Inhalt

Titel

Widmung

Motto

Teil 1 - Purgatorium

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3

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5

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9

10

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Teil 2 - Inferno

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Teil 3 - Paradiso

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Danksagung

Impressum

Cover

Andrea Cremer

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Dunkle Zeit

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Michaela Link

Für Will, für immer

Gewalt und Betrug sind die zwei Haupttugenden im Kriege.

Thomas Hobbes, Leviathan

Teil 1

PURGATORIUM

Ich müde und wir beide unbekannt

Mit unserm Weg, der vor uns lag so eben

Und einsam wie ein Pfad im Wüstensand.

Dante, Purgatorio

Kapitel 1

Die Schreie ließen sich in der Dunkelheit nicht ausblenden. Ein schreckliches Gewicht lastete auf meiner Brust, sodass ich um jeden Atemzug kämpfen musste, während ich dalag und in meinem eigenen Blut ertrank. Keuchend setzte ich mich auf und blinzelte in die Schatten.

Das Schreien hatte aufgehört. Der Raum wurde still, erdrückt von Schweigen. Ich schluckte zweimal schmerzhaft, um meinen ausgedörrten Mund zu befeuchten. Erst da begriff ich, dass die Schreie meine eigenen gewesen waren, dass jeder Ausruf mir die Kehle weiter aufgeraut hatte, bis sie wund geworden war. Ich hob die Hände an die Brust. Meine Finger strichen über meine Bluse. Der Stoff war glatt, nicht zerfetzt von den Armbrustbolzen. In dem fahlen Licht konnte ich nicht gut sehen, aber ich erkannte, dass die Bluse nicht mir gehörte, oder besser, dass es sich nicht um das von Shay geborgte Kleidungsstück handelte, das ich in jener Nacht getragen hatte, als sich alles verändert hatte.

Ein Sturm von Bildern wirbelte mir durch den Kopf. Eine Schneedecke. Ein dunkler Wald. Das Dröhnen von Trommeln. Ein vielstimmiges Geheul, das mich zur Vereinigung rief.

Die Vereinigung. Das Blut erstarrte mir in den Adern. Ich war vor meinem eigenen Schicksal davongelaufen.

Ich war Ren davongelaufen. Beim Gedanken an den Bane-Alpha schnürte sich mir die Brust zusammen, aber als ich die Hände vors Gesicht schlug, trat eine andere Gestalt an Rens Stelle. Ein kniender Junge mit verbundenen Augen und gefesselten Händen allein im Wald.

Shay.

Ich konnte seine Stimme hören, konnte die Berührung seiner Hände auf meiner Wange spüren, während ich immer wieder das Bewusstsein verlor. Was war geschehen? Er hatte mich so lange in der Dunkelheit gelassen Ich war immer noch allein. Aber wo?

Meine Augen gewöhnten sich an das schwache Licht im Raum. Sonnenlicht, gefiltert durch den bewölkten Himmel, fiel durch hohe Bleiglasfenster herein, die sich über die gesamte gegenüberliegende Wand erstreckten und den bleichen Schatten einen rosigen Schimmer verliehen. Ich suchte den Raum nach einem Ausgang ab und entdeckte rechts vom Bett eine hohe Eichentür. Drei, vielleicht fünf Meter von mir entfernt.

Ich brachte es fertig, ruhiger zu atmen, aber mein Herz hämmerte noch immer. Ich schwang die Beine über die Bettkante und legte zaghaft Gewicht auf meine Füße. Das Stehen bereitete mir keine Mühe, und ich spürte, wie jeder Muskel jäh wieder lebendig wurde, angespannt und straff, zu allem bereit.

Ich wäre in der Lage zu kämpfen und zu töten, wenn es sein musste.

Das Geräusch von Stiefelschritten drang an meine Ohren. Der Knauf drehte sich, und die Tür schwang nach innen auf. Ein Mann stand dort, den ich nur ein einziges Mal zuvor gesehen hatte dichtes Haar, dunkel, wie schwarzer Kaffee. Seine Gesichtszüge waren wie gemeißelt, stark, kantig, leicht durchzogen von Furchen und bedeckt mit den Schatten eines seit mehreren Tagen nicht rasierten, grau melierten Stoppelbarts vernachlässigt, aber trotzdem anziehend.

Ich hatte sein Gesicht gesehen, Sekunden bevor er mich mit dem Knauf seines Schwertes bewusstlos geschlagen hatte. Meine Reißzähne schärften sich, und ein Knurren dröhnte tief in meiner Brust.

Er öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber ich verwandelte mich in eine Wölfin und duckte mich, die Reißzähne entblößt, während ein stetiges Knurren aus meiner Kehle drang. Ich hatte zwei Möglichkeiten: ihn in Stücke reißen oder an ihm vorbeistürzen. Vermutlich blieben mir nur wenige Sekunden für eine Entscheidung.

Er griff sich an die Taille, schob seinen langen, ledernen Staubmantel beiseite und legte die Hand auf den Griff eines langen, geschwungenen Säbels.

Also ein Kampf.

Meine Muskeln zitterten, während ich mich duckte und auf seine Kehle konzentrierte.

»Warte!« Er ließ den Griff des Säbels los und hob die Hände, um mich zu beschwichtigen.

Verblüfft von dieser Geste und ein wenig verärgert über seine Anmaßung erstarrte ich. So leicht würde ich mich nicht beruhigen lassen. Nach einem schnellen Schnapper mit den Reißzähnen riskierte ich einen Blick in den Flur hinter ihm.

»Das willst du nicht tun«, sagte er und trat in mein Sichtfeld.

Meine Antwort bestand aus einem Knurren.

Und du willst nicht herausfinden, wozu ich fähig bin, wenn man mich in die Enge treibt.

»Ich verstehe den Impuls«, fuhr er fort und verschränkte die Arme vor der Brust; das Schwert steckte in seiner Scheide. »Du kommst vielleicht an mir vorbei, dann triffst du am Ende des Flurs auf einige Wächter. Und wenn du an denen vorbeikommst was ich dir durchaus zutraue, da du eine Alpha bist, wirst du an jedem der Ausgänge auf eine größere Gruppe von Wächtern stoßen.«

»Da du eine Alpha bist.« Woher weiß er, wer ich bin?

Immer noch knurrend wich ich zurück und warf einen Blick über die Schulter zu den hohen Fenstern hinüber. Ich könnte mühelos hindurchspringen. Es würde wehtun, aber solange der Abgrund nicht zu tief war, würde ich überleben.

»Keine Option«, sagte er mit einem Blick zu den Fenstern.

Was ist dieser Typ? Ein Gedankenleser?

»Da draußen geht es über fünfzehn Meter in die Tiefe, und unten wartet solider Marmor.« Er machte einen Schritt vorwärts. Ich wich erneut zurück. »Und niemand möchte, dass du dich verletzt.«

Das Knurren erstarb in meiner Kehle.

Er senkte die Stimme und sprach langsam weiter. »Wenn du wieder deine menschliche Gestalt annehmen würdest, könnten wir reden.«

Ich knirschte frustriert mit den Zähnen und rutschte über den Boden. Aber wir wussten beide, dass ich von Sekunde zu Sekunde unsicherer wurde.

»Wenn du versuchst wegzulaufen«, fuhr er fort, »werden wir gezwungen sein, dich zu töten.«

Er sagte es so gelassen, dass ich einen Moment brauchte, um die Worte zu verdauen.

Ich stieß ein scharfes Bellen des Protests aus, das sich in dunkles Gelächter verwandelte, während ich in eine menschliche Gestalt wechselte.

»Ich habe gedacht, hier will mir niemand etwas antun.«

Einer seiner Mundwinkel zuckte hoch. »Wollen wir auch nicht. Calla, ich bin Monroe.«

Er machte einen Schritt vorwärts.

»Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte ich und ließ die Reißzähne aufblitzen.

Er kam nicht näher.

»Sie haben noch nicht versucht, mich zu töten«, erwiderte ich und suchte nach wie vor den Raum nach etwas ab, das mir einen taktischen Vorteil bieten konnte. »Was jedoch nicht bedeutet, dass ich Ihnen trauen kann. Wenn ich sehe, dass dieser Stahl, der an Ihrem Gürtel hängt, sich auch nur um zwei Zentimeter bewegt, verlieren Sie einen Arm.«

Er nickte.

Fragen hämmerten in meinem Schädel und bescherten mir Kopfschmerzen. Das Gefühl der Atemlosigkeit drohte mich erneut zu überwältigen. Ich konnte es mir nicht leisten, in Panik zu geraten. Und ebenso wenig, eine Schwäche zu zeigen.

Tief in mir regten sich Erinnerungen, kreiselten unter meiner Haut, bis sich die feinen Härchen auf meinen Armen aufrichteten. Schmerzensschreie hallten in meinem Kopf wider. Ich schauderte und sah Larven um mich herumwabern wie nebelhafte Schatten, während über mir Sukkuben schrien. Das Blut gefror mir in den Adern.

»Monroe! Der Junge ist hier drüben!«

»Wo ist Shay?«

Bei der Erwähnung seines Namens stockte mir die Stimme, und Entsetzen stieg in meiner Kehle auf, während ich auf Monroes Antwort wartete.

Bruchstücke aus der Vergangenheit huschten mir durch den Sinn, ein Nebel von Bildern, die nicht scharf bleiben wollten. Ich kämpfte mit den Erinnerungen, versuchte, sie einzufangen und festzuhalten, um zu begreifen, was geschehen, wie ich hierhergekommen war. Ich erinnerte mich daran, durch schmale Flure gerannt zu sein, begriffen zu haben, dass man uns in die Enge getrieben hatte, und dann hatten wir den Weg in die Bibliothek des Rowan Estate gefunden. Shays Onkel, Bosque Mar, untergrub meinen Zorn mit Zweifeln an dem, was uns widerfuhr.

Shay umklammerte meine Hand so fest, dass es wehtat. »Sag mir, wer du wirklich bist.«

»Ich bin dein Onkel«, antwortete Bosque gelassen und kam auf uns zu. »Dein eigen Fleisch und Blut.«

»Wer sind die Hüter?«, fragte Shay.

»Solche wie ich, die dich nur beschützen wollen. Die dir helfen wollen«, erwiderte Bosque. »Shay, du bist nicht wie andere Kinder. Du hast brachliegende Fähigkeiten, von denen du dir nicht einmal träumen lassen würdest. Ich kann dir zeigen, wer du in Wirklichkeit bist. Dich lehren, die Macht zu benutzen, über die du gebietest.«

»Wenn Sie so versessen darauf sind, Shay zu helfen, warum war er dann bei meiner Vereinigung das Opfer?« Ich schob Shay hinter mich und beschirmte ihn gegen Bosque.

Der schüttelte den Kopf. »Ein weiteres tragisches Missverständnis. Eine Prüfung deiner Loyalität unserer noblen Sache gegenüber, Calla. Ich dachte, wir hätten dir die beste Ausbildung geboten, aber vielleicht bist du nicht vertraut mit Abraham, der geprüft wurde durch das Opfer seines eigenen Sohnes? Ist nicht das Opfer einer geliebten Person der ultimative Gradmesser deines Glaubens? Denkst du wirklich, wir wollten, dass Shay unter deinen Händen stirbt? Wir haben dich gebeten, seine Beschützerin zu sein.«

Ich begann zu zittern. »Sie lügen.«

»Tue ich das?« Bosque lächelte, und das Lächeln wirkte beinahe freundlich. »Nach allem, was du durchgestanden hast, hast du immer noch kein Vertrauen zu deinen Herren? Man hätte dich niemals gezwungen, Shay etwas zuleide zu tun im letzten Augenblick hätte man an seiner Stelle eine andere Beute herbeigeholt. Ich verstehe eine solche Prüfung mag zu schrecklich erscheinen, um fair zu sein, zu viel verlangt von dir und Renier. Vielleicht bist du zu jung, als dass du eine solche Prüfung hättest bestehen können.«

Ich ballte die Hände zu Fäusten, damit Monroe nicht sah, wie sie zitterten. Ich hörte die Schreie von Sukkuben und Inkuben, hörte die zischenden Chimären und das Schlurfen dieser schrecklichen, ausgedörrten Kreaturen, wie sie aus den Portraits gekrochen kamen, die die Wände von Rowan Estate säumten.

»Wo ist er?«, fragte ich ein zweites Mal und knirschte mit den Zähnen. »Ich schwöre, wenn Sie es mir nicht sagen«

»Er befindet sich in unserer Obhut«, erwiderte Monroe gelassen.

Da war es wieder, dieses leicht höhnische Grinsen. Ich konnte mir auf das reservierte, aber selbstbewusste Verhalten dieses Mannes keinen Reim machen.

Ich wusste nicht genau, was »Obhut« in diesem Fall zu bedeuten hatte. Also schob ich mich mit weiterhin entblößten Reißzähnen durch den Raum und wartete darauf, dass Monroe etwas tat. Und während ich ihn beobachtete, schwankten vor meinen Augen verschwommene Bilder der Vergangenheit wie in Aquarellfarben.

Kaltes Metall, das meine Arme umschließt. Das Klicken von Schlössern und die plötzliche Abwesenheit von Schwere an meinen Handgelenken. Die Wärme einer sanften Berührung, die die eisige Kälte auf meiner Haut wegmassierte.

»Warum ist sie noch nicht wach?«, fragte Shay. »Sie haben versprochen, ihr würde nichts zustoßen.«

»Sie wird schon wieder in Ordnung kommen«, sagte Monroe. »Der Zauber der Bolzen wirkt wie ein schweres Betäubungsmittel; es wird einige Zeit dauern, bis die Wirkung nachlässt.«

Ich wollte sprechen, mich bewegen, aber meine Lider waren so schwer, und die Dunkelheit des Schlafes zog mich wieder in ihr Reich.

»Wenn wir zu einer Übereinkunft gelangen können, werde ich dich zu ihm bringen«, fuhr Monroe fort.

»Eine Übereinkunft?« Ich hatte recht damit, keine Schwäche zeigen zu wollen. Wenn ich schon ein Abkommen mit einem Sucher einging, dann zu meinen Bedingungen.

»Ja«, sagte er und wagte einen Schritt in meine Richtung. Als ich nicht protestierte, lächelte er. Er wollte mich nicht betrügen ich fing keinen Geruch von Angst auf, aber sein Lächeln wurde von etwas anderem verjagt. Schmerz?

»Wir brauchen dich, Calla.«

Meine Verwirrung steigerte sich noch, und so war ich gezwungen, sie abzuschütteln wie einen lästigen Fliegenschwarm. Ich musste selbstbewusst erscheinen, nicht abgelenkt von seinem merkwürdigen Verhalten.

»Wer genau ist ›wir‹? Und wozu brauchen Sie mich?«

Mein Ärger hatte sich verflüchtigt, aber ich konzentrierte mich darauf, meine Reißzähne rasiermesserscharf zu halten. Monroe sollte keine Minute vergessen, mit wem er es zu tun hatte. Ich war immer noch eine Alpha das durfte ich ebenso wenig vergessen wie er. Diese Stärke war der einzige Vorteil, den ich im Augenblick hatte.

»Meine Leute«, sagte er und deutete vage hinter sich auf die Tür. »Die Sucher.«

»Sie sind ihr Anführer?« Ich runzelte die Stirn.

Er wirkte stark, aber gereizt wie jemand, der nie so viel Schlaf bekam, wie er eigentlich brauchte.

»Ich bin ein Anführer«, erwiderte er. »Ich führe das Team Haldis an; wir sind verantwortlich für Operationen außerhalb des Vorpostens in Denver.«

»Lassen Sie uns über Ihre Freunde in Denver reden.«

Irgendwo in den Tiefen meines Geistes lächelte Lumine, meine Herrin, und ein Sucher schrie.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust, damit ich nicht schauderte. »In Ordnung.«

»Aber es ist nicht nur mein Team, das deine Hilfe braucht«, fuhr er fort, drehte sich plötzlich um und schritt vor der Tür auf und ab. »Wir alle brauchen dich. Alles hat sich verändert; wir dürfen keine Zeit verschwenden.«

Er fuhr sich beim Sprechen mit den Händen durch das dunkle Haar. Ich erwog zu fliehen er war offensichtlich abgelenkt, aber irgendetwas an seinem Verhalten faszinierte mich, und ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch fliehen wollte.

»Du bist vielleicht unsere einzige Chance. Ich glaube nicht, dass der Spross dies allein tun kann. Du bist möglicherweise der letzte Teil der Gleichung. Der Wendepunkt.«

»Der Wendepunkt wovon?«

»In diesem Krieg. Du kannst ihn beenden.«

Krieg. Bei dem Wort geriet mein Blut in Wallung. Ich war dankbar dafür; die Hitze, die durch meine Adern floss, stärkte mich. Dieser Krieg war der, für den man mich erzogen hatte.

»Du musst dich uns anschließen, Calla.«

Ich hörte ihn kaum, war gefangen in einem roten Nebel Gedanken an die Gewalt, die einen so großen Teil meines Lebens verzehrte, füllten mich aus.

Der Krieg der Hexen.

Ich hatte den Hütern bei ihren Kämpfen gegen die Sucher geholfen, seit ich mit den Zähnen Fleisch schneiden konnte. Ich hatte für sie gejagt, für sie getötet.

Dann konzentrierte ich mich wieder auf Monroe. Ich hatte seine Leute getötet. Wie konnte er nur wollen, dass ich mich ihnen anschloss?

Als spürte er meinen Argwohn, erstarrte er. Er sagte nichts, sondern verschränkte die Hände hinter dem Rücken, beobachtete mich und wartete darauf, dass ich sprach.

Ich schluckte und zwang mich zu einem festen Tonfall. »Ich soll also für Sie kämpfen.«

»Nicht nur du«, sagte er. Ich erkannte, wie bemüht er war, seine Worte zu kontrollieren. Er schien verzweifelt darauf bedacht zu sein, die Luft zwischen uns mit seinen Gedanken zu überfluten. »Aber du bist der Schlüssel. Du bist eine Alpha, eine Anführerin. Genau das haben wir immer gebraucht.«

»Das verstehe ich nicht.« Während er sprach leuchteten seine Augen so sehr, dass ich nicht wusste, ob ich Angst haben oder fasziniert sein sollte.

»Die Wächter, Calla. Dein Rudel. Du musst sie auf unsere Seite bringen. Damit sie mit uns kämpfen.«

Ein Gefühl, als wäre der Boden unter mir weggebrochen und als fiele ich. Ich wollte glauben, was er sagte, denn war es nicht genau das, worauf ich gehofft hatte?

Eine Möglichkeit, mein Rudel zu befreien.

Ja. Ja, das war es. Selbst jetzt raste mein Herz bei dem Gedanken daran, nach Vail zurückzukehren und meine Rudelgefährten zu suchen. Zu Ren zurückzukehren. Ich konnte sie alle von den Hütern wegführen. Zu etwas anderem. Etwas Besserem.

Aber die Sucher waren meine Feinde. Ich musste sehr vorsichtig sein, wenn ich einen Pakt mit ihnen schloss. Ich entschied mich dafür, mein Widerstreben zu übertreiben.

»Ich weiß nicht, ob das möglich ist.«

»Aber es ist möglich!« Monroe machte einen Satz nach vorn, als wollte er mich an den Händen packen, ein wahnsinniges Glitzern in den Augen.

Ich sprang zurück, wechselte in die Wolfsgestalt und schnappte nach seinen Fingern.

»Entschuldigung.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt so vieles, das du nicht weißt.«

Ich verwandelte mich zurück. Tiefe Linien waren in seine Züge eingemeißelt. Gehetzt, voller Geheimnisse.

»Keine plötzlichen Bewegungen, Monroe.« Ich ging langsam auf ihn zu, streckte die Hand aus und wehrte eine weitere Annäherung seinerseits ab. »Ich bin interessiert, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass Sie wissen, was Sie von mir verlangen.«

»Ich weiß es.« Er wandte den Blick ab und zuckte bei seinen eigenen Worten beinahe zusammen. »Ich verlange von dir, alles aufs Spiel zu setzen.«

»Und warum sollte ich das tun?«, fragte ich.

Die Antwort kannte ich bereits. Ich hatte alles aufs Spiel gesetzt, um Shay zu retten. Und ich täte es auf der Stelle wieder, wenn es bedeutete, dass ich zu meinen Rudelgefährten zurückkehren konnte, wenn ich sie retten konnte.

Er trat zurück, streckte den Arm aus und gab mir den Weg zur offenen Tür frei.

»Freiheit.«

Kapitel 2

Die Tür führte in einen breiten, gut beleuchteten Flur, und ich unterdrückte ein Aufkeuchen. Die Wände waren aus glänzendem Marmor, und ein schimmernder Schleier lag darüber wie Sonnenlicht, das durch Glas fiel.

Wo bin ich?

Von der verblüffenden Schönheit meiner Umgebung völlig abgelenkt, bemerkte ich nicht, dass Monroe und ich nicht die Einzigen im Flur waren.

»Achtung!« Eine entschieden mürrische Stimme ließ mich zusammenzucken.

Ich drehte mich um und bewahrte nur mit Mühe meine menschliche Gestalt, denn ich war sauer auf mich selbst, weil ich mich so hatte überraschen lassen. Beim Anblick des Sprechers hätte ich mich fast wieder verwandelt.

Ethan. Ich war ihm zweimal begegnet, und beide Male hatten wir gekämpft. Zuerst in der Bibliothek und dann auf Rowan Estate. Ich zog die Lippen zurück und zeigte ihm meine Reißzähne, sah ihn an und ballte die Faust vor der Brust. Seine Armbrustbolzen hatten mich fast getötet, bevor Monroe mich bewusstlos geschlagen hatte. Ethan erwiderte meinen Blick. Seine Nase stand immer noch ein wenig schief, nachdem Shay sie ihm gebrochen hatte, was dem guten Aussehen seiner harten Züge keinen Abbruch tat. Im Gegenteil, er wirkte dadurch nur umso gefährlicher. Meine Muskeln zitterten, während ich ihn beobachtete. Mehr als das leiseste Zucken seiner Finger in Richtung des Dolches, der in einer Scheide an seinem Gürtel steckte, war nicht mehr nötig.

Ich verwandelte mich noch im Sprung, und aus meinem Wutschrei wurde ein Geheul. Mein Geist befand sich völlig in Aufruhr, als ich gegen ihn stieß.

Dumm. Dumm. Dumm. Zwei freundliche Worte von Monroe, und ich war direkt in einen Hinterhalt spaziert.

Ethan krallte die Finger in das Fell an meiner Brust und schob mich von sich weg, sodass meine Reißzähne sich nur knapp vor seiner Kehle schlossen. Während er sich unter mir drehte und wand, spie er Flüche aus. Ich riss mich los, doch bevor ich die Zähne in sein ungeschütztes Fleisch schlagen konnte, sprang mir jemand anders in den Rücken.

Arme und Beine schlangen sich um meinen Leib, klammerten sich fest und wollten nicht loslassen. Ich knurrte und bockte und drehte den Kopf im Versuch, mich von diesem neuen Angreifer zu befreien. Allerdings bekam ich weder einen guten Blick auf den Angreifer, noch gelang es mir, die Zähne in den um meine Brust geschlungenen Arm zu schlagen. Ein tiefer, maskuliner Juchzer und ein Gelächter stachelten meinen Zorn nur weiter an. Hüpfend wie eine Krähe sprang ich im Kreis, um ihn abzuschütteln.

Das Gelächter kam von Ethan, der aufgesprungen war und mit einem zufriedenen Feixen meine Abwehrbemühungen beobachtete. »Reite sie, Cowboy! Nur acht Sekunden, Connor, und du hast’s geschafft«, sagte er. »Bei fünf bist du schon.«

»Hört auf damit!« Monroe stellte sich zwischen mich und Ethan. »Calla, ich habe dir mein Wort gegeben. Dir droht hier keine Gefahr. Connor, runter von ihr!«

Ich schlug um mich, während sich die Erschütterung von Connors dröhnendem Gelächter auf meinen Rücken übertrug. »Aber Monroe, das ist fast ein neuer Rekord für mich.«

»Willkommen beim Wolfsrodeo.« Ethan lachte so heftig, dass er sich vornüberbeugte und die Hände auf die Knie stützte, damit er nicht umfiel.

»Ich habe gesagt, du sollst aufhören.« Monroes Stimme klang alles andere als erheitert.

Als Connor von mir herunterrutschte, war ich so verblüfft, dass ich weiterzappelte und beinahe umgekippt wäre.

»He, he, du schlafende Schönheit!« Ich fuhr herum, und da stand Connor vor mir und grinste mich an. Ich erkannte ihn mühelos wieder: Der andere Sucher, der Shay und mir in der Bibliothek aufgelauert hatte. Er war auch auf Rowan Estate gewesen, hatte Shay bewusstlos und in Wolfsgestalt auf die Arme genommen und ihn vor Bosques Armee aus Larven, Sukkuben und Inkuben in Sicherheit gebracht. Ich schauderte, sowohl bei der Erinnerung an diese Wesen als auch wegen dieser Mischung aus Übelkeit und Grauen, die ich noch immer empfand, weil ich nicht wusste, was aus Shay geworden war.

Im Gegensatz zu Ethan, dessen Blick in mir die Überzeugung weckte, dass er mir ebenso gern ein Messer in die Eingeweide rammen würde, wie ich ihm die Zähne in die Kehle gegraben hätte, gab Connor sich alle Mühe, nicht zu lachen. Mit diesem Gesichtsausdruck wirkte er auf jungenhafte Weise attraktiv, sogar ein wenig unschuldig, aber ich erinnerte mich nur allzu gut daran, wie er mit Schwertern umgehen konnte. Zwei Schwerter, Krummsäbel wie Monroes Waffe, steckten in ebendiesem Moment in einer Scheide an seiner Taille. Ich knurrte ihn an und wich langsam vor den drei Suchern zurück.

»Kein Morgenmensch, nicht wahr?« Connor lächelte. »Ich verspreche, dass wir dir ein Frühstück bringen werden, Wölfchen. Ethan darfst du einfach nicht essen. Abgemacht?«

»Calla.« Monroe kam kopfschüttelnd auf mich zu. »Wir sind nicht deine Feinde. Bitte, gib mir eine Chance!«

Ich schaute ihm in die dunklen Augen, die auf mir ruhten, intensiv und ein klein wenig ängstlich. Dann riss ich den Blick von Monroe los und sah zu Ethan und Connor. Sie hatten hinter Monroe ihre Position eingenommen, aber keiner der beiden hatte eine Waffe gezogen. Widersprüchliche Impulse lähmten mich. Alle meine Instinkte schrien: »Angriff!«, aber die Sucher hatten sich bisher nur defensiv verhalten. Und sie versuchten jetzt nicht, mir etwas anzutun.

Immer noch voller Unbehagen, wechselte ich die Gestalt.

»Mir gefällt sie so besser, dir nicht auch?«, murmelte Connor mit einem Seitenblick auf Ethan, der nur ein unverständliches Brummen ausstieß.

»Was tun die hier?« Ich zeigte auf die beiden anderen Männer, richtete das Wort jedoch an Monroe. »Sie haben doch gesagt, bei Ihnen sei ich in Sicherheit.«

»Sie sind Mitglieder meines Teams«, antwortete Monroe. »Und du wirst eng mit ihnen zusammenarbeiten. Du kannst ihnen genauso vertrauen wie mir.«

Jetzt war es an mir zu lachen. »Auf gar keinen Fall. Diese beiden haben mehr als einmal versucht, mich zu töten.«

»Jetzt, da wir im selben Team sind, wird nicht mehr gekämpft«, warf Connor ein. »Pfadfinderehrenwort.«

»Als wärst du jemals Pfadfinder gewesen.« Ethans Lächeln blitzte auf und war gleich wieder verschwunden. »Außerdem hat sie gerade versucht, mir die Kehle aufzureißen!«

»Ethan!« Monroe warf ihm einen strengen Blick zu.

Aber Ethans Feindseligkeit beruhigte mich mehr als Monroes Versprechungen oder Connors Witzeleien; zumindest ergaben Ethans Drohungen einen Sinn. Diese drei waren Sucher, und ich war eine Wächterin. Was konnten wir einander bieten außer Blutvergießen?

»Calla«, begann Monroe. »Unsere Welten verändern sich schneller, als du es dir vorstellen kannst. Vergiss, was du über uns zu wissen glaubst. Wir können einander helfen. Wir wollen alle dasselbe.«

Ich reagierte nicht und fragte mich, was genau ich seiner Meinung nach wollte.

»Wirst du mit uns kommen?«, fragte er. »Wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe?«

Ich riss den Blick von ihm los und sah mich in dem gewundenen Flur um. Nichts kam mir bekannt vor. Wenn ich wegrannte, wüsste ich nicht einmal, wohin ich mich wenden sollte. Zumindest konnte ich nach einem Fluchtweg Ausschau halten, während ich Monroe folgte.

»Na schön«, erwiderte ich.

»Fantastisch!« Connor lachte. »Keine Kämpfe mehr! Ich schätze, dann sind wir jetzt Busenfreunde? Klasse!«

Bei diesen Worten sah er vielsagend auf meine Brust.

»Sie ist eine Wölfin«, blaffte Ethan. »Das ist doch abgedreht.«

»Nicht in diesem Moment«, widersprach Connor, hielt den Blick weiter auf meine Brust gerichtet und kam einige Schritte näher. Dabei fing ich den Duft von Zedern und Veilchen auf, unterlagert von Kaffeearoma. Diese Mischung kannte ich ich war ihr schon einmal nahe gewesen. Knurrend sprang ich zurück und schüttelte gleichzeitig die neue Wolke von Erinnerungen ab, die sich in meinem Kopf formte.

»Sie ist ganz bestimmt eine Alpha?«, fragte Connor und zog mich an seine Brust, als ich mich regte. »So zäh sieht sie gar nicht aus.«

»Du hast ein selektives Gedächtnis, Dummkopf«, blaffte Ethan. »Nur weil sie jetzt eine hübsche Blondine ist, bedeutet das nicht, dass die Wölfin fort wäre.«

»Immerhin ein Lichtblick«, lachte Connor. »Man muss im Augenblick leben. Und in diesem Moment liegt ein gut aussehendes Mädchen in meinen Armen.«

»Hört auf, über sie zu reden, als ob ich nicht hier wäre!«, brüllte Shay.

»Oh, wie furchtbar, ich habe den Großen verärgert«, sagte Connor. »Wird er mir jemals dafür vergeben?«

»Jetzt zieh nicht so über den Jungen her, Connor!«, sagte Monroe. »Wir sind fast am Treffpunkt.«

»Entschuldige, Junge.« Connor feixte.

»Das reicht.« Shay knurrte, und ich hörte das Schlurfen von Füßen.

»He!« Ethans Gestalt ragte vor mir auf. »Das kann ich dir nicht erlauben, Junge.«

»Das reicht jetzt«, sagte Monroe. »Dort ist das Portal. Geht einfach.«

Ich versuchte wiederum, mich zu bewegen, und kniff die Augen zusammen, um mehr von meiner Umgebung zu erkennen. Die Luft schien zu funkeln; Kälte wich der Wärme. Connor umfasste mich fester, während ich wieder in Bewusstlosigkeit versank.

Als ich mir jetzt Connors koboldhaftes Lächeln so ansah, wusste ich, dass ich es schon einmal gesehen hatte selbst wenn die Erinnerung nebelhaft war. Er erwiderte meinen Blick, und seine Augen funkelten schelmisch. Ich ballte die Faust und überlegte, ob es am befriedigendsten für mich wäre, ihm einen Hieb in den Magen zu versetzen oder ein klein wenig tiefer. Wenn er es nicht zu einem Kampf kommen lassen wollte, würde er sich in meiner Nähe auf die Zunge beißen müssen.

Aber Monroe kam mir zuvor. »Verzieh dich, Connor! Sie braucht noch eine kleine Eingewöhnungszeit, bevor sie mit deinem Sinn für Humor fertig werden muss.«

»Sir, jawohl, Sir!« Connor nahm Habtachtstellung an, aber er lachte.

Ich war wieder verwirrt. Ethan brummte etwas vor sich hin und musterte mich nach wie vor argwöhnisch, aber er rührte sich nicht. Anscheinend waren sie nicht auf einen Kampf aus. Da ich diesen Männern bisher nur begegnet war, wenn ich versucht hatte, sie zu töten, konnte ich mir keinen Reim auf ihr merkwürdiges, lässiges Geplänkel machen. Wer waren diese Leute?

»Anika erwartet uns im Besprechungsraum«, sagte Monroe, dem es nicht ganz gelang, sein eigenes Lachen durch ein Räuspern zu kaschieren. Er wandte sich ab und setzte sich in Bewegung. »Gehen wir.«

Ich musste traben, um mit ihm Schritt halten zu können, und fühlte mich immer noch nicht wohl mit Connor und Ethan im Rücken. Es kostete eine Menge Willenskraft, nicht über meine Schulter zu ihnen zurückzuschauen und sei es auch nur, um warnend die Zähne zu fletschen.

Je weiter wir gingen, desto größer wurde meine Verwirrung. Der Flur war durchgängig gekrümmt; wir kamen an vielen Türen vorbei, aber weder an Ecken noch an Abzweigungen. Was immer dieser Ort war, er schien rund und völlig von Sonnenlicht überflutet, das von Minute zu Minute heller wurde, während der Morgen dem Tag entgegenblühte. In dem Licht, das in der Luft glitzerte, musste ich blinzeln. Sogar die Wände funkelten. Winzige Adern vielfarbiger Kristalle liefen durch die marmornen Böden und Wände und durchschnitten die Oberflächen in Flüssen aus Farbe, die sich mit Sonnenstrahlen vereinten und alles mit geisterhaften Regenbögen erfüllten. Die hypnotischen Lichtmuster hielten meine Aufmerksamkeit dermaßen gefangen, dass ich nur mit knapper Not einen Zusammenstoß mit Monroe vermeiden konnte, als er abrupt stehen blieb.

Wir hatten einen Punkt erreicht, wo der gebogene Flur durch einen breiten, offenen Raum mit neuen Wegen unterbrochen wurde, die nach links und rechts abzweigten. Links ging es anscheinend in das Zentrum des Gebäudes, und zwar nicht durch einen Flur, sondern durch Glastüren, die auf eine Brücke aus dem gleichen Marmor führten. Mein Blick folgte dem Weg aus gemeißeltem Stein, und mir stockte der Atem bei dem Anblick. Die Wände fielen hinab in einen gewaltigen Innenhof. Es mussten fünfzehn, vielleicht zwanzig Meter bis zum Boden sein.

Sieht so aus, als hätte Monroe hinsichtlich der Fenster die Wahrheit gesagt.

Der Innenhof war voller Gewächshäuser und Gärten? Es sah aus wie Gärten, aber nirgendwo wuchsen Pflanzen. Andererseits war es fast Winter. Oder etwa nicht? Wie lange befand ich mich schon hier?

Ich schaute auf und sah, dass der Innenhof im Gegensatz zu dem Flur, dem wir bis hierher gefolgt waren, unter freiem Himmel lag. Auf der anderen Seite der Glastür fielen dünne Schneeflocken träge auf die dunkle Erde.

Jemand berührte mich an der Schulter, und ich zuckte zusammen.

»Zuerst das Geschäftliche.« Monroe lächelte. »Ich verspreche, dass man dich später herumführen wird.«

»Genau«, sagte ich und folgte ihm durch den Flur rechts. Eine leichte Röte schoss mir in die Wangen, und ich hoffte, dass ich nicht allzu verblüfft beim Bestaunen des Gebäudes gewirkt hatte.

Dieser neue Flur erwies sich als viel breiter als der, den wir bisher genommen hatten, und er führte zudem auch noch geradeaus. Links und rechts gab es Türen, und zwei Türen aus massivem Holz lagen direkt vor uns. Als wir sie erreichten, schnappte ich nach Luft. In jede der hohen Flächen war das alchemistische Symbol für Erde eingeschnitztjenes Dreieck, das auf den Seiten des Kriegs aller gegen alle die Haldishöhle markiert hatte.

»Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht«, bemerkte Connor. »Silas wird begeistert sein.«

Monroe und Ethan ignorierten ihn. Ich biss mir auf die Unterlippe und versuchte, daran zu denken, dass ich meine Reaktionen verbergen musste. Aber sämtliche solcher Überlegungen waren vergessen, als Monroe die Türen aufstieß. Wir gelangten in einen großen Raum mit einem einzigen Tisch in der Mitte. Er war rund und massiv, als hätte man ihn von König Arthurs Hof geholt. Bücher, alt und in Leder gebunden wie die, die wir auf Rowan Estate erforscht hatten, zierten die Wände. Die Ähnlichkeit war so groß, dass ich ganz kribbelig wurde.

Aus den Augenwinkeln sah ich zwei Personen an den Bücherregalen stehen. Sie unterhielten sich leise, während sie die Titel auf den Buchrücken musterten. Und einer dieser beiden war jemand, den ich kannte. Und liebte.

Shay hörte dem bei ihm stehenden Mädchen mit gesenktem Kopf zu. Sie schien ungefähr in meinem Alter zu sein und hatte große, feuchte braune Augen, halb verborgen von Strähnen mahagonifarbener Haare, die sich aus dem dicken, durch eine Metallklammer im Nacken zusammengehaltenen Knoten gelöst hatten. Das Mädchen war die erste Sucherin, die nicht bis an die Zähne bewaffnet war, obwohl sie wie die anderen kriegerische Kleidung trug: abgewetzte Lederhosen, Stiefel mit dicken Absätzen und eine knapp geschnittene kurze Tunika aus ungefärbtem Leinen. Genau solche Kleidung trug ich jetzt auch. Tief an ihrer Hüfte saß ein breiter Gürtel, von dem zwei seltsame, schmale Metallstachel herabhingen. Ich kam nicht dahinter, worum es sich dabei handelte. Über einen halben Meter lang, sahen sie aus wie dünne, silbern glänzende und nadelscharf zugespitzte Eisenbahnschwellen. In einer Hand hielt sie einen Packen gefalteter Papiere, mit dem sie sich rhythmisch auf den Oberschenkel klopfte.

Ich versteifte mich, als ich sah, dass ihre andere Hand auf Shays Arm lag. Der Biss der Eifersucht erschreckte mich, und seine Zähne sanken tief in mein Fleisch. Kein anderes Mädchen sollte ihn berühren. Er gehörte mir.

Shay hob den Kopf, als hätte er meine Gedanken gehört. In dem Moment, in dem er sich umdrehte, wurde mir bewusst, dass er meinen Duft erkannt hatte. Bei dieser Vorstellung begann meine Haut zu summen, und ehe ich michs versah, rannte ich auf ihn zu. Ich drängte mich an dem dunkelhaarigen Mädchen vorbei und warf ihr dabei einen drohenden Blick zu.

»Calla!«, sagte Shay und streckte mir die Hände entgegen. »Geht es dir gut?«

Mein Herz schlug so schnell, und ich konnte kaum atmen. Ich hatte Angst gehabt, ihn vielleicht nicht wiederzusehen. Dass keiner von uns dieses Martyrium überleben würde.

Ich wollte nicken, doch da gaben meine Beine unter mir nach. Aber Shay war ja da. Er legte mir die Arme um die Taille, und ich klammerte mich an ihn, wohl wissend, dass er jetzt genauso stark war wie ich. Ich konnte ihn mit aller Kraft umfassen, ohne befürchten zu müssen, ihm wehzutun. Shay verstärkte seinen Griff, und ich drückte mich noch fester an ihn. Dann hob er eine Hand und bettete meinen Kopf an seine Brust, bevor er mir mit den Lippen übers Haar strich.

Shay. Shay. Ich holte tief Luft. Sein Duft, der Duft von Frühling, warm und hoffnungsvoll wie das Sonnenlicht, das dieses Gebäude erfüllte, floss durch mich hindurch.

Ich begrub die Finger in seinem Haar und zog sein Gesicht an meines. Als ich ihn küsste, schmeckte ich seine Überraschung, süß und hell. Die Süße verwandelte sich in Wärme, dann in Hitze, während er mit dem Mund über meine Wange strich.

»Calla«, flüsterte er und knabberte mit den Zähnen an meinen Ohrläppchen eine wölfische Geste, die mich dazu veranlasste, ihm voller Zuneigung mit den Lippen über den Hals zu streichen. Er gehört mir. Mir.

»Ich bin fast gestorben, weil ich nicht bei dir sein konnte«, sagte er und zog sich ein wenig zurück, damit er mich anschauen konnte. »Gott, es tut so gut, dich zu sehen!«

Connor stieß einen Pfiff aus, und die neugierigen Augen des Mädchens funkelten schelmisch. Trotz meiner Erleichterung über Shays Anwesenheit verfluchte ich im Stillen den kurzen Mangel an Vorsicht. Ich sollte es besser wissen. Das hier war kein privates Wiedersehen. Jeder unserer Schritte wurde beobachtet. Ich hatte Shay vermisst, und jede Faser meines Wesens schmerzte von dem Wunsch, ihn zu berühren, seit ich ihn erblickt hatte, aber das brauchten die Sucher nicht zu wissen. Ich zwang meine Muskeln zu neuer Festigkeit und wand mich aus seiner Umarmung.

»Mir geht es gut, Shay«, erwiderte ich und versuchte, das Gefühl des Verlusts zu ignorieren, das ich jetzt empfand, da er mich nicht länger in den Armen hielt. »Größtenteils jedenfalls. Ich bin etwas verwirrt.«

»Deswegen sind wir hier«, sagte Monroe und kam auf uns zu. »Shay, dir geht es doch gut, nicht wahr?«

»Es geht mir jetzt besser«, entgegnete er, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich war ziemlich verlegen, als er meinen Versuch, auf Abstand zu gehen, ignorierte und mich wieder an sich zog.

»Ich bin froh, dass auch Calla völlig wiederhergestellt ist«, sprach Monroe weiter. »Es wäre eine Tragödie gewesen, wenn wir sie verloren hätten.«

Ich stieß ein bellendes, raues Lachen aus. »Mich verlieren? Ich meine mich daran erinnern zu können, dass er auf mich geschossen hat.« Ethan zuckte nicht mit der Wimper, als ich anklagend zu ihm hinübersah, bevor ich mich wieder zu Monroe umwandte. »Und, dass Sie mich bewusstlos geschlagen haben.«

Er nickte und lächelte entschuldigend. »Wir mussten mehr darüber wissen, wer du warst, bevor wir entscheiden konnten, ob du eine Verbündete sein könntest.«

Ich warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.

»Und wir haben alles in unserer Macht Stehende getan, damit du dich auch schnell erholen konntest.«

Diesmal war es Shay, der schnaubte. »Ja, als hätte ich irgendeinen Grund, Ihren Heilern zu vertrauen.«

Ich drehte mich in seinen Armen zu ihm hin. »Heiler?«

Meine Erinnerungen an die Zeit zwischen der Schlacht in Rowan Estate und dem Erwachen hier waren bestenfalls verworren, schlimmstenfalls beängstigend. Es war offensichtlich, dass irgendetwas mich geheilt hatte, aber ich erinnerte mich nicht daran, wann meine Wunden behandelt worden waren.

»Ich weiß nicht, was sie mit dir gemacht haben.« Er warf einen wütenden Blick auf Monroe, der die Achseln zuckte.

»Die Bolzen haben sie lange Zeit in Schach gehalten«, sagte Monroe. »Dazu sind sie da. Unsere Heiler haben dafür gesorgt, dass alle Toxine aus ihrem Blut entfernt wurden. Es sollte keine Nachwirkungen geben.«

Ich heulte und mühte mich durch den Raum an seine Seite. Jeder Schritt war pure Qual. Die Armbrustpfeile ragten noch immer aus meinem Oberkörper. Langsam ertrank ich an dem Blut in meinen Lungen.

Als ich ihn erreichte, wechselte ich die Gestalt, begrub die Hände in seinem Fell und schüttelte ihn an den Schultern.

»Shay! Shay!« Während ich mich an ihn klammerte, konnte ich spüren, wie die Kraft aus meinen Gliedern wich.

»Verzauberte Pfeile; ich hoffe, du genießt sie.« Beim Klang von Ethans schotterrauer Stimme schaute ich zur Seite. Er zielte abermals mit der Armbrust auf mich. »Bist du diejenige, die ihn verwandelt hat?«

Meine Brust stand in Flammen, und ich konnte nur noch verschwommen sehen. Ich nickte, ließ mich zu Boden fallen und rollte mich neben Shay.

Wieder flogen meine Finger an meine Brust, die sich bei der Erinnerung zugeschnürt hatte, bei dem Gedanken an Bolzen, die mein Fleisch durchdrangen. In Schach gehalten?

»Wie lange?«, flüsterte ich.

»Was?« Shay hatte seine Hand auf die meine gelegt, und wir hatten unsere Finger ineinander verschränkt.

»Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte ich. »Wie lange ist es her, dass wir Vail verlassen haben?«

»Ungefähr eine Woche«, antwortete er.

Eine Woche. In gewisser Weise klang das überhaupt nicht nach viel Zeit. Aber wenn ich daran dachte, was in einer Woche meinem Rudel zugestoßen sein könnte, was ihnen binnen Stunden zugestoßen sein könnte, sobald meine Flucht vor der Vereinigung entdeckt worden war, klang es wie eine Ewigkeit.

Und Ren. Was hatten sie mit ihm gemacht? Er hatte gelogen, damit wir dem Bane-Rudel entkommen konnten, das uns auf den Fersen war, und es schien undenkbar, dass die Hüter diesen Verrat nicht entdeckt hatten.

Ich zitterte, und Shay drückte mich noch fester an sich, doch im Geiste lag ich in den Armen eines anderen.

Rens Stimme tönte scheinbar unmittelbar hinter mir.

»Ich weiß nicht, wie ich dir glauben soll. Irgendetwas von alledem. Was gibt es sonst noch? Das macht uns aus.«

»Deshalb ist es aber nicht richtig. Du weißt, ich würde mein Rudel nicht im Stich lassen, wenn mir eine andere Wahl bliebe«, sagte ich leise. »Es sei denn, es wäre die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen.«

Er sah mir in die Augen, sein Blick angespannt und unsicher.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, murmelte ich. »Wie hast du schneller hier sein können als die anderen?«

Er schaute in die Richtung, aus der wir gekommen waren. »Es gab einen ziemlichen Aufruhr, als wir Flynns Leichnam fanden, aber ich habe deine Fährte aufgenommen und bin losgelaufen. Der Rest von ihnen hat sich noch formiert. Das Rudel meines Vaters. Die älteren Banes.«

Er versteifte sich, und Kälte durchflutete meine Glieder.

»Was ist mit den Nightshades?«, fragte ich.

»Sie werden festgehalten, weil man sie befragen will.«

»Was ist in Vail geschehen?« Ich musste mich von Shay losreißen, mich orientieren.

Niemand antwortete mir, und ich kämpfte gegen ein Frösteln an, das an jenes erinnerte, das ich in der Nacht unserer Flucht verspürt hatte.

Gerade jetzt konnte ich es mir nicht leisten, mich von der Furcht vor dem überwältigen zu lassen, was meinen Rudelgefährten vielleicht widerfahren war. Unverrückbare und stählerne Entschlossenheit waren meine beste nein, meine einzige Chance, ihnen zu helfen.

»Was ist mit dem Kampf? Wie haben Sie uns gefunden? Haben Sie Bosque Mar getötet?«

Connor lachte. »Bosque Mar getötet! Niemand kann dieses Ding töten.«

»Ding?« Shays Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wie meinen Sie das, Ding?«

»Noch kann niemand Bosque Mar töten«, erklärte Monroe und sah Shay an, bevor er das Wort an mich richtete. »Wir versuchen immer noch festzustellen, was in Vail vor sich geht.«

»Wissen Sie überhaupt irgendetwas?«

»Pass auf deinen Ton auf, Wölfchen«, sagte Ethan und rückte die Armbrust zurecht, die über seiner Schulter hing. »Ohne uns wärst du in dieser Bibliothek verblutet.«

»Sie waren der Grund dafür, dass ich in der Bibliothek fast verblutet wäre!« Ich machte einen Satz nach vorn, allerdings in meiner menschlichen Gestalt, packte Ethan an der Jacke und stieß ihn auf den Tisch. Dann beugte ich mich vor und zeigte ihm sehr deutlich meine Reißzähne. »Sagen Sie mir nie wieder, ich solle auf meinen Tonfall achten. Sie haben ja keine Ahnung, mit wem Sie es zu tun haben.«

»Calla!« Monroe stand neben mir und zog mich von Ethan herunter. »Bitte, das ist nicht notwendig.«

Ethan sprang auf. »Teufel noch mal! Du solltest deinen Hund besser fest an der Leine halten, Monroe.«

Ich grinste höhnisch. »Und Sie sollten besser lernen, mich nicht als Hund zu bezeichnen.«

Das Mädchen, das bei unserem Eintreffen mit Shay im Raum gewesen war, lachte. »Hübsch.«

»Fahr zur Hölle, Ariadne!« Ethan war immer noch fuchsteufelswild.

»Dein Ton!« Ariadne schnalzte mit der Zunge.

»Wir brauchen Calla«, sagte Monroe, der nicht mit der Wimper zuckte, obwohl Ethan ihn zornig anfunkelte. »Das steht gar nicht zur Debatte.«

»Allerdings, und sie hat recht«, fügte Connor hinzu und beäugte mich wachsam, aber mit einem bewundernden Grinsen. »Du hast tatsächlich einen Haufen Bolzen auf sie abgeschossen.«

»Schwachsinn«, entgegnete Ethan. »Erst die Verhandlungen mit diesem Kind und jetzt die Wölfin. Wir sollten es besser wissen.«

»Das Kind ist der Spross.« Monroe sah Ethan fest in die Augen. »Und eine Alphawölfin könnte der Schlüssel zum Sieg in diesem Krieg sein.«

»Versuch’s mal mit sechs«, erwiderte er. »Du hast mich offensichtlich vollkommen vergessen. Ich habe gesehen, wie du dich an den Spross rangemacht hast, als wir reingekommen sind. Du flirtest gern, wie?«

»Ich habe nicht geflirtet«, widersprach sie, aber ich glaubte, sie erröten zu sehen, als sie Shay einen Seitenblick zuwarf. »Du weißt ganz genau, wo ich war und warum ich hier sein musste«, sagte sie. »Ich habe dich nicht verlassen.«

Ich grub die Nägel in die Innenflächen meiner Hände, als Shay mich schuldbewusst ansah. Wer war dieses Mädchen?

»Ein Mann weiß, wann er den Laufpass gekriegt hat.« Connor drückte sich eine Faust aufs Herz.

»So nennst du dich also heutzutage?«, fragte sie mit einem schiefen Lächeln. »Einen Mann? Ich dachte eher an Flasche oder vielleicht Angeber.«

»Nein«, sagte Connor. »Ich glaube, wir bleiben bei Mann. Möchtest du den Beweis sehen?«

»Ich wäre dankbar, wenn du Nein sagen würdest, Ariadne.« Monroe verzog das Gesicht, aber ich erkannte, dass sich hinter der verärgerten Miene, die er aufgesetzt hatte, ein Lächeln verbarg.

Das heimliche Lächeln verblasste, als sie ihn anfuhr: »Ich bin nicht so dumm zu fragen, ob du mich vermisst hast.«

»Nun, ich bin überglücklich, dich zu sehen«, sagte Connor hastig und kam auf sie zu, während Monroe eine Grimasse schnitt. Er bückte sich und küsste sie auf die Wange. »Tess und Isaac sind immer draußen. Ethan ist zu mürrisch, um mit ihm Spaß zu haben. Und er ist nicht halb so hübsch anzusehen wie du.«

Ich betrachtete das Mädchen noch einmal. Sie war tatsächlich hübsch, zu hübsch. Hatte sie mit Shay geflirtet, während ich bewusstlos gewesen war?

»Er macht Witze«, erklärte sie und warf Shay einen Blick zu, während sie Connor den Rücken zuwandte.

»Nein, tu ich nicht«, widersprach Connor. »Nichts für ungut, Ethan.«

»Ich bin am Boden zerstört«, sagte Ethan energisch.

Ariadne schaute mich feixend an. »Und das ist das Wolfsmädchen? Shay spricht ständig von dir.«

Ich lächelte sie an. Selbst wenn sie mit ihm geflirtet hatte, hatten Shays Gedanken trotzdem mir gegolten. Gut. Genau so wollte ich es haben.

»Das ist Ariadne«, stellte Shay sie vor. »Sie hat mir gezeigt, wie es hier läuft.«

»Nenne mich Adne«, sagte sie.

»Ich heiße Calla«, erwiderte ich und richtete mich auf, um die zwei oder drei Zentimeter auszunutzen, die ich ihr voraushatte. Selbst wenn Shay sich nicht für sie interessierte, wollte ich trotzdem dafür sorgen, dass dieses Mädchen wusste, wie es zwischen uns stand.

Ihre Augen schimmerten voller Heiterkeit. »Das habe ich gehört. Eine Wächterin namens Calla wie die Blume. Wirklich nett.«

Ich konnte das Stöhnen nicht unterdrücken, das in meiner Kehle aufstieg. »U-huh. Wie die Blume.« Das war genau der Eindruck, den ich nicht erwecken wollte.

»Das ist einfach fantastisch«, murmelte sie, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Nun, es ist großartig, dich kennenzulernen, Lily. Zumindest wenn du wirklich auf unserer Seite stehst.«