Wolfgang Kaleck
Mit zweierlei Maß
Der Westen und das Völkerstrafrecht
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
Politik bei Wagenbach. Herausgegeben von Patrizia Nanz.
© 2012 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin.
Umschlaggestaltung/Reihenkonzept: Julie August, Berlin.
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN 978 3 8031 41088
»Winners are never tried for war crimes.«
Einleitung:
Gewinner eines kriegerischen Konfliktes würden niemals für die dort begangenen Kriegsverbrechen vor ein Tribunal gestellt werden, behauptete der UN-Repräsentant von Sri Lanka in einem Interview im Sommer 2009. Die Armee seines Landes ist verantwortlich für etwa 40 000 zivile Opfer und Tausende von Gefolterten und Vergewaltigten während und nach dem Krieg gegen die tamilische Befreiungsbewegung, die nach dreißig Jahren einer auf beiden Seiten brutal geführten militärischen Auseinandersetzung im Mai 2009 besiegt wurde. Befragt nach einer juristischen Aufarbeitung staatlicher Verbrechen, stellt er klar: Kriegsverbrechertribunale seien Verlierern vorbehalten. Wenn man Gewinner überhaupt strafrechtlich verfolgen wolle, müsse man mit anderen Staaten anfangen. Denn die Regierung von Sri Lanka habe zur Bekämpfung der aufständischen Tamilen weder Atombomben abgeworfen noch ganze Städte zerstört.
Knapp siebzig Jahre nach dem Abwurf der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki nehmen längst nicht nur westliche Großmächte das Privileg der Straflosigkeit von Siegern für sich in Anspruch, und die Auseinandersetzung über die strafrechtliche Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen wird bis in die Gegenwart von realpolitischen Argumenten beherrscht. Selbst wenn internationale Strafverfolger aktiv werden wie im Juni 2011, als gegen Libyens mittlerweile getöteten Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi ein Haftbefehl beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag erging, flammten regelmäßig kontroverse Diskussionen unter Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern auf: Die einen nahmen in diesem Fall Anstoß daran, dass nur Gegner der NATO wie Gaddafi und Milošević oder Bürger afrikanischer Staaten sich vor internationalen Tribunalen zu verantworten haben. Die anderen warben hingegen um Vertrauen für den IStGH. Zwar wäre es richtig, wenn die von den USA und deren Alliierten nach dem 11. September 2001 begangenen Taten, etwa die systematische Folter von Kriegsgefangenen und Terrorismusverdächtigen, ebenfalls strafrechtlich verfolgt würden. Doch man müsse dem jungen Den Haager Gericht die Möglichkeit geben, sich in einer von den Großmächten dominierten internationalen Landschaft zu etablieren. Daher sei auch das machtpolitisch motivierte Vorgehen gegen Diktatoren wie Gaddafi sinnvoll, um den Weg für eine universelle Strafverfolgungspraxis zu bereiten.
Die neuere Geschichte des Völkerstrafrechts beginnt verheißungsvoll mit den Nürnberger Prozessen, deren Strafverfolgungsprogramm jedoch aus politischen Gründen unvollständig blieb. Sie stockte während des Kalten Kriegs, in dem von den westlichen Mächten trotz der nach 1945 formulierten menschenrechtlichen Prinzipien und Normen zahlreiche Völkerstraftaten bei der Bekämpfung antikolonialer Befreiungsbewegungen begangen wurden; im gleichen Zeitraum verübten Stalin und seine Nachfolger sowie China auch Verbrechen größerer Dimension. In den 1970ern und 1980ern fanden vor Gerichten in Athen, Lissabon und Buenos Aires wichtige lokale, aber weltweit wenig beachtete Strafprozesse gegen gestürzte verbrecherische Regime statt. In den 1990ern wird die Entwicklung auf internationaler Ebene mit den Tribunalen zu Jugoslawien und Ruanda und dem Aufbau des Internationalen Strafgerichtshofs, erneut begleitet von viel Optimismus, wieder aufgenommen. Zurzeit, etwa zehn Jahre seit der IStGH existiert und fünfzehn Jahre nachdem die Ermittlungen im Fall Pinochet vor einem Untersuchungsrichter in Spanien begannen, wird die internationale Strafjustiz vielfältig kritisiert und mit Skepsis betrachtet.
Denn die Praxis des Völkerstrafrechts ist oft unvollkommen, Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Es kann keine Rede davon sein, dass jeder Diktator und jeder Folterknecht der Erde vor den Strafverfolgern aus Den Haag und anderswo zittern müsste. In diesem Buch geht es um eine der größten Schwächen des Völkerstrafrechts: dass es politisch selektiv und überwiegend gegen schwache, gefallene und besiegte Potentaten und Generäle angewandt wird. Aber es wird auch von den Bemühungen sozialer Bewegungen und von Juristinnen und Juristen erzählt, diejenigen Menschenrechtsverletzer vor Gericht zu bringen, die aus mächtigen Staaten stammen. Die Rede ist davon, dass vor dem seit 1. Juli 2002 tätigen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag bislang nur afrikanische Tatverdächtige erscheinen mussten, obwohl in den letzten zehn Jahren an vielen Orten der Welt Menschenrechtsverletzungen begangen wurden. Für viele dieser Verbrechen ist Den Haag zunächst gar nicht zuständig, weil sie in Staaten stattfanden, die sich der Jurisdiktion des Gerichts nicht unterworfen haben. Aber warum entschied der UN-Sicherheitsrat im Falle Libyens im Februar 2011 so schnell, den Chefankläger des IStGH zu ermächtigen, Ermittlungen gegen die Regierung Gaddafi zu führen, während zu Beginn des Jahres 2009 weder im Falle von Israels Gaza-Krieg noch bei den massiven Kriegsverbrechen der Regierung von Sri Lanka gegen die tamilische Bevölkerung noch im Falle der Repression der iranischen Diktatur gegen Oppositionelle nach den Wahlen eine Resolution erging? Auch dort, wo derartige Verbrechen ebenfalls ermittelt und bestraft werden könnten, nämlich vor nationalen Gerichten, geschah wenig. So wurden von den Strafverfolgungsbehörden Westeuropas, unter deren Zuständigkeit ein Teil der im Ausland verübten Völkerstraftaten fällt, bislang neben Tätern aus der Zeit des Nationalsozialismus und solchen aus dem ehemaligen Jugoslawien vor allem Angeklagte aus afrikanischen Staaten abgeurteilt. Zwar nutzten Menschenrechtsorganisationen in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten seit den Ermittlungen gegen den chilenischen Ex-Diktator Augusto Pinochet und den argentinischen Ex-Junta-Chef Jorge Videla das Völkerstrafrecht, indem sie in einer Vielzahl von Fällen juristisch aktiv wurden und Verfahren einleiteten. Diese Bemühungen richteten sich beispielsweise gegen Angehörige der Administration des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush und US-Militärs, gegen israelische Militärs, gegen russische und chinesische Verdächtige von Völkerstraftaten. Doch die zuständigen Strafverfolgungsbehörden schoben diesen Bemühungen zumeist frühzeitig einen Riegel vor.
Aus juristischer und menschenrechtlicher Perspektive bestehen wenig Zweifel, dass die überwiegende Anzahl der in den letzten zwei Dekaden vor den verschiedenen internationalen Tribunalen und nationalen Gerichten eingeleiteten Völkerstrafverfahren selten die Falschen traf, um es salopp zu sagen. Dass in Jugoslawien, in Ruanda, im Sudan und im Kongo Völkerstraftaten begangen wurden und die derzeitigen Tatverdächtigen dabei eine Rolle spielten, die es strafrechtlich zu beurteilen gilt, steht für kaum einen professionellen Beobachter in Frage. Die Frage ist vielmehr, warum nur in diesen Fällen und nur gegen diese Verdächtigen Strafverfahren stattfinden, warum überhaupt nur so wenige verurteilt werden.
Man könnte zur Beantwortung dieser Frage sicherlich auf zynische Machtpolitiker und politische Theoretiker wie Carl Schmitt und den Realisten Hans Morgenthau verweisen, die in ihren Theorien den Vorrang des Politischen beziehungsweise der Realpolitik in den internationalen Beziehungen betonen und dem Recht allenfalls eine untergeordnete Rolle zubilligen. Mit der nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmenden Verrechtlichung auf internationaler Ebene und mit der Entwicklung der völkerstrafrechtlichen Praxis an zahlreichen internationalen Tribunalen scheint diese Position in Reinform überholt zu sein. Der französische Jurist Pierre Hazan kommentierte gar pointiert, die internationale Politik habe sich von der negativen Anthropologie der Realisten zum evangelischen Optimismus des Liberalismus bewegt. Jedoch schimmern Versatzstücke der realistischen Theorie immer dann durch, wenn mächtige Staaten die Nichtanwendung des Völkerstrafrechts rechtfertigen. Klassisch wurden die Äußerungen des selbst der Beteiligung an Völkerstraftaten wie den Kriegsverbrechen in Vietnam und Kambodscha verdächtigen ehemaligen US-Außenministers Henry Kissinger. Zur Diskussion über die universelle Jurisdiktion bei Völkerstraftaten führte er aus, dass die Diktatur der Werte in der Geschichte oft zu Inquisition und Hexenjagd geführt habe und die Tyrannei der Regierungen durch die der Richter ersetzt zu werden drohe. Hier soll es weniger um diese theoretische Auseinandersetzung gehen, obwohl die Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Politik eine maßgebliche Rolle spielt, so dass in allen Kapiteln konkret darauf eingegangen wird.
Argumentativer Ausgangspunkt des Völkerstrafrechts ist die Annahme, dass Verbrechen einer bestimmten Dimension die Menschheit als Ganzes berühren und diese zur Verhinderung der Taten, aber auch zur Bestrafung der Verantwortlichen verpflichtet ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn an den Orten, an denen diese Geschehen organisiert und ausgeführt werden, keine oder jedenfalls keine ausreichende juristische Aufarbeitung stattfindet.
Das Völkerstrafrecht regelt in internationalen und nationalen Statuten die Strafbarkeit von Individuen. Es stellt eine Mischung dar aus Völkerrecht, das traditionell die Beziehungen zwischen den Staaten regelt, und dem üblicherweise national normierten Strafrecht, in dem es um den Vorwurf von Straftaten gegen Einzelpersonen geht. Die im Falle der völkerrechtlichen Verbrechen entwickelten Straftatbestände basieren auf Völkergewohnheitsrecht, also der von einer Rechtsüberzeugung getragenen tatsächlichen rechtlichen Praxis, und auf völkerrechtlichen Abkommen wie den Genfer Konventionen, der Völkermord- oder der Anti-Folter-Konvention. Diese verpflichten die Staaten, auch national gegen Personen vorzugehen, die wegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Folter verdächtigt werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg einigten sich die alliierten Siegermächte bei den Nürnberger und Tokioter Prozessen erstmals darauf, bestimmte Straftatbestände zu formulieren, um Individuen in die Pflicht zu nehmen – statt der Staaten, in deren Namen sie handelten –, und um Strafprozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher aus Nazideutschland und Japan durchzuführen.
In allen aktuellen Statuten der internationalen Gerichtshöfe sind die wichtigsten Straftatbestände des Völkerstrafrechts verankert, die sogenannten Kernverbrechen (core crimes): Kriegsverbrechen (schwerwiegende Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, das bestimmte Methoden der Kriegsführung verbietet), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (die Begehung von Tötungen, Folter und Vergewaltigung und anderer Taten im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung) und Völkermord (nach der ebenso klassischen wie hoch umstrittenen Definition eine Vielzahl von Handlungen, die sich gegen die essentiellen Lebensbedingungen einer Bevölkerungsgruppe richten, und das mit der Intention, diese auszulöschen). Unter bestimmten Voraussetzungen sind Aggressionsverbrechen, also völkerrechtswidrige Angriffskriege, mittlerweile gemäß dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs strafbar, ohne dass allerdings eine universelle Verfolgung derzeit rechtlich möglich wäre.
Eine große Rolle bei der strafrechtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen sollten die nationalen Gerichte spielen – in erster Linie natürlich diejenigen, auf deren Territorium oder von deren Staatsbürgern die Taten begangen wurden. Daher sind diese nationalen Gerichte zuvorderst zuständig. Nach den bisherigen Erfahrungen besteht dort eher eine Chance der Strafverfolgung, wenn Regimewechsel abrupt erfolgen, nicht aber bei verhandelten Machtübergaben. In beiden Konstellationen richten sich die strafrechtlichen Vorwürfe jedoch oft gegen gestern wie heute mächtige gesellschaftliche Eliten; deswegen werden die lokalen Verfahren zumeist aus politischen Gründen blockiert. Der Internationale Strafgerichtshof und Gerichte in Drittstaaten haben in solchen Situationen eine komplementäre Zuständigkeit, quasi als back-up-System, als letzte Möglichkeit, um eine absolute Straflosigkeit zu vermeiden.
Die Gerichte, vor denen Völkerstraftaten verhandelt wurden, sind zum einen international: vom Nürnberger Alliierten Militärtribunal über die UN-Gerichtshöfe zu Jugoslawien und Ruanda zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Dazu kam seit Mitte der 1990er Jahre eine Reihe gemischt national-internationaler Tribunale zu Kambodscha, Sierra Leone, Osttimor und Libanon.
In kleinerem Umfang übernehmen seit 1995 Gerichte aus dritten, zumeist westeuropäischen, Staaten die Strafverfolgung. Diese Gerichte können extraterritoriale Verbrechen verfolgen, wenn Bürger des eigenen Staates auf Täter- oder Opferseite involviert sind, nach dem sogenannten aktiven oder passiven Personalitätsprinzip, oder wenn das eigene Territorium von der Tat betroffen ist, nach dem Territorialitätsprinzip. Wenn wie im Falle Pinochet Spanien und Großbritannien tätig werden, ohne dass personale oder territoriale Anknüpfungspunkte bestehen, ist die Zuständigkeit nach dem Weltrechtsprinzip begründet; denn Völkerstraftaten können auch ohne direkten Bezug zum Drittstaat universell verfolgt werden.
Völkerstrafrecht wird mithin von internationalen, gemischt national-internationalen (hybriden) und nationalen Gerichten angewandt. Daher soll es hier nicht nur um den Internationalen Strafgerichtshof und die Tribunale, sondern um das Zusammenspiel zwischen allen genannten Gerichten und Strafverfolgungsbehörden in der Praxis des Völkerstrafrechts gehen.
Zwischen dem Anspruch juristischer Normen und der Wirklichkeit besteht immer eine Differenz. In der Praxis des Völkerstrafrechts herrscht jedoch eine derart evidente Ungleichbehandlung von Fällen, dass die Legitimität der Normen und ihr universeller Geltungsanspruch in Frage gestellt sind. Die Ausgangsthese dieses Bandes ist, dass es Doppelstandards bei der juristischen Reaktion auf schwere Menschenrechtsverletzungen gibt und gab, weil sich eine Praxis herausgebildet hat, wonach in nahezu allen historischen Momenten über die Strafverfolgung von Völkerstraftaten kontextabhängig politisch entschieden wird – und zwar sowohl horizontal als auch vertikal selektiv.
Horizontal bedeutet, dass von ähnlich gelagerten Sachverhalten während eines historischen Zeitraumes nur ein Teil als Völkerstraftaten verfolgt wurde. Das Erörtern dieser Problematik provoziert fast automatisch Widerwillen und Einwände.
So wurde in der bundesdeutschen Diskussion jahrelang Wert darauf gelegt, die Vernichtung des europäischen Judentums durch das NS-System als historisch singuläres Ereignis zu betrachten und damit solche historischen Vergleiche abzuwehren, die zur Relativierung des Holocausts dienen. In der Genozidforschung wird besonderes Augenmerk auf die staatlich organisierte intentionale Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen gerichtet. Der Historiker Christian Gerlach schlägt hingegen die Kategorie der extrem gewalttätigen Gesellschaften vor, um die Beteiligung staatlicher und nichtstaatlicher Akteure und andere Gewaltformen angemessen behandeln zu können. Diese Diskussion über die historische Einordnung der zu behandelnden Geschehen sollte man im Hinterkopf behalten, wenn hier im Weiteren an den juristischen Definitionen angeknüpft wird, wohlwissend, dass deren wissenschaftlicher Wert oft zweifelhaft ist.
Neben dieser horizontalen ist die vertikale Dimension der Selektivität zu berücksichtigen, also die Frage, gegen welche Personen in einer bestimmten Situation Strafverfahren eingeleitet werden und gegen welche nicht. Oft werden hochrangige Tatverdächtige von der Strafverfolgung ausgenommen. Das Führen von Verfahren gegen niedrigrangige Soldaten oder ausgesuchte Sündenböcke, das scape goating, ist ein Ausweg, der gerne gewählt wird, um die nationale und internationale Öffentlichkeit zu beruhigen und schmerzhafte Ermittlungen gegen hohe Verantwortliche zu vermeiden.
Gerade bei der Betrachtung der Praxis internationaler und nationaler Gerichte spielt allerdings nicht nur die Dimension Sieger und Besiegte eines bewaffneten Konflikts eine Rolle. Auf globaler Ebene spielen die Dichotomien Staaten versus nichtstaatliche Akteure, Kolonialmacht und Kolonie, Großmächte und andere Staaten sowie der Nord-Süd-Gegensatz eine entscheidende Rolle für den Ausgang von Rechtstreitigkeiten. Auf nationaler Ebene ist von sich überkreuzenden Benachteiligungslinien auszugehen, hier entfalten »klassen«-, »gender«- und »rassen«-spezifische Hierarchien eine große Bedeutung. Der kamerunische Historiker Kum’a Ndumbe III. weist darauf hin, dass Deutschland und Japan nominell zu den Verlierern des Kriegs, aber letztlich doch zu den Hauptprofiteuren auf internationaler Bühne zählen. Die wahren Verlierer, die Hunderte von Millionen ohne eigene Stimme, lebten in Afrika, Asien, Lateinamerika und der Pazifikregion, selbst wenn sie nominell auf der Seite der Sieger gestanden haben.
Die schätzungsweise 200 000 aus Korea und anderen ostasiatischen Ländern stammenden Frauen, die als Zwangsprostituierte von der japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg versklavt und vergewaltigt wurden, sind hierfür ein eklatantes Beispiel: Ihr Fall ist nicht vor den Tokioter Kriegsverbrechertribunalen verhandelt worden, weil Korea nicht an dem Tribunal beteiligt wurde; das Schicksal der Frauen wurde auch mehrere Jahrzehnte im eigenen Land und erst recht in der politischen und ökonomischen Großmacht Japan ignoriert. Obwohl in fast allen der abgehandelten historischen Fälle im Rahmen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen neben Folter und Mord sexualisierte Gewalt verübt wurde, bleibt diese Form der Gewaltausübung bis heute weitestgehend von Strafverfolgung ausgespart.
Jede einzelne der hier skizzierten Situationen erfordert eine umfassende transdisziplinäre Analyse. Die jeweiligen Reaktionen auf die Menschenrechtsverletzungen berühren nicht nur alle Ebenen der betroffenen Gesellschaften, sondern oft auch der internationalen Gemeinschaft. Die Wirkungen justitieller Interventionen sind bisher selten umfassend erforscht worden. Dieser Band erhebt nicht zuletzt deswegen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Ein solcher würde bereits an der Menge der seit 1945 geführten bewaffneten Konflikte und der massiven Menschenrechtsverletzungen scheitern. Hier sollen vielmehr ausgewählte Völkerstraftaten der westlichen Alliierten des Zweiten Weltkriegs diskutiert werden, also Straftaten derer, die zuvor in Nürnberg »das Gericht bildeten«. Denn die westlichen Staaten beanspruchen demokratisch und rechtsstaatlich zu agieren, weisen zumeist ein anderes Maß an Transparenz als von der Außenwelt abgeschlossene Diktaturen und mehr oder weniger ausgeprägte Zivilgesellschaften auf. Sie sind daher im rechtlichen und völkerstrafrechtlichen Diskurs erreichbar. Die Auseinandersetzung auch mit lange zurückliegenden Verbrechen des Westens soll dazu befähigen, einerseits die tatsächlichen Fortschritte im Völkerstrafrecht zu würdigen, andererseits die starken Vorbehalte gerade aus dem globalen Süden zu verstehen, dessen Bewohner angesichts kolonialer Vergangenheit und interventionistischer Gegenwart skeptisch bleiben.
Da die meisten der hier angesprochenen Strafverfahren lange andauern und hochkomplex sind, kann ihre Wirkung erst in Zukunft zuverlässig beurteilt werden. In diesem Text soll es mehr um das Aufspüren von Tendenzen und Gefahren und um die Formulierung von Ansätzen für Gegenkonzepte gehen.
Was in Nürnberg mit dem Urteil vom 30. September und 1. Oktober 1946 vor dem Internationalen Militärtribunal (IMT) sowie dann in den zwölf Nachfolgeprozessen vor den Nürnberger Militärtribunalen (NMT) von 1946 bis 1949 gelang, war weit mehr als die Verurteilung von 171 Hauptkriegsverbrechern. Seit den Nürnberger Prozessen steht der Anspruch im Raum, dass alle diejenigen, die Völkermord, Kriegsverbrechen und Aggressionskriege begehen, mit einer Verurteilung zu rechnen haben, auch wenn sie die Taten als Angehörige eines Staatsapparates verübt hatten, der sie dazu legitimiert hat. Allerdings offenbarte sich bereits anlässlich der Nürnberger und Tokioter Prozesse gegen japanische Kriegsverbrecher die Art von Problemen, die das Völkerstrafrecht seitdem begleiten. Im beginnenden Kalten Krieg kam es zum ersten Sündenfall in der jungen Praxis des Völkerstrafrechts: Hohe Funktionsträger wurden nicht vor Gericht gebracht, Verfahren aus Kosten- und aus politischen Gründen nicht durchgeführt, eine Reihe von bereits Verurteilten wurde amnestiert und sowohl im Nachkriegsdeutschland als auch noch eklatanter im Nachkriegsjapan wurden weite Teile der Eliten aus politischen Gründen nicht strafverfolgt, sondern nahmen herausragende Positionen in Politik, Militär, Justiz und Wirtschaft ein.
Der Hauptvorwurf, der von den deutschen Verteidigern der Angeklagten, später von der deutschen Juristengemeinde und einem Teil der deutschen Öffentlichkeit gegen die Nürnberger Prozesse erhoben wurde, lautete, die Alliierten hätten »Siegerjustiz« geübt. Nun hatten die Deutschen viele Gründe für diese Kritik: Den Angeklagten und potentiellen Angeklagten ging es um die Verteidigung der eigenen, oft auch materiellen Interessen, den Ewiggestrigen um Geschichtsrevisionismus und viele andere wollten das Geschehen einfach verdrängen. Auf ähnliche Konstellationen stößt man in der Geschichte des Völkerstrafrechts allenthalben: Die Täter und die ihnen Nahestehenden bemühen sich in den Strafverfahren und in der öffentlichen Diskussion, von den Tatvorwürfen abzulenken und sich nach allen Regeln der Kunst zu verteidigen, indem sie die Verfahren von vornherein in Frage stellen. Nicht alle Argumente sind deswegen abwegig, weil sie von den Angeklagten vorgebracht werden. Im zeitgenössischen anglo-amerikanischen Rechtsdiskurs wurden harte Diskussionen über die Qualität der Nürnberger Prozesse geführt; beispielhaft hierfür steht das Verdikt des nach Kalifornien ausgewanderten jüdischen Wiener Rechtsgelehrten Hans Kelsen vom privilegium odiosum, das den besiegten Staaten von den Siegern aufgedrückt wurde, indem Letztere ein Gericht schufen, das ausschließlich aus Angehörigen der von den Taten betroffenen siegreichen Staaten bestand.
Die Einwände bezogen sich unter anderem auf das Mandat der alliierten Gerichte, deren Rechtsgrundlage, auf das Verfahren sowie das Rückwirkungsverbot bezüglich einzelner Anklagevorwürfe wie etwa der Führung eines Angriffskriegs. Das zwischen den Regierungen der Siegermächte, Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich, geschlossene Londoner Abkommen vom 8. August 1945, insbesondere das Statut für den Internationalen Militärgerichtshof, gab die Rechtsgrundlagen, die Auswahl der Angeklagten und der Richter des Tribunals vor. Die Angeklagten kamen aus den Reihen der besiegten Deutschen, die Richter waren Angehörige der Siegermächte. Otto Kirchheimer, ein in die USA emigrierter Analytiker politischer Justiz, hält dem entgegen, dass in »allen politischen Prozessen, die vor Gerichten eines siegreichen neuen Regimes« stattfänden, die Richter in gewissem Sinne »Siegerrichter« seien und im Übrigen es nicht unbedingt von Vorteil für die Angeklagten hätte sein müssen, wenn deutsche Richter, die sicherlich nicht aus den Reihen der Nationalsozialisten gekommen wären, geurteilt hätten.
Mit ähnlichen Argumenten wurden die Tokioter Prozesse vor dem Internationalen Militärtribunal für den Fernen Osten kritisiert, die sich gegen 28 japanische Generäle und Politiker richteten, denen anders als den Nürnberger Angeklagten ausschließlich der Vorwurf der Führung mehrerer Angriffskriege gemacht wurde. Obwohl das Tribunal internationaler besetzt war, die elf Richter kamen unter anderem von den vier alliierten Hauptsiegermächten sowie aus China, Australien, den Niederlanden, Indien und den Philippinen, wurde und wird bis heute der Vorwurf der Siegerjustiz erhoben. In dem von 1946 bis 1948 dauernden Prozess wurden 25 Angeklagte zu Todesstrafen und zu größtenteils lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Zudem wurden von 1945 bis 1951 weitere 5700 Angehörige des japanischen Militärs in nachfolgenden Verfahren vor Gericht gestellt, eine Vielzahl von Prozessen fand zudem in anderen ostasiatischen Ländern statt.
Sowohl in Nürnberg als auch in Tokio wurde geltend gemacht, die Anwendung bestimmter Straftatbestände sei unter Verletzung des Rückwirkungsverbotes nulla poena sine lege, keine Strafe ohne Gesetz, erfolgt. Rechtsstaatlich umstritten waren die Straftatbestände Verbrechen gegen den Frieden sowie Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation und die gesamte Konstruktion der Verschwörung, conspiracy. Dennoch halten nach heute fast einhelliger juristischer Überzeugung die Gesamtkonstruktion des Tribunals, die Zusammensetzung des Gerichts und das Verfahren einer rechtlichen Überprüfung stand. Der Internationale Militärgerichtshof war kein außerordentliches Siegertribunal, sondern versuchte, ein ordentliches internationales Strafgericht zu sein. Man verfuhr so fair, wie es nach damaligen Standards üblich war, oder wie es Kirchheimer ausdrückt: Gemessen an dem Kriterium einer »gleichsam schöpferischen Spannung des nicht festgelegten Ausgangs« sei Nürnberg kein »Scheinprozess« gewesen.