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Der Autor

Jürgen Kehrer wurde 1956 in Essen geboren. Nach einem Studium und Erfahrungen im Journalismus lebt und arbeitet er als freiberuflicher Schriftsteller in Münster. Im Grafit Verlag sind neunzehn Kriminalromane von ihm lieferbar, in siebzehn Geschichten ermittelt der münstersche Privatdetektiv Georg Wilsberg. Außerdem publizierte Jürgen Kehrer Sachbücher über realen Mord und Totschlag sowie vier historische Kriminalromane (Waxmann Verlag).

Sechs Wilsberg-Romane wurden schon vom ZDF verfilmt (Und die Toten läßt man ruhen, In alter Freundschaft, Das Kappenstein-Projekt, Der Minister und das Mädchen, Wilsberg isst vietnamesisch und Wilsberg und die Wiedertäufer). Daneben führt Wilsberg im Fernsehen aber auch ein Eigenleben: Mehrere weitere Wilsberg-Krimis sind auf Zelluloid gebannt, die nicht auf Romanvorlagen basieren. Verkörpert wird der Fernseh-Wilsberg, der für die Samstagabend-Krimireihe im ZDF ermittelt, von Leonard Lansink.

Weitere Informationen unter: www.juergen-kehrer.de

Sie würden uns gern im Knast begraben.
Sie würden uns gern zum Teufel jagen.
… und sie killen und sie denken sich nichts dabei.
Sie sind der Grund für jede Schießerei.

Rio Reiser

Dies ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen und lebenden Personen sind nicht beabsichtigt. Sollten sie sich trotzdem ergeben, wäre das reiner Zufall.

I

»Ich soll also Ihre Tochter suchen?«

Sein Blick wanderte von meinem Gesicht zur Tischplatte und wieder zurück. Er leckte sich kurz über die Lippen. »Man hat mir gesagt, dass Sie so was machen.«

»Klar mache ich so was. Ich suche verschwundene Kinder, Ehepartner und Millionen. Allerdings ist immer die erste Frage: Warum gehen Sie nicht zur Polizei?«

Sein Gebiss ähnelte dem eines Pferdes, lange Zähne und viel Zahnfleisch in einem vorspringenden Kiefer. Die hervortretenden, unruhigen Augen verstärkten den animalischen Eindruck. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig, etwa mein Alter. Er hatte einen kleinen Buckel und wirkte nicht besonders sympathisch, jedenfalls nicht auf den ersten Blick.

»Sie ist nicht verschwunden. Ich meine, es ist nicht sicher, dass sie in Schwierigkeiten steckt.«

»Aha. Wie alt ist Ihre Tochter?«

»Feli ist vierundzwanzig, nein, fünfundzwanzig.«

»Feli?«

»Eigentlich Felizia. Sanddorn, nach ihrer Mutter.«

Wir saßen im Café Moca. Er hatte sich am Telefon mit Peter Fahle vorgestellt und ein Treffen in der Innenstadt vorgeschlagen, weil er am Nachmittag wieder mit dem Zug abreisen müsse. Das Café war wie immer voll, wir hatten den letzten freien Tisch auf der oberen Ebene ergattert.

»Sie ist Journalistin.« Er spreizte die Finger beider Hände. »Sie schreibt für ein großes Magazin. Die Redaktion ist in Düsseldorf. Natürlich ist sie häufig unterwegs, auch zu längeren Recherchen. Aber jetzt wissen nicht einmal ihre Kollegen, wo sie sich aufhält. Und ihr Handy ist abgeschaltet.«

»Deshalb machen Sie sich Sorgen?«

»Nicht nur deshalb.« Das Lippenbefeuchten schien eine Angewohnheit zu sein. »Ich weiß, woran sie arbeitet.« Unruhiger Blick zu den Nachbartischen. »RAF, Rote-Armee-Fraktion. Genauer gesagt, die dritte Generation, die, über die man am wenigsten weiß.«

RAF! Mein Gott, wie lange war das jetzt her?

»Sie haben doch mal für einen RAF-Verteidiger gearbeitet.«

Woher wusste er das? Das war, ich überlegte, Anfang der Achtzigerjahre gewesen. Während meiner Referendariatszeit war ich unter anderem in einer Kanzlei linker Anwälte tätig gewesen, zu deren Mandanten ein RAF-Mitglied der zweiten Generation gehörte, einer von denen, die versucht hatten, Baader und Ensslin aus dem Stammheimer Knast freizupressen. Ich hatte den Prozess mit vorbereitet und Botengänge erledigt, auch zu dem Angeklagten, dem eine Beteiligung an der Ermordung von Buback, Ponto und Schleyer zugeschrieben wurde. Der Typ war mir ziemlich auf die Nerven gegangen, bei jedem Besuch hatte er versucht, mich zu agitieren.

»Sie haben sich gut informiert.«

Er fasste das als Lob auf. »Ich habe mich umgehört. Ein Bekannter von einem Bekannten, Sie wissen schon. Ich dachte, es wäre gut, jemanden zu fragen, der Ahnung von der Sache hat.«

»Sicher. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich nie Sympathien für die RAF hatte und meine Einblicke nicht weiter reichen als die jedes anderen Zeitungslesers.«

Er lachte kurz. »Sie wollen nicht darüber reden. Okay!«

Ich fing an, mich zu ärgern. »Ich bin Privatdetektiv. Meine Zeit als Rechtsanwalt ist lange vorbei. Politik interessiert mich nur noch, wenn im Fernsehen kein anständiger Spielfilm läuft. Sollte ich Ihre Tochter suchen, dann deshalb, weil Sie mir dafür ein Honorar zahlen. Falls sie wirklich Ihre Tochter ist.«

Augenaufreißen. »Was soll das heißen?«

»Sie nennen sich Fahle, Ihre Tochter heißt Sanddorn. Wer sagt mir, dass Sie nicht aus irgendwelchen anderen Gründen hinter ihr her sind?«

»Aber …« Er fingerte in der Innentasche seiner Jacke herum und holte ein Porträtfoto heraus. »Das ist sie. Das ist Felizia.«

Lange dunkle Haare, Hornbrille, ein energischer Zug um den Mund. Eine Frau, die Karriere machen will.

»Und?«

»Beweisstück Nummer zwei.« Er schob einen Brief über den Tisch.

Auf der Vorderseite stand handschriftlich der Name Peter Fahle und eine Postfachadresse in Amsterdam, auf der Rückseite klebte ein Schildchen mit Felizia Sanddorns Düsseldorfer Anschrift. Ich nahm den Brief heraus, dieselbe Handschrift wie auf dem Briefumschlag: Hallo, Vater! Eine liebende Tochter hätte sich vielleicht eine gefühlvollere Anrede überlegt.

»Na schön.« Ich steckte den Brief wieder in den Umschlag. »Fehlt Beweisstück Nummer drei, das Sie als Peter Fahle identifiziert.«

»Ach so.« Er griff in die Hosentasche und zog einen Personalausweis aus der Geldbörse.

Der Ausweis, ausgestellt in Bremen, sah echt aus. Oder war zumindest gut gefälscht.

»Zufrieden?« Er sammelte den Ausweis und den Brief wieder ein.

Ich nickte. »Was ist mit Felizias Mutter?«

»Meine Ex? Sie ist …«, er zögerte, »… Alkoholikerin. Wir verstehen uns nicht gut, nein, lassen Sie mich ehrlich sein, wir reden seit Jahren nicht mehr miteinander. Henrike hat genug Sorgen, sich ihre tägliche Menge Alkohol zu beschaffen. Das mit Feli würde sie nur unnötig aufregen. Kann ja auch sein, dass ich mich irre.«

»Felizia wendet sich also an Sie, wenn sie ein Problem hat?«

»Nicht unbedingt.« Fahle kraulte seine drahtigen Haare. »Unser Verhältnis ist schwierig. Sie lehnt ab, was ich mache.«

»Was machen Sie denn?«

»Ich bin in der Internetbranche.«

»Klingt nicht besonders anrüchig.«

Er zeigte seine gelben Zähne. »Fünfzig Prozent aller Seiten, die Männer anklicken, drehen sich um Sex.«

Deshalb wohl Amsterdam.

»Ich stelle Fotos und Filme ins Netz. Natürlich ist da ziemlicher Schweinkram dabei. Aber ohne Nachfrage kein Angebot, sage ich immer. Das ist Marktwirtschaft.«

Ich winkte der Kellnerin und bestellte einen zweiten Cappuccino.

»Kommen wir zum Grund Ihrer Besorgnis. Die RAF ist tot. Hat sie sich nicht aufgelöst?«

»1998.« Das kam schnell.

»Trotzdem verstehe ich nicht, warum es gefährlich sein soll, sich mit dem Thema zu beschäftigen.«

Er tastete sein Hemd ab. Wie ein Nichtraucher, der sich erst vor Kurzem das Rauchen abgewöhnt hat. »Von den Mitgliedern der dritten Generation sind nur wenige gefasst worden. Andere starben durch Kugeln, wie Wolfgang Grams in Bad Kleinen. Wieder andere werden seit Jahren gesucht. Sie leben irgendwo mit falscher Identität. Ganz zu schweigen von denen, die nicht einmal namentlich bekannt sind.«

Er sah mein Erstaunen. »Kriegt man raus, wenn man googelt. Ein bisschen hat mir auch Feli erzählt. Sie sagte, sie hätte eine Spur.«

»Zu einem Terroristen?«

Die Kellnerin stellte den Cappuccino vor mir ab.

Fahle beugte sich vor. »Nicht so laut, bitte!«

Ich machte eine entschuldigende Geste.

»Es ist eine Frau«, redete er weiter. »Sie heißt Regina Fuchs und wohnt in New York.«

»Das hat Ihnen Felizia erzählt?«

»Nein.« Es war ihm peinlich. »Ich bin in ihre Wohnung eingebrochen. Als sie sich nicht meldete, dachte ich, ihr könne etwas zugestoßen sein. Bei der Gelegenheit habe ich mich umgesehen und den Namen und die Adresse gefunden.«

Er wühlte wieder in seinen Taschen herum und legte einen Zettel auf den Tisch: Regina Fuchs, 18th St W, MH, NY.

»18. Straße West, Manhattan, New York«, erklärte Fahle. »Lernen Sie die Adresse auswendig! Ich möchte nicht, dass der Zettel jemandem in die Finger fällt.«

Allmählich verstand ich, worauf er hinauswollte. »Ich soll nach New York fliegen und dieser Frau Fuchs auf den Zahn fühlen?«

»So habe ich mir das vorgestellt.«

»Das wird nicht ganz billig.«

Die Taschen seiner grünen Winterjacke waren unerschöpflich. Diesmal förderte er einen dicken Umschlag zutage. Ich linste hinein. Hunderteuroscheine.

»Fünftausend Euro als Anzahlung.« Er zwinkerte komplizenhaft. »Ob Sie es versteuern oder nicht, ist mir egal. Spesen wie Flug und so weiter gehen extra.«

»Der Internet-Schweinkram verkauft sich wohl gut?«

»Ich kann nicht klagen. Sind Sie mein Mann?«

»Mal angenommen, ich finde Felizia«, sagte ich. »Sie ist volljährig. Ich kann sie nicht von dem abhalten, was sie vorhat, selbst wenn sie sich dadurch in Gefahr bringt.«

»Es würde mir genügen zu wissen, dass es ihr gut geht. Ich vertraue auf Ihre Erfahrung. Sollte Feli Hilfe brauchen, werden Sie schon das Richtige tun.«

»Das ist alles?«

»Ja.« Er lehnte sich zurück. »Ich bin ein besorgter Vater. Reicht das nicht?«

»Wie kann ich Kontakt zu Ihnen aufnehmen?«

Er gab mir eine Visitenkarte. Sein Name und eine Telefonnummer mit niederländischer Vorwahl. »Fünfmal klingeln lassen, dann auflegen und noch mal wählen.«

Die Internetbranche war anscheinend nicht nur lukrativ, sondern auch gefährlich. »Haben Sie Angst vor Konkurrenten oder der Polizei?«

»Das ganze Leben ist ein Risiko.« Er schaute auf seine Uhr und stand auf. »Ich muss den Zug kriegen. Rufen Sie mich nur an, wenn Sie Felizia gefunden haben oder es sehr wichtig ist.«

Ich lief vom Prinzipalmarkt über den Domplatz in Richtung Kreuzviertel. Es war ein feuchtkalter Novembertag, Münster bereitete sich auf die heiße Phase der weihnachtlichen Kaufschlacht vor. Nicht mehr lange, dann würden auswärtige Horden in die Stadt einfallen und Glühwein trinkend über die Weihnachtsmärkte marodieren. Soweit das möglich war, blieb ich in dieser Zeit lieber in meinem Viertel.

Im Kiosk am Kreuztor kaufte ich die aktuelle Ausgabe des Magazins, das Peter Fahle erwähnt hatte. Felizia Sanddorns Name stand im Impressum.

Zu Hause legte ich die fünftausend Euro in meine Schreibtischschublade, setzte mich auf den Drehstuhl dahinter und betrachtete Felizias Porträtfoto. Die Geschichte war verrückt, so verrückt, dass sie schon wieder wahr sein konnte.

Ich rief die Düsseldorfer Redaktion an. Frau Sanddorn sei leider nicht zu sprechen, wurde mir mitgeteilt, auch in den nächsten Tagen und Wochen würde ich voraussichtlich kein Glück haben.

Ich warf die Internet-Suchmaschine an und gab die Kombination Regina Fuchs und RAF ein. Keine Einträge. Meine Zweifel, ob ich Fahles Auftrag hätte annehmen sollen, verstärkten sich wieder. Aber fünftausend Euro waren ein gutes Argument, um sie zu unterdrücken.

II

Am nächsten Tag fuhr ich zum Düsseldorfer Medienhafen. Das NRW-Büro des Magazins, für das Felizia Sanddorn arbeitete, residierte im sechsten Stock eines zweckmäßigen Glas-und-Stahl-Baus. Über eine Sprechanlage musste ich mit einer Sekretärin verhandeln. Erst als ich behauptete, ich besäße Informationen über Felizia Sanddorn, die ihren Chef sicher interessieren würden, wurde ich eingelassen.

Die Sekretärin brachte mich zum Redaktionsleiter, einem Mann namens Müller, dem man die viele Schreibtischarbeit, das ungesunde Essen und den Alkohol ansah. Er war fett und hatte einen derart roten Kopf, dass jeder Kardiologe sofort die Chance auf eine Herzoperation gewittert hätte.

»Sie hauen ganz schön auf den Putz«, sagte Müller unfreundlich. Er blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen und deutete mit lässiger Handbewegung auf den Besucherstuhl.

Ich nahm Platz. »Und Sie würden mich nicht empfangen, wenn Sie sich keine Gedanken über Frau Sanddorn machen würden.«

»Was soll das werden? Ein Handel, eine Drohung oder eine Erpressung?«

»Handel kommt der Sache am nächsten. Wir tauschen aus, was wir wissen.«

Ein Lachen versetzte seinen Bauch in Schwingungen. »Wir sammeln Informationen, wir liefern keine. Es sei denn, Sie kaufen unser Heft. Wer sind Sie überhaupt?«

Ich gab ihm meine Visitenkarte.

»Privatdetektiv«, las er laut. »Was wollen Sie?«

»Ich suche Felizia Sanddorn.«

»Weshalb?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Dann entschuldigen Sie mich bitte, Herr Wilsberg.« Er griff zum Telefon. »Ich habe zu tun.«

»Sie war in New York«, sagte ich. »Sie wollte sich mit einer Exterroristin der RAF treffen.«

Er legte den Hörer wieder auf und fixierte mich mit einem Geierblick. »Name?«

Ich lächelte. »Zuerst sind Sie dran.«

»Wir haben seit zwei Wochen nichts von ihr gehört. Das ist allerdings nicht beunruhigend, denn sie hat unbezahlten Urlaub genommen. Sie arbeitet an einer Geschichte, die sie schon länger beschäftigt.«

»Die dritte Generation der RAF.«

»Wer hat Ihnen das gesagt?«, schnappte er.

»Ihre Familie.«

»In deren Auftrag Sie arbeiten?«

»Darüber kann ich nicht sprechen.«

»Sie können über verdammt wenig sprechen.«

»Und Sie haben mir noch nichts erzählt, was ich nicht schon wusste.«

Er bewegte beim Nachdenken den Unterkiefer. »Die Sanddorn ist besessen vom Thema RAF«, sagte er schließlich. »Sie hat nichts anderes mehr im Kopf. Dummerweise hat sie aber bis jetzt nichts herausgefunden, was wir veröffentlichen können. Ich habe sie vor die Wahl gestellt, entweder ihre normale Arbeit wieder mit Herz und Verstand zu machen oder sich beurlauben zu lassen. Sie hat sich für die Beurlaubung entschieden. ›Dann schreibe ich eben ein Buch‹, waren ihre Worte, als sie hier rausspaziert ist.«

»Haben Sie versucht, mit ihr Kontakt zu halten?«

»Klar. Wir lassen unsere Leute nicht einfach hängen. Und für unser Blatt wäre es mehr als peinlich, wenn Felizia irgendwo tot in einer Mülltonne liegt. Aber sie hat alle persönlichen Brücken hinter sich abgebrochen. Wann war sie in New York?«

»Vor drei Tagen«, improvisierte ich.

»Und dann?«

»Verliert sich ihre Spur.«

»Scheiße«, stöhnte Müller. »Das gefällt mir nicht. Die Sanddorn ist kein vorsichtiger Typ. Sie sollten mal ihre Geschichte über die Bandidos in Skandinavien lesen. Sie war ganz allein in deren Hauptquartier. Da würde jedem anderen der Arsch auf Grundeis gehen. Und 2003 war sie in Bagdad, über Amman mit einem Konvoi eingereist. Die Frau hat diesen Schalter im Gehirn, mit dem man die Angst ausschalten kann. Aus der könnte mal eine ganz Große werden, verstehen Sie?«

»Falls sie nicht tot in der Mülltonne endet«, sagte ich. »Ich würde mir gern ihren Arbeitsplatz ansehen. Meinen Sie, dass das möglich ist?«

Müllers Kopf pendelte nach vorn. »Sorry, Betriebsgeheimnis. Außerdem haben wir ihren Computer schon gefilzt. Ehrlich gesagt, wir haben keine Ahnung, was sie vorhat.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Fressen Sie es oder fressen Sie es nicht, Herr Wilsberg!« Müllers blutunterlaufene Augen bekamen einen generösen Schimmer. »Wir wären bereit, ein paar Scheine auf den Tisch zu legen, falls Sie uns eine Adresse oder eine Telefonnummer liefern, über die wir Kontakt zur Sanddorn aufnehmen können. Aus reiner Fürsorge, versteht sich.«

»Ich habe schon einen Klienten«, sagte ich. »Hier in der Redaktion gibt es doch bestimmt jemanden, mit dem sie sich mal privat unterhalten hat.«

»Fehlanzeige«, sagte Müller. »Die Frau ist ein Workaholic. Falls sie ein Privatleben hat, versteckt sie es so gut wie Angela Merkel ihren Hintern.«

Ich stand auf. »Dann vielen Dank für Ihre Zeit.«

»Hey!«, rief er mir nach. »Sie wollten mir den Namen der Frau in New York verraten.«

»Wollte ich nicht«, rief ich zurück. »Außerdem heißt sie längst anders und hat ihre Adresse gewechselt.«

»Scheißkerl!«, hörte ich durch die geschlossene Glastür, als ich im Flur stand.

Anschließend fuhr ich nach Derendorf, einen nördlichen Stadtteil von Düsseldorf. Felizia Sanddorns Wohnung befand sich in einem schmucklosen Mietshaus. Wofür auch immer sie ihr üppiges Redakteurinnengehalt verwendete, besonderer Wohnkomfort gehörte anscheinend nicht dazu.

Ich rechnete nicht damit, jemanden anzutreffen, drückte aber zur Sicherheit auf die Türklingel. Während ich mich umblickte und überlegte, wie ich unbemerkt ins Haus gelangen konnte, summte der Türöffner. Ich war so überrascht, dass ich fast verpasst hätte, die Haustür aufzudrücken. Jemand war in der Wohnung. Aber wer? Ich stieg die Treppe hinauf. War es denkbar, dass Felizia Sanddorn die ganze Welt genarrt hatte und mit abgeschaltetem Telefon zu Hause saß, um in aller Ruhe ihr Buch zu schreiben?

Im Türrahmen stand ein schlaksiger rotblonder Riese mit Milchgesicht, Typ BWL-Student.

»Hallo!«, sagte ich. »Ich bin mit Frau Sanddorn verabredet. Ist sie da?«

Er musterte mich von oben bis unten. »Wer sind Sie?«

»Beantworte nie eine Frage mit einer Gegenfrage«, riet ich ihm. »Sie hat mich angerufen und herbestellt. Also was ist jetzt: Ist sie da oder nicht?«

Seine Augenlider klapperten. »Felizia ist in Düsseldorf?« Mit ungläubigem Staunen.

»Davon bin ich ausgegangen«, schnauzte ich. »Oder denken Sie, ich klingele zum Spaß an fremden Türen?«

Der Riese musste sich abstützen. »Das überrascht mich jetzt. Ich dachte …«

Ich trat näher an ihn heran. »Spielen wir hier Rätselraten oder was?«

»Ich bin ihr Freund.« Er fasste sich. »Ich bin nur zufällig da, weil …«

»Weil?«

»Weil sie mich gebeten hat, ihre Blumen zu gießen.«

»Seit wann haben Sie nichts mehr von ihr gehört?«

»Seit zwei Wochen.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Wieso erzähle ich Ihnen das? Das geht Sie eigentlich gar nichts an.«

Der Typ schien harmlos zu sein. Ich wechselte meine Strategie und wurde freundlich. »Tut mir leid, ich habe Sie reingelegt. Frau Sanddorn hat mich nicht angerufen.«

Seine Augen wurden glasig. »Bitte?«

»Ich bin Privatdetektiv und auf der Suche nach Ihrer Freundin.«

Die Hand, mit der er sich am Türrahmen festhielt, zitterte. »Dann stimmt es also?«

»Was?«

»Dass sie verschwunden ist. Ich war bei der Polizei. Die haben mich nicht ernst genommen. Ich …«

Ich deutete in den Flur. »Können wir uns drinnen unterhalten?«

»Natürlich.« Er stolperte mir voran in ein Wohnzimmer, das hell und gemütlich eingerichtet war. Auf dem Boden standen große Kübel mit Grünpflanzen.

»Es ist ein bisschen kalt«, sagte er entschuldigend. »Feli hat die Heizung abgedreht.«

»Wir werden nicht lange bleiben«, versprach ich. »Sie waren also bei der Polizei. Was hat sich daraus ergeben?«

»Nichts. Die wollten meine Vermisstenanzeige erst gar nicht aufnehmen. Ich musste sie regelrecht überreden. Und dann kriegte ich ein paar Tage später von ihnen einen Anruf, Felizia habe sich bei ihrer Mutter gemeldet, es gehe ihr gut.«

»Haben Sie mit der Mutter gesprochen?«

»Sie hat mich abgewimmelt. Ganz komisch war die am Telefon. Als hätte sie was zu verheimlichen.«

»Wo wohnt die Mutter?«, fragte ich.

»In Warendorf. Das ist …«

»Im Münsterland«, ergänzte ich. »Die Mutter ist Alkoholikerin, nicht wahr?«

»Alkoholikerin?« Er schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Sie arbeitet als Kassiererin in einem Supermarkt, glaube ich.«

»Glauben Sie, dass Felizias Mutter die Polizei belogen hat? Dass Felizia gar nicht angerufen hat?«

»Keine Ahnung.« Sein Milchgesicht bekam traurige Falten. »Ich sage nur, dass mir die Sache komisch vorkommt. Felis Verschwinden, der angebliche Anruf.«

»Und wissen Sie, was ich komisch finde?«, gab ich zurück. »Dass mir niemand etwas von Ihnen erzählt hat. In der Redaktion hieß es, Felizia sei ein Workaholic ohne Privatleben.«

»Wir …«, er zupfte an seinem roten Pullover, »wir waren nicht lange zusammen. Wir haben uns schon vor drei Monaten wieder getrennt. Das heißt, Feli hat sich von mir getrennt, unsere Beziehung wurde ihr zu eng.« Er schob sein rundes Kinn trotzig nach vorn. »Aber wir sind Freunde geblieben. Ich habe sofort zugesagt, als sie mich wegen der Wohnung gefragt hat.«

»Hat sie gesagt, wo sie hinwill?«

»Nur dass sie auf eine Recherchereise geht. Deshalb verstehe ich nicht, warum sie sich nicht meldet.«

»Ihnen liegt viel an ihr?«

»Sonst wäre ich wohl kaum zur Polizei gegangen.«

Vermutlich träumte er von einer zweiten Chance. Ich sagte ihm nicht, dass Karrierefrauen wie Felizia Sanddorn Bubis wie ihm selten eine zweite Chance geben.

»Kennen Sie Peter Fahle?«

»Felis Vater?« Auf seiner Stirn erschien ein roter Fleck. »Der ist doch der Grund für alles.«

Ich runzelte die Stirn.

»Fahle ist das schwarze Loch in Felis Leben.« Er wurde regelrecht wütend. »Der Vater, der nie da war, wenn sie ihn brauchte. Um den sich alles drehte, wenn er mal auftauchte. Das, was sie heute macht, womit sie sich beschäftigt, die RAF und so, das ist eigentlich die Suche nach ihrem Vater, nach dem Missing Link in ihrem Leben.«

Ich stutzte. »Wollen Sie damit sagen, dass Fahle zur RAF gehört hat?«

»Irgendwie hing er da mit drin. Feli hat immer nur Andeutungen gemacht. Um ihn zu schützen, nehme ich an. Trotzdem war er ständig präsent. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, ihre Beziehung zu ihm aufzuarbeiten. Aber er hat sich ihr entzogen, war nie greifbar. Ich habe mal mitbekommen, wie sie am Telefon versucht hat, ihn zu einem Besuch zu überreden. Richtig gebettelt hat sie. Schließlich hat er sich dazu herabgelassen, sie für eine Stunde auf einem Bahnhof zu treffen. Hinterher war sie vollkommen aufgewühlt. Vergiss diesen Supervater, habe ich ihr geraten. Hake ihn einfach ab. Na ja.« Er schluckte.

»Hat ihr bestimmt nicht gefallen«, vermutete ich.

»Stimmt«, gab er zu. »Sie wurde stinksauer und hat mich rausgeschmissen.«

»Haben Sie schon mal versucht, Ihre Mutter zu vergessen?«

»Häh?« Er schaute mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Warum sollte ich?«

»Sehen Sie! Verstand ist das eine und Gefühl das andere. Irgendwie sind wir doch unser ganzes Leben lang auf der Suche nach Mama und Papa.« Ich griff in meine Tasche und holte eine Visitenkarte heraus. »Genug der Lebensweisheiten. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas von Felizia hören!«

Er betrachtete meine Karte mit kindlicher Neugier. »Wer hat Sie eigentlich beauftragt, Feli zu suchen?«

»Und wie heißen Sie?«

»Stefan Weingärtner.« Er suchte einen Zettel und schrieb eine Telefonnummer auf. »Ich würde mich auch freuen, wenn Sie mich informieren könnten, sobald Sie etwas über Feli erfahren. Ich mache mir wirklich Sorgen.«

Ich nahm den Zettel und ging zur Tür. »Beauftragt hat mich übrigens der Supervater.«

Als ich am Nachmittag im Kreuzviertel aus dem Wagen stieg, fegte ein eiskalter Wind die letzten gelben Blätter von den Bäumen. Es roch nach Winter und nach Schnee. Ich beeilte mich, in meine Wohnung zu kommen.

Drinnen setzte ich mich an den Schreibtisch, wählte die Amsterdamer Telefonnummer, ließ es fünfmal klingeln, legte auf und wählte erneut. Der Klingelton veränderte sich, offenbar wurde das Gespräch weitergeleitet.

»Ja?« Eine männliche Stimme.

»Herr Fahle?«

»Wer ist da?«

»Wilsberg.«

»Sind Sie in New York?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich ungern für jemanden arbeite, der mir einen Bären aufbindet. Sie gehörten selbst zur RAF. Wahrscheinlich waren Sie es, der Ihrer Tochter den Tipp mit New York gegeben hat.«

Schweigen in der Leitung. »Wer hat Ihnen gesagt, dass ich Mitglied der RAF war?«

»Spielt keine Rolle.«

»Für mich schon.«

»Können wir uns treffen?«, fragte ich.

»Wieso?«

»Weil ich Ihnen die fünftausend Euro zurückgeben will.«

»Es stimmt, ich habe Ihnen einiges verschwiegen«, sagte er schnell. »Aber das ist graue Vergangenheit. Viel wichtiger ist, dass Sie Felizia finden. Bitte, Herr Wilsberg, fliegen Sie nach New York!«

»Warum machen Sie das nicht selbst?«

»Das hätte keinen Sinn. Regina Fuchs … würde nicht mit mir reden.«

»Genauso wenig wie Ihre Exfrau, die angebliche Alkoholikerin?«

»Auch das kann ich Ihnen erklären.«

»Wann?«

»Im Moment bin ich sehr beschäftigt«, sagte Fahle. »Vielleicht nächste Woche. Wenn Sie wieder aus New York zurück sind. Ich vertraue Ihnen.«

Bevor ich antworten konnte, hatte er aufgelegt.

Ich dachte lange darüber nach, was ich tun sollte. Dann öffnete ich die Schreibtischschublade. Die fünftausend Euro waren noch da. Aber vielleicht war mein Schreibtisch nicht der richtige Aufbewahrungsort für fünftausend Euro zweifelhafter Herkunft. Ich nahm das Geld heraus und ging zum Bücherregal im Wohnzimmer. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für ein Werk über die chinesische Kulturrevolution. Niemand, der nicht nach einem Versteck suchte, würde das Buch freiwillig in die Hand nehmen. Und irgendwie passte das Thema.

Nachdem ich es ausgehöhlt und die Papierschnipsel im Klo hinuntergespült hatte, stopfte ich die Scheine zwischen Mao und seine Partei und stellte den Band ins Regal zurück. Dann buchte ich für den nächsten Tag einen Flug nach New York.

III

Auf dem Frankfurter Flughafen glaubte ich, Pia Petry zu sehen. Die Frau hatte ihre Größe, ihre halblangen braunen Haare, ihren Gang. Ich folgte ihr ohne Eile, noch unschlüssig, ob ich sie wirklich ansprechen wollte. Womöglich würde ich mir nur eine Abfuhr holen, ein paar kühle, gebrauchte Floskeln mit dem Charme eines Faustschlags in den Magen. Sie konnte so verdammt zickig sein. Und auch so verdammt sexy. Nach unserem gemeinsamen Ausflug in die SM-Welt, der für sie beinahe tödlich geendet hatte, hatte es eine Zeit lang so ausgesehen, als könnte sich zwischen uns etwas entwickeln. Ich war nach Hamburg gefahren und sie war nach Münster gekommen, wir waren zusammen ins Bett gegangen und hatten doch tunlichst vermieden, darüber zu reden, was uns nun eigentlich verband: die Einsamkeit zweier chronisch bindungsunfähiger Singles, die zufällig denselben Beruf ausübten – oder so etwas Ähnliches wie ein Gefühl namens Liebe?

Bevor wir dazu kamen, die Wahrheit herauszufinden, war es auch schon vorbei. Eines Abends stand Pia vor der Tür meiner Wohnung. Ich hatte Besuch von einer alten Freundin bekommen, die ich jahrelang nicht gesehen hatte, und zu unserer beider Überraschung war die Wiedersehensfreude erstaunlich intensiv ausgefallen. Pia erfasste die Situation mit einem Blick, drehte sich um und verschwand wortlos aus meinem Leben. Ich rief danach ein paarmal bei ihr an, versuchte zu erklären, was aus ihrer Sicht nicht zu erklären war, und gab es schließlich auf. Trotzdem konnte ich sie nicht vergessen. Und ich hoffte, sie mich auch nicht, selbst wenn sie sich von ihrem Mitarbeiter Cornfeld oder irgendeinem anderen Schnösel ablenken ließ.

Die Frau im Frankfurter Flughafen blieb vor einem Laden stehen und betrachtete eine Ledertasche von Prada oder Gucci. Das würde zu Pia passen. Ich stellte mich schräg hinter sie und wartete auf den Moment, in dem ich ihr Gesicht im Schaufensterglas erkennen konnte. Die Frau war nicht Pia. Ich war enttäuscht. Und erleichtert.

Nachdem die Stewardess die Tabletts abgeräumt hatte, zog die Frau neben mir Silikonohrstöpsel und eine Augenbinde aus ihrer Handtasche. Bald darauf schnarchte sie leise vor sich hin. Ich blieb wach und konzentrierte mich darauf, eine möglichst schmerzfreie Position für meine verknoteten Beine zu finden.

Eine Stunde vor der Landung auf dem JFK Airport mussten wir einen Fragebogen ausfüllen und ankreuzen, ob wir in den USA einen terroristischen Anschlag planten oder nicht. Eines musste man den Amerikanern lassen: Sie hatten Vertrauen in die Ehrlichkeit der Menschen.

Als ich mit dem Taxi nach Manhattan fuhr, war es in New York noch mitten am Abend, subjektiv fühlte ich mich sechs Stunden müder. Der Taxifahrer wollte mir etwas Gutes tun und fuhr über die Queensboro Bridge, um mir einen Blick auf die nächtliche Skyline zu gönnen. Die Kulisse sah fast so fantastisch aus, wie ich sie aus dem Kino kannte.

Das Hotel, in dem ich ein Zimmer gebucht hatte, stand an der Seventh Avenue, Ecke 32. Straße, mein Zimmer befand sich im 24. Stock. Da Mauern mein Blickfeld einengten, konnte ich durchs Fenster nur einen schmalen Ausschnitt der Seventh Avenue sehen, dahinter Dächer und etwas Schwarzes, das wohl der Hudson River war. Die Klimaanlage im Fenster rasselte und irgendwo heulte eine Sirene.