Peer Steinbrück
Unterm Strich
1. Auflage 2010
Copyright © 2010 by
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg
www.hoca.de
Satz: atelier eilenberger, Leipzig
ISBN 978-3-455-30721-4
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
www.kreutzfeldt.de
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 9
I Untiefen voraus 15
Die Neuverteilung des globalen Wohlstands 15
Risse im Fundament des Sozialstaates 26
Talfahrt der Politik 35
II Die Verschiebung der ökonomischen Gewichte 55
Once Upon a Time in America 62
Der Drache wacht auf: China 79
Der lahmende Stier: Europa 102
Der unbekümmerte Michel: Deutschland 138
III Im Kessel der Finanzkrise 169
Die Finanzkrise im Zeitraffer 170
Die vier Gesichter der Krise 179
Die Krise als Zäsur 187
Zehn Tage, die mich bewegten 193
Peinliche Befragung: Die Fehler der Politik und die Ignoranz einer Wirtschaftselite 219
Der Widerspenstigen Zähmung: Verkehrsregeln für die Finanzmärkte 226
IV Sozialstaat im Schraubstock 235
Gesellschaftliche Fliehkräfte 235
Die Grenzen der Transfergesellschaft 253
Das Räderwerk des Sozialstaates 277
Der vorsorgende Sozialstaat – eine Blaupause 290
V Politik im Korsett 299
Bremsklötze des Föderalismus 305
Das Unwesen der Expertokratie 313
Parteiendemokratie in Deutschland 320
Der Mythos vom gefräßigen Staat 340
VI Eine delikate Beziehung: Politik und Medien 355
Verstrickungen von Politik und Medien 361
Das vormoderne Politikverständnis der Medien 364
Die Ökonomisierung der Medienlandschaft 372
VII Neuvermessung der Politik 383
Die Abdankung politischer Weltanschauungen und die Zukunft der Parteiendemokratie 383
Überholte Rituale – neue Zumutungen 391
Vom Hürdenlauf der Reformen 397
Gesicht und Substanz des politischen Personals 406
VIII Freiheit – Solidarität – Gerechtigkeit 421
Das Debakel der Bundestagswahl 2009 423
Blick in den Rückspiegel 431
Ein persönliches Bekenntnis 443
Sieben Empfehlungen für eine Revitalisierung der SPD 458
»Mehr Freiheit wagen!« 465
Zitat- und Quellennachweise 469
Register 477
»Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen,
was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei
besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.«
Ferdinand Lassalle
Wir wollen nicht immer so genau wissen, was wir eigentlich wissen. Wir würden dann nämlich zu der Erkenntnis gelangen, dass wir Selbsttäuschungen unterliegen und Irrtümern folgen. Wir wären zu Korrekturen gezwungen, die darauf hinauslaufen, dass wir uns selbst ändern und viele Änderungen vornehmen müssen. Dann stehen Gewissheiten und Überzeugungen auf dem Prüfstand. Das führt auf einen Weg, der steinig und kurvenreich ist statt bequem und ausgeleuchtet, wie wir es gern haben. Der Abschied von falschen Gewissheiten ist schmerzlich, Korrekturen sind anstrengend. Deshalb blenden wir unser Wissen aus und lassen uns lieber unterhalten. »Denn sie wissen nicht, was sie tun« hieß ein berühmter Film mit James Dean. Der Film über uns müsste heißen: »Denn sie tun nicht, was sie wissen«.
Das vor uns liegende Jahrzehnt garantiert Deutschland keineswegs jenes Maß an Wohlstand und sozialer Stabilität, das – von gelegentlichen Eintrübungen abgesehen – die ersten 60 Jahre der Bundesrepublik Deutschland zu einer beispiellosen Erfolgsgeschichte machte. Alle Anzeichen für Risse in unserem ökonomischen und finanziellen Fundament ignorierend, gehen wir unbeirrt davon aus, dass Deutschland international auch weiterhin in der Champions League spielen und sogar gestärkt aus der Wirtschafts- und Finanzkrise hervorgehen kann. Im Wirtschaftswachstum sehen wir nach wie vor das große Zukunftsversprechen, den Alleskleber für alle aufplatzenden Probleme.
Noch erscheint uns die Vorstellung abwegig, dass der soziale Kitt brüchig werden könnte, dass gesellschaftliche Fliehkräfte den sozialen Frieden aushebeln und sogar die demokratische Substanz unseres Gemeinwesens angreifen könnten. Die tief in unserem Bewusstsein verwurzelte wohlfahrtsstaatliche Mentalität zeigt sich immer noch unbeeindruckt von dem massiven Druck, der auf die Finanzgrundlagen des Sozialstaates einwirkt. Zwar verfolgen wir atemlos, wie sich 1 Milliarde zur kleinsten Recheneinheit der Republik entwickelt und wie die Fieberkurven von Märkten ausschlagen, aber beim Blick aus dem Fenster erscheint ansonsten alles sicher. Die Rente sowieso.
Tatsächlich ist nichts in Stein gemeißelt. Es steht nicht geschrieben, dass wir uns in zehn Jahren in derselben verhältnismäßig guten Verfassung wiederfinden werden wie heute. Deutschland sieht sich mit einem tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Wandel konfrontiert, der bisherige Gewissheiten wegfegt und die Statik unseres Hauses erschüttern kann. Man kann davor die Augen verschließen und sich in einer Stabilitätsillusion wähnen. Aber damit erhöht sich nur die Rechnung, die am Ende so oder so fällig wird. Je länger wir die Realität verweigern, desto höher werden aber nicht nur die Anpassungskosten. Je länger wir uns unseren Selbsttäuschungen überlassen, desto größer wird auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir auf der Leiter der Wohlstandsregionen absteigen.
Mit der Niederschrift zu diesem Buch begann ich zwei Monate nach der Bundestagswahl vom 27. September 2009, mit der die große Koalition und damit auch meine Amtszeit als Bundesminister der Finanzen beendet wurde. Seit Ende Oktober 2009 werden wir von jener »Traumkoalition« regiert, die sich die Führung von CDU/CSU und die FDP seit vielen Jahren gewünscht hatten. Alle vier bis sechs Wochen erlebten wir einen sogenannten »Neustart«. Als ich die Arbeit am Manuskript Mitte Juli 2010 abschloss, hatte das schwarz-gelbe Bündnis diesen Begriff nach der schweißtreibenden Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten aus seinem Repertoire gestrichen.
Unterm Strich ist kein Erinnerungsbuch mit autobiographischen Zügen. »Nur ein Idiot glaubt, dass er über sich die Wahrheit schreiben kann«, mahnte der Schriftsteller Eric Ambler mit britischem Understatement in seiner Autobiographie. Dieses Buch ist weder eine Bilanzierung meiner bisherigen politischen Tätigkeit noch gar eine Abrechnung mit dem politischen Gegner. Entgegen mancher Erwartung konzentriere ich mich auch nicht ausschließlich auf die Finanzkrise. Was ich über ihre Auswirkungen hinausgehend aufzeigen möchte, ist die Dringlichkeit der Situation, in der wir alle gemeinsam stehen.
Unsere Lage wird geprägt von der Rasanz einer globalen ökonomischen Entwicklung, die zu erheblichen Verschiebungen im ökonomischen und politischen Gefüge der Welt führt (Kapitel II), in dem Europa auf der Suche nach seiner Rolle ist. Diese Entwicklung wird beschleunigt durch die Banken- und Finanzkrise (Kapitel III), die gleichzeitig die Politik mit der Frage herausfordert, wer eigentlich Herr des Geschehens ist. Wenn sich die Zentren der ökonomischen Dynamik verlagern und der Wohlstand der Welt neu verteilt wird, geht das an Deutschland nicht spurlos vorbei. Im Zusammenwirken mit der demographischen Entwicklung sind davon auch die finanziellen Grundlagen unseres Sozialstaates berührt (Kapitel IV). Er muss einerseits zunehmende Fliehkräfte, die unsere Gesellschaft zu spalten drohen, bewältigen und ist andererseits einer Überdehnung ausgesetzt, weil nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Einzahlern und Leistungsempfängern, zwischen der Bereitschaft zu und der Beanspruchung von Solidarität, gespannter wird.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist die Politik ausgerechnet in einer Zeit, in der ihr eine Höchstform abverlangt wird, einem enormen Vertrauensverlust ausgesetzt (Kapitel V). Ihren Verlust an Führungsfähigkeit und Steuerungsmöglichkeiten sucht sie in einer symbiotischen Beziehung mit den Medien zu kompensieren, lässt sich dabei aber oft genug von ihnen vorführen (Kapitel VI). Wenn das Politische rekonstruiert werden soll, wenn die Politik Vertrauen und Zutrauen zurückgewinnen will, dann werden mehr Denkverbote aufgehoben und größere Umorientierungen erfolgen müssen, als sie es sich bisher selbst eingestanden hat (Kapitel VII). Das gilt auch für meine eigene Partei, die SPD (Kapitel VIII), die einige Passagen dieses Buches gewiss als schwer verdaulich empfinden wird. Kapitel I, »Untiefen voraus«, versteht sich als eine Art Generaleinführung.
Wir werden uns gehörig anstrengen müssen, um unseren Lebensstandard, unsere Sozialstaatlichkeit und unsere freiheitlich- demokratische Ordnung zu erhalten. Das wäre eine enorme Leistung. Deshalb findet sich in diesem Buch auch nicht das Versprechen von Entlastungen, mit dem die Politik gern die Gunst der Bürger zu gewinnen sucht.
Ein solches politisches Ziel ist nach meiner Einschätzung unter den obwaltenden Bedingungen alles andere als bescheiden. Deshalb ist es auch nicht mein Anliegen, mit einem grandiosen Zukunftsentwurf oder einer Vision aufzutrumpfen. Die mögen zwar ein nüchternes Politikverständnis überstrahlen. Aber sie laufen Gefahr, an harten Wirklichkeiten und Notwendigkeiten zu zerschellen – und hinterlassen den Betriebsärzten der Gesellschaft zu viele Verletzte und Enttäuschte. Von Perspektiven ist dagegen die Rede. Regierungsverantwortung muss sich an den wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Realitäten orientieren. Sie muss diese nicht akzeptieren. Sie muss den Anspruch erheben, sie zu verbessern, aber sie darf sie nicht ignorieren.
Während der neun Monate, die ich an meinem Buch schrieb, habe ich mich aus dem politischen Tagesgeschäft weitgehend heraushalten wollen. Aber die Ereignisse auf den internationalen Finanzmärkten haben mich gleichsam eingeholt: Aus der Bankenkrise vom Herbst 2008 war Ende 2009 die Griechenlandkrise und aus dieser schließlich die Eurokrise geworden, deren Ende noch lange nicht absehbar ist. Ich habe mein Manuskript mehrfach neu organisieren, die einzelnen Kapitel neu aufeinander abstimmen und Zahlen manchmal fast wöchentlich aktualisieren müssen. Stichtag für die letzten Aktualisierungen im fertigen Satz war der 15. Juli 2010.
Ich habe das Buch Zeile für Zeile selbst geschrieben. Der Satz steht hier so nackt und lapidar, weil Autorschaft in unserem medial durchinszenierten Zeitalter offenbar alles andere als eine Selbstverständlichkeit darstellt. Nein, ich habe keinen Ghostwriter, ja, ich habe alles, was ich zitiere, tatsächlich selbst gelesen. Obwohl ich also stets wusste, wo ich mich befand – und natürlich für alle Meinungen und Urteile in diesem Buch die alleinige Verantwortung trage –, ist das Schreiben eines solchen Buches (zumal wenn es das erste ist!) allein schon aus organisatorischen Gründen nicht ohne vielfältige Hilfe und Anregung möglich.
Mein Dank gilt deshalb an dieser Stelle Thomas Karlauf, der mich als Literaturagent und Lektor begleitete und mir sehr behutsam allzu verstiegene Formulierungen und obskure Bilder auszureden verstand. Besonders dankbar bin ich Sonja Stötzel, meiner langjährigen Allzweckkraft, ohne die dieses Buch technisch nicht zustande gekommen wäre, und Sebastian Petzold, der unter diversen Rechercheaufträgen zu leiden hatte. Hans-Roland Fäßler, Heiko Geue und Axel Nawrath haben mir mit ihrer kritischen Lektüre des Manuskripts einen großen Gefallen getan und mich vor manchem Fehler bewahrt. Dem Verlag Hoffmann und Campe, vertreten durch Herrn Günter Berg und Herrn Jens Petersen, danke ich für eine erquickliche Zusammenarbeit. Und last but not least danke ich meiner Frau Gertrud. Ihr erschien ich neun Monate als Einsiedler, den sie mit allerlei Speisen und Scrabble-Partien gelegentlich vom Schreibtisch zu locken verstand. Ihr verdanke ich manche Übersetzung in eine verständliche Umgangssprache. Die Scrabble-Partien verlor ich 1 : 9.
Bonn und Berlin, den 15. Juli 2010
Peer Steinbrück