Inhaltsverzeichnis
DER AUTOR
Nicola Bardola, geboren 1959 in Zürich, studierte Germanistik, italienische Literatur und Philosophie in Bern, München und Zürich. Nach Stationen als Redakteur und Verlagslektor arbeitet er seit 1999 als freier Journalist, Übersetzer und Autor. Seit 1985 verfolgt er engagiert die Entwicklung des Kinder- und Jugendbuchmarktes und setzt sich auch für die Leseförderung ein. Nicola Bardola ist ständiger Mitarbeiter u. a. beim Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel.
Von Nicola Bardola ist bei omnibus bereits erschienen:
Lies doch mal!
Ganz aktuell – Die 50 besten
Kinder- und Jugendbücher
(27039)
cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch
Der Taschenbuchverlag für Jugendliche
Verlagsgruppe Random House
Leben ist gefährlich. Umso wichtiger ist es, dass wir auch Konflikte kennen, dass wir uns in Gedanken mit schlimmen Ereignissen vertraut gemacht haben, dass wir unsere Position im Voraus oft genug differenziert, variiert und immer wieder neu angepasst haben. Diese Chance wird uns nur in Büchern geboten, im Leben gibt es keine zweite Chance, da passiert alles nur einmal.
VSB
Die ersten Sätze
Einzigartig ist der erste Satz eines Romans, vergleichbar nur mit dem ersten Blick, der manchmal Liebe ist. Dem zweiten, dritten oder einem der vielen Sätze, die später folgen, fehlt der Glanz des Auftakts. Sogar der letzte Satz eines Romans, der den Schlusspunkt setzt, nachdem der Autor davor alles geschrieben hat, was er schreiben wollte, überstrahlt nie die Besonderheit des ersten Satzes. Denn der erste Satz schlägt den Akkord an und weist mit Signalcharakter darauf hin, ob die folgenden Takte Räume für Fantasie und Identifikation der Leser öffnen werden.
Die ersten Sätze eines Romans sind die meist gelesenen. Franz Kafka, Thomas Mann oder Max Frisch legten unvergleichlich kunstvoll mit ihren ersten Sätzen Grundsteine für alle folgenden. Die Literaturgeschichte der ersten Sätze muss noch geschrieben werden. Manche erste Sätze sind lang, andere kurz, manche trumpfen wortreich auf, andere treffen knapp das Wesentliche.
Ein schiefes Bild oder ein falscher Ton im ersten Satz kann später nicht wettgemacht werden. Manchen ersten Sätzen wohnt noch die Schwierigkeit des Beginnens inne und die Angst des Autors vor dem leeren Blatt oder dem leeren Bildschirm ist spürbar. Fehlt den ersten Sätzen die Sogwirkung, klappen Kritiker das Buch wieder zu, greifen Kunden in der Buchhandlung zu einem anderen Roman. Keine Sorge: Kein einziger der hier ausgewählten fünfzig Romane der letzten fünf Jahre beginnt mit einer Wetterbeschreibung.
Ist Liebe auf den ersten Blick nur für Romantiker wichtig? Warum fühlen sich zwei Menschen voneinander angezogen? Vielleicht weil sie sich ähnlich sehen, sagen Attraktivitätsforscher. Übertragen auf Romananfänge, bedeutet dies: Erste Sätze müssen mit ihrer ästhetischen Qualität entsprechende Erwartungen der Leser zum Klingen bringen. Weil aber Liebe auf den ersten Blick zwar interkulturell bekannt ist (daher die Entsprechungen dieser Redewendung in anderen Sprachen), im Leben jedoch selten vorkommt, habe ich die letzten Sätze und repräsentative Zitate hinzugefügt. Wahre Liebe wächst langsam.
Geordnet sind die als Auswahl- und Orientierungshilfe gedachten Lektüretipps in fünf Kategorien à je zehn Romane nach Kultbüchern, literarischen und engagierten Romanen, historischen und Ethno-Romanen, Fantasy- und AbenteuerRomanen sowie Kriminal- und Horror-Romanen. Die jeweils letzte Empfehlung kommt als Krönung von einer Buchhändlerin oder einem Buchhändler. Manche Besprechungen sind lang, andere kurz. Das bedeutet keine größere oder geringere Wertschätzung der Bücher. Ausführlicher beschäftige ich mich mit den so genannten Kultbüchern und den literarischen Titeln. Bei historischen, Fantasy- oder Kriminalromanen habe ich mich meist kürzer gefasst, weil sie entweder schon sehr bekannt sind oder durch das Genre bedingt nicht die Vielschichtigkeit literarischer Werke aufweisen. Trotzdem sind dies allesamt wertvolle Brückenromane, (noch) außerhalb des Schulkanons, aber von kultureller Bedeutung, mit thematischer Relevanz und hohem Wirkungspotenzial, da sie die jugendlichen Lebenswelten spiegeln und die Fremd- und Selbstwahrnehmung vertiefen. Es sind Geschichten, die den Heranwachsenden viel zu sagen haben, die Probleme ihrer Generation behandeln und gleichwohl selbstvergessenes Lesen ermöglichen. Damit kann der Lesemüdigkeit während der Pubertät Paroli geboten werden. Zudem entsprechen die meisten Empfehlungen der optischen Lies doch mal!-Umsetzung Rotraut Susanne Berners auf dem Umschlag: Mädchen können in die Bücher der Jungen und Jungen in die vermeintlichen Mädchenbücher hineinlesen. Sie werden staunen, wie viel es dort zu entdecken gibt.
Nicola Bardola
München, im Juli 2006
ZEHN KULTBÜCHER
Born To Run
Keith Abbott Racer
Erste Sätze
Race Evarts versteckte seine neuesten Schuhe immer im alten Pumpenhaus. Er kam auf dem Heimweg vom Lauftraining daran vorbei; es lag ganz hinten an der Weide und war vom Haus der Smithons aus nicht zu sehen.
Letzte Sätze
Er legte alles, was er hatte, in seinen Lauf. Und als er den Abhang hinunter auf sie zulief, sah er, wie die beiden Polizisten die Arme ausbreiteten. In der Hitze des Abends kam es ihm so vor, als läge ein dunkler Schimmer auf der schwarzen Straße unter ihren Füßen, als würde die Straße sich aufrichten und sich vor ihnen weit in die Landschaft schieben wie ein langes schwarzes Band.
Kultige Seiten: 26 folgende
Race versteckt viele Schuhe im Pumpenhaus. Vor allem teure, nagelneue Laufschuhe. Diebesbeute. Race klaut auch Klamotten. Er nimmt die Bestellungen seiner Freunde an und erfüllt seinen Kumpels und seinen Freundinnen ihre Wünsche. Frauenfüße sind ihm wichtig, nicht nur das adäquat schmückende Schuhwerk dazu, sondern auch beim Liebesspiel. Manchmal bleibt es den Lesern überlassen, was sich Race bei seltsamen Ereignissen so denkt. Manchmal kommen später erklärende Puzzleteile hinzu.
Zu Beginn dieser rasanten Story ist Race Evarts auf dem Höhepunkt seines Teenager-Daseins. Es gelingt ihm alles: Sportliche Höchstleistung auf der Aschenbahn kombiniert er locker mit Alkohol, Zigaretten, Mädchen und seinen dreisten Raubzügen. Logisch, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Unterschwellig rührt sich schon das Unglück. Ein Geschenk an den Lauftrainer Singleterry löst mit Verzögerung Race’ Krise aus.
Die Einsamkeit dieses jugendlichen Mittel- und Langstreckenläufers ist eine besondere, und sie wird durch den drohenden Bruch mit Singleterry verstärkt: Race Evarts wächst nämlich bei Pflegeeltern auf. Die Smithon-Familie ist sein zehntes Zuhause, in dem der broken hero wieder nicht heimisch werden wird. Hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Vergnügen, verliert Race allmählich die Orientierung. Seine High-School-Leichtathletik-Mannschaft erwartet aber von ihm Siege und Ehre. Doch Race nutzt sein Talent weiterhin für andere Bedürfnisse, indem er aus Kaufhäusern und Boutiquen Schuhe, Pullover oder Hemden entwendet. Niemals hat jemand vom Verkaufspersonal Race schnappen können. Mit der Ware unter der Jacke verschwindet er uneinholbar im Strom der Passanten. Allein die Schilderungen dieser außergewöhnlichen Diebstähle sind die Lektüre dieses Buches wert: Spannend wie ein Krimi liest sich der Kurzroman Racer, der zugleich gespickt ist mit jugendlichem Irrsinn und mit der Sehnsucht nach großen Gefühlen. Es geht Race nicht ums Geld, sondern um die richtigen – zugegebenermaßen teuren – Accessoires. Es geht um Freiheit und Protest, um Imponiergehabe und Qualität. Und ja, es geht auch um Zeit – ob auf der Rennbahn oder auf der Mannschaftsmatratze, wo Race die hübsche Sigrid in 22 Minuten – absolute Bestzeit – vernascht.
Race’ Clique bewundert und beneidet ihren coolen Läufer. Er ist der Schnellste, obwohl er sein Training nicht ernst genug nimmt.
Nur selten merkt der Leser, dass die Geschichte 1961 in ländlicher Umgebung außerhalb von Tacoma im Bundesstaat Washington spielt. Vielleicht wenn Race nach den Kühen seiner Zieheltern sehen muss. So betrachtet ist Race auch ein Cowboy.
Am Ende der Glückssträhne kommt es, wie es kommen muss: Die Diebestouren werden durchschaut, Race fliegt von der High School, trennt sich von der Clique und jobbt als Schuhverkäufer. Die blonde Mittdreißigerin Mrs Lowry ist eine gute, aber schwierige Kundin in dem Laden und Race nimmt sich mit Erfolg ihrer an. Allein mit ihrer 14-jährigen Tochter Patricia wohnt Mrs Lowry in einer für die beiden zu großen Villa. Mrs Lowry trinkt etwas zu viel und zweifelt etwas zu oft am Sinn des Lebens. Race erzählt ihr von der einzigen Begegnung mit seiner Mutter, an die er sich erinnern kann. Damals hatte Race vom Kinderbett aus nur ihre Beine, ihre Füße und ihre Schuhe gesehen.
Mrs Lowry nimmt Race wie einen Sohn auf, um ihm eine weitere Chance in einem anderen Sportverein zu geben. Letztlich übt sie jedoch einen schlechten Einfluss auf den Jungen aus. Race schwänzt immer öfter das Lauftraining, stattdessen trinkt und raucht er viel – und wird ihr Geliebter. Die Szenen, in denen seine Abstürze geschildert werden, sind unvergesslich, mal dramatisch, mal komisch:
Er lachte. »Dann fang ich mit dem Training an.« Er lachte und paffte seine Zigarette. »Wenn ich an Training denke, dann hör ich immer tsch-tsch-tsch, verstehst du, tsch-tsch? Tsch-tsch-tsch. Tsch-tsch-tsch-tsch!«
Race rollte vom Bett auf den Boden und verschüttete dabei sein Glas mit dem schon etwas wässrigen Whiskey auf dem Teppich. Er stellte sich auf Hände und Füße. »Hier ist Race, der die Meile unter fünf Minuten läuft, und er macht tsch-tsch-tsch! Ich bin im Training. Im Training!«
Er lachte und krabbelte auf allen vieren über den Teppich. Dabei paffte er an seiner Zigarette und stieß dichte Rauchwolken aus.
Danach verwandelt sich Race auf dem Teppich in einen schnuppernden Jagdhund und schließlich kehrt er mit Tsch-tsch-Lauten als qualmende Dampflok zu seiner Gönnerin ins Bett zurück.
Keith Abbott variiert die Reifeprüfung-Situation. Die Szenen zwischen Mutter und Tochter wechseln rasch. Action: Feuer, Sex, Polizei. Das scheinbare Glück bei Lowrys endet abrupt, als Mrs Lowry Race vorwirft, ihre Tochter verführt zu haben. Doch die verdächtigen (Sperma-)Spuren auf Pats Hosen stammen nicht von Race. Erneut stellt sich die Einsamkeit des Läufers auch äußerlich ein. Race muss wieder ein Zuhause finden.
Diese dramatische Story ist der Leidenschaft des Protagonisten entsprechend in hohem Tempo erzählt. Racer ist in jeder Hinsicht das schnellste aller hier empfohlenen Jugendbücher. Einerseits zieht sich jugendlicher Erlebnishunger durch die Geschichte, andererseits ein »Du-schaffst-es«, dieser ständig wiederkehrende Vorsatz der Country-Kids in der amerikanischen Provinz, es durch Fleiß, Ehrgeiz und Disziplin dereinst besser zu haben als ihre Eltern.
Im Grunde ist Race ein aufmüpfiger Kleinganove, ein arroganter Sozialfall mit zweifelhaftem sportlichen Ehrgeiz. Ein tragischer Held. Race hat keine Chance. Seine Zukunftsaussichten sind so düster wie das lange schwarze Band der Asphaltstraße, auf der die Polizisten am Ende auf ihn warten. Es bleibt den Lesern selbst überlassen, das Finish zu deuten. Denn Race rennt am Ende nicht, um Verkäufern aus Sportgeschäften zu entkommen, um Rekorde zu brechen und Medaillen zu gewinnen oder um in eine Elite-Universität aufgenommen zu werden, sondern um sein Leben. Er rennt in die Freiheit, hinauf zu den Bergen, auf deren anderer Seite die rettende Grenze liegt. Aber oben hält er inne und dreht einen Kreis.
Ich lese das Finale dieses Miniatur-Meisterwerks amerikanischer Prosa als Zeichen für einen vielversprechenden Neuanfang:
Race lief von der Straße weg und auf die großen violetten Berge zu, durch die der Pass nach Oregon lief. Er hörte den Motor des Wagens anspringen und dann das Heulen der Sirene. Er lief immer weiter, brachte sich in den richtigen Rhythmus, horchte auf das Geräusch seines Atems (…). Race lief leicht und locker dahin. Und er kam vor dem Wagen an die Stelle, an der der Wagen ihm den Weg hätte abschneiden können. Er bekam jetzt die zweite Luft. Er fühlte sich wohl. Er wusste, dass er außer Reichweite des Wagens wäre, wenn der Wagen am Ende der Straße ankäme.
Er spürte, dass er jetzt plötzlich alles das hatte, was ihm gefehlt hatte, was er wiederhaben wollte. Er hatte das Gefühl, dass seine Lunge wieder frei war, sauber, und er spürte die Kraft in seinen Beinen. Als er einen kleinen Abhang hinauflief, schaute er zurück und sah, dass der Polizeiwagen an der Abflussschlucht hielt, die quer über den Asphalt lief und die Straße zerstört hatte. Die beiden Polizisten stiegen aus dem Wagen.
Race kam oben auf dem Abhang an, und er wusste, dass er noch eine ganze Menge Reserven hatte, wenn auch nicht mehr so viel, wie er sich gewünscht hätte. Wenn er wollte, konnte er leicht noch ein paar Meilen laufen. Er wurde langsamer, drehte oben auf dem Abhang einen Kreis und kehrte um. Er legte alles, was er hatte, in seinen Lauf.
Die Meisterschaft Abbotts besteht unter anderem auch darin, diesen schwierigen Protagonisten, diesen Jack-Kerouac-Helden im Jogging-Anzug, der zuletzt seinem Schicksal vielleicht nicht mehr davonrennen will, diesen geborenen Verlierer mit seiner arroganten Würde als umwerfend sympathischen Kerl darzustellen.
Keith Abbott, geboren 1945 im äußersten Nordwesten der USA in Tacoma, Washington, ging nach der High School nach Kalifornien, wo er schnell Teil der lebendigen Literaturszene San Franciscos wurde. Seine Artikel und Kritiken erschienen u. a. im Rolling Stone, dem San Francisco Chronicle und der Los Angeles Times. In den USA erschienen Romane, Theaterstücke, Gedichte und Short Stories von Keith Abbott. Racer hat er in den 80er Jahren verfasst, doch dieser Kurzroman ist kurioserweise bislang nicht in den USA erschienen. Nachdem der Text beim schätzenswerten Maro Verlag nicht mehr lieferbar war, wird er jetzt für das große Publikum bei dtv/Reihe Hanser wiederentdeckt. Popkultur-Guru Greil Marcus würdigte Keith Abbott, der einen internationalen Erfolg mit seiner Biografie über Richard Brautigan feierte: »Niemand schreibt besser über Highschool-Sex als Abbott.« Nach 28 Jahren in Kalifornien zog Abbott mit seiner Frau nach Longmont, Colorado, wo er heute noch lebt. An der Naropa University in Boulder ist er für die literarische Fakultät als Dozent tätig und unterrichtet u. a. Asiatische Kalligrafie.
Keith Abbott: Racer. Aus dem Amerikanischen von Günter Ohnemus. dtv/Reihe Hanser 2006. 123 S.
In das Leben verliebt
Ethan Hawke Aschermittwoch
Erste Sätze
Ich fuhr durch die Gegend, in meinem 69er Chevy Nova 370 mit Vierfachvergaser, Leichtmetallfelgen und Doppelauspuff. Ein Superschlitten. Ich hatte die Schalldämpfer ausgebaut, damit er wie eine Harley klang; die Leute stehen auf so was. Beim Fahren starrte ich die ganze Zeit durchs Fenster in den Außenspiegel und schaute mich selbst an. Das tue ich immer: Ich muss einfach in alles hineinstarren, was spiegelt. Keine besonders schmeichelhafte Eigenschaft, und ich wäre auch froh, wenn ich’s nicht täte, aber ich tu’s nun mal. Ich bin so eitel wie nur was. Einfach widerlich. Und wenn ich in den Spiegel schaue, dann fast immer, um nachzusehen, ob ich überhaupt noch da bin, oder weil ich mir wünsche, ich wäre jemand anderes, ein mexikanischer Bandito oder so was in der Art.
Letzte Sätze
Sie zuckte mit den Schultern und schenkte mir ein kleines Lächeln. Dann legte sie beide Hände auf ihren Bauch und nickte bejahend. Während ich die Stufen hinunterstürzte, gestärkt von einem frischen Wind in meinem Rücken, fühlte ich mich wie neugeboren, als wäre ich – oder vielleicht wir alle – in diesem Moment wieder zum Leben erweckt worden.
Kultige Seiten: 62 folgende
Nach der Begeisterung, die der Schauspieler Ethan Hawke (Der Club der toten Dichter) mit seinem Romandebüt (Hin und weg) bei pubertierenden Fans ausgelöst hatte, fand Aschermittwoch nicht nur bei 14-jährigen Kinogängern noch größere Anerkennung. Dass Ethan Hawke sowohl vor der Kamera als auch am Schreibtisch Talent hat, ist unbestritten. Seine verschiedenen Ausdrucksformen befruchten sich gegenseitig. Als 18-Jähriger spielte er in Club der toten Dichter einen der Schüler, die Robin Williams für die Literatur begeistert. Im richtigen Leben, im Englischunterricht, hatte Hawke dank Salingers Fänger im Roggen schon Feuer gefangen und schrieb fortan selbst Kurzgeschichten. Seine erste unter dem Titel Es gibt zwei Arten von Menschen – Arschlöcher und verlogene Säcke, ich ziehe es vor, mich selbst als Arschloch zu betrachten handelt von einem Jungen, der mit seiner Freundin Schluss macht.
Es gibt viel zu lachen in Hawkes Prosa. Das erste Kapitel in Aschermittwoch, einer intelligenten und modern-romantischen Geschichte über das Erwachsenwerden (oder besser mit Hawkes Worten »über das Abstreifen der Kindheit«), ist allerdings niederschmetternd. Der 29-jährige, spätpubertierende Jimmy dient in der Army und soll die Nachricht vom Tod eines Kameraden den Hinterbliebenen überbringen. Jimmy hat sich gerade von seiner Freundin Christy getrennt, nimmt Drogen, hängt mit Saufbrüdern in Kneipen rum, hat keinen Bock mehr auf die Army und weiß nichts mit sich anzufangen. Nur seine Eitelkeit, sein gutes Aussehen und sein gestyltes Auto halten ihn über Wasser.
In verwahrlostem Zustand verletzt Jimmy bei der Mitteilung der Nachricht die Gefühle der Mutter des toten Soldaten. Trostlos. Der Protagonist widerlich. Ich hätte das Buch in die Ecke gepfeffert, wenn im zweiten Kapitel nicht die 24-jährige Christy – Jimmys große Liebe, die er ziemlich unmotiviert gerade verlassen hat – zu Wort käme. Ab jetzt alternieren die beiden Ich-Erzähler, Jimmy und Christy, und machen Bekanntschaft mit dem Ernst des Liebeslebens: die von Jimmy nicht erkannte Schwangerschaft; der Wille Jimmys (ein junger Mann zwischen Mönch und Outlaw), sein Leben zu ändern; die gemeinsame lange Autofahrt, die von Kingston über Manhattan, Cincinnati, New Orleans bis nach Houston führt – in den Ehehafen, ins Gefängnis, in die Klinik (weil eine Totgeburt droht). Die Gründung einer Familie, Treue, Vertrauen – warum klappt es bei manchen Paaren, bei anderen nicht? Hawkes Methode, das Liebesleid zu analysieren, besteht in der Erstellung von Psychogrammen der Protagonisten. Er rollt die Vergangenheit von Jimmy und Christy auf – Eltern, Erziehung, prägende Erlebnisse in der Kindheit – und zeigt en passant, wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Charaktere manchmal Liebesleid ersparen und manchmal erzeugen.
Hawkes Buch ist eine gute Schule für Teenager, die sich Gedanken machen über eine leidenschaftliche Affäre, die sich in eine Beziehung wandeln müsste, von der sie hoffen, dass sie ein Leben lang halten könnte. Nur wenige wissen leider, welche Stadien eine langwährende Beziehung durchläuft: Zunächst himmeln sich die Partner an, finden viele Ähnlichkeiten, empfinden ein suchtähnliches Verlangen, alles gemeinsam zu machen, und stellen sich deshalb ganz auf die Wünsche des anderen ein. Später tauchen im Alltag Differenzen auf. Das Eigene wird stärker betont, und die Bereitschaft, das Andere attraktiv zu finden, sinkt. Erste Enttäuschungen steigern sich zu Machtkämpfen mit dem Ziel, den anderen nach den eigenen Vorstellungen zu verändern. Was auf der ersten Stufe vielleicht Eifersucht war, wird jetzt Unverständnis, Kritik und Zorn. Daraus folgt der Wunsch bei einem oder bei beiden Partnern, sich zu trennen. Auf dieser – etwa der fünften – Stufe fängt es erst an, richtig schwierig zu werden. Bei guten Voraussetzungen kann eine umfassende Versöhnung stattfinden, mit der die Machtkämpfe beendet werden und der andere so akzeptiert wird, wie er ist. Die höchste Stufe einer Beziehung, die nur selten von Paaren erreicht wird, ist geprägt von dauerhafter gegenseitiger Toleranz und einem Gleichgewicht von Nähe und Ferne. Davon sind Jimmy und Christy weit entfernt.
»Natürlich ist Aschermittwoch vor allem eine Meditation über die Ehe. Ich habe die letzten fünf Jahre meines Lebens darin verarbeitet (…). Tatsächlich ist jede Ehe harte Arbeit. Man liebt leidenschaftlich, verabscheut sich, findet sich lächerlich, ist sich scheißegal oder kann sich nicht erinnern, was man je aneinander fand. Ein Teil deiner Individualität stirbt, auch Vorstellungen von Freiheit. Eine echte Ehe ist eine ewige Häutung (…). Leben ist Veränderung, und feste Ideen bringen nichts. Am besten, man versucht mitzuhalten und mental nicht zu verfetten. (…) Jack Kerouac schrieb einmal, ein guter Autor müsse in sein Leben verliebt sein. Das versuche ich.« Und dabei bleiben Hawke und sein Held Jimmy gerne kindisch, auch den Dialog der verschiedenen Religionen betreffend, die im Roman thematisiert werden. Spannend daran ist, dass Jimmy wie in der Eingangssequenz smart genug bleibt, um zu wissen, dass er oberflächlich ist. Auch weil er Lust auf Verantwortung hat und gleichzeitig Angst davor, ist dieses Buch wichtiger und unterhaltsamer Lesestoff gerade für Pubertierende. Zudem lässt sich bei der Lektüre erahnen, wie schwierig es für jede Generation ist, die Fehler der Eltern zu korrigieren.
Hawkes schnoddriger Ton in diesem temporeichen literarischen Roadmovie erinnert an den frühen Michael Chabon (Die Geheimnisse von Pittsburgh). Es gibt nicht viele Hollywood-Stars, die Romane schreiben. Die große, stets nach Erleuchtung suchende Doppelbegabung Ethan Hawke sagt: »Mich selbst auszudrücken reinigt mein Gehirn. (…) Schreiben wirft einen auf sich selbst zurück. (…) Im Kino geht es um Teamarbeit, an jeder Szene hängt ein Apparat. Wenn du schreibst, bist du allein. Ich bin gern allein. (…) Interessant ist nur: Ist mein Buch wertvoll oder nicht? Kommt es von Herzen? Gelingt es mir, Erfahrungen so zu kristallisieren, dass ein Mehrwert entsteht?«
In Aschermittwoch (das Gedicht Ash Wednesday von T. S. Eliot mit den Zeilen: Teach us to care and not to care / Teach us how to sit still hat ihn zu diesem Titel inspiriert) entsteht eine Menge Mehrwert. Ethan Hawke begeistert nicht nur Teenager. Hans-Joachim Gelberg schrieb 2005 in seinem Aufsatz Lesen als Biographie – vom Einfluss der Literatur: »In dem 1996 in den USA erschienenen Debütroman Hin und weg des jungen Ethan Hawke sagt die heißgeliebte Sara: ›Ich wünschte, ich wäre alt. Dann müsste ich mir nicht mehr so viele Sorgen um die Zukunft machen.‹ Und die Mutter tröstet den 20-jährigen Erzähler: ›Dir werden noch eine Menge schlimmer Dinge passieren. Zunächst mal wirst du irgendwann sterben. Und so gesehen, musst du dir eigentlich nicht mehr viel Sorgen machen. Was immer sonst noch passieren mag, im Grunde hat man nur zwei Optionen: Man kommt mit dem Leben entweder klar und ist glücklich oder man kommt nicht klar und ist unglücklich.‹«
Ethan Hawke, Jahrgang 1970, ist durch Rollen in Der Club der toten Dichter, Reality Bites oder Schnee, der auf Zedern fällt bekannt geworden. Für seinen Part in Training Day wurde er 2001 und in Before Sunset (2004) für den Oscar nominiert. Er ist Mitbegründer und künstlerischer Direktor der Malaparte Theater Company in New York. Sein Debütroman Hin und weg wurde auch in Deutschland zum hochgelobten Bestseller. Ethan Hawke lebte mit seiner Frau, der Schauspielerin und Produzentin Uma Thurman, und den gemeinsamen zwei Kindern einige Jahre in New York. Ein Jahr nach Erscheinen von Aschermittwoch trennten sich die Stars und 2004 ließen sie sich scheiden. Welche Stufe der Beziehungsentwicklung die beiden wohl erlangt haben mögen? Ob Hawke der unreife Schürzenjäger geblieben ist, den er in Aschermittwoch porträtiert? Ob nur Hawkes Wunsch der Vater des im Roman beschriebenen männlichen Reifungsprozesses war? Grund für die Trennung war offenbar das kanadische Model Jen Perzow. Für Fortsetzungsstoff und einen dritten Roman ist damit gesorgt.
Ethan Hawke: Aschermittwoch. Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Heinrich Koop, Kiepenheuer & Witsch 2002, Ullstein 2004, 315 S.
Von Pop zu Literatur
Alexa Hennig von Lange Ich habe einfach Glück
Erste Sätze
In der Schule bin ich immer fröhlich. Alle denken, Lelle hat ein sonniges Gemüt.
Letzte Sätze
Die Unterhosen haben wir anbehalten. Das ist gut so. Auch, wenn meine gerippt und aus Baumwolle ist.
I just wanted you to be the first one.
Wir liegen ganz eng nebeneinander. Arthur schläft und mir ist heiß. Vorsichtig schlage ich die Decke zurück. Hoffentlich wacht Arthur nicht auf. Ich will nur schnell das Fenster ankippen. Gerade als ich vom Hochbett krabbeln will, hält mich Arthur plötzlich fest.
»Wo willst du hin?«
»Ich mach nur schnell das Fenster auf!«
»Bitte nicht! Hinterher strampel ich mich im Schlaf frei und dann erkälte ich mich!«
Leute, ich habe einfach Glück.
Kultige Seiten: 14 folgende
Die ersten Sätze führen in die Irre. Einerseits ist Lelle mit ihrem extrem strapazierenden Teenager-Alltag viel mehr als nur fröhlich: Sie ist frech, witzig und böse und trägt auch mal gerne dick auf. Andererseits ist sie auch verletzlich, traurig und allein und findet es schlimm, 15 Jahre alt zu sein. Kuschelig ist das alles nicht: Wenn es Lelle zu viel wird, schlägt sie den Kopf gegen die Wand, raucht Kette, magert ab, steckt sich nach einer furchtbaren Möhrenmahlzeit im Klo den Finger in den Mund, fürchtet den anschließenden Anhauchtest durch die Mutter und würde am liebsten in Ohnmacht fallen, was gelegentlich auch geschieht. Käme nur der TV-Star und streichelte ihr sanft den Rücken. Gut, dass sich Lelle in den Nachbarsjungen Arthur verliebt, der keine Eltern hat, aber die geeignete Erscheinung ist, um Licht in Lelles Leben zu bringen. Keine leichte Aufgabe: Die hypochondrische, heimlich Sherry trinkende Mutter lässt die beiden Töchter Cotsch und Lelle nicht in Ruhe, lässt sie nicht erwachsen werden und droht hin und wieder mit ihrem Tod. Der spießige, von Regeln besessene Vater projiziert seinen Geiz aus Jugendtagen, als er noch Kondome auswusch, um sie wiederzuverwenden, heute auf die Schonung der Kolonialmöbel. Er kennt das überdrehte Familienleben als einziger Mann zwischen drei Frauen zur Genüge und hat keine Lust mehr, darauf zu reagieren. Cotschs Brief, den sie nach einem riesigen Krach an ihn geschrieben hat, steckt immer noch ungeöffnet in Vaters Bibliothek. Seinen Ehering verwahrt er im Zahnputzglas. Nun lass doch mal die Kinder in Ruhe, sagt er zu seiner Frau und verzieht sich in den Keller. Doch das ist keine Lösung: Die frustrierte Mutter simuliert Herzinfarkte und Lelles jähzornige 17-jährige Schwester Cotsch versetzt die anderen Familienmitglieder in Angst und Schrecken. Obwohl Cotsch die Beste, Begehrteste und Hübscheste in der Schule ist, dreht sie durch, wenn auch nur eine Kleinigkeit nicht ihrem Perfektionsdrang entspricht. Sie nennt ihren Vater immer wieder Arschloch und muss zur Gesprächstherapie, nachdem sie ihre Geige gegen den Türrahmen geknallt hat. Lelle versucht, zwischen Vater, Mutter und Schwester zu vermitteln. Sie fühlt sich zwar unverstanden, mag ihre Familie aber doch sehr. In manchen Augenblicken erkennt Lelle, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen hilflos sind: Die benehmen sich genau wie Cotsch und ich. Der eine haut ab, ohne zu sagen, wohin, und die andere frisst ihre Oberlippe vor lauter Anspannung auf.
Wie soll sich das Nesthäkchen in diesem Chaos verhalten? Lelle besticht schon auf den ersten Seiten durch ihren praktischen Verstand. Ihre Mama töpfert Vasen, verkauft sie beim Weihnachtsbasar in der Grundschule gegenüber. Und weil oft etwas Lehm übrig bleibt, formt Lelle einen Penis in weiser Voraussicht, denn eine Entjungferung könnte Schmerzen bereiten. Lelle scheint es nur vernünftig, das vorher allein zu erledigen, damit sie sich dann besser auf den Jungen konzentrieren kann, den sie ja, wenn es so weit ist, auch noch lieben soll. Der selbst getöpferte Dildo wird sorgsam im Wäscheschrank versteckt …
Die Faszination, die von diesem Buch ausgeht, hat weniger mit dem Plot zu tun: Lelle sehnt sich nach erstem Sex; die nymphomanisch veranlagte Cotsch noch mehr und haut ab; Lelle sucht mit Arthur, der die Mutter gerettet hat, ihre Schwester, die sich, statt Liebe zu finden, inzwischen ein Bein gebrochen hat; zuletzt gehen auch Lelles Zärtlichkeitsträume – mit Einschränkungen – in Erfüllung. Traumprinz Arthur, der von Lelles Vater für einen Dieb und Stricher gehalten wurde, stellt sich bei näherer Betrachtung als gehätschelter Miniaturspießer heraus.