Andreas Rinke und Christian Schwägerl
11 DROHENDE KRIEGE
Künftige Konflikte um Technologien,
Rohstoffe, Territorien und Nahrung
C. Bertelsmann
1. Auflage
© 2012 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: R.M.E Roland Eschlbeck und Rosemarie Kreuzer
Karten: Peter Palm, Berlin
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-07415-9
I. DIE UNTERSCHÄTZTEN GEFAHREN
Dieses Buch könnte Ihnen Angst machen. Schon in der Gegenwart gibt es Konflikte, Katastrophen und schlechte, besorgniserregende Nachrichten im Übermaß. Die Tagesnachrichten zeigen, wie verletzlich und zerbrechlich die menschliche Zivilisation ist. Nun konfrontieren wir Sie mit elf Szenarien, wie im 21. Jahrhundert neue gefährliche Konflikte entstehen können. Aber es ist dringend nötig, den Blick auf diese Gefahren zu lenken.
Fast zehn Jahre lang war die westliche Welt von dem Gedanken besessen, die eigentliche Gefahr erkannt zu haben: Ein Mann mit einem durchdringenden Blick namens Osama bin Laden und seine hasserfüllte islamistische Ideologie wurden als existenzielle Gefahr gesehen. Milliarden, ja Billionen Dollar wurden ausgegeben, um den »War on Terror« zu führen. Amerika ging bis zum Äußersten, um sich dagegen zu schützen, dass ein neuerlicher Angriff in der Art des 11. September 2001 stattfindet.
Der Preis dafür war immens. Die westliche Führungsmacht warf sich in zwei brutale Kriege, ihr Ansehen als Wertenation nahm durch weltweite Folterlager für tatsächliche oder vermeintliche Terroristen und einen gigantischen Überwachungsapparat Schaden. Aber schon bevor ein amerikanisches Spezialkommando am 2. Mai 2011 Osama bin Laden in der pakistanischen Garnisonsstadt Abbottabad tötete, war die Angst vor der angeblichen Weltbedrohung verblasst, auch wenn die Gefahr islamistischer Terrorangriffe weiterbesteht.
An die Stelle des radikalen Islamismus rückte als Hauptquelle kollektiver Angst für Europäer und Amerikaner seit 2008 eine Krise, die von innen kommt. Im Schatten des »War on Terror« hatte sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts die größte Finanzblase seit der Großen Depression der 1920er-Jahre aufgebaut. Alle Mechanismen der Risikoprüfung und der rechtzeitigen Intervention hatten versagt, bevor 2008 das Bankhaus Lehman Brothers implodierte und im Gefolge ganze Länder in den Strudel der Schuldenkrise gerieten. Exzessive Verschuldung westlicher Staaten und unreguliertes Spekulieren an den Finanzmärkten schafften, was bin Laden nie vermochte: den Wohlstand von Hunderten Millionen Menschen zu gefährden.
Nun gehört zu den Stärken der Spezies Mensch, dass unser Denken darin geschult ist, Gefahr zu erkennen und die ganze Energie darauf zu richten, sie zu entschärfen. Dies wird jedoch zum Problem, wenn die bekämpfte Gefahr gar nicht die eigentliche Bedrohung für unsere Gesellschaften darstellt. Immer deutlicher zeigt sich heute, dass das letzte Jahrzehnt mit seinen gigantischen Kraftanstrengungen ein verlorenes Jahrzehnt für den Westen, die Menschheit und den Versuch war, für eine friedliche Zukunft auf der Erde vorzusorgen. »Blasen« – fatale Fehlentwicklungen – entstehen eben nicht nur an den Finanzmärkten, sondern auch im Kopf. Zuerst lenkte der Tunnelblick auf den Islamismus von anderen Gefahren wie der drohenden Finanzkrise ab, dann verschlangen die folgenden Kriege und die Finanzkrise Billionensummen, die dringend für die Zukunftsvorsorge auf anderen Gebieten hätten ausgegeben werden sollen, etwa für Bildung und Klimaschutz.
Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass an Überraschungen von globaler Dimension kein Mangel besteht: Nicht der Tod von Osama bin Laden hat die islamische Welt grundlegend verändert, sondern der Tod eines Gemüsehändlers namens Mohamed Bouazizi aus Tunesien. Weil er von den Gängeleien der staatlichen Marktaufseher genug hatte, setzte er durch seine öffentliche Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010, an deren Folgen er am 4. Januar 2011 starb, unbeabsichtigt die »Arabellion« in Gang. Innerhalb weniger Monate fegten junge Rebellen die Machthaber in Tunesien, Ägypten und Libyen aus dem Amt.
Einen weiteren plötzlichen Einschnitt stellte das gewaltige Erdbeben dar, das am 11. März 2011 im Pazifik westlich von Japan eine Monsterwelle auslöste. Der Tsunami tötete in dem Hightech-Land Japan fast 16.000 Menschen, führte mit der folgenden mehrfachen Kernschmelze in der Atomanlage Fukushima-Daiichi fast zu einer Strahlenkatastrophe für Millionen Menschen in Japan, Korea und China – und veränderte Deutschlands Energiepolitik.
Mit Entsetzen registrierte die Welt, dass ausgerechnet im friedlichen und wohlhabenden Norwegen ein rechtsradikaler Islamhasser ein Massaker in der Innenstadt von Oslo und unter Jugendlichen auf der Insel Utøya mit insgesamt 77 Toten verübte. Mit Scham und Trauer musste in Deutschland plötzlich erkannt werden, dass durch eine jahrelang unbehelligt agierende rechtsradikale Gruppe mehr Menschen starben als durch islamistische Anschläge.
All diese Ereignisse hatten – direkt im Fall der »Arabellion« und indirekt in den anderen Fällen – auch positive Folgen: eine Demokratisierungswelle in der islamischen Welt; die Wende hin zu erneuerbaren Energiequellen und »grünen Technologien« in Deutschland; eine internationale Welle der Solidarität mit Norwegen und ein entschiedenerer Kampf gegen den Rechtsradikalismus. Und die Schuldenkrise in der EU bringt plötzlich die lange stockende Debatte über die »Vereinigten Staaten von Europa« wieder in Gang.
Doch zugleich verstärkt sich das Gefühl, nicht auf die nächste, vielleicht noch größere Überraschung vorbereitet zu sein. Eine generelle Verunsicherung breitet sich aus, weil selbst berufene Institutionen wie die Nachrichtendienste und Regierungsstrategen nicht einmal mehr zu ahnen scheinen, woher die nächsten Einschläge kommen werden. Nur eines scheint festzustehen: Das 21. Jahrhundert wird kein ruhiges. Die Kurzatmigkeit, mit der Politiker in den vergangenen Jahren versucht haben, den Flächenbrand der Finanzkrise zu löschen, verstärkt den Eindruck noch, dass mit der Lösung alter Probleme sofort die nächsten verursacht werden. Deshalb erscheint es wichtig, der Frage nach künftigen Gefahren nachzugehen. Gibt es mögliche Ursachen für Konflikte, an die heute noch keiner denkt? Zeichnen sich globale Verschiebungen ab, die so langsam verlaufen, dass sie nicht wahrgenommen werden, die aber gerade deshalb gefährlich sind? Drohen aus heiterem Himmel sogar Kriege, weil die Regierungen und ihre Apparate sich auf das Falsche konzentrieren oder mit den Krisen der Gegenwart schlicht überfordert sind?
Alle drei Fragen müssen mit Ja beantwortet werden. Schlimmer noch: Ohne grundlegende Veränderungen, die vom Alltag im Westen bis zur Weltpolitik reichen, droht das 21. Jahrhundert stürmisch und kriegerisch zu werden. Aus den vergangenen zehn Jahren zu lernen heißt deshalb vor allen Dingen, offen zu sein für Überraschungen und den Horizont nach Hinweisen abzusuchen, die auf einen kommenden Sturm hinweisen. Um vor allem Kriegsgefahren zu vermeiden, ist es unerlässlich, sie frühzeitig zu erkennen.
Die Amerikaner bezeichnen Kriegsschauplätze mit dem schauerlichen Begriff »War Theater«, so als handle es sich um eine Broadway-Aufführung. Es ist hochwahrscheinlich, dass im 21. Jahrhundert ganz neuartige »Bühnen« für Kriege entstehen: Statt oder zusätzlich zu klassischen Kriegsgründen wird es um Technologien, Hightech-Rohstoffe, Umweltfragen, neue demographische Konstellationen und die Welternährung gehen.
1. NEUE KRIEGSFORMEN
So schrecklich es für die Milliarden Menschen klingt, die heute »menschlich« im humanistischen Sinne denken: Gewalttätige Auseinandersetzungen sind bisher eine Konstante des menschlichen Lebens gewesen. Die mit ihren 250.000 Jahren auf der erdgeschichtlichen Skala noch sehr junge Menschheitsgeschichte, mehr noch die letzten rund 600 Jahre seit dem Entstehen der modernen Zivilisation und am extremsten die zwei Jahrhunderte der »Großen Beschleunigung« seit dem Beginn der industriellen Revolution waren von bewaffneten Auseinandersetzungen und Kriegen geprägt.
Hunderte Millionen Menschen wurden als Soldaten rekrutiert, versklavt oder vertrieben, grausam getötet im Streit um Herrschaftsansprüche, durch Erbfehden, Weltanschauungen, Rohstoffhunger oder schlicht Gier. Hunderte Millionen Menschen haben ihr Leben in Kriegen verloren, riesige Mengen von Gütern und Gebieten wurden neu zwischen Ländern und Machthabern verteilt. Kriege, Lehren aus Kriegen und Kriegsvorbereitungen haben das hervorgebracht, was die Welt von heute prägt – von der amerikanischen Nation über die Charta der Vereinten Nationen bis zum Internet, dessen Anfänge im Versuch des US-Militärs liegen, für den Fall eines Atomkriegs über ein stabiles, dezentrales Kommunikationssystem zu verfügen. Die Menschen von heute bewohnen »Nachkriegslandschaften« – geographisch, rechtlich und technologisch.
Über die Allgegenwart gewalttätiger Auseinandersetzungen zu reden ist in Deutschland dabei nach wie vor nicht einfach – einem Land, in dem ein Bundespräsident Horst Köhler von seinem Amt zurücktrat, weil er Kritik für die Aussage erntete, dass eine Exportnation wie Deutschland wie alle anderen großen Staaten natürlich auch Wirtschaftsinteressen im Ausland verteidigen muss, und sei es durch die Abwehr von Piraten vor Somalia. Viele Bundesbürger sehen ihr Land vielmehr allein als Modell für den Ansatz, Konflikte ausschließlich friedlich beizulegen und mit der Suche nach Konsens und der Aussicht auf Verständigung und Entwicklung zu bewältigen.
Die friedensliebende Grundhaltung ist ein erheblicher Fortschritt in der deutschen Geschichte. Erst die Einsicht in die deutsche Schuld an den Weltkriegen und die entschiedene Abkehr von exzessiver Gewaltanwendung hat tatsächlich Großes ermöglicht, etwa die europäische Integration, die das wohl erfolgreichste Friedensprojekt der Menschheitsgeschichte ist. Aber weder guter Wille allein noch die Verdrängung einer lästigen Auseinandersetzung, noch die Angst der Politik, der Bevölkerung unangenehme Themen zuzumuten, werden Kriege des 21. Jahrhunderts verhindern. Die Gefahr wächst eher, dann den neuen Herausforderungen nicht mehr gewachsen zu sein.
Deshalb ist eine offene Debatte darüber nötig, wo und in welchem Gewand Kriege im 21. Jahrhundert auftreten können. Längst gibt es in der Fachwelt eine intensive Diskussion über das neue Wesen des Krieges. Seit dem 11. September 2001 ist etwa der Ausdruck »asymmetrischer Krieg« ein geflügeltes Wort geworden, auch wenn es in erster Linie die Abkehr von der alten Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten beschreibt, die ihre Heere gegeneinanderschicken. Islamistische Terroristen haben deutlich gemacht, dass sie statt staatlicher Strukturen informelle Netzwerke als Basis nutzen, um die Zivilbevölkerung oder Sicherheitsapparate der von ihnen verhassten Staaten zu attackieren.
Autoren wie Mary Kaldor sprechen von »neuen Kriegen«, weil sich die ganze Matrix von Auseinandersetzungen geändert hat, keineswegs nur durch immer neue zerstörerische Militärtechnologien, sondern auch durch die zunehmende Globalisierung und die alle Lebensbereiche durchdringende Ökonomisierung unseres Lebens. Wenn multinationale, teilweise staatlich kontrollierte Konzerne Werte auf allen Kontinenten besitzen, steigt zwar auf den ersten Blick die Hemmschwelle, diese durch verheerende militärische Auseinandersetzungen zu gefährden. Weil der Wohlstand aller modernen Industrienationen vom Wirtschaftswachstum abhängt, könnte die Bereitschaft sinken, dieses durch militärische Spannungen zu gefährden. »Die Fähigkeit von Staaten, unilaterale Gewalt gegen andere Staaten einzusetzen, ist entscheidend geschwächt worden«, stellt Kaldor deshalb fest und beschreibt, wie sehr die Fähigkeit, Kriege zu führen, durch die Struktur moderner Gesellschaften bestimmt wird, von der Bildung über technische Standards bis hin zur Möglichkeit, Steuern zu erheben und auch einzutreiben.1
Wenn es immer vielfältigere Konstellationen von privaten und staatlichen Akteuren gibt, die in immer neuen Formen von organisierter Gewalt auf immer mehr Feldern Konflikte austragen, kann das womöglich nur heißen, dass sich das Wesen des Krieges ändert. »Kriege, wie wir sie in den letzten zwei Jahrhunderten kannten, könnten wie die Sklaverei ein Anachronismus werden. Nationale Armeen, Marinen und Luftwaffen wären dann nicht mehr als rituelle Symbole der untergehenden Nationalstaaten«, schrieb Kaldor.2 Den Nationalstaaten wird seit Jahrzehnten immer wieder der Niedergang vorhergesagt – obwohl sie sich als erstaunlich widerstandsfähig und flexibel erwiesen haben. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden sie deshalb auch weiter mit großem Gewaltpotenzial entscheidende Akteure in der internationalen Sicherheitspolitik bleiben – neben vielen neuen und in völlig veränderten Rahmenbedingungen.
Das Paradox des 21. Jahrhunderts ist es, dass neuartige Kriege wieder wahrscheinlich werden, weil sie scheinbar an Schrecken verlieren. Schlachten werden geschlagen, auch wenn sich gar keine Panzerverbände in der Norddeutschen Tiefebene bewegen. Kriege gehen verloren, auch wenn möglicherweise kein Blut fließt. Millionen Menschen können sterben, obwohl im klassischen Sinne gar kein Krieg stattgefunden hat. Kriege werden nicht mehr hundert Jahre, manchmal nicht einmal sechs Jahre wie der Zweiten Weltkrieg dauern, sondern können innerhalb von Minuten entschieden sein. In den meisten Fällen bedeuten sie das Scheitern eines Versuchs, einen Kompromiss zwischen widersprüchlichen Interessen zu finden, Spannungen in sich verändernden Gesellschaften abzubauen oder Akteuren, die auf die Beherrschung anderer aus sind, entschlossen und gemeinsam entgegenzutreten.
Ziel dieses Buches ist es, nicht nur auf die neuen Gefahren hinzuweisen, sondern auch einen gewissen Beitrag zu der Debatte zu leisten, wie drohende »neue Kriege« verhindert werden können. Denn eines muss ausdrücklich betont werden: Trotz aller neuen Herausforderungen sieht die Lage zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts nicht ganz so düster aus. Parallel zu neuen Problemen wächst das im Kollektiv menschlicher Gehirne entwickelte Wissen. In immer schnellerem Tempo entwickelt die Menschheit Technologien und Fähigkeiten, um auf Probleme zu reagieren. Die gegenseitigen Abhängigkeiten erzeugen den Druck für die Suche nach gemeinsamen Lösungen. Die rasche weltweite Vernetzung vergrößert zudem die Chance, gemeinsam reagieren zu können.
Es ist deshalb nicht etwa naiv, sondern sehr wahrscheinlich, dass sich im 21. Jahrhundert die Sichtweisen vieler Menschen auf der Erde einander annähern. Denn die wachsenden Mittelschichten werden unabhängig von den jeweiligen politischen Systemen und der geographischen Lage ein ähnliches Streben nach individueller Freiheit und Sicherheit für ihre Familien entwickeln, wie dies eine Analyse des European Union Institute for Strategic Studies (EUISS) über die Welt im Jahr 2030 prognostiziert.3 Doch selbst eine solche »Konvergenz« befreit nicht vom Kriegsrisiko und damit von der Aufgabe, es durch Vorausschau und Vorbeugung zu minimieren.
2. OFFENE ZUKUNFT
Dafür, dass langsam ins Bewusstsein sickert, wie sehr sich Kriege verändern, sehen die Strukturen vieler Armeen und Sicherheitsapparate weltweit immer noch erstaunlich konventionell aus. In großen Depots warten Panzer auf Schlachten, die sie nicht mehr schlagen werden. In einer ritualisierten öffentlichen und politischen Debatte erregt eine deutsche Panzerlieferung nach Saudi-Arabien viel mehr Aufregung als der Verkauf moderner Spionagesoftware an autoritäre Regimes, die damit effizient etwa die Internet-Aktivitäten ihrer Bevölkerung überwachen können.
Dabei stehen viele staatliche Experten bereits heute vor den Trümmern ihrer alten Sicherheits- und Vorhersagepolitik. Mit einem riesigen Aufgebot an Personal und Geld haben Regierungen und Unternehmen in den vergangenen Jahren alles darangesetzt, ihre Bevölkerungen und Investitionen gegen mögliche Risiken abzusichern. Nun sickert die Erkenntnis ein, dass Gefahren nicht nur aus unbekannten Richtungen kommen, sondern dass man sich auch für Kriege gerüstet hat, die in der erwarteten Form gar nicht stattfinden werden, sondern in einer völlig neuen Art und Weise.
Das liegt daran, dass ausgerechnet die hoch spezialisierten Experten für Sicherheit manchmal am wenigsten geeignet sind, neue Gefahren zu erkennen. Wie viele Menschen lassen auch sie sich von ihrer Erfahrung und ihrem Wissen leiten. Deshalb sind sie besonders erfahren darin, Lösungen für die bekannten Probleme zu finden. Als Vorsorge für die Zukunft ziehen sie deshalb Lehren aus der Vergangenheit – nur beinhalten diese oft nur Antworten auf Fragen, die sich in der Zukunft so nicht mehr stellen.1
Medien tragen mit ihrer Form der Berichterstattung ihren Teil dazu bei, dass sich auch Politiker vor allem gegen die ihnen bekannten Formen der Bedrohung wappnen: Niemand möchte sich schließlich vorwerfen lassen, er habe nicht auf die berichteten Missstände reagiert. Die Vorsorge für neue Gefahren tritt deshalb regelmäßig in den Hintergrund. Es klingt paradox: Je gewissenhafter sich Gesellschaften gegen die erkannten Gefahren der Vergangenheit abzusichern versuchen, desto anfälliger scheinen sie aufgrund der Neigung zum Tunnelblick für neue Gefahren von morgen zu werden.
Verunsicherung erfasst Regierungen, die Akteure an den Finanzmärkten, aber mittlerweile auch konservative Intellektuelle.2 Wer nicht weiß, was kommt, weiß nicht, wie er agieren soll. Er entwickelt Angst und Zurückhaltung. In den USA und Großbritannien hat nach dem wirtschaftlichen Einbruch ein Buch über den »Black-Swan«-Effekt – den Eintritt und die teilweise gigantischen Folgen unerwarteter Ereignisse und unterschätzter Risiken – viel Aufmerksamkeit bekommen.3 Fasziniert wird das Unwahrscheinliche, Ungewohnte und Ungeheure gefeiert, weil es offenbar ein Trost ist, dass sich wenigstens fast alle geirrt haben. Das Wort »Restrisiko« prägte deshalb nicht nur wegen der Atomkatastrophe von Fukushima das Jahr 2011.
Es bleiben nur drei Wege, darauf zu reagieren. Entweder verharrt man in der gruseligen Faszination, das menschliche Leben nur als Folge von Zufällen und Schicksalsschlägen zu sehen. Oder man täuscht prophetische Fähigkeiten vor wie der amerikanische Zukunftsforscher und Strategieberater George Friedman, der in seinem Buch über die Entwicklung des 21. Jahrhunderts absurderweise sogar einen deutschen Angriff auf Polen ziemlich präzise für das späte Frühjahr des Jahres 2051 glaubt vorhersagen zu können.4
Der dritte Weg ist, die Unvorhersehbarkeit des Einzelereignisses, die möglicherweise große zerstörerische Wucht etwa einer Naturkatastrophe zu akzeptieren und den Blick auf jene Entwicklungslinien zu richten, die von Menschen beeinflusst werden können – und die sehr wohl heute schon sichtbar sind.
Diesen dritten Weg versuchen seit einigen Jahren auch Geheimdienste zu beschreiten, deren Aufgabe es ist, Regierungen und Gesellschaften sehr frühzeitig auf neue Herausforderungen aufmerksam zu machen. Sie haben in der Vergangenheit mit Warnungen oft danebengelegen und neigen auch dazu, Gefahren zu übertreiben, schon weil diese die Bedeutung der eigenen Arbeit unterstreichen. Aber auch diese Institutionen lernen aus ihren Fehlern: So warnen etwa die amerikanischen Geheimdienste ihre politischen Auftraggeber heute, dass die Lehren aus den Kriegen in Irak und Afghanistan kompliziert sind und die Supermacht USA vor einem Paradigmenwechsel steht:5
»1. |
Die USA werden einer vielfachen Bedrohung von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren ausgesetzt sein. |
2. |
Die Sicherheitslage wird durch kürzere Warnzeiten und viel straffere Entscheidungszyklen geprägt sein. |
3. |
Komplexe Bedrohungen werden die Grenzen von Geographie und Organisationen überschreiten.«6 |
Hinter diesem Sicherheitsjargon verbirgt sich die Botschaft, dass das US-Militär seine bisherige Art, Kriege vorzubereiten und zu führen, umstellen muss. Das britische Verteidigungsministerium hat sieben »threat drivers« identifiziert, also Stressfaktoren, die ebenfalls das Militär nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens sehen. Stattdessen werden Klimawandel, Demographie, die Folgen der Globalisierung, Energieressourcen, zerfallende Staaten, Ideologien sowie interessanterweise die Zerrissenheit Großbritanniens zwischen europäischer und transatlantischer Identität als Hauptherausforderungen gesehen.7 Die meisten dieser Triebkräfte haben gemeinsam, dass sie in der Debatte etwa auf der Ebene der G20-Staaten trotz ihrer Bedeutung für unsere Zukunft noch immer vernachlässigt werden.
Neue Stressfaktoren und neue Kriegsgefahren auszuleuchten ist das Ziel dieses Buches – in Form von Szenarien, die sensibilisieren sollen für das, was kommen könnte. Zunächst soll dargelegt werden, was die treibenden Kräfte für Veränderungen im 21. Jahrhundert sein werden. Dafür braucht es keine Geheimdokumente. Die meisten Fakten liegen offen auf dem Tisch, sind nur verborgen in dem Wust von Informationen aller Art, die uns im modernen Medienzeitalter aus allen Richtungen erreichen. Nur müssen diese scheinbar isolierten Meldungen aus den Bereichen Medizin, Militär, Umwelt und Wirtschaft eingeordnet werden, um große Trends zu erkennen.
Kein Wunder, dass selbst die CIA in der Auswertung neue Wege geht: Zusammen mit Google investiert der amerikanische Gemeindienst in eine Kooperation mit einer kleinen amerikanisch-schwedischen Firma in Boston namens Recorded Future. Es geht darum, aus der Flut öffentlich zugänglicher Informationen und Blogs relevante Aussagen über die Zukunft herauszufiltern. In einer Art Echtzeitüberwachung des Internets sollen wichtige Informationen analysiert und visualisiert werden, sagt Firmengründer Christopher Ahlberg. Damit ließen sich zwar keine Erdbeben voraussagen – aber vielleicht schon, wie Regierungen und Gesellschaften auf sie reagieren.8