhr schellte das Telefon, und ich dachte, das sei ein Irrtum. Das Klingeln hörte auf. Dann begann es wieder. Viermal. Dann hörte es auf. Beim dritten Mal griff ich verwegen zu. »Baumeister hier.«
»Ja, ja«, sagte Erwin. Dann machte er eine Pause. Seine Sprechweise besteht im Wesentlichen aus Pausen. »Also, ich muss dich mal anrufen.«
Ich sah sein rotes, lebenslustiges Gesicht, seine Augen in den Unmengen streng parallel laufender Lachfalten. »Erwin, guten Morgen. Was ist denn?«
»Ist ja noch sehr früh«, meinte er bedachtsam.
»Es ist sehr früh«, bestätigte ich.
»Es ist nämlich so«, sagte er. »Ich denke, ich muss mal anrufen, weil du ja Ahnung von diesen Dingen hast. Also, von so Sachen.«
»Von welchen Sachen, Erwin?«, fragte ich. Ich bemühte mich, ebenso langsam zu sprechen.
»Von solchen Kriminalitätssachen«, erklärte er.
»Was für Kriminalität?«, fragte ich. Ich sah, wie er sich in den eisgrauen Haaren kraulte.
»Na ja, alles, was mit Mord und Totschlag zu tun hat«, murmelte er. »Ich dachte also, ich ruf dich mal an. Habe ich dich aus dem Bett geholt?«
»Nicht die Spur. Was für ein Totschlag denn, und was für ein Mord?«
»Na ja, weiß ich doch nicht«, sagte er. »Ich bin auf dem Golfplatz, Loch sechzehn, du weißt schon.«
»Ich weiß gar nix, Erwin«, erwiderte ich in Slow Motion. »Wieso auf dem Golfplatz um diese Zeit? Und wieso telefonierst du mit mir?«
»Na ja.« Ich konnte sehen, wie er sich wiederum den Kopf kratzte, und diesmal grinste er wohl auch. »Wenn wir hier arbeiten, haben wir ein Handy, vom Verein. So ein Telefon ohne Schnur, du weißt schon. Wir müssen ja immer im Klubhaus anrufen können, wenn irgendwas ist, also, wenn irgendwo was am Platz nicht in Ordnung ist, also, wir wollen mal sagen, wenn …«
Ich mag Erwin aufrichtig, aber je komplizierter der Alltag wird, umso länger braucht er, das in Worte zu fassen. Ich trällerte also: »Erwin-Schätzchen, warum rufst du an? Was ist passiert?«
»Das weiß ich eben nicht«, gab er zu. »Also, ich kann mir keinen Reim drauf machen. Eigentlich müsste ich ja den Klubvorstand anrufen oder den Geschäftsführer. Aber wenn ich die jetzt anrufe, kann ich meine Papiere abholen und bin arbeitslos, und da dachte ich …«
»Erwin-Schätzchen, nun mach mal langsam«, beruhigte ich ihn. »Irgendwas ist passiert, aber was? Also, ich denke mal, du sitzt auf einem kleinen Traktor oder so was. Um dich herum ist ein bisschen Nebel, der Tau glitzert im Gras, alles ist friedlich, und du bist dabei, den Rasen zu mähen…«
»Nein, nein, ich kehre den Rasen, ich habe den großen Rasenkehrer unterm Arsch. Ich komme von Loch fünfzehn – du weißt schon, die lange Bahn – auf die sechzehn. Und die macht ja eine Kurve. So um die Waldnase rum, weißt du ja. Und in dem Knick … na ja, ich denke also: Ich rufe den Siggi an.« Er schnaufte.
»Erwin«, flüsterte ich behutsam, »was siehst du denn?«
»Es sind zwei«, sagte er. »Ein Mann, eine Frau. Also, der Mann ist so ein Junger und die Frau so eine blonde Junge. Jedenfalls, die liegen da und sind irgendwie tot.«
»Was heißt irgendwie, Erwin?«
»Ich fass die nicht an. Ich doch nicht! Hinterher heißt es, ich hab was falsch gemacht. Also, ich dachte, ich ruf dich an.«
»Beweg dich nicht, bis ich komme. Tu keinen Schritt. Telefonier auch nicht mehr, mach gar nichts. Ich bin schon unterwegs. Loch sechzehn? Verdammt noch mal, wo ist das?«
»Du fährst also die Straße durch den Golfplatz, dann kommst du auf die Bundesstraße. Einfach überqueren bis zum Zaun. Da musst du rüber, ich habe keinen Schlüssel. Dann hältst du dich rechts den Hügel rauf, gleich dahinter. Was mache ich, wenn die doch noch leben?«
»O Scheiße!«, sagte ich erstickt.
Ich rannte auf den Hof in die Garage und fuhr los. Normalerweise habe ich mit meiner Garage keine Schwierigkeiten, aber diesmal gab es so ein merkwürdig knirschendes Geräusch, das in ein gellendes Kreischen überging, weil die rechte Tür meines wackeren Gefährts offen stand. Ich bremste, stieg aus und trat die Tür in die richtige Position. Diesmal blieb sie geschlossen, hatte allerdings eine kräftige Falte und eine erheblich bemerkbare Schieflage. Menschenwerk ist alles Tand.
Der Tag hatte noch nicht begonnen, das Dorf war still, aus den Schornsteinen kräuselte Rauch und gab den Dächern das Aussehen von Spielzeug. Als ich die Kölner Straße hochzog, querte ein Habicht schnell wie ein Geschoss meinen Weg und fegte mit einem hellen Schrei hinter die Haselbüsche. Wen auch immer es traf, requiescat in pace. Im Osten bekam der grünblaue Himmel einen rosafarbenen Schimmer, links in den beiden Pappeln rekelten sich Krähen. Dann das Golfklubhaus mit den roten Dächern, die sich in eine Senke duckten, rechts Alwins großer Teich, seine Herde Böcke und Rehe, dann der Fischweiher, die Bundesstraße. Ich schoss geradeaus über die graue Asphaltbahn in den Wald. Endlich zog ich rechts ran, ließ mir kaum Zeit, den Schlüssel zu drehen, und kletterte über den Zaun.
Ich rannte mit kurzen Schritten die Wiese hinauf und war erstaunt, dass ich das mühelos schaffte, obwohl ich in der letzten Zeit ziemlich viel rauchte. Die Szene war komisch, denn ich sah nur Erwin auf seinem Rasenbesen hocken, der so aussah wie ein teures Kinderspielzeug. Der Motor lief nicht, Erwin hockte in dem Luxussitz mit dem Rücken zu mir und bewegte sich nicht. Er zeigte einfach geradeaus.
»Da sind sie. Die leben nicht mehr, also, wenn du mich fragst, leben die wirklich nicht mehr.«
Ich blieb neben seinem Rasenbesen stehen. »Wie nah warst du dran?«
»Also, ich habe die gesehen, dann habe ich die Karre stehen lassen und bin rangegangen. Du siehst ja, die Frau liegt mit dem Gesicht hierher. Ziemlich blass, also weiß, würde ich sagen. Siehst du den Mann, der dahinter liegt? Ich bin sofort umgekehrt und habe das Handy genommen und dich angerufen. Sie bewegen sich nicht. Und jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Die beiden Menschen lagen in zwanzig Metern Entfernung. Es hatte den Anschein, als habe eine furchtbare Gewalt sie einfach zu Boden geworfen und jede weitere Bewegung blockiert.
»Also, unten rum ist sie nackt«, murmelte Erwin.
»Wie bitte?«
»Also, sie ist unten rum nackt. Also, das kannst du von hier nicht genau sehen, weil sie ja das Knie so komisch angewinkelt hat.« Er schnaufte, weil ich so schwer von Begriff war. »Also, du weißt doch, wie Frauen unten rum aussehen. Die meisten Frauen, die hier spielen, tragen ja auch Hosen, also lange Hosen. Die Frau da vorne trägt einen Rock …, also, sie hat keine Buxe an.«
»Wie lange bist du jetzt hier?«
Er sah auf die Uhr. »Genau sechzehn Minuten. Und sie rühren sich nicht. Kein Muckser, jedenfalls habe ich nichts gesehen.«
»Lauf mal runter zu meinem Auto. Im Handschuhfach ist eine Kamera. Kennst du die eigentlich?«
Erwin nickte. »Also, er ist Banker oder so was. Und sie macht irgendwas mit Hotel. Sie sind verheiratet, das weiß ich. Aber nicht miteinander. Also, er hat eine zierliche, dunkelhaarige Frau. Kinder hat er auch. Und sie hat einen Mann, der … Moment mal, jetzt weiß ich es wieder … also, der Mann von ihr ist Schreiner oder so was. Hat einen eigenen Betrieb …«
»Das ist jetzt nicht so wichtig. Was erzählen die Leute im Klub?«
»Das weiß ich nicht. Die bezahlen mich, aber sie reden nicht mit mir.«
»Galten sie als ein Liebespaar?«
»Also, das weiß ich wirklich nicht. Ich gehe jetzt mal den Fotoapparat holen. Aber ich weiß nicht, ob du hier fotografieren darfst. Ist ja Klubgelände.« Er kratzte sich wieder in den Haaren. Er war blass, es ging ihm gar nicht gut.
»Ich sage den Bullen, dass ich fotografiert habe«, beruhigte ich ihn. »Und komm schnell wieder. Bist du um sie herumgegangen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Kannst du auch im Gras sehen. Ungefähr bis fünf Meter ran. Ich habe nur geguckt. Dann bin ich in meiner eigenen Spur zurück.«
»Sehr gut«, sagte ich.
Erwin kletterte von der Maschine. Ich ging langsam auf die Leichen zu.
Beide trugen nicht die typische Golfkleidung, die sich im Wesentlichen durch ungeheure Schlabbrigkeit und ebenso ungeheure Preise auszeichnet.
Von mir aus gesehen befand sich der Mann leicht seitlich rechts hinter der Frau. Er lag auf der Seite mit dem Rücken zu mir. Er trug ganz normale Sommerhalbschuhe, ganz normale neuwertige Jeans, ein ganz normales kariertes Baumwollhemd, rot-schwarz, mit langen, halb aufgerollten Ärmeln. Er hatte dunkle, sehr dichte, ordentlich geschnittene Haare. Unterhalb des Haaransatzes klaffte ein rundes, blutiges Loch. Es sah aus wie eine Einschusswunde.
Ich schlug mit weiten Schritten einen Halbkreis, wobei ich sehr genau darauf achtete, nichts im Gras zu übersehen. Aber dort war nichts. Ich ging so weit, dass ich dem Mann ins Gesicht sehen konnte. Das Gesicht war sehr weiß und wirkte ausgeblutet, die Augen weit auf. Vielleicht war er dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt, sicher nicht älter. Er war sorgfältig rasiert. Unterhalb seines Kinns hatte sich der Hemdkragen hochgeschoben und war total verkrustet. Das Blut war rabenschwarz und glänzte trocken. Merkwürdig war, dass er beide Arme sehr weit vor dem Körper hielt und dass alle zehn Finger weit auseinandergespreizt standen.
Ich kniete mich nieder und legte die letzten Zentimeter in der Hocke zurück. Ich fasste einen der Finger an. Die Totenstarre hatte eingesetzt.
»Hier ist dein Fotoapparat«, sagte Erwin.
»Komm her, aber geh in meiner Spur.«
Er näherte sich vorsichtig. »Und wen rufen wir jetzt an?«
»Langsam, der Reihe nach«, meinte ich. Ich fotografierte das Gesicht des Toten, den ganzen Mann, ging um ihn herum, das Loch im Genick. »Du rufst jetzt die Bullen in Daun über 110. Die sagen dann der Mordkommission Bescheid.« Ich drehte mich zu der Frau um.
Sie war hübsch, sie war sogar ausgesprochen hübsch, wenngleich der Tod ihr Gesicht verzerrt hatte. Sie trug einen leichten Sommerpulli in Schwarz über einem sandfarbenem Rock. Der Rock war über dem linken Bein hochgerutscht. Es war, wie Erwin erzählt hatte, darunter war sie nackt. Sie trug leichte blaue Sommerslipper aus dünnem Wildleder. Ich fasste sie vorsichtig am Kinn, dann sah ich das Loch über dem rechten Ohr.
»Das kannst du nicht machen«, sagte Erwin.
»Was kann ich nicht machen?«
»Die anfassen«, präzisierte er unwillig.
»Sie ist steif, sie liegt seit Stunden tot. Sie ist über dem rechten Ohr in den Kopf getroffen worden. Ruf die Polizei.«
»Machst du das nicht besser? Ich meine, du hast doch Erfahrung mit den Bullen. Und wenn das ihr Mann war? Ich meine, wenn die was hatten und ihr Mann ist dahintergekommen …?«
»Gib mir das Handy, wir brauchen die Bullen jetzt.«
»Und mein Vorstand oder der Geschäftsführer?«
»Die rufst du dann an.«
Ich tippte die Dauner Nummer, und jemand meldete sich gelassen: »Polizei.«
»Ich brauche Ihre Hilfe. Auf dem Golfplatz in Berndorf liegen zwei Leichen. Erschossen. Ein Mann und eine Frau.«
Eine Weile sagte er nichts. »Wer sind Sie denn?«
»Baumeister, Siggi.«
»Der?«
»Genau der. Also, was ist?«
»Ich schicke wen«, versprach der Bulle. Ehe er auflegte, brüllte er noch: »So eine Scheiße!«
Ich reichte Erwin das Handy. »Jetzt zieh mal den Rock etwas höher«, bat ich.
»Bist du verrückt?« Er konnte es nicht fassen.
»Ich will das fotografieren«, sagte ich. »Nimm den Zipfel da, und heb den Rock hoch.«
»Aber die ist nackt.«
»Eben deswegen«, bekannte ich. »Glaubst du vielleicht, ich gehe hier meinen abartigen Neigungen nach?«
»Aber wieso denn?« Er war verwirrt.
»Es ist ganz einfach«, erklärte ich. »Wenn die beiden unterwegs auf dem Golfplatz waren, um eine Runde zu spielen, wenn die Frau dabei keinen Slip trug, dann wollten sie vermutlich mal kurz in die Büsche. Ist doch menschlich, oder?«
»Kann schon sein«, murmelte er und guckte irgendwohin.
»Na gut. Jetzt blitze ich aus rund dreißig Zentimetern Entfernung unter den Rock. Weil ich dann vielleicht sehen kann, ob sie etwas miteinander hatten.«
»Ach, so ist das?«
»So ist das«, nickte ich. »Heb also mal den Rock hoch.«
Er hob den Rock hoch. »Ist ja kriminalistisch«, murmelte er. »Das weiß man ja nicht als einfacher Angestellter. Also, du kannst sehen … Darfst du so was?«
»Natürlich nur, wenn ich nicht frage«, sagte ich. Dann drehte ich mich um und stand auf. Ich fotografierte vom Platz der Toten aus die ganze Runde.
»Erklär mir mal diese Bahn. Wie wird sie gespielt?«
Jetzt war Erwin in seinem Element. »Sie ist ziemlich zickig, die sechzehn. Also, du spielst da hinten an, zweihundert Meter ungefähr. Du musst den Ball in diesen Knick spielen. Du kannst nicht direkt aufs Grün spielen, weil du das vom Abschlag nicht sehen kannst. Die Bahn wird halbiert gespielt. Also: erst hierhin. Du musst verdammt gut platzieren. Wenn du nur zehn Meter zu weit spielst, landest du da vorne zwischen den Tannen. Da kommst du nicht mehr raus, dann ist over. Du musst in diesen Knick. Und dann musst du aus diesem Knick die nächsten hundertzwanzig Meter durch die schmale Schneise aufs Grün. Anders geht es nicht. Wer hier mit drei Schlägen durchkommt, schafft den Volvo-Cup oder sonst was. Anfänger können gleich ein Zelt mitbringen. Die sechzehn hat’s in sich, Mann. Da fällt mir auf, wo sind denn deren … wo sind die Schlägertaschen? Ich meine … Die haben doch Golf gespielt. Moment mal, da hinten, da hinten am Abschlag …«
»Fahr hin, aber rühr nichts an«, sagte ich. Ich ging fünf Meter zurück und fotografierte die Szene. »Scheiß Liebe«, murmelte ich.
Ich sah, wie Erwin zum Abschlagplatz fuhr, dann drehte und sofort wieder zurückkam. »Beide Taschen sind da, beide am Abschlag. Ein Schläger liegt daneben. Damenschläger. Wo ist denn …?« Er schaltete den Motor aus und näherte sich dem toten Mann. Dann sah er zum Abschlagplatz und ging los. Nach zehn Schritten rief er: »Hier ist das Eisen. Er hat es hier hingelegt. Warum hat er es da liegen lassen?«
»Weil er getroffen wurde, weil er es dabei verlor. Dann ging er noch ein paar Schritte, dann war es aus.«
Erwin kratzte sich am Kopf. »Kann sein, kann sein. Ich rufe jetzt den Geschäftsführer an. Der wird mich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.«
»Wird er nicht«, beruhigte ich. »Er wird dir sagen, du hättest schnell und umsichtig gehandelt. Und erst dann wird er aus dem Bett fallen.«
»Na ja«, murmelte er pessimistisch.
Ich hörte, wie er die Nummer eintippte, ich hörte, wie er betulich sagte: »Also Chef, ich weiß, es ist ja ein bisschen früh am Tag, aber ich meine mal, Sie müssten was davon wissen …«
Er redete noch eine Weile weiter, klappte dann das Gerät zu und erklärte grinsend: »Er hat gesagt, ich hätte schnell und umsichtig gehandelt. Und ich habe ihm nicht gesagt, dass du hier bist.«
»Also gestern Abend«, überlegte ich. »Sonntagabend. Gibt es hier eine Regel, bis wann gespielt wird?«
Erwin schüttelte den Kopf. »Keine Regel. Solange das Licht noch gut ist, also bis in die Puppen. Zeigst du mir die Fotos mal? Ich meine, auch die unterm Rock? Mich würde das interessieren.«
»Na sicher, wenn dein Vater es erlaubt.«
»Ich bin fuffzich«, grinste er.
»Trotzdem«, murmelte ich. »Können in diesem Klub zwei Leute eine Liebesbeziehung haben, von der niemand weiß?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich«, sagte er entschieden. »Was war das für ein Kaliber?«
»Zimmerflak. Mindestens neun Millimeter.« Ich stopfte mir die Jahrespfeife von Butz Choquin, Erwin zündete sich eine Zigarette an.
So standen wir da in geziemendem Abstand von den beiden Toten, schwatzten miteinander und bemühten uns, nicht dauernd hinzusehen.
»Kannste mal sehen, was so ein Golfklub alles mit sich bringt«, seufzte er. »Wo hat wohl der Schütze gestanden?«
»Hinter den Weißtannen da vorn. War ziemlich einfach.«
Er spitzte die Lippen. »Eigentlich ist es nicht so einfach«, widersprach er. »Du musst den Platz verdammt gut kennen, du musst wissen, dass die beiden auf dem Platz sind, du musst ungefähr wissen, wann sie hier ankommen.«
»Wie komme ich denn hinter die Tannen da vorne, wenn ich den Golfplatz nicht betreten will?«
»Das ist einfach. Du kannst in Wiesbaum in den Wald fahren, drei Kilometer durch den Wald. Dasselbe aus Richtung Hillesheim. Wenn du ganz raffiniert bist, kannst du schon zwischen Birgel und Hillesheim nach links in die Wälder abbiegen. Dann hast du gut sechs, sieben Kilometer Waldwege. Da ist kein Mensch. Aber dann musst du wirklich raffiniert sein.«
»Der hier war raffiniert, der war garantiert sehr raffiniert.«
»Irgendwann werden die doch alle erwischt«, meinte Erwin hoffnungslos naiv.
»Es kommt darauf an, wie gut du dich vorbereitest«, sagte ich weise. »Sieh an, da kommen die Ordnungshüter.«
Zuerst sah man nur ihre Uniformmützen. Sie umrundeten den Hügel und näherten sich schnell. Sie nickten und sagten im Chor: »Guten Morgen.«
»Guten Morgen. Da liegen die beiden«, grüßte ich.
»Waren Sie dran?«, fragte der Ältere.
»Nicht richtig. Wir mussten feststellen, ob sie tot sind oder nicht.«
»Das ist richtig. Haben wir Ihre Angaben zur Person?«
»Können Sie haben«, sagte ich.
»Und Sie dürfen den Platz hier nicht verlassen, bis die Kommission eintrifft.«
»Wann kommt die denn?«, fragte Erwin. »Ich muss die Kühe melken.«
»Das wissen wir nicht. Sie müssen hierbleiben.«
An diesem Punkt ist Erwin sein Leben lang pingelig gewesen. Er warf den Kopf hoch und röhrte: »Nä, geht nicht. Melken ist melken. Ihr könnt euch Zeit lassen, aber ich nicht. Ich muss melken und dann wieder hier auf den Platz.«
Sie stritten eine Weile, bis Erwin entschied: »Also, ich gehe melken, ich bringe euch einen Schnaps mit, und ihr sagt nicht, dass ich melken war.«
Das war ein Vorschlag, auf den sie sich einließen. Erwin setzte sich auf seinen Besen und zog davon.
Die beiden Beamten näherten sich den Leichen bis auf etwa fünf Meter und betrachteten sie. Dann sagte der Ältere: »Wir sperren erst mal ab. Irgendwas müssen wir ja tun.« Er schob elegant seine Mütze nach vorn, der Schirm rutschte über die Augen, und er hob den Kopf: »Soweit ich weiß, müssen die doch mit einem Auto gekommen sein. Wo ist das Auto?«
»Wahrscheinlich auf dem Parkplatz am Klubhaus«, antwortete der Jüngere.
»Feststellen und einziehen. Nicht, dass irgendwer sich reinsetzt und abhaut.«
»Wer sind denn die beiden?«, fragte ich.
»Golfspieler«, sagte der Jüngere. Wahrscheinlich mochte er mich nicht.
»Mein lieber Mann!«, schnaufte der Ältere und starrte die tote Frau an. »Die hat ja Nahkampfposition.«
»Also, wer sind sie?«, fragte ich erneut.
»Der Mann ist von der Sparkasse«, gab der Ältere sein Wissen preis. »Die Frau kenne ich nur vom Sehen. Aus Daun, aus Stadtkyll oder Jünkerath? Ich glaube, sie heißt Kutschera oder so.« Er grinste flüchtig. »Man sagt, sie hatte was mit dem Banker.«
»Wer ist man?«
»Na ja, was die Leute so reden. Haben Sie etwa fotografiert?«
»Nicht die Spur«, verneinte ich.
Es wirkte komisch: Die Uniformierten schlugen kleine eiserne Stäbe rund um die beiden Toten in den Boden und bildeten mit einer Plastikschlange, weiß-rot gestreift, einen Ring von etwa fünf Metern Durchmesser. Der Ring hatte eine scharfe Delle – ungefähr an der Stelle, wo man der Frau unter den Rock sehen konnte. Der Jüngere brauchte eine Viertelstunde, um die Delle auszubügeln. Er machte das schwer atmend mit einer rosafarbenen Zungenspitze, die ihm unterhalb des martialischen Schnäuzers aus dem Mund ragte. Ich kann wirklich begreifen, dass Polizisten ihre schlechte Bezahlung anmahnen, aber ich kann auch die begreifen, die schlicht behaupten, Polizisten seien viel zu gut bezahlt.
Plötzlich kam ein baumlanger Mann über den Hügel. Er rannte, und während er rannte, keuchte er: »Das haben wir gleich, das haben wir gleich!« Dann sah er die Polizisten und mich und sagte: »Ich hoffe nicht, dass es irgendwelche Schwierigkeiten gibt.«
Der ältere Beamte legte etwas Eiflerisches hin. Er bemerkte: »Das ist eine Definitionsfrage. Bleiben Sie stehen, gehen Sie nicht weiter. Wer sind Sie?«
»Der Geschäftsführer«, antwortete der Geschäftsführer. »Mein Name ist Dell, Ferdinand Dell. Hier soll etwas passiert sein.«
»Das ist richtig«, nickte der ältere Beamte freundlich. »Sehen Sie sich diese beiden Toten dort vorne einmal an. Kennen Sie die?«
Der Mann namens Dell beugte sich vor und murmelte: »Ja, schon. Wir haben da Frau Heidelinde Kutschera und Herrn Pierre Kinn, beide das gleiche Handicap, beide im Mittelfeld, klubmäßig. Aber sonst weiß ich nichts.«
Der ältere Beamte entgegnete freundlich: »Sonst habe ich ja auch noch nichts gefragt.«
»Sicher Selbstmord«, vermutete der Mann namens Dell beruhigend.
»Das weniger«, widersprach der jüngere Beamte. »Beide mit Einschüssen.«
»Aber sicher bald aufzuklären«, sagte Dell bittend. »Sicher hat irgendwer die hierhin gepackt.« Er war beleidigt.
Der ältere Beamte sah ihn an. »Das glaube ich nicht, mein Guter. Und nun rennen Sie mal in Ihren Klub. Ich will die genauen Personalangaben der Toten haben. Und zwar alles: Kinder, warum und wie viele, mit wem verheiratet, seit wann, finanzielle Verhältnisse und, wenn möglich, die Farbe der Unterwäsche – falls sie welche tragen. Ist das klar?« Er war wirklich gut.
Ferdinand Dell wollte widersprechen, begriff dann aber, dass das möglicherweise für seinen Golfklub Folgen haben könnte. Daher nickte er knapp und verschwand im Sturmschritt über den Hügel.
Der jüngere Beamte schnaufte: »Arschloch!«
So ging die Zeit dahin. Die Sonne war freundlich und legte wilde Farbkleckse in die herbstlich glühenden Bäume.
Gegen neun Uhr kam Erwin wieder auf seinem Rasenbesen angefahren und brüllte: »Sie sind schon da, sie kommen durch das Gatter!« Im gleichen Moment kamen sechs Männer im dichten Trupp aus der Richtung, aus der auch ich gekommen war. Hinter ihnen holperte ein Anderthalbtonner-Mercedes. Die Mordkommission war eingetroffen.
Mit Mordkommissionen habe ich so meine Erfahrungen, zumal mit denen, die von leibhaftigen karrieresüchtigen Staatsanwälten befohlen werden. Aber es war kein Staatsanwalt dabei, und deshalb benahmen sich die sechs äußerst diszipliniert. Der Mann, der das Team leitete, war klein, kugelig, rundgesichtig, spröde und sachlich. Er sah erst die Beamten an, dann mich und erklärte: »Guten Morgen. Räumen Sie bitte mal diesen blöden Plastikstreifen da weg. Bewegen Sie sich vorsichtig. Johnny, du gehst in das Klubhaus. Sämtliche Informationen über die Toten. Ich will keinen Menschen hier sehen, nicht mal den Präsidenten von diesem Verein hier. Keinerlei Auskünfte. Klaus, du nimmst die Temperatur der Toten. Und zwar die von oben, aber auch die von Körperteilen, die den Rasen berühren. Falls es geht, brauche ich die Rektaltemperatur. Zumindest bei der Frau wird das möglich sein. Die Körperlage nicht verändern. Werner, du fotografierst, was du sehen kannst, ohne die Leichen zu bewegen, besonders die Wunden. – Baumeister? Sie sind doch der Baumeister, oder?«
»Bin ich«, bestätigte ich.
»Gut, mein Name ist Wiedemann. Erzählen Sie mal, wie Sie hierhergekommen sind und was Sie bisher unternommen haben. Und sagen Sie nicht, Sie hätten nicht fotografiert. Rodenstock hat erzählt, Sie haben alles längst getan, wenn andere es Ihnen verbieten wollen.«
»Ich habe fotografiert, besonders die Frau. Ich vermute Sperma.«
Wiedemann nickte, es machte ihm anscheinend nichts aus, einem Laien recht zu geben. »Sonst noch etwas?«
»Ja. Weit vorgeschrittene Totenstarre. Ich vermute, es passierte gestern Abend. Wenn eine Stelle auf dem Platz ideal für einen Mord ist, dann diese.« Ich wies auf die Toten. »Die beiden kamen auf den Täter zu, und sie sahen ihn nicht, wenn er dort hinter den Tannen stand. Und er hatte massenhaft Zeit. Teuflisch gut.«
Der Beamte dachte darüber nach und nickte wieder. Dann drehte er sich um. »Wolf, du gehst an den Abschlag der Bahn. Dann gehst du den Weg. Du hast eine Stunde Zeit. Ich will wissen, wie sie sich bewegten, wo sie getroffen wurden.«
Der Mann, den er Wolf nannte, war ein älterer Mann, der ihn nur ansah und sich dann entfernte.
Wiedemann erläuterte: »Wolf ist ein Spezialist. Er wird uns am Ende sagen können, ob die Toten Blähungen hatten und bei welcher Wegmarke sie furzten.«
Dann kam er auf mich zu und setzte sich neben mich ins Gras. »Das ist wirklich ein eiskaltes Ding«, murmelte er. »Wie geht es Rodenstock?«
»Ich weiß es nicht, ich habe lange nichts mehr gehört«, sagte ich.
Er grinste mich von der Seite an. »Holen Sie ihn her«, meinte er. »Der alte Mann wird hier gebraucht. Wissen Sie, was mir Sorgen macht?«
»Ja«, nickte ich, »die Einschusskanäle. Beim Mann im Nacken.«
Wiedemann schüttelte sanft den Kopf, sah mich aber nicht an. »Das wäre zu einfach. Das Loch im Nacken des Mannes ist kein Einschuss. Es ist ein Ausschuss, mein Lieber. Daran gemessen hat der Mörder schlicht und ergreifend eine Waffe benutzt, die mindestens mit dem Kaliber zehn Millimeter arbeitet. Haben Sie auch die Wunde über dem rechten Ohr der Frau gesehen? Genau gesehen? Einschuss? – Quatsch, Ausschuss! Der Einschuss liegt oberhalb des linken Ohres. Mit anderen Worten: glatter Schädeldurchschuss. Also, holen Sie Rodenstock. Wissen Sie, warum?«
»Weil Sie ihn mögen«, vermutete ich. »Ich mag ihn ja auch.«
Er lächelte leicht. »Weil Rodenstock ein Spezialist für merkwürdige Tötungsarten ist. Wussten Sie das nicht?«
»Das wusste ich nicht«, gab ich zu.
»Sie können natürlich verschwinden«, ergänzte er gutmütig. »Wenn ich Sie brauche, werde ich Sie finden.«
»Im Dorf, neben der uralten großen Linde«, sagte ich. »Das riecht nach einem deutschen Melodram.«
»Liebe und so?«
»Liebe und so. Hier wird erzählt, die beiden hatten was miteinander.«
»Hm, und wenn wir die jeweiligen Partner kassieren?«
»Ich würde das sofort tun«, stimmte ich zu.
Wiedemann überlegte und sagte dann laut zu den beiden Uniformierten: »Sammeln Sie mal sanft die beiden jeweiligen Ehepartner ein. Nach Daun auf die Station bringen, ganz sanft verhören, ganz sanft fragen, nichts von Alibi wissen wollen. Aber bitte darauf achten, ob sie eins haben. Auf keinen Fall dulden, dass sie an den Tatort kommen. Sagen Sie ihnen, die Freigabe der Leichen erfolgt frühestens in etwa fünf Tagen. Benehmt euch so salbungsvoll wie ein Bestattungsunternehmer. Wissen Sie, ob in diesem Golfklub irgendein Zoff herrscht?«, fragte er mich.
»Das weiß ich nicht. Ich verstehe sowieso nicht, wieso jemand, nur weil er spazieren gehen will, einen Haufen eiserner Schläger mit sich rumschleppt und auf einen kleinen weißen Plastikball eindrischt.«
»Menschen sind so«, meinte Wiedemann. »Scheiße, ich habe Karten für ein Konzert von Al di Meola heute Abend in Trier.«
»Ich auch«, seufzte ich. »Stattdessen hangeln wir uns hier durch die Bäume.«
»Sie können doch fahren«, sagte er gutmütig.
»Will ich nicht. Meola spielt eine gute Gitarre, aber diese Toten sind irgendwie spannender. Oder auch nicht.«
»Der Tatort passt mir nicht. Golfklubs sind sehr elitär und sehr diskret. Wieso gibt es hier einen Golfklub?«
»Es geht die Sage, dass ein paar Jäger die Idee hatten. Ihnen war stinklangweilig, bevor sie abends und morgens auf die Hochsitze gehen konnten. Weil sie genügend Kleingeld hatten, machten sie den Klub auf.«
»Woher kommen die Mitglieder?«
»Köln, Düsseldorf, Aachen, Koblenz, Brüssel, ein bisschen die ganze Welt. Manche haben sich sogar eine Zweitwohnung hier gekauft oder ein altes Bauernhaus umgebaut. Sie haben recht, das wird schwierig. Sind Sie eigentlich ein Lehrling vom alten Rodenstock?«
Er grinste augenblicklich, gluckste vor Heiterkeit. »O ja, und was für einer! Der Alte muss streckenweise verrückt gewesen sein. Zuerst war ich nicht mal leichenfest. Ich sah eine Leiche, zum Beispiel eine alte Dame, friedlich im Bett entschlafen … und mir wurde schlecht, ich kriegte das Zittern, ich wusste meinen eigenen Namen nicht mehr. Der Zustand hielt manchmal stundenlang an …«
»Aber der alte Rodenstock hat Sie geheilt.«
»Und wie! Das muss so fast dreißig Jahre her sein. Wir hatten einen unklaren Todesfall. Eine Frau, so um die vierzig, lag ordentlich zugedeckt im Bett. Rodenstock schickte mich hin. Bleib sitzen, und sieh dich um! sagte er. Ich saß da. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Dann tauchte Rodenstock grinsend auf und fragte: Woran ist sie gestorben? – Das weiß ich doch nicht, sagte ich empört. Ich sollte hier sitzen und mich umsehen. – Ich seh ihn noch heute, wie er fassungslos den Kopf schüttelt, dann die Decke von der Toten reißt und mich anbrüllt: Guck hin, Junge! – Ich guckte hin, ich sah nichts. – Sanfte Rotstellen am Hals! brüllte er. Noch was? – Also, ich sehe nichts, sagte ich. – Scheide leicht offen! schrie er. Die Frau wurde getötet, nach Beischlaf getötet, klar? – Seitdem habe ich keine Schwierigkeiten mehr.« Er lachte laut. »Alles, was ich weiß, habe ich von ihm. Ich würde mich freuen, ihn zu sehen.«
»Ich hole ihn«, versprach ich.
Ich beobachtete, wie der Mann namens Wolf unendlich langsam die erste Hälfte der Bahn vom Abschlag her abging. Zuweilen kniete er bewegungslos im Gras und sah aus wie ein Opa, der mit dem Enkel Häschen in der Grube spielt. Dann ging er zwei Schritte nach rechts, drei nach links, schräg nach vorn, sah sich um, drehte sich, machte ein paar schnelle Schritte hinter eine niedrige Krüppeleiche und blieb dort volle zehn Minuten.
Wiedemann kommentierte: »Der Mann ist irre, aber leider hat er nicht die richtige Schulbildung. Nur zugelassen für die mittlere Laufbahn. Der schlägt, wenn es um Spuren geht, sogar den ollen Winnetou. Aber niemals käme ein Regierungsrat auf die Idee, den an der Polizeischule unterrichten zu lassen. Scheißapparat! – Sie mögen die Polizei nicht, wie ich hörte.«
»Das ist falsch«, widersprach ich. »Ich mag nur dumme Polizisten nicht.«
Er sah mich an und griente. Dann wurde er unvermittelt ernst. »Wenn das Loch im Hals des Toten von Ihnen als Einschuss gesehen wurde, ich aber sag, es ist ein Ausschuss, können Sie sich dann die Waffe vorstellen?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich auch nicht«, nickte er. Er zündete sich einen rabenschwarzen Stumpen an und paffte nachdenklich vor sich hin. Das Ding stank entsetzlich.
Der Mann namens Wolf erreichte die Toten und stellte sich neben sie. Er sah sie an, nahm einen Block aus der Tasche und schrieb etwas auf. Schließlich ging er in die Knie und starrte über die Leichen hinweg in den Wald. Plötzlich bewegte er sich unglaublich schnell, als versuche jemand, vor ihm zu fliehen. Er machte zehn, zwölf Schritte und war hinter den ersten Tannenstämmen verschwunden.
»Chef«, rief jemand seitlich von uns. Es war der Mann, dem Wiedemann befohlen hatte, sich um die Temperatur der Toten zu kümmern. Er wirkte eifrig.
»Also, die Temperatur sagt, sie liegen dort an der Stelle ungefähr vierzehn Stunden, plus/minus eine Stunde. Der Einschuss oder Ausschuss im Nacken des Mannes ist komisch, Chef.«
»Wieso komisch?«
»Fettschlieren, würde ich sagen. Aber ganz besonderes Fett. Es sieht so aus wie Margarine.«
»Wie was, bitte?«
»Wie Margarine, Chef.«
»Na gut, du Margarinespezialist. Sonst was Besonderes?«
»Nichts, Chef.« Der Mann ging wieder davon.
Dann trollte Wolf heran und schaute streng auf den Rasen vor seinen Füßen. Er hockte sich neben uns und konzentrierte sich. »Wir haben es mit einer richtig leidenschaftlichen Liebe zu tun, wenn ich mal so sagen darf. Hier ist der Ball, den der Mann gespielt hat. Er lag vom Abschlagplatz aus gesehen ungefähr zwanzig Meter vor den Toten.« Er schnippte den Ball in das Gras, der trudelte ein wenig und blieb liegen. »Es war zwischen achtzehn und neunzehn Uhr gestern Abend. Ich vermute mal, der Nebel kam nach Mitternacht. Sie betraten diese Bahn, also die sechzehn. Sie waren die Letzten auf dieser Bahn, denn spätere Spuren fand ich nicht. Diese Grassorte federt ziemlich schwach. Fünf Meter links vom Abschlagpunkt beginnt ein dichtes Gebüsch von alten Krüppeleichen, das in eine Gruppe Kiefern übergeht. Sie spielten keinen Ball, sondern waren jetzt in einem Bereich, in dem sie von einer anderen Bahn aus nicht mehr gesehen werden konnten. Sie sind dann nebeneinander, und zwar die Frau links von ihm, in das Gebüsch gegangen. Sie haben es dort getan. Dabei ist eindeutig, dass der Mann unten lag …«
»Woher wissen Sie denn das?«, fragte ich verblüfft.
»Eindeutig an den Absätzen seiner Schuhe zu erkennen. Diese Absätze haben Einschnitte im Boden unter den Eichen hinterlassen. Ich vermute, der Mann hat einfach die Hosen runtergelassen, sonst nichts. Wo das Höschen der Frau ist, weiß ich nicht. Ich vermute weiter, wir finden es im Auto. Sie sind dann zum Abschlagplatz zurück. Der Mann hat als Erster geschlagen und ist losgegangen. Und zwar ging er ziemlich leicht und locker geradeaus. Da fragt sich der Fachmann: Warum ist der losgegangen und hat sich die Tasche mit den Schlägern nicht über die Schulter gehängt, wie Golfer das so tun? Er ließ die Tasche bei der Frau. Warum?«
»Bietest du mir eine Lösung an?«, Wiedemann lächelte.
»Wie du weißt, kann ich es nicht lassen. Ich denke, sie wollten die Bahn zwei- oder dreimal spielen. Diese erste Hälfte hier.« Wolf lächelte versonnen. »Sie wollten zurück unter die Eichen, sie wollten es ein zweites Mal haben, vielleicht ein drittes Mal. Weißt du, es wirkt auf mich wie ein Ritual. Aber zurück zum Vorgang. Ich sage, der Mann ging gut gelaunt. Er drehte sich sogar dreimal zu ihr herum. Normalerweise hätte jetzt die Frau abschlagen müssen. Das hat sie aber nicht getan. Irgendetwas passierte mit dem Mann. Ich vermute, er wurde ungefähr zwanzig Meter vor dem Punkt, an dem er jetzt liegt, getroffen. Er strauchelte, fiel, wahrscheinlich schrie er wie am Spieß. Die gespreizten Hände lassen auf große Schmerzen schließen. Die Frau ließ ihren Schläger fallen und rannte los, so schnell sie konnte. Während der Mann rund achtzig bis hundert Meter von ihr entfernt starb, aber noch die Kraft hatte, sich aufzuraffen und vorwärtszustolpern. Das Stolpern konnte ich einwandfrei feststellen. Zuweilen sind seine Abdrücke so scharf, dass man daraus schließen kann, dass er zu fallen drohte, sich verzweifelt aufrecht hielt, sich sozusagen im Boden festkrallte. Währenddessen rannte die Frau wie besessen. Übrigens, sie stolperte auch, ungefähr zwanzig Meter von ihm entfernt. Das muss wie eine wahnsinnige Slow Motion gewesen sein, wenn du mich fragst.«
»Was heißt das?«, fragte Wiedemann trocken.
»Normalerweise wird jemand getroffen und getötet. Hier wurde auch jemand getroffen, aber eben nicht sofort getötet. Er starb, während er sich weiterbewegte. Während er starb und sich weiterbewegte, kam die Frau angerannt, panisch vor Angst …«
»Lieber Himmel«, drängte Wiedemann, »nun sag schon, was du meinst.«
»Ich meine, wir haben es mit einem eiskalten Killer zu tun. Siehst du die Weißtannen da? Da stand er, da muss er gestanden haben. Kannst du dir einen Mörder vorstellen, der über einen Zeitraum von rund sechzig Sekunden nach dem ersten Schuss Ruhe bewahrt und dabei darauf wartet, dass eine rennende Frau ihm ein sicheres Ziel bietet?«
»Du willst also sagen, das war geplant. Du willst also sagen, der Mörder ist sozusagen ein Ass.«
»Richtig«, nickte Wolf. »Der muss ein Ass sein. Wahrscheinlich ist er ziemlich krank, aber auf jeden Fall hat er eiserne Nerven.«
»Die Waffe macht mich verrückt«, sagte Wiedemann.
Der Mann, der mit den Temperaturmessungen zu tun gehabt hatte, kam heran und hockte sich zu uns. »Es ist Sperma«, berichtete er. »Ich weiß es nicht genau, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es Sperma.«
»Ich habe den Platz gefunden«, nickte Wolf. »Bis auf die Waffe, die wir nicht kennen, ist es eine miese bürgerliche Affäre.«
»Was ist mit der Margarine?«, fragte ich.
»Das kann ich nicht beantworten, das muss die Analyse ergeben«, sagte der Spurenmann. »Wenn ich die Wunden genau bedenke, muss es etwas sein, was ein vierkantiges, sehr massives Profil verschießt.«
»Warum nicht gleich ein Blasrohr?«, fragte Wiedemann ärgerlich. Dann reichte er mir ein Handy. »Holen Sie mal den Rodenstock ran? Sagen Sie ihm schönen Gruß vom Knubbel, dann weiß er Bescheid. Wenn er will, schicke ich ihm einen Wagen.«
Ich trollte mich ein paar Meter abseits. Rodenstock war zu Hause und meldete sich, als sei das Leben unerträglich langweilig. Er röhrte unendlich langsam: »Ja, bittähhh?«
»Wir haben einen Doppelmord«, säuselte ich. »Auf dem Golfplatz. Schönen Gruß vom Knubbel. Wir brauchen Sie hier. Sie können einen Wagen haben.«
»Her mit dem Wagen«, krächzte Rodenstock. »Ich bin verrotzt, totale Herbstgrippe, aber her damit. Alles, nur nicht diese Scheißwohnung. Sie schickt der Himmel.«
»Das ist eher unwahrscheinlich«, murmelte ich.
Ich wusste, was jetzt kam. Irgendein Staatsanwalt würde kommen, sich rasch und oberflächlich informieren, eine Pressekonferenz im Augustiner Kloster ansetzen und endlos drauflos schwafeln. Er würde sich gerührt und bewundernd selbst zuhören und ständig betonen: »Ich denke, wir haben gewisse Spuren, können aber aus verständlichen Gründen, Ihnen, meine Damen und Herren, noch nichts sagen. Wir bitten um Ihre Geduld.«
Das gilt für alle Behörden: Immer, wenn sie etwas absolut nicht erklären können, bitten sie um Geduld, als gelte es, irgendwo Reste von Gehirn ausfindig zu machen.
»Ich fahre heim. Ich brauche ein Frühstück, ich brauche meine Katzen.«
»Wir sehen uns«, nickte Wiedemann träge. Er blinzelte in die Sonne. »Ich mag diese Eifel. Sie ist schön.«
Ich fuhr nicht nach Hause. Nach Frühstück war mir nicht, und eine Erörterung des Falles mit meinen Katzen war nur sehr begrenzt möglich. Wenn jemand – von mir aus mit einem Maschinengewehr – dieses Liebespaar getötet hatte, dann musste es mehr sein als das Ende eines bürgerlichen Dramas.