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Für Mascha und Ferdinand
Mit 14 Schwarz-Weiß-Fotos
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2011
ISBN 978-3-492-95381-8
© Piper Verlag GmbH, München 2011
Umschlaggestaltung: Studio Hermann Hülsenberg
Zeichnung von Ferdinand Osang
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Überraschend aufgerufen,
etwas Großes und Schreckliches zu bezeugen,
kämpfen wir darum,
es nicht mit unserer eigenen Kleinheit zu erklären.
John Updike, September 2001
Als Junge habe ich morgens manchmal regungslos und mit geschlossenen Augen versucht zu rekonstruieren, wie ich im Bett liege. Ich wollte in der Dunkelheit herausfinden, ob ich mich im Schlaf zur Wand oder zum Fenster oder sogar vom Kopf- zum Fußende gedreht hatte. Ich war ein kleiner, blinder und gefesselter Detektiv. Die Lage ist heute nicht mehr mein Problem, die Frage ist vielmehr, wo das Bett steht.
Es ist dunkel, ich halte die Augen geschlossen, ich will nicht wach werden. Augen geschlossen halten, ist meine Taktik, um den Jetlag zu bekämpfen, und meine Frau würde sagen, dass es die Taktik meines Lebens ist. Augen schließen und warten, bis die Dinge sich glätten.
Das Bett steht in Amerika, so viel ist klar, aber ich bin noch auf der Reise. Ich treibe im Zeitstrom. Ich habe noch nie eine Schlaftablette genommen und auch noch nie eine dieser Melatoninkapseln, die mir von allen Seiten empfohlen werden, vor allem von meiner Mutter. Ich will kein Melatonin, es klingt mir zu sehr nach Methadon. Ich kann es auch ohne Melatonin schaffen. Ich habe auf meinen Reisen in andere Zeitzonen nachts um vier im Hotelfernsehen uralte Sitcoms oder asiatische Tennisturniere gesehen, ohne ungeduldig zu werden oder gar panisch. Ich schwitze es aus wie ein Indianer. Ich öffne die Minibar. In den zwei Jahren, die wir in Amerika leben, bin ich bestimmt zwanzig Mal über den Atlantik geflogen. Ich schleppe die Zeit hinter mir her wie eine Eisenkugel. In Deutschland bin ich immer der letzte Gast an der Bar, in Amerika der Erste im Bett. Das Bett steht in Amerika, richtig. Ich bin seit anderthalb Tagen zurück in New York, aber ich bin noch nicht da.
Ich lausche in die Dunkelheit hinein nach Anzeichen für die Zeit.
Keine Vögel, noch keine Vögel, aber da ist ein Rauschen ganz hinten, das von der 4th Avenue kommen könnte oder vom Brooklyn Queens Expressway, dort wo die Stadt wach wird. Es könnte um vier sein. Es sind noch keine Flugzeuge zu hören. Die Route nach La Guardia führt direkt über unseren Hinterhof. Meine Augen sind geschlossen, das Windspiel unserer Nachbarn Mike und Roxy klimpert leise. Es hat mich in den ersten sechs Wochen, die ich noch allein in dem Haus wohnte, fast in den Wahnsinn getrieben. Mike ist ein irischer Bauarbeiter, der seinen Nachbarn – all den Anwälten, Ärzten, Schauspielern, Künstlern, Wissenschaftlern und Autoren – beweisen will, dass er es geschafft hat. Er lässt seine Tochter Erin nach dem Abendessen auf der Terrasse Querflöte spielen. Wenn Erin endlich still ist, übernimmt das Windspiel. Ein Geräusch wie aus einem Horrorfilm. Es klimpert nur müde, der Sturm von gestern Abend wirkt wie ein Traum. Ich erinnere mich an den Regen, weil er mir zeigte, dass ich auf einem anderen Kontinent lief. Ein dichter, heftiger Regen, den es so zu Hause in Deutschland nicht gibt. Es fällt hier einfach viel mehr Wasser aus dem Himmel. Sie nennen es rain storm. Ich bin in den Regensturm gerannt, gestern Abend.
Es war natürlich keine gute Zeit zum Laufen, weil sie das Unwetter vorhergesagt hatten, und dann war ich ja auch gerade erst aus Deutschland zurückgekommen. Die Kinder hatten mich fast zwei Wochen nicht gesehen, Anja hatte das Abendessen so gut wie fertig. Aber ich brauche die Kilometer, ich will im November den New York Marathon rennen. Es ist eine Sucht. Ich muss. Normalerweise laufe ich die sechs Kilometer in einer knappen halben Stunde, aber als ich halb um den Park herum war, regnete es so heftig, dass es mir beinahe die Kontaktlinsen aus den Augen spülte. Ich stellte mich unter einen der riesigen Bäume im Prospect Park. Als es anfing zu donnern, rannte ich dann doch weiter, weil ich nicht genau wusste, ob man bei Gewitter unter Bäumen stehen soll oder nicht. Ich habe das mal gelernt, aber vergessen. Ich weiß noch, dass man besser nicht mit einer Sense in der Hand über ein freies Feld gehen soll. Ich weiß auch noch, wie man anhand von Ameisenhaufen die Himmelsrichtung bestimmen kann, aber die Sache mit dem Baum habe ich vergessen. Ich habe fast alles vergessen. All die Formeln, die ich mal gelernt habe, all die Vokabeln und die Definitionen. Ich wusste mal, wie ein Emscherbrunnen funktioniert, und konnte die Hauptaufgabe des Sozialismus auf Russisch hersagen. Jedenfalls rannte ich dann weiter. Ich war klitschnass, als ich ankam, aber da war kein Mitgefühl in den Augen meiner Frau.
Sie war mit den Kindern im Bad und sah die lange Treppe hinunter, an deren Fuß ich stand wie ein nasser Hund. Auf dem Küchentisch stand ein einsamer Teller, mein Teller.
Anja hat mir später gesagt, sie habe sich Sorgen gemacht, als es anfing zu blitzen, aber ich glaube, sie war immer noch sauer, weil ich zehn Tage länger in Berlin geblieben bin und sie allein mit den Kindern nach New York zurückfliegen musste. Das Schuljahr fing an, aber ich wollte noch zwei Geschichten zu Ende recherchieren, die in Deutschland spielten. Eine handelte von Gregor Gysi, einem Ostberliner Sozialisten, der demnächst Oberbürgermeister von Berlin werden will, die andere von Nadja Bunke, der uralten Mutter von Tamara Bunke, die einst mit Che Guevara im bolivianischen Dschungel starb, beim Versuch die Revolution zu exportieren. Gysi und Che und die Weltrevolution. Das sind immer noch meine Themen, obwohl ich jetzt schon zwei Jahre für den Spiegel in New York bin. Ich habe meine Familie vor zwölf Tagen nach Tegel gebracht, sie geküsst und zum Abschied gewunken, und dann bin ich zurück zu meinem Mietwagen gegangen. Ein schwarzer Chrysler im Retrolook, der mich an das Auto auf der ZZ-Top-Platte Afterburner erinnerte. Ich war traurig, aber auch erleichtert, und ich glaube, meine Frau weiß, dass ich diese Erleichterung verspüre, und womöglich beneidet sie mich sogar darum.
Ich war so lange weg, und dann renne ich gleich wieder los. Das denkt sie, darum geht's doch. Wir versuchen ja, gemeinsam zu joggen, aber Anja läuft mir nicht schnell genug. Ich renne dann immer ein Stück vor und wieder zu ihr zurück, hin und her, wie der Hase in Hase und Igel. Ich umkreise meine Frau wie eines dieser Hütchen, die die Assistenztrainer auf dem Fußballplatz aufstellen. Es macht mir keinen Spaß, und sie sagt manchmal, sie hasst es, wenn ich vor ihr laufe. Ich glaube einfach, dass es keine gute Idee ist, zusammen zu laufen als Ehepaar, vor allem wenn ein Ehepartner sich auf den Marathon vorbereitet und der andere reden will. Es gibt Dinge, die man nicht zusammen machen muss. Ich finde diese Paare, denen man ansieht, dass sie ihre Sportsachen zusammen eingekauft haben, auch irgendwie bedauernswert.
Die Trucks auf der 4th Avenue werden etwas lauter, es gibt immer noch keine Vögel, und ich würde gern noch ein wenig schlafen. Früher habe ich vor dem Einschlafen an die schönsten Tore gedacht, die ich in letzter Zeit geschossen habe, aber seit wir in New York leben, spiele ich keinen Fußball mehr. Ich laufe, und Laufen ist nur ein endloser Strom, der die Orte miteinander verbindet, an denen ich bin. Ich habe immer meine Laufschuhe dabei.
Es war ein langer Sommer, und ich bin die ganze Zeit gerannt. Immer gerannt, sogar in Venedig, wo wir im Juli zu unserem fünften Hochzeitstag waren, hakenschlagend über die Brücken; in Wien, wo wir Freunde besuchten, über den Kies irgendwelcher Schlossparks; auf Usedom, wo wir Urlaub machten; um den kleinen Brandenburger See am Wochenendgrundstück meiner Eltern, wo wir den dritten Geburtstag meiner Tochter Mascha feierten, und dann natürlich in Berlin, wo ich die letzten zwei Wochen verbrachte, um Gregor Gysi und Nadja Bunke besser kennenzulernen. Ich habe im Maritim Hotel in der Friedrichstraße geschlafen, das früher Metropol hieß und einen Intershop beherbergte, in dem ich Anfang der 80er die erste Levi's Jacke meines Lebens kaufte. Ich war sechs- oder siebenmal da, damals, es war der bedachtetste Kauf meines Lebens. Vorgestern bin ich noch durch den Tiergarten gejoggt, bevor ich zum Flughafen fuhr. Gestern Abend rannte ich dann endlich wieder um den Prospect Park in Brooklyn, der abwechslungsreicher ist als sein Berliner Bruder, grüner und anspruchsvoller. Es ist die Strecke auf der Welt, die ich inzwischen am besten kenne, zweikommaacht Meilen die Runde, dazu vielleicht noch eine halbe Meile hin und eine halbe zurück.
Der Gedanke an die Gleichförmigkeit der Runden, das langsame Auf und Ab der Strecke, wiegt mich dann in einen leichten Morgenschlaf, auch wenn ich mir nicht sicher bin. Es ist mehr so ein Gefühl, dass mir ein kleines Stück Bewusstsein fehlt, bis zu dem Moment, in dem ich die ersten Flugzeuge höre, die über unserem Haus kreuzen, und auch das Licht auf meinen Lidern spüre.
Das Licht kommt von Osten. Es fährt, so stelle ich mir das vor, wie eine Hollywoodkamera über den Atlantik, über die schmalen Inseln vor der Ostküste New Yorks, streicht über das flache, vorwiegend dreistöckige Brooklyn hinweg, gelangt ungehindert von Wolkenkratzern direkt in die Backyards der Carroll Street und fällt dann durch eines der drei schmalen Fenster im dritten Stock unseres Hauses auf mein Gesicht.
So beginnt der Tag, so fängt der Film an.
Ich liege auf der Seite des Fensters, links, das ist mein Platz in unserem Bett – überall auf der Welt. Von hier aus kann ich meine Frau am natürlichsten in den Arm nehmen, denke ich. Meine Frau wiederum meint, dass ich näher am Licht liegen muss, weil sie den leichteren Schlaf hat. Sie will die Möglichkeit haben, sich sowohl vom Licht als auch von mir wegdrehen zu können, sagt sie. Und jetzt schläft sie, und ich bin wach. So sieht's aus.
Ich werde vom Knistern wach, so einem Knistern, als blättere jemand eine Zeitung um. Es kommt von der Seite neben mir, links neben mir, da, wo die Kinder schlafen, wenn sie schlecht träumen, oder der Kater, wenn er vor der Tür miaut und ich die Nerven verliere, oder mein Mann, wenn er da ist.
Er ist da, vorgestern ist er wiedergekommen, er hat Jetlag, er ist wach und sucht seine Brille zwischen den Zeitungen neben dem Bett. Ich stelle mich schlafend, es ist noch fast dunkel im Zimmer, halb sechs vielleicht oder sechs. Die Tage werden kürzer, es geht so schnell. Gestern Abend ist ein Gewitter über die Stadt gezogen, ein kurzes, kräftiges. Danach war die Luft nicht mehr so stickig wie in den letzten Tagen, sondern angenehm, fast kühl. Wir konnten nachts die Klimaanlage auslassen, den Kasten hinter unserem Bett, der so laut brummt, als stehe ein Traktor im Raum. Nur der Ventilator kreist träge über meinem Kopf. Ich mag das, das Summen und den leichten Luftzug. Es ist, als würde ich in einem Haus in den Tropen schlafen.
Das Knistern hört auf. Alex hat seine Brille gefunden. Er steigt aus dem Bett, tastet sich zur Tür vor. Er gibt sich Mühe, keine Geräusche zu machen, aber er kann einfach nicht leise auftreten, und das Haus, eines dieser Reihenhäuser mit Vorgarten und Steintreppe, hat seine eigenen Regeln. Es lebt. Die Dielen und Treppenstufen knarren, der Wasserhahn jault, die Türrahmen sind verzogen von der schwülen New Yorker Sommerluft, die Schlafzimmertür zur Kleiderkammer hängt nur lose im Rahmen, während die zum Flur klemmt, man muss sie anheben und dann mit einem Ruck zu sich ziehen, um sie zu öffnen.
Dieses altersschwache Haus ist mit Abstand das beste, was wir bei unserer Wohnungssuche vor zwei Jahren gefunden haben.
Alex hatte einen Job beim Spiegel bekommen, und der Spiegel erfüllte ihm seinen Wunsch, in New York zu leben und zu arbeiten. Es war sein Lebenstraum, er riss mich mit. Das kann er gut. Und wenn ich einmal dabei bin, dann will ich es auch. Manchmal mehr als er. Als Alex in den Wochen vor unserem Umzug nachts aufschreckte, aus Angst vor dem Neuen, vor der Ungewissheit, vor der Verantwortung, beruhigte ich ihn. Alles wird gut.
Ich hatte Lust auf etwas Neues, und Amerika passte gut. Unsere Tochter war gerade geboren, ich war im Erziehungsurlaub, und New York nahm mir die Entscheidung ab, ob ich ein Jahr zu Hause bleiben sollte oder zwei oder drei. Wir würden erstmal in Ruhe ankommen und dann weitersehen.
Alex suchte zunächst alleine nach Wohnungen. Er suchte im Greenwich Village, in Chelsea, in der Upper West Side, da, wo in den romantischen Hollywoodkomödien Familien mit Kindern leben. Alex wollte unbedingt nach Manhattan, mitten zwischen die Wolkenkratzer, ins Herz von New York.
Am Telefon erzählte er mir dann, wie unfreundliche Makler ihn in winzige, dunkle Apartments führten, mit Blick auf Häuserwände, und sagten, unter 5000 Dollar Kaltmiete sei nichts anderes zu kriegen.
»Was ist mit Harlem?«, fragte ich, weil ich gelesen hatte, Harlem sei gerade im Kommen.
»Ja, vielleicht Harlem«, sagte er. »Oder Brooklyn. Eine Kollegin hat gesagt, Brooklyn sei besser, wenn man Kinder hat.«
Ich war erst zweimal in New York gewesen, immer auf der Durchreise. Ich kannte Brooklyn nur aus „Smoke, dem Film von Paul Auster, und stellte es mir wie eine amerikanische Kleinstadt am anderen Ufer des East Rivers vor – eine ruhige Gegend, in der Schriftsteller in alten Häusern sitzen und sich Gedanken über das Leben machen.
Als uns Steven, ein Büchersammler aus Boston, den Alex mal auf einer Lesung in Berlin kennengelernt hatte, Bilder von einer Wohnung in Brooklyn nach Berlin schickte, sagten wir zu, ohne die Wohnung gesehen zu haben. Auf den Fotos sahen die Zimmer groß aus und hell, es gab sogar einen Garten. Ich weiß nicht, mit welchen Tricks diese Bilder entstanden waren, ich weiß nur, dass wir am 22. September 1999 im Erdgeschoss eines Brownstonehauses in der 2nd Street, Ecke 5th Avenue standen und ich dachte, dass ich lieber wieder in mein winziges Lichtenberger Kinderzimmer ziehen würde als in dieses Loch in Brooklyn. Es war mein 32. Geburtstag, und das war kein Geschenk. Die Wohnung war dunkel und kalt, ein Schlafzimmer befand sich im Keller, und der Garten war so groß wie unser Balkon in Berlin, nur nicht so sonnig, denn er war von hohen Mietshäusern umringt, aus deren Fenstern laute Musik pumpte und Männer gelangweilt auf uns herunterschauten, denen ich nachts ungern auf der Straße begegnet wäre.
Das Problem war, dass wir bereits zwei Monatsmieten als Kaution bezahlt hatten, weil der Büchersammler uns versichert hatte, die Wohnung sei sonst weg. Das behauptete auch die Maklerin, eine Freundin des Büchersammlers. Sie hatte uns vom Flughafen in Newark abgeholt und mir eine Rose mitgebracht, zum Geburtstag. Wir dachten, es handle sich um einen Freundschaftsdienst. In Wirklichkeit wollte sie zwei ahnungslosen, völlig übermüdeten Deutschen ein paar Kellerräume andrehen. Den Vertrag hatte sie dabei. Die Vermieterin wartete in einem Restaurant in Manhattan auf uns. Da sollten wir unterschreiben, gleich jetzt.
Ich schaute Alex flehend an.
»Wir sollten morgen früh nochmal wiederkommen, wenn es hell ist«, sagte er traurig. Er wollte so gerne nach New York. Amerika war das Land seiner Helden.
»Klar«, sagte ich. »Wir kommen morgen früh nochmal wieder.«
Am nächsten Morgen war dann zum Glück auch Alex überzeugt, dass wir hier niemals wohnen konnten. Nicht mit zwei kleinen Kindern. Wir schrieben die Kaution ab und suchten weiter. Am letzten Tag vor unserer Abreise nach Berlin zeigte uns Tony, einer der Makler, die in der 7th Avenue in Ladenbüros hinter winzigen Schreibtischen saßen, ein Haus in der Carroll Street. Es lag im Einzugsbezirk der P.S. 321, einer guten Grundschule, nur zwei Blocks vom Prospect Park entfernt, es war groß und hell, und nach hinten hatte es einen verwilderten Garten mit einem Maulbeerbaum und einer Schaukel für die Kinder. Wir sagten sofort zu, und dann liefen wir durch die Septembersonne in den Park, setzten uns auf eine Bank, sahen Familien beim Ballspielen und Picknicken auf der Wiese zu, lehnten uns aneinander, und ich fühlte mich ruhig und sicher, dass uns dieses neue Leben hier schon gelingen würde. Zwei Jahre ist das her, fast auf den Tag genau.
Ich liege still in meinem Bett und hoffe, dass der Schlaf zurückkommt, aber es sieht nicht so aus.
Heute ist Dienstag, denke ich.
Dienstag kommt die Straßenreinigung.
Weiß Alex, dass er das Auto umparken muss?
Wo steht das Auto?
Wo ist der Autoschlüssel?
Wird er daran denken, die Mülltonnen rauszustellen?
Alex ist dran, so heißt das bei uns. Er weckt die Kinder, er macht Frühstück, er bringt Ferdinand zur Schule. Und zwischendurch parkt er das Auto um und stellt die Mülltonnen raus. Wir sind beide Nachtmenschen, wir gehen spät ins Bett und schlafen morgens gerne länger, und irgendwann in unserer Beziehung haben wir uns darauf geeinigt, uns mit dem Aufstehen abzuwechseln. Das klingt gut, klappt aber fast nie, weil Alex ständig unterwegs ist oder nachts schreiben oder sich von der Nachtschicht erholen muss. Dieser Morgen ist also eine Ausnahme, eine Chance für mich, und die will ich nutzen.
Über die Mülltonnen haben wir gestern Abend gesprochen, über das Auto auch. Ich dämmere gerade wieder weg, aber da taucht der nächste Gedanke auf. Er hat nichts mit Mülltonnen und Parken zu tun, sondern mit mir. Ich kann ihn trotzdem nicht gebrauchen, nicht jetzt, nicht so früh am Morgen. Aber er ist da.
In zwei Tagen wird mein erster Text in der Zeit erscheinen. Er handelt von Dave Eggers, einem jungen amerikanischen Schriftsteller, der hier in unserem Viertel gewohnt und ein wunderbares Buch geschrieben hat. Ich habe ihn in Philadelphia besucht, wo er eine Lesung hatte. Wir haben uns unterhalten, nach der Lesung waren wir auf einer Party. Er hat mich seiner Kollegin Zadie Smith vorgestellt. »Das ist Anja, sie ist aus Berlin und lebt in Brooklyn«, hat er gesagt. Ich fand, dass das gut klang, und ich fühlte mich gut, anders als sonst, freier. An diesem Abend war ich nicht die deutsche Mutter, die Frau des Korrespondenten – ich war eine junge Europäerin, eine Schreiberin, die in Brooklyn wohnte wie Eggers. Wir tranken Bier, er schwärmte von Amsterdam und sagte, dass er bald in Berlin lese und dass ich ihn an die Schwester seiner Freundin erinnere. Ich wäre gerne länger geblieben, aber ich fühlte, dass Alex gehen wollte. Er war mit nach Philadelphia gekommen, weil er hier auch ein Interview hatte. Meine Mutter war zu Besuch in New York, und wir sahen eine Chance, mal wieder zu zweit unterwegs zu sein.
»Das ist mein Mann«, sagte ich zu Dave Eggers, nachdem ich Alex an die Bar gezogen hatte, und wusste sofort, dass das ein Fehler war, dass es überhaupt ein Fehler gewesen war, mit ihm gemeinsam nach Philadelphia zu fahren. Ich war hier die Reporterin, er war mein Mann. Normalerweise ist es umgekehrt, normalerweise bin ich diejenige, die mitgebracht wird und dasteht und darauf wartet, ins Gespräch einbezogen zu werden und daran denkt, dass es doch besser gewesen wäre, zu Hause zu bleiben, dass man diese Dinge nicht mischen sollte.
»Hi«, sagte Alex kühl und wollte sich sofort wieder aus dem Staub machen. Er hält diese Situationen noch schlechter aus als ich. Er bekommt dann so einen kalten, unnahbaren Blick und spielt Coolman.
»Hi«, sagte Eggers. »Nice to meet you.«
Ich versuchte, die Situation zu retten, erzählte Eggers von Alex' Arbeit und Alex von Eggers' Amsterdam-Reise, ich redete und redete, immer mehr, die Musik war laut, ich schrie fast, kämpfte um meinen Abend, um meinen Mann, um meine Geschichte. Ich wollte alles, und alles war zu viel. Später in Brooklyn habe ich Eggers nochmal wiedergesehen, ich habe seinen Laden in der 7th Avenue besucht, in dem er Leuten die Haare schneidet und unnütze Sachen verkauft. Als er gehört hat, dass ich im Sommer nach Europa fliege, hat er mich gebeten, ihm von überall, wo ich bin, ein bisschen Erde mitzubringen, die er dann in seinem Laden verkaufen werde, dirt in jars, und ich habe für ihn Sand aus Venedig, Wien, Berlin und Ückeritz durch den Zoll geschmuggelt, Spuren unseres schönen langen Sommers, der nun zu Ende geht.
Ich drehe mich auf die Seite. Wenn Alex erst einmal unten in der Küche ist, gibt es vielleicht noch eine Chance, weiterzuschlafen. Er ist bereits vor den Kinderzimmern, noch eine Etage, seine Schritte werden schneller, er ist ein ungeduldiger Mensch. Eine Tür klappt, es ist wieder still im Haus, die Kinder schlafen noch, draußen bellt ein Hund, das Windspiel von Roxy und Mike, unseren Nachbarn, klimpert leise, der Ventilator summt, irgendwo heult die Alarmanlage eines Autos, ein Flugzeug, auf dem Weg nach La Guardia, fliegt über unser Dach.
Die Treppe zum zweiten Stock knarrt am allerschlimmsten, aber wenigstens konnten wir im Frühling die Sicherheitsgitter an den Treppengeländern abbauen, weil unsere Tochter Mascha inzwischen ziemlich sicher auf den Beinen ist. Ich habe diese Gitter gehasst, ich habe mich gefühlt wie ein Pferd, wenn ich durch unsere Wohnung lief. Ich habe sie selber angeschraubt, aber das macht es natürlich nicht besser.
Vor knapp zwei Jahren trafen die Gitter zusammen mit unseren anderen Sachen hier ein, am letzten Tag, den ich allein in New York verbrachte. In den ersten sechs Wochen hatte ich auf einer Luftmatratze geschlafen. Ich hatte bis dahin noch nie in einem mehrstöckigen Haus gelebt und musste erst überlegen, in welches der sechs leeren Zimmer, in welches der drei Stockwerke ich die Matratze lege. Ich habe mich für das kleinste Zimmer im zweiten Stock entschieden. Sechs Wochen lang war ich mit dieser Luftmatratze, mit Bagels, Bier und einem Sony-Fernseher ausgekommen, dann stand plötzlich ein riesiger, deutscher Container in der schmalen Carroll Street. In dem Container waren all die seltsamen Dinge drin, die man so ansammelt in einem Familienleben: die verstaubten Likörflaschen, die Kaffeetassen mit lustigen Sprüchen, die Stephen King- und die Scholochow-Bücher, die Rod Stewart- und die BAP-CDs, die Videokassetten, deren Beschriftung man nicht mehr lesen kann, die Elektrogeräte, die hier nicht funktionieren, unsere deutschen Kinderbücher und die Gitter für die Treppen, die wir noch in Deutschland gekauft hatten, weil man deutschen Gittern mehr trauen konnte als amerikanischen. Ich habe meine Frau verflucht, als ich die Kisten auspackte, die sie in Berlin eingepackt hatte. Die sechsteilige Videobox Chronik der Wende, die ich schon in Deutschland nicht aus ihrer Plastikhülle befreit hatte, weil mich bereits ihr Anblick schläfrig machte, hatte es über den Atlantik geschafft, genau wie die Langlaufskier meiner Frau, die sie ein einziges Mal in ihrem Leben benutzt hatte, als sie sich zu schwanger für den Abfahrtslauf fühlte. Wenn man sechs Wochen lang nur mit einem Fernseher und einem Kühlschrank lebt, versteht man, wie wenig der Mensch braucht im Leben. Die deutschen Sicherheitsgitter haben dann nicht zu den schmalen New Yorker Brownstonetreppen gepasst, so dass ich im Eisenwarenladen auf der 7th Avenue amerikanische kaufen musste. Die habe ich mit Hans angeschraubt, dem Vorarbeiter der deutsch-amerikanischen Umzugsfirma, die unseren Container leerräumte. Hans stammte aus Ostberlin wie ich. Er lebte seit acht Jahren in New York, sprach aber erstaunlicherweise kaum Englisch. Als alles angeschraubt war, holte er ein Sixpack Corona aus dem Supermarkt an der Ecke und erzählte mir, dass er kurz nach seiner Ankunft in New York seinen Pass verloren habe und deswegen nicht zurückkönne. Außerdem gebe es in Berlin noch verärgerte Türken, denen er Geld schulde, und einen ehemaligen Geschäftspartner, der ihm die Frau ausgespannt habe. Hans lebte in einem Container in New Jersey, er hatte Hunderte amerikanische Videokassetten gesammelt, mit denen er später in Deutschland ein Geschäft aufmachen wollte, von dem noch nicht klar war, wie es konkret aussehen sollte. Wir tranken Bier, fluchten auf die amerikanischen Wände, die weitgehend aus Putz bestehen, der sich in tellergroßen Flatschen löst, wenn man versucht, ein Loch zu bohren. Hans zeigte mir ein Foto, auf dem er am letzten Weihnachtsfest in seinem Container zu sehen war. Er trug einen roten Anzug und einen Cowboyhut, im Hintergrund sah man einen kleinen Weihnachtsbaum und ein Regal mit Videokassetten.
Der erste Winter in New York.
Ich schlief eine Nacht in unserem Ehebett und flog am nächsten Morgen nach Berlin, um meine Familie nach New York zu holen. Ich hatte ihnen zusammen mit Hans ein Nest in Brooklyn gebaut. Als die Tür in Berlin aufging, stand meine einjährige Tochter da. Meine Schwiegermutter hatte sie vorgeschickt, um mich zu begrüßen. Meine Tochter hatte mich sechs Wochen nicht gesehen, was ja ziemlich viel war in so einem kurzen Leben. Irgendwann sagte sie: »Ma … ppa.« Mapa. Zwei Silben, die mein Standing in dieser Familie ganz gut beschreiben.
Ich wasche mir das Gesicht im Kinderbad im zweiten Stock, um meine Frau nicht zu stören. Die Leitung faucht, morgens muss hier auch das Wasser immer erst geweckt werden. Es ist der Charme des Hauses, sagt Bill McGuiness, der Vermieter. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht mit Wut an Bill denke. Besonders schlimm ist es an Tagen wie diesem, wenn ich aus Deutschland zurückkehre, aus Berlin mit seinen schönen, großen und preiswerten Wohnungen, in denen alles funktioniert. Es gibt Badewannen in Deutschland, hier haben wir nur flache, rechteckige Tröge, in denen man nicht untertauchen kann. Anfangs gab es nicht einmal Stöpsel. Wir zahlen 4200 Dollar Miete, kalt, und haben nicht einmal Stöpsel für die winzigen Witzbadewannen. Bill McGuiness hat mir einen Laden genannt, wo man Stöpsel kaufen kann. Es ist der Hardware Store, in dem es auch die Treppengitter gibt sowie die Ventile für unsere Heizkörper, die ächzen wie die Maschinen des Totenschiffes. Bill McGuiness ist Rechtsanwalt in einer renommierten Wirtschaftskanzlei, er wohnt in einem großen Haus auf Long Island, aber den Spülkasten im oberen Bad, der alle zwei Monate auseinanderfällt, repariert er jedes Mal mit Bindfaden. Die amerikanischen Klospülungen funktionieren anders als die deutschen, sie explodieren geradezu, wenn man sie antippt. Das hält Bills Bindfaden immer nur zwei Monate aus. Dann muss ich ihn wieder anrufen. Ich weigere mich, die Klospülung für all das Geld, das wir bezahlen, selbst zu reparieren, obwohl ich einst den Beruf des Instandhaltungsmechanikers beim VEB Wasserwirtschaft und Abwasserbehandlung erlernt habe. Bill steht irgendwann wieder mit seinem verschossenen, steifen Rechtsanwalts-Trenchcoat vor der Tür, ein Bier in der einen Hand, einen Bindfaden in der anderen. Er knüpft den Faden, spült dreimal und sieht mich belustigt an, weil ich das nicht allein auf die Reihe kriege. Ich fühle mich wie ein Kind in diesen Momenten, aber egal. Ich warte darauf, dass er die Nerven verliert und irgendwann mit einem neuen Spülkasten vor der Tür steht.
Es ist eine Schlacht zwischen unseren Nationen. Hier in Amerika wird ja alles erstmal geflickt. Sie werfen nichts weg, in den Vorgärten auf dem Land stapeln sich die rostigen Autos, aus denen man vielleicht noch mal was machen kann, und wenn die Straße ein Loch hat, legt man erstmal eine Metallplatte drauf. Die New Yorker Straßen sind gepflastert mit diesen Metallplatten, in Berlin reißen sie bei einem Loch die ganze Straße auf. Da wird abgesperrt, aufgestemmt, der Unterboden erneuert und dann alles schön wiederaufgebaut. Deswegen laufen unsere deutschen Besucher, allen voran mein Vater und mein Schwager aus Kaulsdorf, durch unsere Wohnung wie der Welt-TÜV, klopfen die Wände ab, prüfen die Elektroleitungen, inspizieren den Keller und erklären immer wieder: »Das würde bei uns so nicht abgenommen werden!«
An Tagen wie diesen, an Tagen, an denen ich noch zwischen Europa und Amerika pendle, verstehe ich meinen Schwager aus Kaulsdorf ein bisschen. An Tagen wie diesen kommt mir mein Leben hier absurd vor. All der Müll, der Lärm und das ganze Geld. Wenn man mit dem Taxi vom JFK-Flughafen kommt, sieht New York aus wie eine verrumpelte, russische Provinzstadt. Holzhäuschen, Maschendrahtzäune, Autowracks, Müllsäcke und Schnapsläden, die gesichert sind wie die Bank von England. Der Taxifahrer ist sauer, wenn man ihm den kürzesten Weg vorschreibt und am Ende nicht mindestens sechs Dollar Trinkgeld gibt, obwohl er versucht hat, einen zu bescheißen. Aber das geht vorbei. Es geht vorbei. Wenn ich irgendwann in zwei oder drei Monaten nach Deutschland fliege, wird mir Berlin unglaublich leer vorkommen, bleich und leblos. Wenn man an einem Sonntagvormittag von Tegel mit dem Taxi in die Stadt fährt, sieht sie aus, als sei sie von einer Neutronenbombe getroffen worden. Es gibt breite Bürgersteige, aber keine Menschen und null Energie, nur ab und zu sieht man einen Berliner Neutronenbombenzombie mit schlecht gelauntem Gesichtsausdruck unter tiefen, grauen Wolken herumtaumeln.
Es gibt kein Zurück mehr, nie wieder, am Ende geht es mir nicht viel anders als Hans. Ich habe meinen Pass verloren. Ich muss nur nicht in einem Container in New Jersey schlafen.
Ich hole mir die New York Times und die New York Post von der Türschwelle, mache die Kaffeemaschine an und setze mich an den Küchentisch. Auf der Post ist eine Tochter von Mick Jagger zu sehen, Elizabeth, die für die Fashion Week nach New York gekommen ist. Sie trägt einen Hut und macht die Stones-Lippen. Die Times zeigt vorn lauter Fotos von den Primary-Kandidaten der Demokratischen Partei. Heute wird in New York gewählt. Ich habe das Wahlsystem hier nie richtig begriffen, es hat mich auch nie interessiert, aber ich bin der Mann des Spiegel in New York, von mir wird erwartet, dass ich mich mit diesen Dingen auskenne. Ich fühle mich oft überfordert von der Größe meiner Aufgabe. Es ist so ein riesiges Land, so ein bedeutsames Magazin. Manchmal ruft mich ein außenpolitischer Redakteur aus Hamburg an, morgens, wenn ich noch im Bett liege, es in Deutschland aber bereits Nachmittag ist, und fragt: »Was halten Sie von der Sache in Cleveland? Sollten wir da was machen?«, und ich habe keine Ahnung, was er überhaupt meint. Cleveland? Ich versuche in diesen Momenten, keine Bettgeräusche zu machen, und hoffe, dass mir meine Tochter nicht kreischend auf den Bauch springt oder mein Sohn aus der zweiten Etage ruft, dass das Klopapier alle ist. Dann sage ich dem außenpolitischen Redakteur auf der anderen Seite des Atlantik: »Cleveland ist natürlich interessant, man muss mal sehen, wie sich das entwickelt. Lassen Sie uns doch morgen nochmal telefonieren.«
Es soll ein schöner Tag werden, sagt die Wetterseite der Times, nicht mehr so schwül wie gestern, 79 Degree Fahrenheit und sonnig. Die Küche ist bereits in dieses wundervolle New Yorker Spätsommerlicht getaucht, klar und kühl und scharf wie ein Pfefferminzbonbon. Crisp, nennen sie das. Ein Skilicht, ein Winteralpenlicht. Ich ziehe den Sportteil aus dem dicken Zeitungspacken.
Die Football Saison hat begonnen, die Jets und die Giants haben verloren, vier Seiten lang werden die beiden ersten Spiele der New Yorker Teams aus jedem möglichen Blickwinkel betrachtet. Ich finde das übertrieben, ich kann American Football noch nicht richtig ernst nehmen. Kurze Bewegungen, ewig lange Pausen, Schiedsrichter, die in gestreiften Hemden und mit einem großen roten Pfeil übers Feld rennen wie Figuren aus einer Kindersendung. Baseball interessiert mich noch weniger, übergewichtige Männer mit verschwollenen Gesichtern und zu engen Hosen, die sich am Sack kratzen und spucken. Basketball wird im Moment nicht gespielt, die US Open im Tennis sind zu Ende gegangen, als ich in New York landete. Lleyton Hewitt hat gewonnen und eine der Williams-Sisters. Die interessieren mich alle nicht richtig. Ich mag nur noch Andre Agassi, aber der läuft auch schon so seltsam hüftsteif.
Und der amerikanische Fußball schafft es irgendwie nicht. Lothar Matthäus, der zur gleichen Zeit wie ich nach New York zog, um für die Metro Stars zu spielen, hat inzwischen aufgegeben. Ich habe ihn einmal an einer Tollbooth vorm Hudson River getroffen. Er stand in seinem BMW-Geländewagen direkt in der Reihe neben mir. Zwei Deutsche in zwei schwarzen Geländewagen, ich habe ihn aus meinem Autofenster angelächelt wie einen alten Bekannten, er hat natürlich durch mich hindurchgestarrt. Es war mir noch tagelang peinlich. Es ist die Fremde.
Wie jeden Dienstag gibt es im Tabellenteil der Sports Section die europäischen Fußballergebnisse. Ich kenne die Bundesligaresultate ja aus Deutschland, aber ich schaue sie mir trotzdem an. Ich könnte stundenlang in den Tabellen versinken. Cottbus hat 3:3 gegen Wolfsburg gespielt, Hansa 1:1 gegen Freiburg. Cottbus ist Fünfter, sehr schön. Ich hab am Sonnabend noch die Sportschau auf meinem Berliner Hotelzimmer gesehen, ich habe alle fünf Spieltage der Hinrunde in Europa erlebt, aber jetzt ist die Saison für mich vorbei. Fußball verblasst hier, ich weiß nicht mal genau, wer im letzten Jahr Meister wurde. Ich habe das Champions-League-Finale verpasst, obwohl die Bayern mitspielten, und es war mir egal. Es ist ganz erholsam, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich in Deutschland zuletzt Premiere-Abonnent war. Ich habe ganze Sonnabende auf der Couch verbracht, meine Frau hat mich manchmal angesehen wie ein Möbelstück, das nicht mehr in die Wohnung passt. Es ist bestimmt gut für uns, dass es hier keinen Fußball gibt, aber eine Lücke ist da doch.
Der Spiegel hat mir angeboten, im nächsten Jahr als Berichterstatter zu den Fußballweltmeisterschaften nach Japan und Korea zu fahren. Ich habe es Anja noch nicht gesagt, und im Moment ist natürlich keine gute Zeit. Ich habe Angst vor ihrer Reaktion, dabei weiß ich eigentlich, dass ich sowieso fahre. Ich muss. Es ist ein Traum.
Die Kinder sehen mich überrascht an, wenn ich nach so langer Zeit wieder an ihrem Bett auftauche, freudig, aber auch fremdelnd. Ich bin ein Besucher in ihrem Leben, ein gern gesehener Gast. Ich gebe ihnen die süßen Cornflakes, um die Fremdheit wegzuspülen. Zucker ist ihre Droge, ich bin ihr Dealer. Ich habe gestern im Key Food-Supermarkt in der 7th Avenue Frosties gekauft, die Anja hasst. In Frosties steckt am meisten Zucker, aber ich war zwei Wochen weg. Ich lausche dem Gemurmel der Kinder, dem schlaftrunkenen Geschiebe und Gestreite, sie reden Englisch miteinander, was mich stolz macht, obwohl das natürlich falsch ist. Sie sollten Deutsch reden, hier in unserem Haus sollten sie Deutsch sprechen. Wenn Mascha am Telefon mit ihren Großeltern Deutsch spricht, erinnert sie mich an Elvis Presley in Wooden Heart, Ferdinand spricht ohne Akzent, aber sein Wortschatz schrumpft, er umschreibt bereits einfache Begriffe. Ich glaube, dass wir irgendwann zurückkehren, und genieße meine Englisch sprechenden Kinder vorbehaltlos. Sie beweisen mir, dass ich es aus der ostdeutschen Provinz heraus geschafft habe. Als wir im Juli in Berlin landeten, rief meine Tochter durchs ganze Flugzeug: »I didn't throw up, Daddy.« Ich strahlte meinen Sitznachbarn stolz an, meine Tochter hatte diesmal bei der Landung nicht gekotzt und konnte das mit wunderbarem Brooklyn-Akzent sagen.
Die Kinder löffeln ihre zuckrigen Cornflakes. Ihre Augen schauen gierig und leer in die Schalen wie Katzenaugen. Ich frage mich, was von solchen Morgen bleibt, was von mir als Vater bleibt, von all dem Zucker, den kleinen Scherzen, dem guten Willen. Meine Tochter trägt immer noch gern das rosa Koalabär-T-Shirt, das ich ihr von der Olympiade in Sydney mitgebracht habe, aber irgendwann wird es zu klein sein. Ich habe fast jede Erinnerung an gemeinsame Frühstücke mit meinen Eltern verloren, bis auf den Trick mit dem umgedrehten, leeren Ei, den Geruch des Rasierwassers meines Vaters und den Blumenteller. Wir hatten zu Hause nie ein Frühstücksservice oder so etwas, wir hatten verschiedene, zusammengewürfelte Teller, einer hatte eine Rose in der Mitte. Irgendwann entschied meine kleine Schwester beim Tischdecken: »Papa krischt den Blumentella, weilla imma uffa Arbeit muss.« Es wurde ein Familienmotto. Eines Morgens hat mein Vater den Blumenteller in einem Streit mit meiner Mutter an die Wand geworfen. Ich weiß nicht, worüber sie stritten, ich sehe nur noch den Teller fliegen, mein Vater steht auf und geht, und ich renne hinterher und rufe ins Treppenhaus, er soll bitte zurückkommen. Aber er kommt nicht zurück, er geht einfach weiter. Uffa Arbeit wahrscheinlich.
Ich muss nochmal eingeschlafen sein. Als ich die Augen öffne, ist es ganz hell draußen, und ich höre Alex und Ferdinand im Kinderzimmer Fußball spielen, vermutlich zwischen Hochbett, Schreibtisch und Kleiderkammer. Sie toben herum wie kleine Kinder und ich hier oben in meinem Bett warte darauf, dass die Stimmung umschlägt, Ferdinand sich weh tut, Mascha mitspielen will oder es einfach an der Zeit ist, zur Schule zu gehen. Das ist der Moment, in dem sich Alex aus einem sechsjährigen Jungen in einen 39-jährigen Vater zurückverwandelt. Meist ohne Vorwarnung. Ich kann nicht sehen, wie er auf die Uhr sieht, aber ich höre es an dem winzigen Moment der Stille, dem ein: »Okay, let's go. Ferdi, do you have your lunchbox, your backpack?« folgt.
Alex spricht Englisch mit Ferdinand, seine New Yorker Lehrerin hatte uns dazu geraten. Er war gerade sieben geworden, als wir umzogen, und er konnte nicht viel mehr als: »My name is Ferdinand. I'm seven years old. I'm from Berlin.« Wir hatten ihn auf einer ganz normalen öffentlichen amerikanischen Schule angemeldet und nicht in der deutschen in White Plains, weil wir nicht wollten, dass er zwischen Diplomatenkindern in der Vorstadt aufwächst. Wir wollten das echte New York erleben. Vielleicht war das egoistisch, ich weiß es nicht, wir haben es einfach gemacht, und unser Sohn hat es nie in Frage gestellt. Er war ja kein Einzelfall. In seiner Schule gab es etliche Kinder, die kein Englisch konnten. Viermal pro Woche bekamen sie Nachhilfe, und einmal in der Woche gab es einen Sprachkurs für Eltern in der Schule. Ich war einmal da, aber die Lehrerin schickte mich nach Hause, denn die Mütter, die sie unterrichtete, konnten überhaupt kein Englisch.
Ich hatte in der Schule Englisch gelernt, im Studium und später noch auf einer Abendschule, verstand aber trotzdem nie die Ansagen in der Subway und wenn ich bei Starbucks einen Sesam-Bagel bestellte, bekam ich einen mit Mohn. Einmal, im Florida-Urlaub, klingelte ein Mann in einer braunen Latzhose an der Tür unseres Ferienhauses. Er sagte, er sei von der Pest Control, ich verstand Pass Control und holte meinen deutschen Pass. Der Mann sah mich verwundert an. »Pest Control«, sagte er. Er war ein Kammerjäger.
Ich meldete mich auf dem Baruch City College in Manhattan für einen Sprachkurs an und las nachmittags mit meinem Sohn Kinderbücher. Nach einem Jahr war sein Englisch fließend, und unsere Nachbarin glaubte sogar einen leichten Brooklyn-Akzent bei ihm festzustellen. Alex hätte jetzt eigentlich wieder Deutsch mit ihm reden können. Aber er dachte nicht daran.
»Stop it«, ruft er jetzt, schon etwas genervt. Ferdinand versteht sofort den Ernst der Situation, Mascha nicht, sie will weiterspielen.