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Für meine Großeltern
Edmund und Johanna

 

 

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage November 2011

 

ISBN 978-3-492-95415-0

© Piper Verlag GmbH 2011

Umschlagkonzeption: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Appell zur Erbsensuppe

Ich riss die Tür zu unserem Haus auf, meine Eltern saßen am Küchentisch und löffelten Erbsensuppe. Es herrschte meditatives Schweigen, beide schauten auf ihre Teller, als würde die Mettwurst zu ihnen sprechen. Dazu tickte die Wanduhr ein nüchternes Klacken in die Leere des Raums. Der Einzige, der mich freudig begrüßte, war der Hund, und das war keine sonderlich große Ehre, denn er war dumm wie dreißig Kilo Esspapier und freute sich schon, wenn ein Ast vom Baum fiel.

Ich brüllte völlig außer mir: »Eins! Ich habe eine Eins!«

Mein Vater führte eine Ladung Erbsensuppe zum Mund und murmelte ein spektakulär gelangweiltes »Aha«.

Normalerweise wäre das schon genug der Ehre gewesen, dass er seine Aufmerksamkeit vom Projekt »Suppe« zu mir hin verlagerte, doch diesmal beugte ich mich seinem Diktat der liebevollen Ignoranz nicht. Ich hatte gerade vor einem Gremium aus bärtigen Biologielehrern mein mündliches Abitur abgelegt, man hatte mich für meine Kenntnisse über arktische Tölpelkolonien mit der Bestnote ausgezeichnet und damit meine bisher eher mittelprächtige Abiturnote deutlich veredelt.

»Tölpel sind dickliche, flugfähige Vögel, die sich zu Tausenden zusammenrotten und den ganzen Tag nur fressen, kacken und sich streiten, ganz ähnlich wie die meisten Schüler.«

Mit dem Witz hatte ich die Biologielehrer überzeugen können, meine Eltern eher weniger.

Meine Mutter hustete ein paar Erbsen über den Teller, ihre schwarze Mireille-Mathieu-Frisur flatterte vor ihr Gesicht und verschob ihre Lesebrille. Oder eher ihre beiden Lesebrillen, denn sie trug zwei billige Gestelle aus dem Supermarkt übereinander, anstatt sich endlich ein anständiges Modell beim Optiker zu kaufen. Der Modestil meiner Mutter war eine seltsame Mischung aus Star Trek und Mittelstandsgeiz.

Sie fragte genervt: »Und worum ging’s?«

Ich erzählte von den Tölpeln und brachte sogar den Spruch, den ich bis zu diesem Moment noch für witzig gehalten hatte.

Mein Vater sagte nur nüchtern: »Gut.«

Ich überlegte, ob meine Eltern sich womöglich ein Gehirn teilten, da meine Mutter wie immer dort begann, wo mein Vater gerade aufgehört hatte.

»Gut, na ja, aber du kannst ja nichts dafür, das sind die Gene.«

Ich kannte diese Erklärung, immer wenn mir etwas gelungen war, machten meine Eltern die Gene dafür verantwortlich, ein Erklärungsmuster, das jede Eigenleistung im Keim erstickte und in diesem Fall darauf hinauslief, dass eigentlich sie gerade eine »Eins« im mündlichen Abitur gemacht hatten.

Ich reagierte etwas angespannt, mein Gesicht verzog sich, als wäre eine Straßenbahn über meinen Fuß gefahren. Ein kleiner, feuchter See aus glibbrigen Tränen legte sich vor meine Sicht.

»Ey, das kann doch nicht wahr sein, ich reiß mir da den Arsch auf und das ist der Dank?«

Mein Vater schaute von der Erbensuppe auf und konstatierte nüchtern: »›Ey‹ ist kein deutsches Wort, so reden wir hier nicht, Bastian. Und mit Fäkalbegriffen wie Arsch musst du gar nicht erst vortreten.«

Vortreten, dachte ich. »Was ist das hier, mein Appell zur Erbsensuppe?«

»Eine derartige Ausdrucksweise liegt sicher nicht in deinen Genen, Bastian«, vervollständigte meine Mutter.

»Toll, ein Schnellkurs Erblehre, danke Frau Mendel!«, brüllte ich den ausdruckslosen Gesichtern meiner Eltern entgegen. Keine Reaktion, das Thema war abgehakt, sie hatten die Situation bewertet, korrigiert und nüchtern beurteilt. So machte man das eben.

Mein Vater hatte bereits wieder geistigen Funkkontakt zu der Mettwurst vor ihm aufgenommen, meine Mutter hyperventilierte noch ein wenig wegen meiner Ausdrucksweise.

Das Gespräch war beendet, meine Eltern hatten ihren Teil dazu beigetragen, und nur ich würgte noch ein bisschen verzweifelten Kindertrotz über den Küchentisch. Mein Vater vergrub den Kopf in einer rot umrahmten »Spiegel«-Sonderausgabe über den elften September und murmelte leise: »Ruhe jetzt!«

Ich rannte heulend aus der Tür wie eine siebenjährige Ballettschülerin und regte mich den ganzen Tag über nicht wieder ab. Ich kannte das, seitdem ich klein war: Wenn ich etwas richtig gemacht hatte, dann bloß, weil meine Eltern mir die entsprechenden Fähigkeiten vererbt hatten, und wenn etwas richtig schiefging, wie meine denkwürdigen Auftritte bei den Bundesjugendspielen, dann waren sie garantiert nirgends zu sehen.

Solange ich mich erinnern kann, waren meine Eltern immer gleich, sie haben sich nie verändert und werden wohl auch mit neunzig noch den roten Korrekturfineliner für mein Leben dabeihaben. Sie können nicht anders, es liegt in ihren Genen, sie gehören einer menschlichen Splittergruppe an, die ihre Kinder schon von Berufs wegen zu lebenslangem Versagen zwingt. Meine Eltern sind Lehrer.

Mein Vater blickte von seiner Erbsensuppe hoch und sah, dass ich zornig vor dem Kühlschrank stand. Er lächelte meine Mutter an und begann zu kichern: »Das war lustig«, sagte er, und auch meine Mutter musste lachen. Dann gaben sie sich einen High Five und löffelten weiter ihre Suppe. Unter dem Tisch ließ der Hund leise einen fahren.

Der Spion, der aus dem Lehrerzimmer kam

Meine Eltern trafen schon früh in meinem Leben Entscheidungen, die meiner Abhärtung dienen sollten. So gehöre ich zu dem geringen Bruchteil an Lehrerkindern, die das zweifelhafte Glück hatten, beide Eltern als Lehrer an ihrer eigenen Schule zu haben. Erst meine Mutter in der Grundschule, dann meinen Vater auf dem Gymnasium. Das kam bei meinen Schulkameraden immer riesig an.

Als meine Gymnasialklasse ihre erste Stunde hatte, betonte mein neuer Klassenlehrer natürlich direkt, dass er sich sehr freue, den Sohn eines so engen Kollegen zu unterrichten. Ich verkroch mich unter dem Tisch und versteckte meinen Kopf unter einem Erdkundeatlas, was wohl ein wenig nach Fliegeralarm aussah.

Das Stigma war an mir dran wie ein Rotweinfleck. Ich hatte verschissen.

Wenn er mich schon öffentlich bloßstellen wollte, hätte er auch einfach sagen können: »Das ist euer neue Klassenkamerad Bastian, behandelt ihn gut! Er ist Bettnässer, interessiert sich für Operetten und Ballett und ist sich nach einer geschlechtsangleichenden Operation noch nicht sicher, ob er jetzt schwul oder lesbisch ist. Fußball findet er blöd, Schalke 04 auch, vielmehr interessiert er sich für das Sammeln von Insekten, und seine Mama zieht ihm die vererbten Unterhosen seines Urgroßvaters an, weil die im Notfall schön saugfähig sind. Wir haben ihn vorsorglich für euch mit einem passenden T-Shirt markiert, auf dem das Wort ›Opfer‹ in Neonfarben aufgedruckt ist, damit ihr ihn auch bei schlechten Lichtverhältnissen erkennen und ihm ein ordentliches Pfund in die Fresse hauen könnt.«

Die anderen Kinder blickten mich an, als wäre ich der Antichrist.

Lusche. Mädchen. Spion … die Worte lagen bleischwer über meinem ersten Tag im Gymnasium. Wäre mein Vater nur irgendein unbekannter Lehrer an einer anderen Schule gewesen, hätte man die Einführung meines Klassenlehrers wohl bald vergessen. So aber sah ich neun Jahren entgegen, in denen ich morgens wie der kleine Lord von meinem Vater zur Schule mitgenommen wurde, neun Jahre, in denen meine Mitschüler täglich daran erinnert wurden, dass der dicke Junge mit der teigigen Haut nicht nur der klassische Verlierer, sondern auch ein geheimer Spitzel des Lehrerzimmers war.

Sie hätten meinen Status als Kind von Herrn Bielendorfer allerdings auch ohne direkten Hinweis relativ schnell aufgedeckt, da ich meinem Vater verblüffend ähnlich sehe. Die gleiche rundliche Kopfform, die gleiche Naturkrause und eine Art, zu gehen, die an eine angeschossene Ente auf der Flucht erinnert. Das Einzige, was er mir leider nicht vererbt hat, ist sein sportlicher Körperbau. Meine hängenden Schultern und mein krummer Rücken sehen aus, als wäre dem lieben Gott ein Experiment entsetzlich fehlgeschlagen.

Natürlich sprach sich ziemlich schnell rum, dass mein Vater einen IM in der Schule untergebracht hatte, und Schüler aller Altersklassen begannen ihren Frust an mir auszulassen. Manchmal weil mein Vater ihnen eine schlechte Note gegeben hatte, manchmal weil mein Vater sie ins Klassenbuch eingetragen hatte, manchmal auch nur stellvertretend, als würde ein Treffer in mein Gesicht bei ihm Schmerzen auslösen. Mein Vater wusste nichts von meiner Verwendung als Voodoopuppe, er schien nicht sonderlich viel von meiner Pein zu spüren und machte es auch nicht eben besser, wenn er mich in seinen Deutschkursen mit den tragischen Figuren der Literaturgeschichte verglich. Gern erzählte er vor der ganzen Klasse, sein Sohn sei ein wenig so wie Oskar Matzerath: Er sage nicht viel und mache trotzdem nur Radau. Oder wie das Sams: Ich hätte auch mal Sommersprossen gehabt, und von der Figur her passe es auch ganz gut. So schlich ich, das Matzerath Sams, die nächsten Wochen durch die Schule.

Werther im Kreißsaal

Schon meine Geburt war ein Menetekel für die Ereignisse meines kommenden Lebens. Wie meine Eltern immer gern erzählen, bin ich als Lehrerkind pünktlich zum Ende der sechsten Stunde, um 13.40 Uhr geboren. Meine Mutter musste sich den Geburtsschmerz ohne die Unterstützung meines Vaters mit der Lektüre von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« versüßen, da er aus nachvollziehbaren Gründen nicht anwesend war. Es war Schule, und mein Vater hatte das Berufsethos eines NASA-Astronauten. Noch keinen einzigen Tag seiner Schullaufbahn hatte er verpasst, und selbst bei einem Angriff mit Milzbrandviren hätte er sich unter dem sorgsam aufgesetzten Mundschutz nur ein müdes Lächeln abgerungen und die flüchtenden Schüler dann als »fehlend« im Klassenbuch vermerkt.

 

Jedenfalls war es so, dass mein Vater einen längeren Monolog über die Figur des Mephisto hielt, während ich mich langsam durch den Geburtskanal dem Leben entgegenschraubte. Da ich, wie sich auch in den Folgejahren noch zeigen würde, für mein Alter etwas zu groß und zu schwer war, führte meine Mutter ihrerseits ein persönliches Zwiegespräch mit Mephisto, das den deutschen Sprachraum um ein paar ganz neue Ächz- und Stöhnlaute bereicherte. Mein Vater dagegen beendete seinen Vortrag pflichtgemäß, packte ordentlich die Ledertasche zusammen und eilte dann, ohne in einen unstandesgemäßen Trab zu fallen, dem Kreißsaal entgegen. Meine Mutter geduldete sich, den letzten Rest des Brockens hervorzupressen, bis er ebenfalls anwesend war. Ach, was wäre Weihnachten bei uns zu Hause ohne die Geschichte meiner Geburt. Wo andere Familien die Ankunft des Jesuskindleins besingen, erzählen meine Eltern freudig von diesem so ereignisreichen Tag. Die Show ging nämlich noch weiter, denn ein ehemaliger Oberstufenschüler meines Vaters war der Arzt, der meine Entbindung zu verantworten hatte.

Obwohl aus dem verschüchterten Siebzehnjährigen mit der grobporigen Mischhaut mittlerweile ein Mittdreißiger mit Halbglatze und Oberarzttitel geworden war, verschlug es ihm beim Anblick meines Vaters erneut die Sprache. Manche hierarchischen Strukturen lösen sich nie auf, und während der Arzt an meiner platten Fontanelle herumkasperte, fing mein Vater an, ein paar der Abiturklausurergebnisse aus dem Jahr 1973 zu erläutern.

»Mein Gott, Tobias, selten hat jemand die ›Leiden des jungen Werther‹ so falsch verstanden wie du, habe ich dir denn nichts beigebracht?«, eröffnete mein Vater den Reigen seiner Vorwürfe, die in diesem Moment nun endlich besprochen werden mussten.

Meine Mutter kreischte währenddessen wie Keith Richards Leberflanke und forderte meinen Vater unmissverständlich auf, mal mit diesem »alten Scheiß« aufzuhören.

»Aber Schatz, das kannst du nicht verstehen, der Junge war eigentlich ein ganz guter Schüler, aber bei der Abiturklausur habe ich Ohrensausen bekommen. Tobias, jetzt mal ehrlich, das war wirklich Käse!«

Dr. Tobias Bergmann führte zu seiner Verteidigung nur ein schmallippiges »Ich war halt aufgeregt, Herr Bielendorfer« ins Feld, während er weiter mit einer Saugglocke an meinem abstrus großen Schädel pumpte. Da es Fotos gibt, die mein Vater in diesem Moment mit einer Einwegkamera geschossen hat, habe ich die Szene glücklicherweise immer vor Augen.

»Ach, aufgeregt, was ist das denn für eine Erklärung – also ich habe mich danach wirklich gefragt, was aus dir werden soll, Tobias.«

Erfolgreich negierte mein Vater den Fakt, dass Dr. Bergmann mittlerweile Oberarzt war und gerade seinem Sohn die Geburt ermöglichte.

»Robert, jetzt hör sofort auf damit, ich bekomme hier ein Kind«, insistierte meine Mutter, deren Schlagader so stark pochte, als hätte ich von innen dagegengeklopft.

Dr. Bergmann schien erleichtert zu sein, er wollte mir wohl nicht versehentlich eine Mulde in die unfertige Rübe pümpeln, nur weil er sich ausgerechnet jetzt für eine fünfzehn Jahre zurückliegende Abiturklausur rechtfertigen sollte.

»Das ist ja auch schön, mein Herz, aber der Tobias hat damals wahrhaftig geschrieben, dass der Werther und seine Geliebte Lotte Geschwister seien, kannst du dir das vorstellen, Geschwister!«

»Geschwister!?!«, sagte meine Mutter im gleichen Tonfall der Empörung, schließlich hatte sie ebenfalls Deutsch studiert und fühlte sich, ebenso wie mein Vater, von so viel Unkenntnis der Weltliteratur beleidigt.

»Sie haben geschrieben, Lotte und Werther wären Geschwister, sind Sie denn noch bei Trost?« Der Geburtsschmerz schien langsam nachzulassen.

Dr. Bergmann sank mit seinem unbehaarten Kopf immer tiefer hinter dem blauen Sichtschutz hinab, der vor den Beinen meiner Mutter aufgespannt war.

»Ja, dafür gab es damals nur eine Gnaden-Vier, eigentlich kannst du froh sein, dass ich dich nicht habe durchfallen lassen, sonst wäre das mit dem ganzen Medizin-Pipapo wohl nichts geworden«, erläuterte mein Vater seine damalige Großzügigkeit. In seiner Welt war eigentlich alles unter dem Begriff »Pipapo« zusammengefasst, was nicht direkt mit der höheren Literatur zusammenhing.

»Hörst du mir eigentlich zu Tobias? Hallooo?«, rief mein Vater dem verschwitzten, roten Schädel des Oberarztes entgegen, der wie ein bratender Festtagsputer zwischen den Schenkeln meiner Mutter hing.

 

Plötzlich durchbrach ein gellender Schrei das angespannte Schweigen. Ich hatte mich der ganzen Diskussion entzogen und war trotz der Empörung meiner Eltern über Herrn Bergmanns Interpretationsschwächen zur Welt gekommen. Ein vier Kilo schweres, hellblaues und blutverschmiertes Etwas lag jetzt in den haarigen Armen des Oberarztes und schrie wie eine Kreissäge, die man am Starkstrom angeschlossen hatte.

Dr. Bergmann war sichtlich erleichtert, dass ich endlich geboren war und er sich der Kritik meiner Eltern nun entziehen konnte. Er hielt mich wie einen zwanzigpfündigen Prachtkarpfen an beiden Beinen in die Höhe, und sofort fiel meinen Eltern sowie dem Arzt eine anatomische Besonderheit auf, die der ganzen Familie in den nächsten Jahren noch viele heitere Stunden bescheren würde. Zwischen meinen Beinen baumelte mein Hoden wie eine riesige rote Boje hin und her, es sah aus, als würde ein unbehaarter Mopsschädel an mir kleben.

»Oh«, bemerkte mein Vater bei der Beschau des feuerroten Säckchens.

»Ist das normal?«, fragte meine Mutter, wohl in der Sorge, dass dort statt eines Genitals ein unfertiger siamesischer Zwilling an ihrem Neugeborenen baumelte.

Dr. Bergmann wirkte selbst unsicher und sagte nur, immer noch völlig außer Atem: »Das ist ein Prachtkerl, so ein Geburtsgewicht.«

Als ich dann in den Armen meiner Mutter lag, waren meine Eltern überglücklich, der kleine Schönheitsfehler wurde erfolgreich weggelächelt, und Dr. Bergmann machte sich schnellstmöglich davon. Eigentlich kann ich nach diesem Tag froh sein, von meinen Eltern nicht mit einem schönen altdeutschen Namen wie Werther oder Lotte bedacht worden zu sein. Stattdessen gaben sie mir den banalen Vornamen des Helden der »Unendlichen Geschichte«, Bastian Balthasar Bux.

Alternative Erziehungsmethoden

Mit mir, so behaupten meine Eltern bis heute, könne man jeden Ort nur zwei Mal besuchen. Einmal zum Vorstellen und einmal zum Entschuldigen.

Meine eigene Erinnerung hingegen ist eine andere. Als Kind war ich kreuzbrav, das Musterbeispiel eines wissbegierigen, friedlichen Jungens, der mit Natur und Umwelt in einem dauerhaften Zustand buddhistischer Harmonie weilte – und ein bisschen dick war.

Der Erzählung meiner Eltern nach stimmt diese Selbstwahrnehmung nicht ganz mit der Realität überein. Für sie war ich der gewindelte Reiter der Apokalypse, der auf einer pinken Version von »My little Pony« die Welt aus vollem Herzen ins Unheil stürzte.

Ich glaube im Nachhinein, dass mein Ruf als der irdische Stellvertreter Satans nur einem fundamentalen Missverständnis zugrunde liegt. Erstens litt ich damals unter einer so starken Laktoseintoleranz, dass ich schon beim Anschauen einer Kuh zum Hulk mutierte, zweitens verstanden viele Kinder meine grundlegende Hilfsbereitschaft einfach falsch. Als Lehrerkind war ich von Natur aus wissbegierig, und die anderen plante ich im Zuge meiner Forschungen kurzerhand als Probanden mit ein.

So kam es auch, dass die mittägliche Ruhe meines Vaters bei meiner Beaufsichtigung am Spielplatz des Öfteren von den erzürnten Eltern der anderen Kinder gestört wurde.

Einmal, mein Vater suchte gerade seinen Leserbrief in der neuen Ausgabe des »Stern«, trat eine Frau mit blutrot geschwollenem Kopf vor ihn und formulierte den schönen Satz: »Ihr Sohn hat meinen Sohn zum Pharao erkoren … zum P H A R A O!«

An ihrer Hand hing der kleine Kollateralschaden meiner Bemühungen und heulte Rotz und Wasser. Sein Name war Julian, ein unfertig wirkendes Kind, dem man ein Pflaster über eines seiner Brillengläser geklebt hatte. Klein Julian war über und über mit klebrigem Spielplatzsand beschmutzt, selbst seine Haare waren damit bedeckt.

»Ist doch ein nettes Kompliment«, erwiderte mein Vater und schaute dabei auf Julian, der es mit seinem knochigen Körper, der Hühnerbrust und dem Pflasterauge ohne meine Hilfe wohl nie zum Gottkönig gebracht hätte.

»Sie verstehen wohl nicht, Ihr Sohn hat versucht meinen Julian zu vergraben, er hat gesagt, nur so könne Julian unsterblich werden«, empörte sich die Frau. Ihre schwarzen Augenbrauen wanderten wie zwei paarungswillige Raupen aufeinander zu. Mein Vater stutzte. Dann fiel ihm ein, dass wir ein paar Tage zuvor in der großen Tutanchamun-Ausstellung in Düsseldorf gewesen waren und wie begeistert ich von der ägyptischen Bestattungstradition der Mumifizierung gewesen war.

»Rein historisch ist das korrekt«, witzelte er, doch die Mutter schien nicht sehr an den geschichtlichen Fakten interessiert.

»Sind Sie bescheuert, mein Sohn wäre fast erstickt«, plärrte sie, während mein Vater schon wieder in seinen aufgeschlagenen »Stern« linste. Sie störte. Ich stand schuldbewusst neben der Szenerie, die ganze Aufregung war mir wohl zu viel, schließlich war ich erst fünf. Zum Glück hatte Klein Julian nicht erzählt, dass ich außerdem versucht hatte, ihn zum Vorkoster für meine selbst gebackenen Sandkuchen zu machen … 

Überall, wo ich auftauchte, riss ich mit meinen guten Absichten eine Schneise der Verwüstung in die vorhandene Ordnung. Kein System war mir zu klein, um nicht mit Neugier bombardiert und durch Experimentierwut zerstört zu werden. Fakt ist, dass jeder Kontakt zwischen mir und anderen Kindern in ein Gemetzel ausartete. Klein Julian hat aus heutiger Sicht wahrscheinlich Glück gehabt, dass ich ihn nur lebendig vergraben wollte.

 

Lehrerkind zu sein ist an sich schon nicht leicht, doch meine Erziehung ähnelte manchmal eher einem psychologischen Experiment als dem, was man gemeinhin als Kindheit bezeichnet. Ich hatte natürlich auch einen Gameboy, Kabelfernsehen und lustige Taschenbücher, ganz wie andere Kinder, aber zu diesen herkömmlichen Dingen gesellten sich noch die düsteren Geister aus der perfiden Vorstellungskraft meiner Eltern. Nur so, meinten sie zumindest, würden sie meiner unbändigen Zerstörungswut Herr werden.

Der »kleine Markus« war so ein Geist, vielmehr war er ein Phantom, niemand, weder ich noch mein Vater, hatte ihn je gesehen, und trotzdem reichte allein die Erwähnung seines Namens, um mich für ein paar Stunden in Schockstarre zu versetzen. Der »kleine Markus« war der einzige Insasse des Kindergefängnisses Essen Kray, so erzählte es mir mein Vater jedenfalls in schöner Regelmäßigkeit, wenn wir samstags gemeinsame Ausflüge machten. Diese Ausflüge fanden statt, weil meine Mutter als Grundschullehrerin dauerhaft am Rande des Nervenzusammenbruchs campierte. Die lärmenden, kreischenden Blagen, deren Beaufsichtigung fünf Tage ihrer Woche in Anspruch nahm, demolierten ihr Nervenkostüm so sehr, dass sie an den Wochenenden froh war, wenn mein Vater mit mir auf Abenteuerspielplätze oder ins Spaßbad fuhr.

Eigentlich hätte meine Mutter stutzig werden müssen, dass ich nach diesen Ausflügen nie mit Spielplatzsand besudelt war oder mit nach Chlor stinkenden Haaren nach Hause zurückkehrte, sondern bloß verstört in mein Zimmer wackelte und wie ein apathischer Zirkuselefant die Wand anstarrte. Mein Vater lud währenddessen Berge von Schallplatten aus, die er bei unserem Ausflug ins »Spaßbad« gekauft hatte und die er nun, als Lehrer und leidenschaftlicher Sammler, erst mal katalogisieren, markieren und einordnen musste.

Der »kleine Markus« war in meinem Kopf zu einem buckligen, missgebildeten Jungen mutiert, der an einer langen Kette durch die leere Dunkelheit seiner Zelle schlurfte und nur ab und an ein paar Fischköpfe von seinen Bewachern zugeworfen bekam. Er hatte, der Aussage meines Vaters nach, mehrmals seine Mama geärgert und war deshalb in ein grausames Teenagerguantanamo gebracht worden, wo er jetzt tagein, tagaus von seiner Reue zerfressen wurde. Mir würde es genauso ergehen wie dem kleinen Markus, sofern ich die nächsten Stunden nicht still und folgsam neben ihm im Plattenladen verharren würde.

Gegenüber der lange leer stehenden Milchfabrik, die mir mein Vater in seinen Geschichten vom kleinen Markus als Kindergefängnis verkaufte, befand sich »Easy Records«, ein Schallplattenladen, in dessen zigarillorauchdurchwehtem Ambiente alte Männer in speckigen Lederwesten die Erinnerungen an ihre glorreiche Jugend in Form von Tonträgern konservierten und in muffigen Pappkisten horteten. Mittendrin ich und mein Vater, der in tiefer Konzentration auf sein Hobby das mopsige Bündel zu seiner Rechten möglichst ruhigstellen wollte, wozu ein Rosinenbrötchen und ein Regina-Regenbogen-Puzzle nicht ausreichte. Ich jammerte meist wie ein debiles Vogeljunges, wenn ich mal wieder in diesen Siffschuppen geschleppt wurde, weil mein Vater ein paar Stunden nach seltenen Fehlpressungen von The Who suchen oder einfach nur ein wenig mit den anderen Sammlerzombies fachsimpeln wollte.

Die kleine Gruppe von Sozialversagern war durch eine Vielzahl menschlicher Kuriositäten charakterisiert. Da gab es »Bike-Mike«, einen leicht verwirrt wirkenden Arbeitslosen, der seine Plattenkäufe durch den vielfachen Diebstahl von Fahrrädern finanzierte und der den schönen Sinnspruch prägte: »Vorher war es dein Bike, nun ist es bei Bike-Mike.«

Ein Großteil der Anwesenden sah ein wenig wie Republikflüchtlinge aus, schludrig versiffte Jeansjacken, Cordhosen und Hawaii-Hemden, stilvoll ergänzt von einem Vokuhila und von Schnurrbärten, die sonst nur von emsländischen Polizisten mit Stolz getragen werden konnten. Zwischendrin ich, der zwergenhafte Basti, und sein Vater, der Bildungsbürger, der sich überraschend gut in dieses Puzzle der humanen Absonderlichkeiten einfügte.

Vor jedem Besuch bei Easy Records stand ich mit meinem Vater vor der mannshohen Stahltür der verlassenen Milchfabrik, und immer, wenn er es für nötig hielt, den Grusel der Geschichte zu erneuern, wurde ich angehoben und musste mit meiner kleinen, zittrigen Kinderhand die Schelle drücken.

»So, jetzt kommst du ins Kindergefängnis«, sagte mein Vater mit einer so beängstigenden Begeisterung, dass er mich wahrscheinlich wirklich abgegeben hätte, wenn jemals einer die Tür geöffnet hätte.

Ein scheppriges Surren durchhallte die leeren Gemäuer der Fabrik, die Tür blieb jedoch verschlossen. Ich plärrte wie ein Wahnsinniger, dass ich jetzt nach Hause wollte.

»Na ja, es kann ja niemand aufmachen, der kleine Markus ist ja auch angekettet, wie soll er da zur Tür kommen?«, fuhr mein Vater im gleichtönigen Duktus eines Musterbeamten fort, während sich mein Gesicht in einem Brei aus Rotz und Schnodder auflöste.

Er hatte sein Ziel erreicht, ich fiel wieder in eine apathische Schockstarre und setzte mich für die nächsten Stunden schweigend in eine Ecke, während mein Vater mit spitzen Fingern und einem genussvollen Lächeln die Plattenkisten von Easy Records nach Kuriositäten durchwühlte.

Die Schultüte

»Gib mir mal die Klebe, nein, nicht die, die da!«, murmelte meine Mutter in einem Zustand genervter Lustlosigkeit, die sonst nur eine Klasse voller lärmender Blagen in ihr wecken konnte.

Ich griff drei Mal daneben, erst zur Schere, dann zum Geschenkpapier und dann erst zur Uhu-Tube. Manchmal glaube ich selbst, dass bei mir die Verbindung vom Ohr zum Hirn nicht ganz funktioniert.

Meine Mutter pappte ein grinsendes Clownsgesicht aus Filz auf das Zeitungspapier, und durch die konische Form der Tüte schielte der Clown uns nun böse an.

»So, fertig!« Das Ergebnis unserer Bastelkatastrophe wirkte wie eine Mischung aus einer halb abgebrannten Sankt-Martins-Laterne und einem Mitnehmkarton für asiatisches Schnellessen. Ich fing spontan, aber engagiert an zu heulen.

Meine Schultüte bestand tatsächlich aus einer alten Sankt-Martins-Laterne, und die anderen Teile waren Schnipsel der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« und ein paar verklebte Brocken Geschenkpapier, die, der sparsamen Trümmerfrauenmentalität meiner Mutter geschuldet, von Weihnachten übrig geblieben waren.

Es war der Vorabend eines der Meilensteine meines jungen Lebens: Am nächsten Morgen sollte ich eingeschult werden und damit die feine Grenze vom Windelfüller zum selbstbestimmten Teilnehmer am gesellschaftlichen Alltag überschreiten. Ich war mir der Tragweite dieses Datums durchaus bewusst und wollte es auch angemessen zelebrieren. Schon seit einer Woche schlief ich schlecht, nachts wachte ich immer wieder ungeduldig auf, in Erwartung der vielen neuen Erfahrungen, die auf mich zukommen würden, sobald ich erst einmal ein vollwertiges Mitglied der Erwachsenenwelt wäre. Ich stellte mir vor, dass mich bald niemand mehr ins Kindergefängnis sperren könnte und mich niemand mehr begleiten würde, wenn ich auf die Toilette wollte. Das war im Kindergarten so gewesen. Jetzt kam die Schule … Wenn ich darüber nachdenke, ist meine damalige Deutung, dass der höchste Wert des Erwachsenseins darin besteht, nicht mehr zum Klo begleitet zu werden, auch heute noch gültig.

Jedenfalls gehörte eine gewisse Festlichkeit zum Usus jeder Einschulung – das hatten mir jedenfalls die Eltern meiner Kindergartenfreunde vermittelt, die schon Wochen vorher ihre Schultornister zu abstrusen Preisen eingekauft, verschiedene Ausstattungssortimente an Schulmaterialien vorbestellt und natürlich den heiligen Gral jeder Einschulung vorbereitet hatten: die Schultüte.

Die Schultüte war für einen Sechsjährigen so etwas wie die Büchse der Pandora, nur dass in dieser Tüte statt den unbekannten Mächten zur Weltvernichtung die unbekannten Geschmäcker zahlloser Süßigkeiten darauf warteten, den kindlichen Zahnschmelz in erheblichem Maße zu zersetzen. Schultüten waren eigentlich nur pimmelförmige Geschenkkörbe für Erstklässler, angefüllt mit Klimbim und allerlei Unbrauchbarem. Doch in der Welt eines Kindes hat der Begriff eine andere Bedeutung. Da hat eine grüne Gummiflitschhand, mit der man Gläser zu sich heranziehen kann, mehr Wirklichkeitsbezug als etwa eine Sonderausgabe von Kafkas »Verwandlung«.

Nur meine Kinderwelt sah anders aus. Meine Schultüte kam nicht aus dem Einzelhandel, der schnöde Glitzerbecher mit winkenden Mickymäusen und hechelnden Hundewelpen vertrieb. Nein, auf der Seite meiner Schultüte stand deutlich lesbar der Aufmacher der »WAZ« vom 17. Juni 1990: »Kommission schließt Ermittlungen zu Tschernobyl-Vorfall ab«.

Meine Eltern waren der Meinung, dass dieser ganze Konsumterror nicht gut für mich wäre, obwohl der im Jahr 1990 sicherlich nicht annähernd die Ausmaße der Jetztzeit hatte, wo jedes Kind bereits mit fünf Jahren ein Hannah-Montana-Tattoo neben dem Bauchnabel hat und Harry Potter auswendig rezitieren, jedoch nicht die Namen seiner Geschwister fehlerfrei aussprechen kann. Meine Eltern beschlossen deshalb, mich meine Schultüte in Heimarbeit selbst anfertigen zu lassen.

Da meine Fähigkeiten auf der Ebene des Bastelns ähnlich ausgeprägt waren wie meine Fähigkeiten im musischen oder sportlichen Bereich, sah das Ergebnis, das ich nach zwei Tagen am heimischen Basteltisch (Lehrereltern besitzen so etwas!) produziert hatte, ein wenig wie die Nachgeburt von Bernd dem Brot aus. Aus einem grauen Berg Pappe ragten schräg zwei klebstoffverschmierte Spitzen heraus – das Ganze hatte etwas von einem Zwergelefanten mit Erektion. Meine Eltern mussten bei der ersten Beschau meiner selbst gemachten Schultüte spontan lachen und dachten, ich hätte zunächst einen Scherz gemacht. Als ich ihnen dann aber nichts anderes als wirkliches Ergebnis meiner Arbeit präsentierte, schlug ihre Heiterkeit in Entsetzen um. Zuerst überlegten sie, mich an einen Neurologen zu geben und meine Hand-Augen-Koordination überprüfen zu lassen, dann entschieden sie sich, das zu tun, was alle guten Eltern tun, wenn ihr Kind offensichtlich unfähig ist. Sie machten es selber.

Leider waren zur Produktion der Schultüte nur noch ein paar Reste meines Bastelwahnsinns übrig, also ergänzte meine Mutter unser Werkmaterial durch Zeitungspapier und das hohle Gerippe einer Sankt-Martins-Laterne, die meine Eltern mir nach einem ähnlichen Vorfall widerwillig gekauft hatten.

Mein Vater seilte sich von der Bastelaktion schon früh ab und berief sich auf die künstlerischen Fähigkeiten meiner Mutter, die sich als Grundschullehrerin ja wöchentlich im Kunstunterricht mit den dreiflügligen Schmetterlingen ihrer Schüler beschäftigen musste. Also machten sich meine Mutter und ich allein daran, die »schönste Schultüte zu produzieren, die je ein Kind gehabt hat«, so war jedenfalls ihr Motivations-Mantra, das tatsächlich ein wenig hoffnungsvolles Feuer in meinen kleinen Kinderaugen weckte.

Was nach ein paar Stunden dabei herauskam, löste jedoch zuerst weitere Heulkrämpfe meinerseits aus und ließ mich dann für die Verwendbarkeit meines ersten Entwurfes plädieren, auch wenn dieser aussah, als hätte Christo eine echte Schultüte mit Klopapier verhüllt. Meine Mutter, die durch ihren Beruf eine Meisterin in der Beschönigung mangelhafter Bastelergebnisse war, berief sich darauf, dass meine Schultüte etwas »ganz Besonderes« sei. Ich hielt dagegen, dass meine Kindergärtnerin das auch immer über Jakob Bergmann gesagt habe, einen Jungen, der ständig Erstickungsanfälle bekam, weil er versuchte, die Spielknete zu essen.

Meine Mutter heftete noch ein paar glitzernde Sterne auf den Tschernobyl-Artikel, die uns dann glücklich anstrahlten, als Zierde für den atomaren Super-GAU.

Als mein Vater zurückkam, war sein Lachen noch lauter als bei der Präsentation meiner eigenen Schultüte. Das war kein gutes Zeichen. Er warf meiner Mutter einen Blick zu, der wohl so zu deuten war, dass sie zur Einschulung ebenso gut ein Foto meiner Vorhautverengung auf dem Pausenhof an die Wand projizieren könnte.

»Die ist genau gut so«, besiegelte meine Mutter schließlich meine gesellschaftliche Verdammnis. Trotz der Glitzersterne und dem Clownsgesicht starrte uns dieser tote Brocken Pappe weiterhin unheilvoll an – kein gutes Omen, wie sich bald herausstellen sollte.

Der erste Schultag

Die ganze folgende Nacht konnte ich nicht schlafen, auf dem Stuhl in der Ecke lag die Schultüte tot da, der widerliche Clown stierte mich leer an und schien sich ebenso vor dem nächsten Tag zu fürchten wie ich. Als um sechs Uhr der Wecker schellte und meine Mutter das Zimmer betrat, lag ich nicht mehr in meinem Bett. Nach kurzer Suche fand sie mich aber unter dem Bett – selbst bei der Suche von Verstecken war ich nicht sonderlich kreativ. Vielleicht hatte der Clown mich verraten, ich hatte das Gefühl, dass er mich traurig angeblickt hatte, wie ich da eine Barriere aus Kissen unter meinem Bett baute. Ich hatte still gehofft, meine Mutter würde mich nicht finden, ich könnte diesen Tag einfach aussitzen, abwarten wie in einem Luftschutzbunker und einfach ein paar Tage später das erste Mal in der Schule auftauchen, wenn die ganze Schultütenhysterie abgeklungen war.

Mit meinem Tornister hatte ich mich mittlerweile abgefunden, im Vergleich zu der Schultüte war er nur halb so übel. An schlechten Dingen ist immer gut, dass man sie durch noch schlimmere Sachen relativieren kann. Eigentlich war auch der Tornister scheußlich, aber im Gegensatz zur Schultüte war er ein echtes Prachtexemplar chinesischer Fließbandarbeit. Er war meinen Eltern von meinem Cousin Sören Malte, der mittlerweile auf dem Gymnasium war, vermacht worden. Sören Malte, diese Wohlstandssacklaus, war fünf Jahre älter als ich und trotz seiner Jugend ein so auffallend spaßbefreites Kind, als hätte er bei seiner Geburt schon seinen Mitgliedsausweis für die Junge Union beantragt. Sören Maltes Humorlosigkeit hatte sich auch in der Auswahl seines Tornisters niedergeschlagen. Das Ding war grau, dunkelgrau wie ein Taubenarsch, und hatte keinerlei offensichtliche Verzierungen, außer dem Logo des Markenherstellers. Ich sah damit eher aus wie ein Liliputaner vom Finanzamt als ein fröhliches Kind auf dem Weg zu seinem ersten Schultag.

Der 18. September 1990 war ein sehr heißer Spätsommertag. Ein paar orientierungslose Spatzen schossen durch den Backofenhimmel, am Horizont lag nur eine träge kleine Wolke, die sich langsam auflöste. Ich ging an der Hand meines Großvaters zum Schulgebäude, mein Vater folgte uns mit einer Super-8-Kamera, die klackernd jeden meiner unsicheren Schritte dokumentierte. Mein Opa war ein Bilderbuchgroßvater, eine menschgewordene Trutzburg gegen die städtische, graue Wirklichkeit. Er hatte wahnsinnig viel Phantasie und war bereit, diese mit seinem Enkel zu teilen. Zitternd griff ich seine Hand, den schweren Tornister auf dem Rücken, das Tütenmonster in meiner Armbeuge.

»Mach dir keine Sorgen, das wird schon. Was kümmert es den Mond, wenn ihn ein Hund anbellt«, flüsterte er mir zu, als er auf den klebrigen Klotz schaute, der fast so groß war wie ich selbst. Langsam wurden meine Schritte sicherer, die Sonne ruhte wie ein Brandloch am Himmel. Als wir an der Schule ankamen, herrschte bereits riesiger Trubel. Zahllose euphorisierte Eltern brabbelten ihren Kindern Grußformeln zu oder forderten sie auf, in die Kameras zu lächeln. Mein Opa drückte meine Hand, schloss seinen Arm um mich und wiederholte noch einmal sein Mantra, das später zur bestimmenden Formel meines Lebens werden sollte. Mein Vater platzte vor Stolz, und meine Mutter wartete schon vor dem Schulgebäude, sie bekam ebenso wie die anderen Lehrerinnen heute eine neue Klasse zugeteilt.

Gerade als ich zu ihr wollte und dabei in ungelenkem Galopp den Schulhof durchmaß, machten sich die Auswirkungen der brüllenden Hitze bemerkbar. Der Kleber meiner Schultüte löste sich, der hämische Clown hielt sich schon nur noch mit einem Teil seiner Mütze fest, und auch die sonstigen Verbindungen lösten sich und erbrachen den Inhalt meines ABC-Schützen-Accessoires auf den Pausenhof. Die anderen Kinder und Familien verstummten plötzlich, alle starrten auf den grauen Kasten in meinem Arm, der meine Geschenke auskotzte. Meine Eltern hatten tatsächlich Süßigkeiten gekauft. Karamelle, Plombenzieher und anderes Süßzeugs schossen aus der Klebeöffnung, und dann fiel noch ein Buch heraus, auf dessen Cover ein riesiger Käfer abgebildet war, der sich in der Ecke eines leeren Raums zusammenkauerte. Sie hatten mir ernsthaft Kafkas »Verwandlung« in die Schultüte getan. Ich bückte mich und schaute auf den vergilbten Bucheinband, konnte jedoch nichts damit anfangen. Ich würde erst später erfahren, dass es sich bei der »Verwandlung« um eine Art »Raupe Nimmersatt« für Bildungsbürgerkinder handelte. Mein Vater filmte stolz, wie ich das Buch vom Boden aufhob, und erläuterte für den geneigten Zuschauer: »Wir wollten erst mal mit der einfachsten Symbolik anfangen, bevor wir über ›Das Urteil‹ oder Ähnliches reden.«

Die anderen Eltern und Kinder schauten mich, den kleinen Jungen mit dem brechenden Schuhkarton an, als hätte ich einen brennenden Bombengürtel umgeschnallt.

Mein Opa rettete die Situation, indem er sich zu mir herunterbückte und einen kleinen, fiependen Kasten aus dem Haufen Krimskrams hervorkramte. Es war ein Gameboy, ein Botschafter der Neuzeit, von dessen Bildschirm mir der monochrome Schnurrbart von Super Mario entgegenlächelte.

»Schau mal, was da noch drin war …«, sagte mein Großvater, der sich völlig im Klaren darüber war, dass er gerade ein Kinderleben rettete. Derartige Auftritte, wie ich gerade einen hingelegt hatte, waren nicht selten der Beginn eines jahrelangen Martyriums. Mein Vater blickte leicht verdutzt durch das Objektiv, auch meine Mutter schien verwundert darüber zu sein, was sich da ins Carepaket für humanistisch gebildete Erstklässler verirrt hatte. Die anderen Kinder ließen ihre glitzernden Tüten liegen und bildeten einen neidischen Kreis um mich und meinen tragbaren Heilsbringer.

Der Tag war gerettet.

Solidarität für Afrika

Meine Eltern haben mithilfe ihrer seltsamen Erziehungsmethoden schon früh versucht, ein differenziertes Verständnis von Ironie in mir zu wecken, was aber eindeutig fehlgeschlagen ist. Ich bin immer noch ein sehr leichtgläubiger Mensch, der seinem Gegenüber zunächst einmal ernsthafte Absichten unterstellt und erst mit beachtenswerter Verzögerung bemerkt, wenn er verschaukelt wird. In der Hirnregion, in der der Sinn für Ironie sitzt, ist bei mir Schlussverkauf, mir fehlt einfach jegliches Gefühl dafür, ob jemand eine Äußerung ernst meint oder nur einen Spaß macht. Besonders zeigte sich dies immer am Jahrestag des Kinderstreichs, dem ersten April.

Wo andere Eltern ihren schockierten Kindern von einem Brand in Disneyland oder einem verspäteten bösen Brief vom Weihnachtsmann erzählten, befassten sich meine Eltern schon damals mit mehrstufigen Masterplänen zur völligen Ausnutzung meiner kindlichen Leichtgläubigkeit. Alles begann in der zweiten Klasse, es war das Jahr 1992, ein schwüler Frühling drückte schon im April das Thermometer an die 20-Grad-Grenze. Ein paar satte Vögel flatterten wackelig am Himmel auf und ab, kaum eine Wolke war zu sehen. Und ich stand nur mit einer Pumucklunterhose bekleidet vor dem Gebäude meiner Grundschule. Ein Rest Babyspeck schob sich über meinen Hosenbund, die Tornistergurte gruben sich unheilvoll in das weiche Fleisch meines Oberkörpers. Ich grinste debil selig, in der Gewissheit, etwas Gutes zu tun. Dieses Gefühl des stillen Glücks löste sich erst in dumpfer Enttäuschung auf, als ich meine Schulkameraden sah. Scheußliche Kombinationen von neonfarbenen T-Shirts, knallroten und gepunkteten Leggins und Achtzigerjahre-Jeansjäckchen, die vom älteren Geschwisterkind vererbt und aufgetragen wurden. Keiner im Adamskostüm, nicht einmal oberkörperfrei. Langsam beschlich mich der Gedanke, dass etwas hier nicht stimmte, und die anderen Kinder schauten mich an, als würde ich gerade ein Fohlen gebären.

Mein Vater hatte mir glaubhaft versichert, dass heute in der Schule der große »Wäsche-Tag« sei und alle Schüler als Zeichen ihrer Solidarität mit den armen Kindern in Afrika, die ja auch keine Kleidung besäßen, nur in Unterwäsche zur Schule gehen würden. Ich glaubte ihm und zog mit der kindlichen Abstinenz jeglichen Schamgefühls sowie mit meinen blinkenden Adidas-Sportschuhen (damals der letzte Schrei, auf der Seite prangte der schreiende Hulk Hogan in einem gelben Badeanzug) und meiner geliebten Pumucklunterhose los. Die armen Kinder aus Afrika dienten damals so ziemlich jedem Kind, gleichwohl es nie in Afrika gewesen war, als Sinnbild einer moralischen Instanz, die immer dann zitiert wurde, wenn man nicht aufgegessen hatte (»Die armen Kinder in Afrika würden sich über den Grünkohl freuen, Bastian!«) oder nicht ins Bett gehen wollte (»Die armen Kinder in Afrika haben kein Bett, die schlafen auf dem Boden!«).

Der »Wäsche-Tag« war natürlich dem perfiden Gehirn meines Vaters entsprungen. Er hatte wohl selbst nicht geglaubt, dass ich die Geschichte ernst nehmen und wirklich halb nackt losziehen würde, um mich für die Ewigkeit als der Vollhorst der Schule in die Gedächtnisse meiner Mitschüler zu brennen. Doch ich war losgegangen, hatte die überraschten Gesichter der Nachbarn bewusst ignoriert, die gerade hektisch zur Arbeit das Haus verließen und doch eine Sekunde fanden, den sonderlichen kleinen Jungen zu bemerken, der dort wie eine Bockwurst mit Tornister durch ihre Sackgasse schlappte. Frau Krömer, eine alte Frau, an deren Körper alles krumm und schief war, winkte mir selig wie jeden Morgen auf dem Schulweg zu, in ihren altersschwachen Augen trug ich einfach sehr hautfarbene Kleidung.

Leider stimmte das nicht.

Da stand ich nun, solidarisch mit der Dritten Welt, meine Schuhe blinkten ein trauriges SOS, während Pumuckl, der hilflos meinen Schniedel zu verdecken versuchte, fröhlich meinen Klassenkameraden zuwinkte. Zuerst legte sich eine klamme Stille über den Schulhof, die sich dann jedoch auflöste, als eines der Kinder nicht mehr an sich halten konnte und lauthals loslachte. Als eine Kollegin meine Mutter darauf aufmerksam machte, dass ihr Sohn gerade halb nackt auf dem Schulhof stand, sprang sie aus dem Lehrerzimmer und warf mir eine Decke über. Als ich nach Hause kam, sprach ich einen Monat nicht mehr mit meinem Vater. Meine Mutter hielt es noch länger durch.

 

Der Mathematiklehrer

Der Mathematiklehrer ist eine eigenartige Persönlichkeit. Wer sich die Hälfte seines Lebens damit befasst hat, möglichst simple Erklärungen für mathematische Probleme zu finden, und sich selbst völlig der Herrschaft einer allumfassenden Logik verschrieben hat, kann in der Schule eigentlich nur scheitern. Denn in der Schule gibt es keine Logik. In der Schule ist nicht derjenige angesehen, der es besser weiß, sondern der, der eine passendere Beleidigung auf Lager hat und dessen Handy mehr Klingeltöne abspielen kann. So steht der Mathematiker, der sich zeit seines Studiums mit schwersten Fragestellungen der gehobenen Mathematik beschäftigt hat, nur um in seinem Job jetzt einen Großteil der Zeit mit dicklichen Schülern das Wurzelziehen zu üben, plötzlich vor einer geradezu unlösbaren Gleichung. Noch schlimmer ist es nur für die Grundschullehrämter, die sich durch den gleichen steinharten Bockmist gefressen haben wie die Gymnasiallehrer, dann im Laufe ihrer Schulzeit aber feststellen müssen, dass Zweitklässler keine höhere Algebra benötigen und der Satz des Pythagoras vor einer Gruppe von Sesamstraßenguckern auch nicht viel nützt.