Jochen Rausch
Trieb/13 Storys
Berlin Verlag
Für Margarete Rausch (1921–2009)
And I don’t know why, I don’t know why
you hurt my soul and lettin’ me die
Golden Earring – As long as the wind blows
DANK
Meinen Söhnen Mats und Tim und meiner Frau Birgit. Danke an Birgit Schmitz/Daniel Graf (Lektorat) und Micha Sperschneider.
Jochen Rausch
AUF ÖLAND
(Asa & Christoph)
Sie ist es. Das ahnt er. Nein, er weiß es. Auch wenn er nur ihren Rücken sieht, weiß er es. Der nackte Hals. Das Muttermal seitlich des Halswirbels. Die Haare nach oben gesteckt, auf ihrem Nacken eine feine Kette aus erbsengroßen Perlen. Immer hat sie diese Frisur getragen. Immer hat sie ihm den Nacken gezeigt. Beiß zu! Ich will deine Zähne spüren! Beiß mich! Los, mach schon, beiß!
»Verzeihen Sie, mein Herr. Ihre Zimmernummer bitte.«
»Was?«
»Ihre Zimmernummer.«
Die Kellnerin hat ein höfliches Lächeln. Sie räumt das zweite Gedeck von seinem Tisch.
»Sechshundertfünfzehn«, sagt Warring.
»Vielen Dank. Genießen Sie den Aufenthalt in unserem Restaurant!«
Noch immer sind ihre Haare blond. Einzelne Strähnen sind aus den Spangen gerutscht, flirren über den nackten Hals. Jetzt spielen die Finger mit der Perle. Die an einer winzigen goldenen Schlinge unter ihrem Ohr baumelt. Sie frühstückt nicht allein. Ein Mann, Mitte vierzig, Brille, hohe Stirn, schmales, gebräuntes Gesicht. Eine gepflegte, sportliche Erscheinung mit Chefarztlächeln. Als er mit dem Kellner spricht, hört Warring den amerikanischen Akzent.
Christoph Warring faltet die Serviette auf. Der Amerikaner führt die Gabel zum Mund. Der Bissen auf der Gabel ist nicht größer als eine Wespe. Der Mann lächelt, kaut, nickt, tupft die Stoffserviette in die Mundwinkel und lacht mit blinkenden Zähnen. Sie war eine gute Geschichtenerzählerin damals, denkt Warring. Offenbar ist sie es immer noch.
Er geht zum Buffet, hält sich im Rücken der blonden Frau. Vielleicht täuscht er sich ja. Vielleicht ist es nur Einbildung. Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich irrt. Auf der Mütze des Frühstückskochs prangt das Logo des Hotels. Parkresidenz Konstanz.
»Ein Rührei, der Herr? Oder ein Spiegelei, ein Omelett?«
»Dann ein Omelett bitte!«
Warring legt Paprikastreifen, Gurkenscheiben, eine Ecke Frischkäse und eine Scheibe Vollkornbrot auf seinen Teller. Er hofft sogar, sich zu irren. Dann erst dreht er sich nach ihr um.
Es ist Asa Hakansson. Sie hat ein breiteres Gesicht bekommen. Ihre Haare sind stumpf geworden. Eine Tönung vielleicht. Sicher mag sie das Grau des Alters nicht, denkt Warring. Ihre Haut ist weich und faltig, aber das Blau ihrer Augen ist immer noch leuchtend. Asa Hakansson. Dann sind also zwanzig Jahre vergangen, denkt Warring. Wenn sie spricht, unterstreicht sie die Worte mit der Hand. Jetzt stellt sie den Kopf schräg. Die Perle an ihrem Ohr berührt ihre Schulter. Es sind noch nicht zwanzig, denkt Warring. Es sind erst siebzehn Jahre. Dann haben sie ihr Zeit geschenkt.
Die Kellnerin serviert ihm den Kaffee am Tisch. Asa Hakansson sitzt aufrecht. Nun redet der Amerikaner. Hin und wieder nickt sie, legt den Kopf mal auf diese, mal auf die andere Seite, beugt den Oberkörper vor. Sie winkt dem Kellner.
»Coffee, please!«
An ihre Stimme erinnert sich Warring wie an einen lange nicht gehörten Song. Sie hatte immer schon diese dunkle, kehlige Stimme, eine Stimme, die damals älter schien als sie selbst. Jetzt hat sie das richtige Alter für ihre Stimme. Wie oft ist diese Stimme wie eine Schlange zu ihm gekrochen?
Plötzlich friert er. Gleichzeitig treten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Der Frühstückssaal beginnt zu wanken. Warring hält sich mit einer Hand am Tisch fest. Mit der anderen greift er nach der Zeitung, streicht sie glatt.
Pakistan ertrinkt. Chilenische Bergleute verschüttet.
Natürlich könnte er gehen. Jetzt gleich. Er könnte das Wochenende mit Brenda, Robby und Kim in Burlington verbringen. In ihrem Haus mit den Erkern und der Aussicht auf die endlosen Wälder von Vermont. Burlington erscheint Warring in diesem Moment als der friedlichste und schönste Ort der Welt.
Ein Kellner tritt an den Tisch des Paares, verbeugt sich, kann nicht ahnen, wen er vor sich hat. Würde er noch lächeln, wenn er es wüsste? Asa Hakansson lehnt sich zurück, bestellt Kaffee. Damals hätte sie geraucht. Aber das Rauchen ist hier untersagt. Sie sieht in den Park, wo ein Gärtner auf einem lächerlich schmalen Traktor hockt.
Immer noch hat sie die stolze Haltung einer Frau aus allerbestem Haus, denkt Warring. Die siebzehn Jahre haben daran nichts geändert. Ihr Vater, Lars-Olof Hakansson, hat seine Tochter auf die teuersten Internate und an die besten Universitäten geschickt. Paris, London, Chicago. Nach dem Studium wurde sie Assistentin von Tore Nordgren, dem besten schwedischen Herzchirurgen seiner Zeit.
Der Kellner bringt ihr den Kaffee. Warring nimmt einen ersten Bissen vom Omelett. Samuel Greenslade vom Massachusetts General Hospital betritt den Raum, sucht nach einem bekannten Gesicht. Warring senkt den Kopf, sieht aus dem Fenster, Greenslade geht vorüber. Nebel schwebt über den Ästen der Chausseebäume. Jetzt schiebt der Gärtner Laub zusammen.
Im Mai 1990 sind sie sich begegnet. Ein Kongress in Rom. Die Stadt roch nach Sommer. Sie hatten den eintönigen Singsang der Simultanübersetzer auf den Kopfhörern und ließen ihre Blicke gelangweilt durch das Kongresszentrum streifen. Die Blicke blieben aneinander hängen. Sie war damals siebenundzwanzig, er vierunddreißig. Seit einem Jahr war er Chefarzt in Kassel. Einer der jüngsten Chefärzte in Deutschland.
Sie verließen das Kongresszentrum und liefen zu einem Restaurant bei der Fontana di Trevi. Das Essen rührten sie kaum an, verfolgten sich lieber mit den Augen. Sie zahlten noch vor dem Hauptgang, fuhren mit dem Taxi zum Hotel. Warring packte sie im Flur. Biss ihr in den Nacken. Beiß mich! Noch bevor er Asa Hakansson auf den Mund küsste, schob er ihr die Zunge ins Ohr. Beim ersten Kuss dann fasste er ihr gleich unter den Rock. Nie zuvor, schon gar nicht bei Ruth, war er jemals so unbeherrscht gewesen.
Warring trinkt einen Schluck Tafelwasser. Der Mund ist ihm trocken geworden. Dann isst er die letzten Bissen von dem Omelett. Der Amerikaner lacht. Wieder blinken die Zähne. Asa Hakansson lacht, wenn auch nicht so ausgelassen wie ihr Gegenüber.
Damals in Rom wurde er hinweggeschwemmt von einer Woge aus Gier. Sie fanden gar kein Ende. Alle Anfänge und alle Enden hatten sich aufgelöst, waren ineinander verhakt, in einem endlosen Kreislauf.
Sie blieben in Rom, als der Kongress längst schon zu Ende war. »Sag mir, was ich tun soll«, sagte Asa, »und ich tu’s!«
Er sagte, sie solle sich die Haare hochstecken, damit er sie in den Nacken beißen könne. Sie schob die Haare hoch.
Er würde gerne rauchen jetzt, denkt Warring. Seit zwanzig Jahren hat er nicht mehr geraucht. Beiß mich, beiß mich! Sie steht auf. Dreht sich zu ihm, reckt das Kinn leicht nach vorne und geht, als wäre der Frühstücksraum ihr Laufsteg. Die Männer an den Tischen blicken auf. Sie bezahlt mit einem milden Lächeln.
Von Rom flog Warring nach Frankfurt und sie nach Stockholm. Nicht eine Sekunde verlor er sie aus den Gedanken. Nach der Landung rief er sie von einer Telefonzelle aus an. Es war der erste von unzähligen Anrufen. Sie telefonierten zwischen den Operationen, vor den Visiten, nach den Visiten. Er schloss sich in sein Büro ein, um am Telefon mit ihr zu schlafen.
»Wann kommst du zu mir?«, fragte sie immer wieder.
»Bald, sehr bald!«
Sie trafen sich in Hamburg, Genf, Oslo, in Chicago, in Lissabon. Warring arrangierte Termine mit Kollegen, nahm jede Fortbildung, jeden Kongress, jede Einladung zu Vorträgen wahr. Mit der Zeit fiel ihm das Lügen leicht, Ruth hegte ja nie einen Zweifel. So stolz, wie sie auf ihren Mann war. Sie mochte seinen Ehrgeiz, seinen Willen, eines Tages Chefarzt an einer der großen Kliniken zu werden, in Hamburg, Berlin, vielleicht sogar Chicago, New York oder Boston. Und Ruth hatte ja auch die Kinder. Zwillinge. Anderthalb Jahre damals. Kind 1 und Kind 2.
Warring beugt sich vor, als sie von den Waschräumen kommt und durch den Speisesaal schreitet. Den Stolz hat man ihr nicht gebrochen, denkt er. Der Amerikaner tätschelt Asa die Hand, winkt dem Kellner. Noch eine Bestellung.
Für ihre Briefe, Karten und Päckchen legte Warring ein Postfach an. Mietete ein möbliertes Zimmer, um ungestört mit ihr zu telefonieren. Wenn er das Zimmer betrat, blinkte der Anrufbeantworter von ihren Anrufen. Aus dem Faxgerät kam Nachricht um Nachricht. Und sie telefonierten. Immer wieder. Oft hörten sie sich nur beim Atmen zu.
Darüber vergingen der Sommer, der Herbst und der Winter. Im Frühjahr fragte Asa ihn, wann er seine Frau verlasse.
Jetzt löst sie eine der Haarspangen. Hält die Spange mit den Lippen, während sie die Haare am Hinterkopf ordnet.
In jenem Frühjahr hatte Warring damit begonnen, sie zu vertrösten. Für Ruth besuchte er noch mehr angebliche Kongresse. Aber jetzt log er auch bei Asa. Dass er seine Frau verlässt. Bald schon, bald! Im Frühjahr nicht, aber bestimmt im Sommer! Bestimmt! Längst war er eingekeilt zwischen all den Lügen.
»Wann kommst du endlich zu mir, wann?«
Warring machte sich Notizen, weil er mit den Lügen nicht durcheinanderkommen wollte. Dann schlug er Ruth einen Urlaub in Schweden vor.
Sie fuhren mit Kind 1 und Kind 2 auf Öland. Seine Mutter begleitete sie. Warring hatte ein großes Ferienhaus in Mörbylanga gemietet. Ein Haus mit einer strahlend weißen Holzfassade, blauen Fensterläden und Sprossenfenstern. Umstellt von knorrigen Bäumen, deren Äste bis auf die Terrasse und das Dach ragten. Vom Schlafzimmer der Blick aufs Meer.
»Eine Idylle«, sagte seine Mutter.
Die Sonne schien und schien. Kind 1 und Kind 2 krabbelten über den Rasen oder spielten in der Sandkiste. An den Vormittagen fuhr die Familie ans Meer. Die Zwillinge kreischten, wenn sie die Füße in die kühlen Wellen steckten. Mit Ruth unternahm er Spaziergänge am Strand. Sie aßen an den Fischbuden geräucherten Hering, schmiedeten Pläne. Noch ein Kind vielleicht.
»Bloß nicht wieder Zwillinge!«, rief Ruth, blies die Backen auf und lachte.
Jetzt ist es der Amerikaner, der zu den Waschräumen geht. Er hat einen federnden Gang. Asa zückt ihr Handy. Das Display leuchtet auf. Es ist ungerecht, denkt Warring, dass sie dort sitzt. Es dürfte nicht sein. Es sollten doch zwanzig Jahre werden. Mindestens.
Auf ihr Gesicht kriecht ein Lächeln. Ihre Finger bewegen sich geschmeidig über die Tasten. Eine Chirurgin eben. Sie lächelt, als der Amerikaner zurückkehrt, plinkert mit den Augen. Sie steckt das Handy ein, er streichelt über ihre Wange.
Jeden Mittag verabschiedete sich Warring zum Angeln. Tatsächlich aber fuhr er nach Borgholm, wo Asa in einem Hotel auf ihn wartete. Wenn er von ihr ging, wenn er zurückfuhr zu dem Ferienhaus, zu seiner Frau, seiner Mutter und den Zwillingen, dann sagte Asa: »Wann wirst du sie endlich verlassen?«
Unterwegs kaufte er noch fangfrischen Barsch, Saibling oder Zander, warf seinen Fang in den Eimer im Kofferraum und später auf den Ferienhausgrill.
Da wusste er längst, dass es nicht mehr lange so weitergehen konnte. Nur noch diese Tage auf Öland, die beiden Mittagsstunden in dem abgedunkelten Hotelzimmer, dann musste es zu Ende sein. Er legte sich schon die Worte zurecht, die er ihr sagen wollte.
Aber dann war sie nackt, als sie die Tür öffnete, und er schluckte alle Worte herunter. An seinem vorletzten Urlaubstag auf Öland ließ er Asa die Tür gar nicht erst öffnen. Er blieb auf dem Hotelflur, hielt den Knauf, sie sahen sich durch den Türspalt.
»Ich will nicht, aber ich muss dich verlassen«, sagte er.
»Das wusste ich«, sagte sie und schloss die Tür.
Er war überrascht gewesen, wie leicht es gegangen war. Er setzte sich in seinen Volvo und fuhr ziellos über die Insel. An einem Imbiss bestellte er geräucherten Hering, lief am Strand entlang, versuchte, nicht mehr an sie zu denken.
Am letzten Urlaubstag packte Warring nach dem Frühstück sein Angelzeug und fuhr zum ersten Mal tatsächlich an den Teich östlich von Mörbylanga. Dort klappte er den Hocker aus, warf den Köder und wartete, dass ein Fisch anbiss. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer. Über dem stillen Wasser schwirrten die Mücken. Er durfte nicht nachgeben, nicht doch noch nach Borgholm fahren und an Asas Zimmertür klopfen. Fische bissen nicht an. Vielleicht gab es in dem Teich gar keine Fische, dachte er. Vielleicht war er deshalb der einzige Angler dort.
Warring schreckt hoch, als irgendwo laut scheppernd ein Teller zerbricht. Für einen Moment verstummt das Stimmengewirr der Frühstücksgäste. Dann wird ausgelassen gelacht. Lächelnd fegt die Kellnerin die Scherben zusammen, während Asa Hakansson zum Buffet geht, Joghurt in eine Schüssel löffelt. Der Amerikaner lässt sie nicht aus den Augen. Warring zerteilt eine Kiwi. Saft tropft.
Gegen Mittag packte Warring das Angelzeug in den Wagen, machte noch einen Schlenker nach Färjestaden und kaufte in dem Fischladen ein paar Forellen für den Grill. Dann fuhr er nach Mörbylanga, zu seiner Familie. Da in dem Wagen, auf der Landstraße, freute er sich plötzlich auf sein neues Leben. Ein Leben ohne Lügen. Er kurbelte die Scheibe herunter, legte den Arm raus, hörte Radio.
Als ihm ein Rettungswagen mit Blaulicht und heulender Sirene entgegenkam, und wenig später ein zweiter, fuhr Warring schneller, ohne zu wissen, warum eigentlich. Und an dem strahlend blauen Sommerhimmel über Öland sah Warring dann die schwarzgraue Wolke.
An der Einfahrt zum Ferienhaus stoppte ihn ein Polizist. Neben der Kinderschaukel ein Feuerwehrwagen. Aus dicken Schläuchen schoss Wasser in die Flammen. Das Haus war hinter einer Feuerwand verschwunden. Hitze, Rauch, fliegende Funken. Auch die Bäume brannten lichterloh.
Kind 1 und Kind 2, deren tatsächliche Namen Warring seit jenem Tag nie wieder aussprach, verbrannten in ihren Betten bis zur Unkenntlichkeit. Ruth wurde mit lebensgefährlichen Brandverletzungen zur Unfallklinik nach Karlskrona geflogen. Warrings Mutter erlitt Brandverletzungen an Armen und Beinen und einen schweren Schock.
Vierzehn Monate später sprang Ruth von der Dachterrasse der Universitätsklinik Bonn, wo sie eine Hauttransplantation bekommen sollte. Seine Mutter wurde in einem Pflegeheim in Fulda untergebracht. Nie wieder sprach sie ein Wort mit ihm. Als sie vier Jahre später starb, hatte sie in ihrem Testament verfügt, ihrem Sohn für die Dauer ihrer Beerdigung das Betreten des Friedhofs zu verwehren.
Warring zog in die USA, fand Anstellungen an Krankenhäusern in Maine, Arkansas und Vermont. Dort heiratete er Brenda McCormick, eine Assistenzärztin. Seitdem lebt er in Burlington. Robby ist acht, Kim sechs Jahre alt.
»Noch einen Kaffee, der Herr?«
»Ja, bitte.«
»Aber gerne.«
Der Amerikaner und Asa Hakansson haben ihre Zeitungen aufgeblättert. Sie hat den Stuhl zurückgeschoben und die Beine übereinandergeschlagen. Sie trägt matt schimmernde Seidenstrümpfe und hochhackige, lackglänzende Schuhe. Den rechten Schuh lässt sie an den Zehen baumeln.
Längst hat ihr Gift seine Wirkung entfaltet. Nur zu gerne würde Warring sie gleichgültig betrachten, ohne die Lust, ohne den Drang, sie zu berühren. Vielleicht müsste er sich dann auch nicht vor sich selber ekeln.
Er hatte der Polizei ihren Namen gesagt. Am Tag nach dem Brand wurde sie im Karolinska Universitätskrankenhaus in Stockholm verhaftet, wo sie gerade von einer Herz-OP kam. Asa Hakansson sagte, nicht sie, sondern Warring habe das Feuer gelegt. Um frei zu sein. Für sie. Das habe er ihr versprochen.
Ein Friseur sagte aus, Asa Hakansson wenige Stunden nach dem Brand die Haare geschnitten zu haben. Sie seien auf der linken Seite versengt gewesen. Hakansson habe behauptet, das sei mit einem Lockenstab passiert. In ihrer Waschmaschine fand die Polizei einen Pullover mit winzigen Brandlöchern. In Tatortnähe waren Reifenspuren ihres Wagens. Ein Tankwart aus Borgholm gab an, die Hakansson habe wenige Tage vor dem Brand zwei Benzinkanister gefüllt.
Der Fischhändler in Färjestaden sagte, Christoph Warring sei in seinem Fischladen gewesen, als in dem Ferienhaus in Mörbylanga der Brand ausbrach.
Ruth konnte erst zwei Monate nach dem Feuer vernommen werden. Sie sagte aus, es habe geklopft, als sie gerade die Kinder zum Mittagsschlaf gelegt habe. Eine Frau habe um ein Glas Wasser gebeten. In der Küche seien sie kurz ins Plaudern gekommen, über die Hitze, die Mücken, Belanglosigkeiten. Die Unbekannte habe sich dann verabschiedet. Von dem Augenblick an habe sie keine weiteren Erinnerungen. Bei der Gegenüberstellung erkannte Ruth in der unbekannten Frau Asa Hakansson.
Erst da gab Asa Hakansson zu, am Ferienhaus gewesen zu sein. Sie habe Ruth die Wahrheit sagen wollen. Plötzlich habe es einen Knall gegeben. Innerhalb weniger Sekunden sei ein Feuer ausgebrochen, sogar die Sträucher und Bäume hätten gebrannt. Sie habe befürchtet, dass man sie als Warrings Geliebte verdächtigen würde, das Feuer gelegt zu haben. Sie sei in Panik geraten und geflüchtet.
In Ruth Warrings Blut war nach dem Brand Fentanyl gefunden worden, so hoch dosiert, dass sie daran hätte sterben können. Warrings Mutter sagte, sie habe sich im Schlafzimmer im Obergeschoss ausgeruht, sei dann von den Schreien der Kinder aufgewacht. Die Tür zum Kinderzimmer sei verschlossen gewesen. Durch das Haus sei dichter Qualm gezogen. Sie habe ihre Schwiegertochter bewusstlos in der Küche gefunden und in den Garten gezogen. Dann habe sie versucht, die Kinder zu retten. Aber das Feuer sei schon aus den Fenstern und Türen geschlagen.
Ein Gericht in Stockholm verurteilte Asa Hakansson wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu zwanzig Jahren Haft. Wochenlang berichteten die schwedischen Zeitungen über den Fall. Der Expressen druckte Dutzende Leserbriefe.
»Und was ist mit dem Deutschen? Gehört der nicht auch ins Gefängnis?«, hieß es in einem der Briefe.
Warring fährt mit dem Zeigefinger über die Klinge des Obstmessers. Sie ist nicht sonderlich scharf und vielleicht auch nicht lang genug. Er muss nur das Herz an der richtigen Stelle treffen, dann wird es reichen. Warring weiß, wie er ein Herz zum Stillstand bringt.
Eine Operation, denkt er, es ist eine Operation am Herzen. Es vergehen noch einmal zehn Minuten, in denen Warring beseelt ist von dem Gedanken an diese OP, es wäre seine letzte.
Endlich erheben sich die beiden. Warring folgt ihnen. Der Amerikaner legt einen Arm um ihre Hüfte. Sie küsst ihn auf die Wange. So schlendert das Paar zu den Aufzügen. Warring riecht ihr Parfum. Ihr Nacken ist jetzt ganz nah. Vielleicht ist die Klinge doch nicht lang genug, denkt er, als er sie wieder mit den Fingern abmisst.
Die Türen des Aufzugs öffnen nach einem hellen Glockenton mit einem sanften Sirren. Der Amerikaner und die Frau steigen ein. Mit ihnen zwei Männer und eine ältere Frau. Dann Warring. Der Amerikaner drückt die Zehn. Einer der Männer die Fünf, die alte Dame die Sieben.
Jetzt, in diesem Augenblick, sieht Asa Hakansson zu ihm hin. Seine Zeit bleibt stehen. Die Türen des Aufzugs gleiten zusammen. Sachte fährt der Lift an. Gedämpfte Geigenmusik. Die alte Frau hustet.
Asa Hakansson lässt den Blick bei ihm. Als sähe sie durch ihn hindurch in eine unendliche Landschaft.
Ja, denkt Warring, er wird sie operieren, jetzt gleich. Das Messer liegt in seiner Hand. Es wird schnell gehen. Und in diesem Moment denkt er an Kind 1 und Kind 2. Dass er es für sie tun wird. Simon und Rafael, flüstert er.
Der Amerikaner sieht jetzt zu ihm hin. Nickt, lächelt, warum auch immer. Mit dem Schlagen des Gongs hält der Aufzug im fünften Stock. Die beiden Männer steigen aus. Der Amerikaner lächelt Asa Hakansson an. Er scheint sie wirklich zu mögen. Sie sieht nicht hin zu ihm, hält Warring im Blick.
In der siebten Etage steigt die alte Frau aus. Der Amerikaner betrachtet nun den Teppichboden des Aufzugs. Warring schließt die Faust um den Griff des Obstmessers.
Der Aufzug hält in der zehnten Etage. Der Amerikaner steigt aus.
»Kommst du?«, fragt er aus dem Flur.
Asa Hakansson hat dem Amerikaner den Rücken zugewandt. Noch immer hält sie Warrings Blick stand. Macht dann einen Schritt nach hinten. Vor der offenen Tür des Aufzugs bleibt sie stehen.
»Murderer«, sagt sie.
»Yes«, sagt Warring.
Dann schließen sich die Türen, der Aufzug lässt sich in die Tiefe fallen. Warring wünscht sich für einen lächerlichen Augenblick, der Aufzug käme nie wieder zum Stehen.
***
Asa Hakansson wurde wegen guter Führung und einer gelungenen Resozialisierung nach Verbüßung von fünfzehn Jahren vorzeitig unter Auflagen aus der Haft entlassen. Durch diskrete Intervention ihres Vaters bei der zuständigen Behörde wurde Asa Hakansson die Approbation als Ärztin auf Probe erteilt. Seitdem praktiziert sie unter dem Namen Maud Hägglund als Kardiologin an einer privaten Klinik in Uppsala.