Das Buch
»Betriebsfeier? Keine Lust!« – das war’s dann mit der sicher geglaubten Beförderung zum Abteilungsleiter. Auch wer am Casual Friday in alten Jeans oder bauchnabelfreiem Top ins Büro kommt, tut seinen Karriereplänen keinen Gefallen. Benehmen bei Tische will gelernt sein, denn es gibt mehr oder weniger stilvolle Wege, eine Fischgräte aus dem Mund zu entfernen – manche Liebe ist daran schon erloschen. Und wer auf einer Abendveranstaltung in braunen Nadelstreifen auftaucht und glaubt, damit der Bitte nach »Dunklem Anzug« Genüge zu leisten, wird sicher einen Eindruck hinterlassen – wenn auch keinen guten. Viele von uns treten regelmäßig ins Fettnäpfchen, und zwar ohne es zu merken. Denn wir gehen grundsätzlich davon aus, uns korrekt zu verhalten, sei es im Job, im Privatleben, in gehobener Gesellschaft oder bei klassischen Feierlichkeiten. Dies ist ein Irrtum. Nur weil niemand naserümpfend den Finger hebt, heißt das noch lange nicht, dass ein Fauxpas nicht bemerkt und missbilligt wird. Das kann gerade in beruflicher und geschäftlicher Hinsicht, aber auch im Privatleben fatale Folgen haben. In unterhaltsamer, leicht verständlicher Manier klärt Etikette- Trainerin Nandine Meyden den Leser auf über die peinlichsten Verstöße gegen die Benimmregeln und zeigt, wie man sie vermeidet.
Die Autorin
Nandine Meyden arbeitet seit mehreren Jahren als Etikette-Trainerin. Zu den Kunden ihrer Seminare gehören Mitarbeiter und Führungskräfte namhafter Unternehmen und Verbände sowie Politiker und Prominente. Seit 2005 tritt sie zudem im Fernsehen als Benimm-Expertin in der MDR-Sendung »hier ab vier« auf. Sie wohnt in Berlin.
LEXIKON DER
BENIMMIRRTÜMER
Populäre Fettnäpfchen
und wie man sie umgeht
Ullstein
Inhalt
Vorwort der Redaktion »hier ab vier«
Einleitung: Der größte aller Benimmirrtümer
I. Alltag
»Gesundheit!«
Taschentuch gleich Taschentuch?
Wie sage ich es meinem Opfer?
»Guten Morgen, Herr Baron!«
Esel zuerst?
»Meine Gattin«
»Gestatten – darf ich vorstellen?«
»Herr Professor Dr. Dr. Müller«
»c/o« und »z.Hd.«
»Hallo!«
Hinein und heraus
Ein schöner Rücken
Vorne ist immer gut: Ehrenplatz im Auto
Ohne Schuhe darf man das
Rechts wie links
O wie peinlich!
Kondolenzbriefe mit Trauerrand?
»Kein Problem!«
To go
Bis die Ohren glühen
»Ich bin der Herr Meier!«
E-Mails
Handschlag
Aschenbecher
E-Mail versus Brief
Bloß nicht streiten!
Kuli = Füller?
Wie du mir, so ich dir
Die nette Geste
Lässig, lässig
»Grüß Gott, Frau Doktor!«
Wohin mit der Hand?
»Angenehm!«
Körperkontakt
Selber Doktor
Hut ab!
»Werter Herr!«
II. Äußeres: Vom Scheitel bis zur Sohle
Casual Friday – der Freizeit-Freitag?
Das »kleine Schwarze«
Der »dunkle Anzug«
Black tie = schwarze Krawatte?
Ich lass mir doch nix vorschreiben!
Jeans
Alles dabei
Der ist ja schlampig angezogen!
Forever Button-down
Der Gürtel
Mach doch mal die Jacke richtig zu!
Kurzärmeliges Hemd
Krawattenklammer und -nadel
Passt prima!
Einfach cool
Bei Hitze unten ohne
Schwarz ist am edelsten
Fliege = Schleife?
Slipper und Schnürer
Einer für alle
Come as you are
Feinstrümpfe
Rock wie Hose
No brown after six
Ich bin doch eine Frau!
No brown in town
III. Arbeit und Beruf
Klopf, klopf
Ladies first!
Die Visitenkarte
Das steht dem Älteren zu!
So viel Respekt muss sein
Arm dran
Ist doch normal!
Die lieben Kollegen
Einladung zur Betriebsfeier
Das Leben nach der Weihnachtsfeier
»Du«
Effektivität zählt: »MfG«
»Um Rückantwort wird gebeten«
Treppauf, treppab
Betrifft: Betreff
Der frühe Gast
Mal so ganz privat
»Sie sprechen mit Frau Meier«
»Nein, danke!«
Der Kunde kommt immer zuerst
Wer ist hier der König?
Damen dürfen sitzen bleiben
IV. Tatort Restaurant
Des Deutschen Leibspeise: die Kartoffel
Grausige Gräten
Der Himbeertraum – ein Alptraum?
Meine Suppe trink ich nicht
So eine Hitze!
Bis zum letzten Tropfen
Schaumschläger
Rebensaft und Gänsewein
Mythos Bestecksprache
Sind wir Kannibalen?
Ein Prosit der Gemütlichkeit
Zahnstocher
Rote Lippen soll man
Ist doch nur Papier!
Anstandsrest
Nur nichts übrig lassen!
Das Krümelmonster
Dekantieren
Kaffee gefällig?
Alles, was fliegt
Die Farbe muss stimmen
»Guten Appetit!«
»Mahlzeit!«
Wieder aufheben
Wer betritt das Restaurant zuerst?
Anderen zu helfen ist immer eine Tugend
Eier darf man nicht köpfen
Links wie rechts?
Fisch und Fischbesteck
Immer schön ordentlich!
Nieder mit den Zinken!
Hoch mit den Zinken!
Käse schließt den Magen
Jeder nach seiner Façon?
Schmackhafte Dekoration
Fingerfood = Fingergericht?
Bröckchen und Flöckchen
Wein testen
Der erste Schluck
»Machen Sie glatt Hundert!«
V. Feiern, Feste, Gastlichkeit
Das wird aber teuer!
Bitte dieses Mal ohne
Gerühmte deutsche Tugend: Wie pünktlich ist pünktlich?
Akademisches Viertel und andere Rätsel der Zeitrechnung
So vornehm sind wir heute: »r.s.v.p.«
Flying Buffet und Running Dinner
Mit leeren Händen kommt man nicht!
Aber doch nicht für Männer!
Wir sitzen natürlich nebeneinander
Gefragt wird nicht!
Das ist doch so praktisch
Frauen zahlen in Herrenbegleitung nicht
Tischkarten: Titel oder nicht Titel, das ist hier die Frage
Ist doch schade darum: der Aperitif
Herren dürfen nicht sitzen bleiben?
Einmal danken reicht schon – oder?
Widmung
Persönliches Geschenk ohne Karte
Geschenke auspacken
Time to say goodbye
Zu Tisch bitte!
Ein Witz lockert so schön auf
Blumen immer nur in ungerader Zahl?
Kling, kling
»Sie gestatten?«
Buch in der Folie
Wein als Mitbringsel
Links von der Gastgeberin – rechts von der Gastgeberin
Bloß keinen Zwang antun!
Quittung bei Spende statt Geschenk
Von eins bis hundert
»Ich freue mich über Ihr zahlreiches und vollständiges Erscheinen.«
Zum Schluss: Der echte Knigge
Richtig oder falsch? Die Lösungen
Danke schön!
Literatur
Register
Vorwort der Redaktion »hier ab vier«
Das erste Mal, als ich auf Nandine Meyden traf, brachte ich unsere Benimm-Expertin an den Rand der Verzweiflung. Das war bei meiner »hier ab vier«-Premiere mit Katrin Huß, und es ging um Wein, Sekt, Gläser und Tischmanieren. Zunächst sorgte Katrin für Erheiterung, als sie fröhlich erzählte, dass Weingläser beim Anstoßen viel besser klängen als Sektgläser. Natürlich wollte sie ihre Theorie beweisen – und so stießen wir mit Weingläsern an. Wir hörten ein wohliges »Klong«. Dann griff Katrin zu den Sektgläsern. Wir stießen erneut an, und es ertönte ein herrlich nachhallendes »Kling«, welches sich viel besser anhörte. Die Enttäuschung stand Katrin ins Gesicht geschrieben. Frau Meyden lächelte, und ich hatte ein breites Grinsen im Gesicht. Daraufhin klärte sie uns auf, dass der Klang beim Anstoßen einzig und allein an der Materialbeschaffenheit der Gläser läge. Ihr Lächeln schwand, als ich erzählte, dass ich gerne schon mal dasselbe Glas für Rot- und Weißwein nutze. Jetzt erwähnte sie zum ersten Mal, dass sie sich über unsere Zusammenarbeit freue – damit ich noch etwas lernen könne. Das dachte sie wohl auch, als ich ein Cocktailglas für einen Kir Royal verwenden wollte, denn dieses Getränk gehört natürlich in ein Champagner-Glas … Den Fauxpas wollte ich wettmachen und beim nächsten Thema punkten: Wohin gehört die Serviette nach dem Essen? Siegessicher holte ich aus – und trat ins nächste Fettnäpfchen! Ich dachte nämlich, dass man die Servietten auf den Teller lege. Falsch gedacht! Benutzte Servietten gehören lose gefaltet auf die linke Seite. »Wir üben das alles mal!«, war Nandine Meydens Kommentar. Das dürfte als Motto auch gut zu diesem Buch passen.
Mario D. Richardt
Dann mach Dich mal ran! Ich werde ein Auge auf Dich haben. Schließlich bin auch ich für gute Manieren bei »hier ab vier«.
Und allen andern: Viel Vergnügen beim Lesen!
Katrin Huß
Man kann nur ein so guter Gentleman sein, wie es die Frau zulässt. Das hat uns Nandine Meyden neulich wieder bei »hier ab vier« bestätigt. Jedes männliche Bemühen um die Frau ist umsonst, wenn diese eben doch lieber, ganz emanzipiert, den Mantel selbst anzieht oder durch die Tür schreitet, bevor der galante Mann ihr dieselbige aufhalten kann.
Gentleman und Selbst-ist-die-Frau-Frau sollten sich also irgendwo kompromissbereit treffen, am besten in der Mitte. Bei uns läuft das so:
Peter ist gern und im Prinzip auch ständig ein Gentleman. Es gibt kaum eine Klinke, die er nicht zuerst nach unten drückt, um dann mir als Dame den Vortritt zu lassen. Auch schwere Taschen muss ich nicht mehr lange selbst tragen, wenn Peter mich erst mal erspäht hat. An diese Art von zuvorkommender Freundlichkeit kann ich mich ganz gut gewöhnen und sie ab und an sogar auch genießen.
Wobei ich sagen muss, dass Stephanie anfangs schon etwas merkwürdig geguckt hat und sich erst an mein Gehabe gewöhnen musste. Und wenn wir so durch den Sender gehen und zu einer Tür kommen, macht sie auch gerne mal aus Spaß einen Sprung zur Klinke und hält mir die Tür auf. So will sie mir zeigen, dass sie ein großes Mädchen ist, das Türen gut alleine aufmachen kann. In solchen Momenten fühle ich mich immer ein bisschen spießig.
Wahrscheinlich ist es so, dass sich Menschen, denen gutes Benehmen wichtig ist, auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen können – und natürlich auf Nandine Meyden.
Ein Beispiel: Wir gehen zu zweit in ein Restaurant. Klar, der Mann hilft der Frau aus der Jacke. Aber wann? Wenn man ein bisschen darüber nachdenkt, ist es eigentlich ganz einfach. Der Frau sollte es auf keinen Fall länger als nötig zugemutet werden, mit ihrer dicken Jacke im warmen Restaurant zu stehen. Der Rest ist dann ja klar. Und wenn nicht, ist er bestimmt in diesem Buch zu finden. Viel Spaß beim Lesen.
Stephanie Müller-Spirra
und Peter Imhof
Einleitung:
Der größte aller Benimmirrtümer
»Der hat wohl seinen Knigge nicht gelesen« – das hört man oft, wenn sich vermeintlich korrekt benehmende Zeitgenossen mit erhobenen Augenbrauen über Mitmenschen reden, die sich ihrer Ansicht nach nicht an bestimmte Regeln halten. Fraglich ist hierbei oft, ob denn der Sprecher selbst »seinen Knigge« gelesen und ob sich Freiherr von Knigge tatsächlich jemals irgendetwas zu einer so oder ähnlich gearteten Situation geäußert hat. Abgesehen davon zeugt es nicht von gutem Stil, sich über mangelnde Umgangsformen Dritter zu unterhalten. Ein jeder kehre vor seiner eigenen Türe, könnte man sagen. Zudem tritt dabei der meiner Ansicht nach am weitesten verbreitete Irrtum in Deutschland zum Thema Umgangsformen zutage: nämlich der, dass Freiherr von Knigge konkrete Verhaltensregeln zu Tisch und Kleidung aufgestellt habe. »Knigge« ist heute in Deutschland fast ein Synonym für Umgangsformen, Benehmen oder Etikette. Richtig ist jedoch, dass er kaum etwas zu den Situationen gesagt hat, in denen sein Name heute gerne bemüht wird.
In Knigges berühmtestem Werk Über den Umgang mit Menschen findet sich weder die Regel, wie ein Tisch gedeckt werden soll oder wie das Messer zu halten ist, noch, welche Kleidungsregeln in welchen Situationen gelten. Es ist vielmehr ein Buch, das zu mehr Takt, Einfühlungsvermögen und Höflichkeit gegenüber anderen Menschen anregt. So gibt es Hinweise, wie mit jähzornigen, kranken oder neidischen Leuten umzugehen sei und wie man sich gegenüber Schuldnern, Nachbarn und Gästen zu verhalten habe.
Gleichwohl: Nicht nur die Bemerkung »Er hat seinen Knigge nicht gelesen«, sondern auch die oft laut geäußerte Frage, wie wohl eine Situation »nach Knigge« zu lösen sei, die vielen »Knigge«-Seminare sowie die unzähligen Bücher, die mit dem Begriff »Knigge« im Titel um Aufmerksamkeit buhlen, zeigen, dass das Thema »Gutes Benehmen« hochaktuell ist.
So zeigt eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts emnid, dass rund 95 Prozent aller Deutschen gute Umgangsformen für wichtig bzw. sehr wichtig halten. 77,3 Prozent aller Befragten stuften in einer Studie von monster.de im Jahr 2006 gute Manieren als sehr wichtig für den Karriereerfolg ein. Doch nicht nur Erwachsene oder gar nur die ältere Generation glauben an die Bedeutung von Höflichkeit und Manieren.
»Danke«, »Bitte« und »Entschuldigung« zu sagen finden laut einer Untersuchung des Sailer-Verlages aus dem Jahr 2004 sogar 95 Prozent der Schüler zwischen sechs und dreizehn Jahren wichtig.
Auch im 21. Jahrhundert also sind schlechte Manieren für Menschen jeglichen Alters störend; kaum jemand bezweifelt, wie wichtig gute Umgangsformen sind. Und dennoch – betrachtet man, wie die Menschen miteinander umgehen, ob nun am Arbeitsplatz, privat, unterwegs auf der Straße oder beim Einkaufen, sieht man rasch: So viele Menschen mit guten Manieren, wie man aufgrund der Umfrageergebnisse eigentlich erwarten könnte, trifft man gar nicht. Die meisten meinen es allerdings vielleicht sogar gut und glauben, sie täten das Richtige. Es ist für mich bei Vorträgen und in Seminaren immer wieder interessant festzustellen, welche Mythen und Missverständnisse es bezüglich der Umgangsformen gibt. Um all denen ein Stück weiterzuhelfen, die es richtig machen wollen, sich aber nicht immer hundertprozentig sicher sind, ist dieses Buch entstanden. Es möchte aufräumen mit Irrtümern, Unsicherheiten und falschen Regelauslegungen.
Denn Tatsache ist: Menschen mit schlechtem Benehmen werden ausgegrenzt, da sie selbst auch andere ausgrenzen. Niemand, der sich wirklich bemüht, aber irrtümlich die Regeln verletzt, hat dies verdient. Gutes und richtiges Benehmen zeigt den Kunden, Kollegen, Vorgesetzten, Freunden, Nachbarn, Verkäufern, Bekannten, der Familie und dem Partner: Du bist mir wichtig, ich respektiere dich als Mitmenschen, und ich will, dass wir uns zusammen wohlfühlen. Manieren sind also nichts Altmodisches oder gar Steifes und Unnatürliches; Manieren dienen dazu, menschliches Miteinander zu regeln – in der Arbeit, im Privatleben, hier und überall auf der Welt.
Insofern ist es auch ein – leider weitverbreiteter – Irrtum, zu glauben, gutes Benehmen sei der eigenen Authentizität abträglich. Schließlich rasen wir auch nicht mit dem Auto über rote Ampeln, nur weil uns gerade danach ist. Ebenso wenig wünschen wir uns eine patzige Antwort oder von einer Verkäuferin ignoriert zu werden, nur weil sie gerade Liebeskummer hat.
Regeln sind wichtig, sie zu kennen und zu achten trägt entscheidend zu beruflichem und privatem Erfolg bei. Und nur wer Regeln kennt und in ihrer Anwendung sicher ist, kann sie auch gekonnt brechen – wenn es denn notwendig und für alle Beteiligten besser erscheint. Das ist dann kein Irrtum, sondern eine bewusste Entscheidung. Genau das zeichnet Menschen mit guten Umgangsformen aus: Sie wissen um die Regeln, befolgen sie aber nicht blind, nur weil es sie gibt, sondern spüren genau, wann es erforderlich ist, sie präzise einzuhalten, und wann sie freier ausgelegt oder sogar gebrochen werden müssen. Nur die Kenntnis der Regeln, ihrer Hintergründe und ihres Sinns geben ein umfassendes Verständnis dafür, welche Konsequenzen ein Bruch mit ihnen haben kann, und nur dann ist es möglich, zu verstehen, was andere Menschen als unhöflich, respektlos oder unpassend empfinden können.
Gutes Benehmen hat also auch nichts mit »konservativ« zu tun, »lockere Sitten« nichts mit »modern«. In allen Gesellschaften gab und gibt es Ordnungssysteme, die Orientierung für das Verhalten bieten. Auch eine Firma oder eine Familie ist immer eine kleine Welt für sich, mit eigenen Spielregeln und eigener Philosophie, die – wenn auch verdeckt – das geltende Ordnungssystem bestimmen.
Die Beherrschung der gültigen Umgangsformen machte und macht die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht erkennbar. Wie sehr gute Manieren mit Erfolg zusammenhängen, haben nicht nur Eliteforscher wie Michael Hartmann untersucht. Der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth antwortet auf die Frage, »Was entscheidet, wer oben ist und wer unten?«, die ihm von Spiegel-Redakteuren im Januar 2009 gestellt wurde, Folgendes: »Besitz und Macht, dann vielleicht Bildung, mehr noch Herkunft. Das hat etwas mit gelerntem Verhalten zu tun, das durch das Elternhaus vermittelt wird. Warum sind denn so viele Vorstände von Dax-Unternehmen ihrerseits Kinder aus der Oberschicht? Es ist die Fähigkeit, sich so zu bewegen, dass man in einem gehobenen Milieu nicht auffällt.«
Heutzutage sind die gesellschaftlichen Erkennungsmerkmale meist subtiler als in den vergangenen Jahrhunderten, was dazu führt, dass ihre Existenz und Bedeutung fälschlicherweise negiert wird. Die Regeln der Umgangsformen wurden immer differenzierter, um einerseits in der enger zusammenwachsenden Gesellschaft der letzten Jahrhunderte dafür zu sorgen, dass Mitmenschen nicht belästigt wurden, andererseits aber auch, um wie eine Art Geheimcode die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten kenntlich zu machen.
Gute Umgangsformen erleichtern also den Erfolg, egal, ob man darunter eine klassische Karriere und den Aufstieg ins Management versteht oder ob man Menschen beraten und überzeugen möchte, etwas verkaufen oder Mitarbeiter motivieren will, in einer sozialen Organisation arbeitet, Fundraising für eine Umweltschutzorganisation betreibt oder mit seinem Vorbild für eine gute Atmosphäre in Familie und Freundeskreis sorgen möchte. Wichtig ist dabei, dass einem die Regeln in Fleisch und Blut übergehen und man nicht ständig überlegen muss, was denn nun richtig und was falsch ist. Nur dann ist es möglich, ein souveränes Auftreten zu haben und die Konzentration auf andere Dinge zu lenken. Professor Jens Förster beschreibt dies in seiner Kleinen Einführung in das Schubladen-Denken an einem anschaulichen Beispiel: »Ich selbst denke nicht bewusst darüber nach, leise zu sein, wenn ich in eine Bücherei gehe – ich bin es einfach. (…) Dem Kind, das nicht lernt, andere nicht zu stören, fehlt die Assoziation ›Bücherei = leise‹, und es wird sich anstrengen müssen, sich sozial zu verhalten, wenn man es irgendwann einmal darauf hinweist. Kurz gesagt, es hat viele Vorteile, sich automatisch zu verhalten, wie es die Situation vorschreibt, denn man erspart sich das Nachdenken über das richtige Verhalten.«
Umgangsformen passen sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen und den Veränderungen an. Zum Beispiel haben sich, was die Stellung der berufstätigen Frauen angeht, viele Umgangsformen verändert, vor allem in den letzten dreißig Jahren. Manche andere früher gültige Regel hat heute keinen Sinn mehr. Zum Beispiel das Schneiden von Kartoffeln: Früher liefen Messer beim Kontakt mit der stärkehaltigen Kartoffel an, heute haben wir längst pflegeleichteres Besteck, und das Tabu, Kartoffeln zu schneiden, gilt nicht mehr. Es ist dennoch ein weitverbreiteter Irrtum, zu glauben, »es ändert sich ja dauernd etwas«. Das ist nicht der Fall. Die meisten Regeln sind nicht nur historisch zu belegen, sondern haben auch im 21. Jahrhundert einen handfesten und pragmatischen Grund. Insofern ist es nicht nur peinlich, sondern auch anmaßend, wenn von sogenannten Experten behauptet wird, sie hätten einige Etikette-Regeln geändert. Kennt man die Gründe für die wichtigsten Regeln der Umgangsformen, so ist es auch ein Leichtes, bei gesellschaftlichen Veränderungen selbst darüber zu entscheiden, wie man sich am besten verhält.
Lange Zeit war es in Deutschland unüblich, sich über Etikette-Regeln oder über das Thema »Gute Manieren« zu unterhalten. Es galt als altmodisch, geradezu spießig und irgendwie verdächtig reaktionär, sich darüber Gedanken zu machen. In den letzten Jahren hat sich die Einstellung jedoch geändert. Viele Menschen haben erkannt, dass es ganz ohne Regeln nicht geht, und versuchen nun wieder, ein wenig Struktur in ihre Kenntnisse der Umgangsformen zu bringen – sie lesen entsprechende Ratgeber, besuchen ein Seminar und tauschen sich aus.
Das Lexikon der Benimmirrtümer ist eine Sammlung von Fehlinterpretationen der Umgangsformen, die ich im Laufe der letzten Jahre gesammelt habe. Sie werden hier nur Hinweise zu Umgangsformen in Deutschland finden. Viele davon gelten freilich für den gesamten deutschsprachigen Raum. Dennoch gibt es in Österreich und der Schweiz Unterschiede in manchen Details. Nur in einigen Fällen streife ich Regeln im Ausland. Für einen umfassenden Überblick über Benimmirrtümer im Ausland bräuchte man eine ganze Enzyklopädie …
Sie können das Buch von vorne bis hinten lesen oder sich einen einzelnen Irrtum heraussuchen. Ich habe das Buch so aufgebaut, dass jeder Fall für sich erklärt wird und es nicht nötig ist, zu seinem Verständnis die vorherigen Abschnitte gelesen zu haben. Jedem Kapitel vorangestellt ist ein kleiner Test. So können Sie selbst prüfen, wie gut Ihr Wissen ist. Die Auflösung finden Sie am Ende des Buches.
I
Alltag
Testen Sie Ihr Wissen: Richtig oder falsch?
»Wenn jemanden etwas an mir stört, dann wird er es mir schon sagen« – so könnte man den wohl entscheidendsten Irrtum in den alltäglichen Umgangsformen beschreiben. Viele Menschen gehen fälschlicherweise davon aus, sie verhielten sich stets korrekt, denn sonst würden sie ja auf ihr schlechtes Benehmen hingewiesen. Natürlich, enge Freunde und Partner teilen einander mit, was sie am anderen stört. Selten betrifft das jedoch die Umgangsformen. Zu sehr haben wir das Gefühl, dieses Thema gehe nun doch zu weit, sei zu intim – fast so, als müsste man jemandem sagen, er rieche nicht gut. In engen persönlichen Kontakten schlucken zudem viele Menschen ihren Ärger über schlechte Manieren der Freunde herunter, weil sie finden, dies dürfe einfach keine so große Rolle spielen, da man ja schließlich befreundet sei.
Was oft ebenfalls nicht klar ist: Außerhalb des engsten Kreises ist es tatsächlich tabu, eine andere Person auf Etikette-Fehler hinzuweisen. Und so werden in vielen Fällen schlechte Manieren notgedrungen geduldet, ohne dass der Verursacher erkennt, dass er sich mit seinem Verhalten unbeliebt macht.
»Gesundheit!«
Irrtum:
»Gesundheit« sagt man neuerdings nicht mehr, wenn jemand niesen muss.
Richtig ist:
»Gesundheit« zu wünschen gilt schon seit Jahrhunderten nicht als kultiviert.
Seit einiger Zeit kursiert in Deutschland eine eigenartige neue Erkenntnis, was gutes Benehmen angeht: »Gesundheit sagt man ja heute nicht mehr.« Und in der Tat, es ist richtig, dass man nicht »Gesundheit« sagt, wenn eine andere Person niest. Aber es ist ein Irrtum, dass dies zu den Neuerungen der Etikette-Regeln gehöre. Generell ändern sich Regeln dieser Art nicht alle paar Jahre, sondern nur, wenn es einen triftigen Grund gibt, wie gravierende gesellschaftliche oder technische Veränderungen, aufgrund derer eine Regel nicht mehr sinnvoll oder sogar hinderlich ist. Erst dann ändert sich etwas.
Die Formel »Gesundheit« als Reaktion auf das Niesen eines anderen hat eine lange Geschichte. Soweit man weiß, lautete die Formel im 17. Jahrhundert »Gott schenke mir Gesundheit« und war mit dem Schlagen des Kreuzes vor dem Körper verbunden. Die Lungenpest war eine der vielen Katastrophen dieser Zeit, und schon damals erkannten die Leute wohl, dass sich die Krankheitserreger durch das Einatmen übertrugen. Es ist daher verständlich, dass sie vor dem Niesen anderer Menschen Angst hatten und Gott um Gesundheit anflehten – wohlgemerkt: um die eigene Gesundheit.
In den Etikette-Büchern des 19. Jahrhunderts, die sich an das aufstiegsorientierte Bürgertum wandten, finden wir jedoch bereits genügend Hinweise, dass der laute Wunsch nach Gesundheit in Gesellschaft nicht erwünscht sei. Niesen war und ist ein unkontrolliertes und meist unkontrollierbares Körpergeräusch, das in Anwesenheit anderer als ein Fauxpas gilt. Er wird daher höflich und schweigend übergangen. Schließlich will man den »Nieser« nicht noch mehr in Verlegenheit bringen.
Auch wenn wir Niesen heute nicht mehr als Verfehlung betrachten – angenehm ist es nicht, vor allem nicht für einen unter einer Erkältung oder Allergie leidenden Mitmenschen, der mehrfach täglich niesen muss. Ruft dann die gesamte Runde im Chor »Gesundheit!«, so nervt das den Betroffenen eher, als ihn zu trösten – auch wenn vielen gar nicht bewusst ist, dass der Wunsch ursprünglich sowieso nicht dem Nieser, sondern den Angeniesten galt.
Deutlich wird dies vor allem in einer Gesprächsrunde, während einer Präsentation oder einem Vortrag. Niest der Sprecher und die Zuhörer wünschen ihm Gesundheit, wird sein Redefluss noch länger unterbrochen und das Niesen erhält noch mehr Aufmerksamkeit, als allen lieb ist.
Kontrovers sind die Meinungen darüber, ob man sich (heute) für sein Niesen entschuldigen müsse. Ganz klar: Ist das Niesen ein leises »Hatschi«, so lenkt eine Entschuldigung noch mehr Aufmerksamkeit darauf, was natürlich nicht erwünscht ist. Spricht aber jemand zu anderen Personen und muss seine Ausführungen wegen eines Niesens unterbrechen, so ist es sinnvoll und höflich, dafür – wie für jede andere Störung oder Unterbrechung – um Entschuldigung zu bitten.
Plagt einen gerade eine schwere Erkältung oder eine Allergie und ist der Tag von häufigen Niesattacken begleitet, so sollte man einmal um Verständnis bitten, nicht aber jedes Mal.
Dass man sich beim Niesen abwendet und am besten in ein Taschentuch niest oder, wenn es nicht anders geht, in die linke Hand, ist eine Selbstverständlichkeit.
Taschentuch gleich Taschentuch?
Irrtum:
Heute benutzt man nur noch Papiertaschentücher.
Richtig ist:
Auch heute gehört ein gebügeltes und frisches Stofftaschentuch dazu.
Viele können sich wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten war, als Stofftaschentücher gebräuchlich und Papiertaschentücher unbekannt waren. Die bequeme Handhabung eines Papiertaschentuchs, das man überall kaufen kann und nach Benutzung einfach wegwirft, hat dazu geführt, dass viele gar keine Stofftaschentücher mehr besitzen. Hinzu kommt noch, dass man immer wieder Leute sieht, die ein riesiges kariertes und völlig zerknautschtes Stofftaschentuch aus der Hosentasche ziehen, lautstark hineintrompeten und es anschließend zurück in die Hosentasche befördern. Logischerweise trägt dieser unappetitliche Vorgang nicht zu einem positiven Image des Stofftaschentuches bei.
Es ist jedoch ein Irrtum, zu glauben, ein moderner und kultivierter Mensch sollte deshalb darauf verzichten. Ganz im Gegenteil.
Bei Erkältungen sollte ein Papiertaschentuch die erste Wahl sein, da es hygienischer und appetitlicher ist – allerdings nur, wenn es nur einmal benutzt und danach an einem Ort entsorgt wird, der nicht den Augen der Vorbeikommenden ausgesetzt ist. Benutzte Papiertaschentücher gehören also nicht in den Büro-Papierkorb, sondern in einen großen, verschlossenen Mülleimer oder in die Toilette. Papiertaschentücher können darüber hinaus kleinere Alltagsunfälle wie Schmutzspritzer auf Schuhen, einen Tropfen Kaffee auf dem Terminkalender und Ähnliches wunderbar versorgen.
Ein Stofftaschentuch, am besten in Weiß, frisch gebügelt und ordentlich gefaltet, gehört ungeachtet dessen zusätzlich in jede Handtasche einer Frau und die Jacketttasche eines Mannes, denn es kennzeichnet einen kultivierten Menschen, der sich mit Sorgfalt zurechtmacht, bevor er das Haus verlässt. Wenn jemand sich mit einem gezückten Stofftaschentuch die Stirn tupft oder Tränen trocknet, ist dies in jedem Fall ein stilvollerer Anblick als jemand, der zu diesem Zweck ein Papiertaschentuch aus einer knisternden Plastikhülle zieht.
Wie sage ich es meinem Opfer?
Irrtum:
Ist einem ein Versehen unterlaufen, so sagt man »Ich entschuldige mich«.
Richtig ist:
Man kann sich nicht selbst entschuldigen.
Gut gemeint und trotzdem falsch ist der Satz »Ich entschuldige mich dafür«, wenn man versehentlich etwas getan hat, was einen anderen in Mitleidenschaft gezogen hat. Besonders wohlmeinende Zeitgenossen sagen oftmals sogar »Ich entschuldige mich dafür in aller Form«.
Denkt man jedoch über die Wortbedeutung von »entschuldigen« – also »von einer Schuld befreien« – nach, wird schnell klar, dass man sich nicht selbst von einer Schuld befreien kann. Nur der andere, dem ich etwas angetan habe, kann mir verzeihen, die Schuld also wieder von mir nehmen. Ich als Verursacher kann höchstens darum bitten.
Richtig ist also die Formulierung: »Ich bitte um Entschuldigung« oder »Ich bitte um Verzeihung« sowie »Verzeihen Sie bitte« oder »Entschuldigen Sie bitte«.
Auch für ein kleines Versehen oder Vergessen sollte man um Verzeihung bitten. Ein nebenbei genuscheltes »’tschuldigung« wirkt sicher nicht überzeugend – das kann man auch gleich bleiben lassen. »Verzeihen Sie bitte«, »Entschuldigen Sie bitte« lautet die richtige Wortwahl. Wer die Ernsthaftigkeit seiner Zerknirschung noch betonen möchte, kann anfügen: »Es tut mir wirklich leid« oder »Das wollte ich wirklich nicht«. Denken Sie daran, dass Entschuldigungen nicht nur in der Öffentlichkeit, bei der Arbeit und bei Fremden angebracht sind. Auch in der Familie, gegenüber Partner und Kindern, sollte man um Entschuldigung bitten und sein Bedauern über einen Fehler ausdrücken.
In diesen Situationen ist eine kurze Bitte um Entschuldigung angebracht:
Wichtig ist dabei, dass Sie möglichst immer sofort um Entschuldigung bitten, dabei im direkten Gespräch Blickkontakt halten und gegebenenfalls anbieten, für den entstandenen Schaden aufzukommen. Das können zum Beispiel Kosten für die Reinigung sein oder ein kompletter Ersatz. Wichtig: Eine kurze Bitte um Entschuldigung ist nicht ausreichend, wenn es sich um größere Verfehlungen handelt. Was kleine und was schwerwiegende Fehltritte sind, können nur Sie selbst entscheiden. Dies hängt immer von den Umständen und den Beteiligten ab. Ist mehr als eine Kleinigkeit passiert, können ein paar Zeilen mit der Bitte um Entschuldigung und ein Strauß Blumen bzw. eine andere Aufmerksamkeit nicht nur eine nette Geste sein, sondern auch dafür sorgen, dass die Angelegenheit wirklich erledigt ist. Wenn Sie schriftlich um Verzeihung bitten:
Vermeiden Sie dabei lange und umständliche Erklärungen, warum Sie sich so ungeschickt angestellt haben, sowie alle Arten von Floskeln.
Werden Sie selbst um Verzeihung gebeten, gilt es, die Gratwanderung zu meistern, es dem anderen nicht unnötig schwer zu machen und dennoch den eigenen Ärger nicht herunterzuspielen. Denken Sie daran: Einen Menschen mit Stil erkennt man daran, dass er auch in schwierigen Momenten Haltung bewahrt. Landet also eine Schüssel Spaghetti mit Tomatensauce auf Ihrem Lieblingsoutfit, das nun für alle Zeiten ruiniert ist, dann verschaffen Sie sich Respekt dadurch, dass Sie dies mit Bedauern erwähnen, aber keinen emotionalen Ausbruch bekommen oder gar den Verursacher zusammenstauchen, sondern mit Würde sagen »Es war ja keine Absicht«. Bewundernswert, wer einen Abend nach so einem Desaster trotzdem gutgelaunt genießt und den anderen Gästen oder dem Schuldigen nicht die Stimmung verdirbt.
»Guten Morgen, Herr Baron!«
Irrtum:
Adelige spricht man korrekt an, indem man »Herr« oder »Frau« vor den Titel setzt.
Richtig ist:
Die Kombination der Anrede Herr/Frau mit Adelstiteln ist nicht stilvoll.
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die zur fehlerhaften Anrede »Frau Gräfin« oder »Herr Baron« führen. Zum einen sind dies falsch verstandene historische Vorbilder. In Filmen, die im 19. Jahrhundert spielen, hört man oft Diener, Kindermädchen, Kutscher oder Abhängige »Herr Baron« sagen. Das war die übliche und von der Herrschaft gewünschte Anrede durch Dienstboten, Personal oder Untertanen. Für jene, die den Adeligen auf gleicher Augenhöhe begegneten, war diese Anrede nicht korrekt. Verwendet man heute die Anrede »Herr Graf«, so setzt man eine Gepflogenheit fort, die früher, in anderen gesellschaftlichen Verhältnissen, sicher ihre Berechtigung hatte, heute aber deplatziert ist.
Auf der anderen Seite ist es spannend, dass die Privilegien des Adels, zum Beispiel das Tragen von Titeln, bereits 1919 mit der Weimarer Verfassung abgeschafft wurden. Auch hier irren viele, wenn sie davon sprechen, »der Adel sei abgeschafft worden«. Keineswegs – der Adel existiert nach wie vor, allerdings ist seither das, was wir heute im normalen Sprachgebrauch als »Titel« bezeichnen, kein Titel mehr, sondern nur Bestandteil des Nachnamens. Einen »Sebastian Baron von Brockenstein« anzureden mit »Guten Tag, Herr Baron von Brockenstein« wäre also tatsächlich richtig. Wohlgemerkt: namensrechtlich! Stilvoll und höflich ist es nicht. Der Sprecher zeigt mit diesen Worten, dass er weiß, dass der Angesprochene kein Anrecht mehr auf den Titel hat und dass er ihm diese Anrede ganz bewusst verweigert. Höflich war und ist immer noch: »Guten Morgen, Baron Brockenstein.« Meist nimmt man also einfach den Namensteil, der früher der »echte Titel« war, zum Beispiel »Graf« oder »Baron«, und setzt dahinter den Nachnamen. In der direkten Anrede wird dabei oft auf das »von« vor dem Nachnamen verzichtet.
Ironie der Geschichte ist, dass wir im 21. Jahrhundert in der Bundesrepublik mehr Träger adeliger Namen haben als noch vor 1919. Wenn man überlegt, wie früher das Namensrecht für den Adel geregelt war, ist das auch logisch. Schließlich wurde der Name mit den Titeln nur an männliche Nachkommen aus einer legalen Ehe weitergegeben. Heiratete aber eine weibliche Adelige einen Bürgerlichen, so trug sie, wie auch die gemeinsamen Kinder, den Namen ihres Mannes. Das aber verträgt sich nicht mit unserem modernen Namensrecht. Inzwischen können die adeligen Namen an eheliche, nicht eheliche und adoptierte Kinder beiderlei Geschlechts weitergegeben werden.
Wie wir wissen, bessern auch manche Adelige ihr Einkommen dadurch auf, dass sie pro forma jemanden adoptieren, damit dieser sich mit dem adeligen Namen brüsten kann. Diesen Trägern von adeligen Namen wird jedoch oft die ihnen rechtlich zustehende Anrede verweigert.
Esel zuerst?
Irrtum:
Wenn man zwei Menschen miteinander bekannt machen möchte, so wird der Name der höherstehenden oder wichtigeren Person zuerst genannt.
Richtig ist:
Der hierarchisch Höherstehende hat das Vorrecht, zuerst zu erfahren, wer der andere ist.
Die Annahme, bei einer Vorstellung müsse zuerst der Namen der wichtigeren Person genannt werden, beruht auf einem grundsätzlich richtigen Verhalten: Jemand, der hierarchisch höher steht, sollte bevorzugt behandelt werden und wird auch, zum Beispiel bei der Aufzählung mehrerer Personen, zuerst genannt.
Stellen Sie jedoch zwei Personen einander vor, so wird gerade nicht der Höherstehende zuerst genannt, sondern der andere. Dahinter steckt der Gedanke, dass der jeweils Höherrangige zuerst erfahren solle, wer der andere sei, und so einen Informationsvorsprung gewinnt.
Beispiel aus dem Beruf: Sie möchten, dass sich der neue Praktikant, Martin Meier, und Ihr Vorgesetzter, Hans Huber, kennenlernen.
So ist es richtig: »Guten Morgen, Herr Huber. Ich glaube, Sie kennen unseren neuen Praktikanten noch nicht. Das ist Martin Meier, der hier heute seinen ersten Arbeitstag hat. Herr Meier – Hans Huber ist der Leiter dieser Abteilung und hatte angeregt, dass wir in diesem Herbst wieder neue Praktikanten nehmen sollten.«
Beispiel aus dem Privatleben: Sie treffen beim Einkaufen ihren ehemaligen Nachbarn Karl Schulze und möchten ihn mit Ihrer Frau Sabine bekannt machen. Sie begrüßen Ihren Bekannten und wenden sich dann Ihrer Frau zu: »Sabine, das ist Karl Schulze. Wir haben während meines Studiums im selben Haus gewohnt.« Privat genießen Frauen einen etwas höheren Rang und haben somit das Recht, zuerst den Namen des anderen zu erfahren. Nun blicken Sie Karl Schulze an und stellen ihm Ihre Frau vor. Je nachdem, ob es in Ihrem Umfeld üblich ist, sich zu duzen oder nicht, haben Sie dabei folgende Optionen:
1. Duzen: »Karl, das ist meine Frau Sabine. Wir haben uns während meines ersten Jobs in Hamburg kennengelernt und leben nun beide wieder hier in Berlin.«
2. Siezen oder duzen: »Karl, das ist meine Frau Sabine Harmann …«
Nennen Sie nur den Vornamen, dann geht der Bekannte davon aus, dass Sie sich nun alle duzen. Nicht eindeutig ist es aber, wenn Sie Vor- und Nachnamen erwähnen. Es wäre dann Aufgabe Ihrer Frau, dem Bekannten die Hand zu reichen und zu sagen: »Hallo, ich bin Sabine. Schön, dich kennenzulernen. Ich habe schon viel von euren wilden Studentenpartys gehört.« Oder: »Guten Tag. Ich freue mich, dass ich Sie nun kennenlerne …«
Nur den Namen zu nennen ist grundsätzlich zu wenig. Jeder ist dankbar, auch zu erfahren, wer der andere ist und warum er mit ihm bekannt gemacht wird.
Im Allgemeinen spricht man übrigens von »vorstellen« in einem eher offiziellen Rahmen oder in einer Situation, in der hierarchische Positionen berücksichtigt werden. »Bekannt machen« bezieht sich hingegen eher auf eine lockere, informelle Atmosphäre.
»Meine Gattin«
Irrtum:
Spricht man von seinem Partner, so ist die höfliche Variante »meine Gattin« oder »mein Gatte«.
Richtig ist:
Möchten Sie über Ihren Partner sprechen oder ihn vorstellen, so sagen Sie einfach »mein Partner« oder »mein Mann«.
Es ist interessant, dass viele in normalen Gesprächssituationen von ihrem »Mann«, ihrer »Frau« oder ihrem »Partner« sprechen, in formelleren oder feierlicheren Situationen aber auf einmal »Gatte« bzw. »Gattin« verwenden. Vermutlich glauben sie, das klinge vornehmer. Hier irren die wohlmeinenden Sprecher jedoch – mit dem Versuch, sich vornehmer auszudrücken, machen sie einen Fehler. Auch ist das keineswegs, wie einige vielleicht glauben, eine Neuerung in der Etikette. Schon in den Werken von Erika Pappritz, die in den fünfziger Jahren als eine Art »Etikette-Päpstin« galt, findet sich der Hinweis, diese Formulierung auf gar keinen Fall zu verwenden.
Die Bezeichnung »Gatte«/«Gattin« oder »Ehegatte«/ »Ehegattin« wird in rechtlichen Dokumenten verwendet – nicht jedoch im gesellschaftlichen Umgang.
»Gestatten – darf ich vorstellen?«
Irrtum:
Möchte man sich oder andere vorstellen, sollte man dies mit »Gestatten Sie?« oder »Darf ich vorstellen?« einleiten.
Richtig ist:
Vorstellungen werden nicht mit rhetorischen Fragen eingeleitet.
Was soll jemand erwidern, der gefragt wird: »Darf ich Ihnen Sabine Schuller vorstellen«? Die Antwort »Nein danke, lieber nicht« ist nicht vorstellbar. Es handelt sich also um eine rhetorische Frage, auf die man keine Antwort erwartet. Rhetorische Fragen sind wunderbar für Präsentationen, Reden und Vorträge. Sie regen das Publikum an, über einen bestimmten Punkt nachzudenken, ohne dass es antworten muss. Eine rhetorische Frage hat in normaler Konversation jedoch keinen Platz, schließlich möchte man sich unterhalten – und auf eine Frage sollte der andere daher auch antworten können.
Man könnte nun argumentieren, die obige Frage sei keine rhetorische Frage, da die Antwort »Ja, gerne« durchaus denkbar und zulässig sei. Dann haben wir es aber mit einer Suggestivfrage zu tun: Die Frage ist so formuliert, dass es nur eine mögliche Antwort gibt. Auch dies ist kein Mittel partnerschaftlicher und höflicher Kommunikation, und deshalb ist sie für eine Vorstellung denkbar schlecht geeignet.
Aus diesen Gründen sollte eine Vorstellung nicht mit dieser Frage eingeleitet werden. Entweder stellen Sie die andere Person direkt vor: »Das ist meine neue Nachbarin, Sabine Schuller«, oder Sie verwenden einen einleitenden Satz, der beide Personen auf die Situation vorbereitet: »Ich glaube, du kennst meine neue Nachbarin noch nicht …« oder: »Ich habe endlich jemanden gefunden, der nun morgens mit mir joggen geht. Das ist meine neue Nachbarin …«
»Herr Professor Dr. Dr. Müller«
Irrtum:
Hat jemand mehrere akademische Grade, nennt man auch alle.
Richtig ist:
Es wird in der Anrede immer nur ein akademischer Grad genannt.
Eine Visitenkarte, auf der sich mehrere akademische Grade über eine ganze Zeile hinziehen, kann durchaus Eindruck erwecken. Im Bemühen, alles richtig machen und sich auf jeden Fall respektvoll zeigen zu wollen, spricht mancher den Visitenkartenbesitzer dann mit allen aufgeführten Titeln an. Das kann sich dann so anhören: »Guten Tag, Herr Professor Dr. Dr. h. c. Müller.« Anderen erscheint dies zu lang und umständlich, nennen aber wenigstens einen »Dr.«. Beides ist falsch. Denn es gibt eine ganz klare Regel: Bei mehreren akademischen Graden wird immer nur der höchste genannt.
Interessanterweise wissen das einige der ausgezeichneten Akademiker selbst nicht. Es gibt durchaus Professoren, die stolz darauf sind, promoviert und habilitiert zu sein und sich in der Anrede dann auch von jenen Professoren unterschieden wissen wollen, die dergleichen nicht vorzuweisen haben.
Tatsache ist jedoch, dass es in der Anrede keine Rolle spielt, welche »Sorte« von Professor jemand ist und wie viele sonstige akademische Titel er besitzt. Das wäre zu umständlich. Deshalb gibt es eine Art Grundsatz: Überall, wo Professor draufsteht, ist auch Professor drin – und der Betreffende wird deshalb so angesprochen.
»c/o« und »z. Hd.«
Irrtum:
Richtet man einen Brief an eine bestimmte Person in einer Behörde oder Firma, so schreibt man entweder »z. Hd.« oder »c/o« auf den Umschlag.
Richtig ist:
»Z. Hd.« ist heute gar nicht mehr üblich, »c/o« nur noch in Ausnahmefällen.
Kaum jemand weiß, dass »c/o« die Abkürzung von »care of« ist. Die ausgeschriebene Form verdeutlicht, dass diese Abkürzung heute nur noch auf den wenigsten Briefen Sinn hat. Sie ist nur dann richtig, wenn jemand – oftmals nur für eine gewisse Zeit – bei einer anderen Familie lebt.
»Z. Hd.«, also »zu Händen«, findet sich auf vielen an bestimmte Personen in Firmen oder Institutionen adressierten Briefen. Das kann so aussehen:
Steuerbüro Hauser
z. Hd. Frau Gabriele Huber
Steuerstraße 15
10847 Berlin
Der Schreiber des Briefes irrt jedoch, wenn er denkt, dass dies die richtige Form sei. Heute gilt diese Adressierung als veraltet. Die moderne Schreibweise lautet folgendermaßen:
Steuerbüro Hauser
Frau Gabriele Huber
Steuerstraße 15
10847 Berlin
Die Person wird also direkt benannt, ohne Vorsatz vor dem Namen.
Falsch ist auch die Annahme, die namentliche Erwähnung einer speziellen Person auf dem Briefumschlag sorge dafür, dass der Brief von niemand anderem geöffnet werde. Für die angeschriebene Firma oder Institution bedeutet dies jedoch nur, dass der Brief in den Fach- oder Interessensbereich dieser Person gehört und bei Abwesenheit wegen Krankheit, Versetzung oder Urlaub von einem Kollegen geöffnet werden kann.
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