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Lewis Carroll

Alice im Wunderland

Überarbeitete deutsche Fassung

Lewis Carroll

Alice im Wunderland

Überarbeitete deutsche Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Illustrationen: John Tenniel
Übersetzung: Antonie Zimmermann
15. Auflage, ISBN 978-3-954180-02-8

www.null-papier.de/alice

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel – Hin­un­ter in den Ka­nin­chen­bau

Zwei­tes Ka­pi­tel – Der Trä­nen­pfuhl

Drit­tes Ka­pi­tel – Cau­cus-Ren­nen und was dar­aus wird

Vier­tes Ka­pi­tel – Die Woh­nung des Ka­nin­chens

Fünf­tes Ka­pi­tel – Gu­ter Rat von ei­ner Rau­pe

Sechs­tes Ka­pi­tel – Fer­kel und Pfef­fer

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Die tol­le Tee­ge­sell­schaft

Ach­tes Ka­pi­tel – Das Cro­quet­feld der Kö­ni­gin

Neun­tes Ka­pi­tel – Die Ge­schich­te der falschen Schild­krö­te

Zehn­tes Ka­pi­tel – Das Hum­mer­bal­lett

Elf­tes Ka­pi­tel – Wer hat die Ku­chen ge­stoh­len?

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Ali­ce ist die Klügs­te

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Bild: 001_Alice_im_Wunderland_004.jpg

Der Ver­fas­ser wünscht hier­mit sei­ne Aner­ken­nung ge­gen die Über­set­ze­rin aus­zu­spre­chen, die ei­ni­ge ein­ge­streu­te Par­odi­en eng­li­scher Kin­der­lie­der, wel­che der deut­schen Ju­gend un­ver­ständ­lich ge­we­sen wä­ren, durch der­glei­chen von be­kann­ten deut­schen Ge­dich­ten er­setzt hat. Eben­so sind für die oft un­über­setz­ba­ren eng­li­schen Wort­spie­le pas­sen­de deut­sche ein­ge­scho­ben wor­den, wel­che das Buch al­lein der Ge­wandt­heit der Über­set­ze­rin ver­dankt.

Der Ver­le­ger hat die Spra­che der ak­tu­el­len deut­schen Recht­schrei­bung an­ge­passt, um ein flüs­si­ge­res Le­sen zu er­mög­li­chen.


O schö­ner, gold­ner Nach­mit­tag,
Wo Flut und Him­mel lacht!
Von schwa­cher Kin­des­hand be­wegt,
Die Ru­der plät­schern sacht –
Das Steu­er hält ein Kin­de­s­arm
Und len­ket uns­re Fahrt.

So fuh­ren wir ge­mäch­lich hin
Auf träu­me­ri­schen Wel­len –
Doch ach! Die drei ver­ein­ten sich,
Den mü­den Freund zu quä­len –
Sie trie­ben ihn, sie dräng­ten ihn,
Ein Mähr­chen zu er­zäh­len.

Die ers­te gab’s Kom­man­do­wort;
O schnell, o fan­ge an!
Und mach’ es so, die Zwei­te bat,
Dass man recht la­chen kann!
Die Drit­te ließ ihm kei­ne Ruh
Mit wie? Und wo? Und wann?

Jetzt lau­schen sie vom Zau­ber­land
Der wun­der­ba­ren Mähr’;
Mit Tier und Vo­gel sind sie bald
In freund­li­chem Ver­kehr,
Und füh­len sich so hei­misch dort,
Als ob es Wahr­heit wär’. –

Und je­des Mal, wenn Fan­ta­sie
Dem Freun­de ganz ver­siegt: –
»Das Üb­ri­ge ein an­der Mal!«
O nein, sie lei­den’s nicht.
»Es ist ja schon ein an­der Mal!« –
So ru­fen sie ver­gnügt.

So ward vom schö­nen Wun­der­land
Das Mär­chen aus­ge­dacht,
So lang­sam Stück für Stück er­zählt,
Be­plau­dert und be­lacht,
Und froh, als es zu Ende war,
Der Weg nach Haus ge­macht.

Ali­ce! O nimm es freund­lich an!
Leg’ es mit güt’­ger Hand
Zum Strau­ße, den Erin­ne­rung
Aus Kind­heits­träu­men band,
Gleich wel­ken Blü­ten, mit­ge­bracht
Aus lie­bem, fer­nen Land.

Erstes Kapitel

Hinunter in den Kaninchenbau

Ali­ce fing an sich zu lang­wei­len; sie saß schon lan­ge bei ih­rer Schwes­ter am Ufer und hat­te nichts zu tun. Das Buch, das ihre Schwes­ter las, ge­fiel ihr nicht; denn es wa­ren we­der Bil­der noch Ge­sprä­che dar­in. »Und was nüt­zen Bü­cher«, dach­te Ali­ce, »ohne Bil­der und Ge­sprä­che?«

Sie über­leg­te sich eben, (so gut es ging, denn sie war schläf­rig und dumm von der Hit­ze,) ob es der Mühe wert sei auf­zu­ste­hen und Gän­se­blüm­chen zu pflücken, um eine Ket­te da­mit zu ma­chen, als plötz­lich ein wei­ßes Ka­nin­chen mit ro­ten Au­gen dicht an ihr vor­bei­rann­te.

Dies war gra­de nicht sehr merk­wür­dig; Ali­ce fand es auch nicht sehr au­ßer­or­dent­lich, dass sie das Ka­nin­chen sa­gen hör­te: »O weh, o weh! Ich wer­de zu spät kom­men!« (Als sie es spä­ter wie­der über­leg­te, fiel ihr ein, dass sie sich dar­über hät­te wun­dern sol­len, doch zur­zeit kam es ihr al­les ganz na­tür­lich vor.) Aber als das Ka­nin­chen sei­ne Uhr aus der Wes­ten­ta­sche zog, nach der Zeit sah und ei­lig fort­lief, sprang Ali­ce auf; denn es war ihr doch noch nie vor­ge­kom­men, ein Ka­nin­chen mit ei­ner Wes­ten­ta­sche und eine Uhr dar­in zu se­hen. Vor Neu­gier­de bren­nend, rann­te sie ihm nach, über den Gras­p­latz, und kam noch zur rech­ten Zeit, um es in ein großes Loch un­ter der He­cke schlüp­fen zu se­hen.

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Den nächs­ten Au­gen­blick war sie ihm nach in das Loch hin­ein­ge­sprun­gen, ohne zu be­den­ken, wie in al­ler Welt sie wie­der her­aus­kom­men könn­te.

Der Ein­gang zum Ka­nin­chen­bau lief erst ge­ra­de­aus, wie ein Tun­nel und ging dann plötz­lich ab­wärts; ehe Ali­ce noch den Ge­dan­ken fas­sen konn­te sich schnell fest­zu­hal­ten, fühl­te sie schon, dass sie fiel, wie es schi­en, in einen tie­fen, tie­fen Brun­nen.

Ent­we­der muss­te der Brun­nen sehr tief sein, oder sie fiel sehr lang­sam; denn sie hat­te Zeit ge­nug, sich beim Fal­len um­zu­se­hen und sich zu wun­dern, was nun wohl ge­sche­hen wür­de. Zu­erst ver­such­te sie hin­un­ter zu se­hen, um zu wis­sen wo­hin sie käme, aber es war zu dun­kel et­was zu er­ken­nen. Da be­sah sie die Wän­de des Brun­nens und be­merk­te, dass sie mit Kü­chen­schrän­ken und Bü­cher­bret­tern be­deckt wa­ren; hier und da er­blick­te sie Land­kar­ten und Bil­der, an Ha­ken auf­ge­hängt. Sie nahm im Vor­bei­fal­len von ei­nem der Bret­ter ein Töpf­chen mit der Auf­schrift: »Ein­ge­mach­te Ap­fel­si­nen«, aber zu ih­rem großen Ver­druss war es leer. Sie woll­te es nicht fal­len las­sen, aus Furcht je­mand un­ter sich zu tö­ten; und es ge­lang ihr, es in einen an­de­ren Schrank, an dem sie vor­bei­kam, zu schie­ben.

»Nun!« dach­te Ali­ce bei sich, »nach ei­nem sol­chen Fall wer­de ich mir nichts dar­aus ma­chen, wenn ich die Trep­pe hin­un­ter stol­pe­re. Wie mu­tig sie mich zu Haus fin­den wer­den! Ich wür­de nicht viel Re­dens ma­chen, wenn ich selbst von der Dach­spit­ze hin­un­ter fie­le!« (Was sehr wahr­schein­lich war.)

Hin­un­ter, hin­un­ter, hin­un­ter! Woll­te denn der Fall nie en­di­gen? »Wie vie­le Mei­len ich wohl jetzt ge­fal­len bin!« sag­te sie laut. »Ich muss un­ge­fähr am Mit­tel­punkt der Erde sein. Lass se­hen: das wä­ren acht­hun­dert und fünf­zig Mei­len, glau­be ich –« (denn ihr müsst wis­sen, Ali­ce hat­te der­glei­chen in der Schu­le ge­lernt, und ob­gleich dies kei­ne sehr gute Ge­le­gen­heit war, ihre Kennt­nis­se zu zei­gen, da nie­mand zum Zu­hö­ren da war, so übte sie es sich doch da­bei ein) – »ja, das ist un­ge­fähr die Ent­fer­nung; aber zu wel­chem Län­ge- und Brei­te­gra­de ich wohl ge­kom­men sein mag?« (Ali­ce hat­te nicht den ge­rings­ten Be­griff, was we­der Län­ge­grad noch Brei­te­grad war; doch klan­gen ihr die Wor­te groß­ar­tig und nett zu sa­gen.)

Bald fing sie wie­der an. »Ob ich wohl ganz durch die Erde fal­len wer­de! Wie ko­misch das sein wird, bei den Leu­ten her­aus zu kom­men, die auf dem Kop­fe ge­hen! Die An­ti­pa­thi­en, glau­be ich.« (Dies­mal war es ihr ganz lieb, dass nie­mand zu­hör­te, denn das Wort klang ihr gar nicht recht.) »Aber na­tür­lich wer­de ich sie fra­gen müs­sen, wie das Land heißt. Bit­te, lie­be Dame, ist dies Neu-See­land oder Aus­tra­li­en?« (Und sie ver­such­te da­bei zu kni­xen, – denkt doch, kni­xen, wenn man durch die Luft fällt! Könn­tet ihr das fer­tig krie­gen?) »Aber sie wer­den mich für ein un­wis­sen­des klei­nes Mäd­chen hal­ten, wenn ich fra­ge! Nein, es geht nicht an zu fra­gen; viel­leicht sehe ich es ir­gend­wo an­ge­schrie­ben.«

Hin­un­ter, hin­un­ter, hin­un­ter! Sie konn­te nichts wei­ter tun, also fing Ali­ce bald wie­der zu spre­chen an. »Di­nah wird mich ge­wiss heut Abend recht su­chen!« (Di­nah war die Kat­ze.) »Ich hof­fe, sie wer­den ih­ren Napf Milch zur Tee­stun­de nicht ver­ges­sen. Di­nah! Mies! Ich woll­te, du wä­rest hier un­ten bei mir. Mir ist nur ban­ge, es gibt kei­ne Mäu­se in der Luft; aber du könn­test einen Spat­zen fan­gen; die wird es hier in der Luft wohl ge­ben, glaubst du nicht? Und Kat­zen fres­sen doch Spat­zen?« Hier wur­de Ali­ce et­was schläf­rig und re­de­te halb im Traum fort. »Fres­sen Kat­zen gern Spat­zen? Fres­sen Kat­zen gern Spat­zen? Fres­sen Spat­zen gern Kat­zen?« Und da ihr nie­mand zu ant­wor­ten brauch­te, so kam es gar nicht dar­auf an, wie sie die Fra­ge stell­te. Sie fühl­te, dass sie ein­sch­lief und hat­te eben an­ge­fan­gen zu träu­men, sie gehe Hand in Hand mit Di­nah spa­zie­ren, und fra­ge sie ganz ernst­haft: »Nun, Di­nah, sage die Wahr­heit, hast du je einen Spat­zen ge­fres­sen?« da mit ei­nem Male, plump! Plump! Kam sie auf einen Hau­fen trock­nes Laub und Rei­sig zu lie­gen, – und der Fall war aus.

Ali­ce hat­te sich gar nicht weh ge­tan. Sie sprang so­gleich auf und sah in die Höhe; aber es war dun­kel über ihr. Vor ihr lag ein zwei­ter lan­ger Gang, und sie konn­te noch eben das wei­ße Ka­nin­chen dar­in ent­lang lau­fen se­hen. Es war kein Au­gen­blick zu ver­lie­ren: fort rann­te Ali­ce wie der Wind, und hör­te es ge­ra­de noch sa­gen, als es um eine Ecke bog: »O, Ohren und Schnurr­bart, wie spät es ist!« Sie war dicht hin­ter ihm, aber als sie um die Ecke bog, da war das Ka­nin­chen nicht mehr zu se­hen. Sie be­fand sich in ei­nem lan­gen, nied­ri­gen Kor­ri­dor, der durch eine Rei­he Lam­pen er­leuch­tet war, die von der De­cke her­ab­hin­gen.

Zu bei­den Sei­ten des Kor­ri­dors wa­ren Tü­ren; aber sie wa­ren alle ver­schlos­sen. Ali­ce ver­such­te jede Tür erst auf ei­ner Sei­te, dann auf der an­de­ren; end­lich ging sie trau­rig in der Mit­te ent­lang, über­le­gend, wie sie je her­aus kom­men könn­te.

Plötz­lich stand sie vor ei­nem klei­nen drei­bei­ni­gen Ti­sche, ganz von dickem Glas. Es war nichts dar­auf als ein win­zi­ges gol­de­nes Schlüs­sel­chen, und Ali­ce’s ers­ter Ge­dan­ke war, dies möch­te zu ei­ner der Tü­ren des Kor­ri­dors ge­hö­ren. Aber ach! Ent­we­der wa­ren die Sch­lös­ser zu groß, oder der Schlüs­sel war zu klein; kurz, er pass­te zu kei­ner ein­zi­gen. Je­doch, als sie das zwei­te Mal her­um ging, kam sie an einen nied­ri­gen Vor­hang, den sie vor­her nicht be­merkt hat­te, und da­hin­ter war eine Tür, un­ge­fähr fünf­zehn Zoll hoch. Sie steck­te das gol­de­ne Schlüs­sel­chen ins Schlüs­sel­loch, und zu ih­rer großen Freu­de pass­te es.

Ali­ce schloss die Tür auf und fand, dass sie zu ei­nem klei­nen Gan­ge führ­te, nicht viel grö­ßer als ein Mäu­se­loch. Sie knie­te nie­der und sah durch den Gang in den rei­zends­ten Gar­ten, den man sich den­ken kann. Wie wünsch­te sie, aus dem dun­keln Kor­ri­dor zu ge­lan­gen, und un­ter den bun­ten Blu­men­bee­ten und küh­len Spring­brun­nen um­her zu wan­dern; aber sie konn­te kaum den Kopf durch den Ein­gang ste­cken. »Und wenn auch mein Kopf hin­durch gin­ge«, dach­te die arme Ali­ce, »was wür­de es nüt­zen ohne die Schul­tern. O, ich möch­te mich zu­sam­men­schie­ben kön­nen wie ein Te­le­skop! Das geht ge­wiss, wenn ich nur wüss­te, wie man es an­fängt.« Denn es war kürz­lich so viel Merk­wür­di­ges mit ihr vor­ge­gan­gen, dass Ali­ce an­fing zu glau­ben, es sei fast nichts un­mög­lich.

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Es schi­en ihr ganz un­nütz, län­ger bei der klei­nen Tür zu war­ten. Da­her ging sie zum Tisch zu­rück, halb und halb hof­fend, sie wür­de noch einen Schlüs­sel dar­auf fin­den, oder je­den­falls ein Buch mit An­wei­sun­gen, wie man sich als Te­le­skop zu­sam­men­schie­ben kön­ne. Dies­mal fand sie ein Fläsch­chen dar­auf. »Das ge­wiss vor­hin nicht hier stand«, sag­te Ali­ce; und um den Hals des Fläsch­chens war ein Zet­tel ge­bun­den, mit den Wor­ten »Trin­ke mich!« wun­der­schön in großen Buch­sta­ben drauf ge­druckt.

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Es war bald ge­sagt, »Trin­ke mich«, aber die alt­klu­ge klei­ne Ali­ce woll­te sich da­mit nicht über­ei­len. »Nein, ich wer­de erst nach­se­hen«, sprach sie, »ob ein To­ten­kopf dar­auf ist oder nicht.« Denn sie hat­te meh­re hüb­sche Ge­schich­ten ge­le­sen von Kin­dern, die sich ver­brannt hat­ten oder sich von wil­den Tie­ren hat­ten fres­sen las­sen, und in an­de­re un­an­ge­neh­me La­gen ge­ra­ten wa­ren, nur weil sie nicht an die War­nun­gen dach­ten, die ihre Freun­de ih­nen ge­ge­ben hat­ten; zum Bei­spiel, dass ein rot­glü­hen­des Ei­sen brennt, wenn man es an­fasst; und dass wenn man sich mit ei­nem Mes­ser tief in den Fin­ger schnei­det, es ge­wöhn­lich blu­tet. Und sie hat­te nicht ver­ges­sen, dass wenn man viel aus ei­ner Fla­sche mit ei­nem To­ten­kopf dar­auf trinkt, es ei­nem un­fehl­bar schlecht be­kommt.

Die­se Fla­sche je­doch hat­te kei­nen To­ten­kopf. Da­her wag­te Ali­ce zu kos­ten; und da es ihr gut schmeck­te (es war ei­gent­lich wie ein Ge­misch von Kirsch­ku­chen, Sah­nensau­ce, Ana­nas, Pu­ten­bra­ten, Nau­te und Ar­men Rit­tern), so trank sie die Fla­sche aus.

»Was für ein ko­mi­sches Ge­fühl!« sag­te Ali­ce. »Ich gehe ge­wiss zu wie ein Te­le­skop.«

Und so war es in der Tat: jetzt war sie nur noch zehn Zoll hoch, und ihr Ge­sicht leuch­te­te bei dem Ge­dan­ken, dass sie nun die rech­te Höhe habe, um durch die klei­ne Tür in den schö­nen Gar­ten zu ge­hen. Doch erst war­te­te sie ei­ni­ge Mi­nu­ten, ob sie noch mehr ein­schrump­fen wer­de. Sie war ei­ni­ger­ma­ßen ängst­lich; »denn es könn­te da­mit auf­hö­ren«, sag­te Ali­ce zu sich selbst, »dass ich ganz aus­gin­ge, wie ein Licht. Mich wun­dert, wie ich dann aus­sä­he?« Und sie ver­such­te sich vor­zu­stel­len, wie die Flam­me von ei­nem Lich­te aus­sieht, wenn das Licht aus­ge­bla­sen ist; aber sie konn­te sich nicht er­in­nern, dies je ge­se­hen zu ha­ben.

Nach ei­ner Wei­le, als sie merk­te dass wei­ter nichts ge­sch­ah, be­schloss sie, gleich in den Gar­ten zu ge­hen. Aber, arme Ali­ce! Als sie an die Tür kam, hat­te sie das gol­de­ne Schlüs­sel­chen ver­ges­sen. Sie ging nach dem Ti­sche zu­rück, es zu ho­len, fand aber, dass sie es un­mög­lich er­rei­chen konn­te. Sie sah es ganz deut­lich durch das Glas, und sie gab sich alle Mühe an ei­nem der Tisch­fü­ße hin­auf zu klet­tern, aber er war zu glatt; und als sie sich ganz müde ge­ar­bei­tet hat­te, setz­te sich das arme, klei­ne Ding hin und wein­te.

»Still, was nützt es so zu wei­nen!« sag­te Ali­ce ganz böse zu sich selbst; »ich rate dir, den Au­gen­blick auf­zu­hö­ren!« Sie gab sich oft sehr gu­ten Rat (ob­gleich sie ihn sel­ten be­folg­te), und manch­mal schalt sie sich selbst so stren­ge, dass sie sich zum Wei­nen brach­te; und ein­mal, er­in­ner­te sie sich, hat­te sie ver­sucht sich eine Ohr­fei­ge zu ge­ben, weil sie im Cro­quet be­tro­gen hat­te, als sie ge­gen sich selbst spiel­te; denn die­ses ei­gen­tüm­li­che Kind stell­te sehr gern zwei Per­so­nen vor. »Aber jetzt hilft es zu nichts«, dach­te die arme Ali­ce, »zu tun als ob ich zwei ver­schie­de­ne Per­so­nen wäre. Ach! Es ist ja kaum ge­nug von mir üb­rig zu ei­ner an­stän­di­gen Per­son!«

Bald fiel ihr Auge auf eine klei­ne Glas­büch­se, die un­ter dem Ti­sche lag; sie öff­ne­te sie und fand einen sehr klei­nen Ku­chen dar­in, auf wel­chem die Wor­te »Iss mich!« schön in klei­nen Ro­si­nen ge­schrie­ben stan­den. »Gut, ich will ihn es­sen«, sag­te Ali­ce, »und wenn ich da­von grö­ßer wer­de, so kann ich den Schlüs­sel er­rei­chen; wenn ich aber klei­ner da­von wer­de, so kann ich un­ter der Tür durch­krie­chen. So, auf je­den Fall, ge­lan­ge ich in den Gar­ten, – es ist mir ei­ner­lei wie.«

Sie aß ein Biss­chen, und sag­te neu­gie­rig zu sich selbst: »Auf­wärts oder ab­wärts?« Da­bei hielt sie die Hand prü­fend auf ih­ren Kopf und war ganz er­staunt zu be­mer­ken, dass sie die­sel­be Grö­ße be­hielt. Frei­lich ge­schieht dies ge­wöhn­lich, wenn man Ku­chen isst; aber Ali­ce war schon so an wun­der­ba­re Din­ge ge­wöhnt, dass es ihr ganz lang­wei­lig schi­en, wenn das Le­ben so na­tür­lich fort­ging.

Sie mach­te sich also dar­an, und ver­zehr­te den Ku­chen völ­lig.

Zweites Kapitel

Der Tränenpfuhl

Ver­que­rer und ver­que­rer!« rief Ali­ce. (Sie war so über­rascht, dass sie im Au­gen­blick ihre ei­ge­ne Spra­che ganz ver­gaß.) »Jetzt wer­de ich aus­ein­an­der ge­scho­ben wie das längs­te Te­le­skop das es je gab! Lebt wohl, Füße!« (Denn als sie auf ihre Füße hin­ab­sah, konn­te sie sie kaum mehr zu Ge­sicht be­kom­men, so weit fort wa­ren sie schon.) »O mei­ne ar­men Füß­chen! Wer euch wohl nun Schu­he und St­rümp­fe an­zie­hen wird, mei­ne Bes­ten? Denn ich kann es un­mög­lich tun! Ich bin viel zu weit ab, um mich mit euch ab­zu­ge­ben! Ihr müsst se­hen, wie ihr fer­tig wer­det. Aber gut muss ich zu ih­nen sein«, dach­te Ali­ce, »sonst ge­hen sie viel­leicht nicht, wo­hin ich ge­hen möch­te. Lass mal se­hen: ich will ih­nen je­den Weih­nach­ten ein Paar neue Stie­fel schen­ken.«

Bild: 001_Alice_im_Wunderland_008.jpg

Und sie dach­te sich aus, wie sie das an­fan­gen wür­de. »Sie müs­sen per Fracht ge­hen«, dach­te sie; »wie drol­lig es sein wird, sei­nen eig­nen Fü­ßen ein Ge­schenk zu schi­cken! Und wie ko­misch die Adres­se aus­se­hen wird! –

An
Ali­ce’s rech­ten Fuß, Wohl­ge­bo­ren,
Fuß­tep­pich,
nicht weit vom Ka­min,
mit Ali­ce’s Grü­ßen.

Oh, was für Un­sinn ich schwat­ze!«

Gera­de in dem Au­gen­blick stieß sie mit dem Kopf an die De­cke: sie war in der Tat über neun Fuß groß. Und sie nahm so­gleich den klei­nen gol­de­nen Schlüs­sel auf und rann­te nach der Gar­ten­tür.

Arme Ali­ce! Das Höchs­te was sie tun konn­te war, auf der Sei­te lie­gend, mit ei­nem Auge nach dem Gar­ten hin­un­ter­zu­se­hen; aber an Durch­ge­hen war we­ni­ger als je zu den­ken. Sie setz­te sich hin und fing wie­der an zu wei­nen.

»Du soll­test dich schä­men«, sag­te Ali­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­