
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Über dieses Buch
1 Europas Demokratie
Einer für alle, alle für einen
Neue Leitbegriffe
Europa auf der Weltbühne
Eine neue Weltordnung
Der Euro in Not
Ein Präsident für alle
Eine Herkulesaufgabe
Konfliktpotenzial
Ein starker Präsident
Wo bleiben die Regierungschefs?
Neue Rolle für die rotierende Präsidentschaft
Literatur
Bundestag auf Europäisch
Mehr Macht für die nationalen Parlamente
EU als Verantwortungsgemeinschaft
Europa- oder Fachpolitiker?
Wissensvorsprung oder Informationsflut?
Volksvertreter als Öffentlichkeitsarbeiter
Debattenkultur ist Teilhabe
Literatur
Europäische Bürgerinitiative: Neuerung mit Sprengkraft
Historische Idee auf leisen Sohlen
Die aktuelle Debatte
Profitieren Bürger oder NGOs?
Bürgerinitiative online
Eine Chance für Parlament und Parteien
Europäische Öffentlichkeit stärken
Literatur
Zwischenruf - The »European Way of Life« - künstliches Konstrukt oder Exportschlager?
2 Europas Wirtschaft
Wirtschaftskrise in Mittel- und Osteuropa - Feuerprobe der erweiterten EU
Blick zurück: Osterweiterung der EU
Finanz- und Wirtschaftskrise der EU
Euro als Stabilitätsfaktor? Beitrittsaussichten
Konsequenzen für die EU
Literatur
Lissabon, die Zweite
Zuckerbrot statt Peitsche: »Naming« und »Praising«
Für einen Europäischen Sachverständigenrat
»EU-2020« im Budget
Europäische soziale Marktwirtschaft
Eine Stimme für den Euro
Auch nach zehn Jahren bleibt der Euro ein politischer Zwerg
Euro-Zone im IWF: Patchwork statt One Voice
Europa blockiert die Reform des IWF
Eine Währung, eine Stimme: ein Vorschlag
Eine deutsch-französische Initiative?
Gefragt sind die Staats- und Regierungschefs
Literatur
Wohlstand statt Wachstum
Die Beyond-GDP-Debatte - ein Überblick
Aktuelle politische Initiativen und Umsetzungsabsichten
OECD: »Measuring the Progress of Societies«
Die Beyond-GDP-Initiative der Europäischen Kommission
Der Stiglitz-Report
Umsetzungsabsichten
Herausforderungen
Literatur
Zwischenruf - Die europäische Finanzkrise: Tragödie oder Aha-Erlebnis?
Kein europäischer Lösungsansatz für die Krise
Das griechische Aha-Erlebnis
Der europäische Wendepunkt
Angst vor dem Wettlauf um das größte Sparpaket
Eine Gemeinschaft und kein intergouvernementales Europa
Gemeinschaftsprinzip oder Intergouvernementalismus?
Die vier Säulen einer europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik
Ein nicht hinnehmbarer Gegensatz
3 Europas Weltbild
Hallo Nachbar! Für eine neue EU-Politik von Marokko bis Aserbaidschan
Die Europäische Nachbarschaftspolitik
Mittelmeerunion: Super-Vision vs. Trippelschritt
Schwarzmeer-Synergie - inklusiv, aber wirkungslos?
Die Östliche Partnerschaft - Europäisch sein ohne Mitgliedschaft?
Leitgedanke Kohärenz
Literatur
Chancen der Modernisierung - Die EU und Russland als Partner
Viele Dokumente, viele Kompromisslösungen
Modernisierungspartnerschaft: nach welchem Verständnis?
Die neue, inoffizielle außenpolitische Doktrin
Die EU als Partner nach dem Vertrag von Lissabon
Keine Modernisierung ohne Sicherheit, keine Sicherheit ohne Modernisierung
Literatur
Europas Nachbarn im Süden - Chancenregion Nahost
Chancen in einer Konfliktregion?
Die vier »E« - Economy, Energy, Environment + Education
Gute Wertanlagen und viele Exporte
Wüstenstrom schafft Arbeit und spart CO
Mit Erasmus an die KAUST
Europas Südpolitik - engagiert mit bescheidenem Erfolg
Den GCC als politischen Akteur stärker einbinden
Literatur
Europas Auswärtiger Dienst - Viel Lärm um nichts
Ein neues Amt, kein neuer Schwung
Lady Ashton und ihre Widersacher
Die Kommission: Teile und herrsche
Der Rat: Wir können das besser
Die Mitgliedstaaten: Weshalb oder wofür brauchen wir den EAD?
Das Europäische Parlament: Zu hoch gepokert?
Kampf gegen den Menschenhandel - Europas schwierige Aufgabe
Die Situation
Entwicklungen im internationalen Recht
Europäische Ansätze
Mitgliedstaaten in der Pflicht
Neue Dynamik dank der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft
Nagelprobe für Europas Glaubwürdigkeit
Literatur
Europas Wertewelt
Weltpolitische Mission
In der Norm liegt die Macht
Für eine bessere Welt
Ausblick - Die Vereinigten Staaten von Europa
Die Autorinnen und Autoren
Über dieses Buch
»Die Einigung Europas gleicht dem Versuch, ein Omelett zu backen, ohne Eier zu zerschlagen.«
Paul Lacroix (1806-1884), französischer Schriftsteller
Europa reimt sich auf Krise. Dieser Eindruck muss sich einstellen bei der täglichen Lektüre der EU-Nachrichten. Und Brüssel reimt sich auf Bürokratie, tritt dem Bürger (angeblich) als kaltes Monster entgegen. Dabei gibt es weder das politische Europa noch jenes ominöse »Brüssel« ohne unsere Nationalstaaten, die auf sich allein gestellt zu klein, zu schwach geworden sind, und ohne uns Bürger, die wir die Freiheiten innerhalb der Europäischen Union zu schätzen wissen, auch wenn wir sie oft nicht der EU gutschreiben.
Europa reimt sich auf Erfolg. Als Friedensprojekt war schon die EWG eine Erfolgsgeschichte, als Freiheitsgeschichte erlebten sie die einstigen Diktaturen des Südens und die ehemals kommunistischen Länder des Ostens. Das politische Europa hat aus Krisen von heute stets den Erfolg von morgen zu schmieden gewusst - nicht immer auf elegante, wohl aber auf wirksame Weise.
Das Europaprogramm der Bertelsmann Stiftung analysiert in einem monatlichen Policy-Brief - wir nennen es »Spotlight Europe« - aktuelle Entwicklungen in der Europäischen Union, ihre Krisen, aber eben auch ihre Erfolge. Unter den Lesern der deutschen, englischen und spanischen Ausgaben sind Wissenschaftler, Journalisten, politische Entscheidungsvorbereiter, Politiker und ganz allgemein politisch Interessierte. Jeder Bürger kann das »Spotlight Europe« kostenlos über das Internet beziehen, alle Analysen sind öffentlich zugänglich.
Aus dieser Arbeit am »Spotlight Europe« heraus entstand die Idee, ein eigenes Buch zur aktuellen EU-Politik zu machen, das die Schwerpunkte der Europaarbeit der Bertelsmann Stiftung widerspiegelt. Wir gehen dabei der Frage nach, wie die EU demokratischer gestaltet werden kann, wie sie bei ihrer gewohnten Politik neuerdings auf Grenzen stößt und sich auf die Suche nach mehr Bürgerbeteiligung machen muss. Wir überlegen, wie die europäischen Länder neue wirtschaftliche Dynamik entfalten können und wie die EU das Verhältnis zu ihren Nachbarn gestalten muss. Nicht zuletzt fragen wir, warum die EU zwar wirtschaftlich ein Riese ist, weltpolitisch jedoch nach wie vor wie ein Zwerg wirkt.
Wir freuen uns, dass Joschka Fischer, Wolfgang Schüssel und Guy Verhofstadt diesen Band mit ihren Ideen oder vielmehr ihren engagierten Plädoyers bereichern und für mehr Mut zur Europäischen Union werben. Als streitbare und überzeugte Europäer zeigen sie, was möglich wäre, wenn die Devise lautet: »Europa wagen«.
Das erste Kapitel widmet sich Europas Demokratie und den Auswirkungen des Vertrags von Lissabon auf die EU sowie die einzelnen Mitgliedstaaten. Um Krisen wie die der vergangenen Jahre zu meistern, braucht die EU nicht nur angepasste Strukturen, sondern auch neue Leitbegriffe: mehr innere Solidarität und Selbstbehauptung. Oberstes Gebot ist für Joachim Fritz-Vannahme die Regel der drei Musketiere: Einer für alle, alle für einen. Wer diese Regel bricht, schwächt sich selbst und das Ganze.
Mit der Wahl des ehemaligen belgischen Premierministers Herman van Rompuy zum Präsidenten des Europäischen Rates haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs für ein bestimmtes Profil des neuen Amtes entschieden. Dieser Präsident soll in erster Linie Vermittler und »König« der internen Kompromissfindung sein und weniger Europas Gesicht in der Welt. Aufgaben und Ziele des Amtes sowie die ersten Monate des Jahres 2010 analysiert Dominik Hierlemann.
Der Vertrag von Lissabon stattet die nationalen Parlamente im europäischen Entscheidungsprozess mit mehr Macht denn je aus. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den Vertrag von Lissabon zwar für verfassungskonform, prägte aber zugleich den neuen Begriff der Integrationsverantwortung, die alle am Integrationsprozess Beteiligten wahrnehmen müssen. Isabell Hoffmann fragt vor diesem Hintergrund, wie der Bundestag seiner neuen Rolle in der Europapolitik gerecht wird.
Für Dominik Hierlemann und Anna Wohlfarth ist die Europäische Bürgerinitiative eine Neuerung mit Sprengkraft. Die Bürgerinitiative ist ein bisher kaum bemerktes Element des Vertrages von Lissabon. Doch diese vielfach als Placebo kritisierte Form der Scheinmitwirkung könnte die Europäische Union rasch verändern und die Entwicklung von europäischen Parteien fördern.
Wolfgang Schüssel vertritt die Überzeugung, dass der »European Way of Life« das Potenzial hat, eine ähnliche Strahlkraft wie der »American Way of Life« zu entwickeln - wenn wir nur Zögerlichkeit und Selbstmitleid überwinden und uns stattdessen auf unsere Stärken besinnen und sie selbstbewusst anwenden. In seinem Zwischenruf zeigt er aber auch, dass Europa mehr Dynamik benötigt, um vor allem mit Asien mithalten zu können: »Ein diesbezüglicher internationaler Vergleich vermittelt das Gefühl, dass sich Asien in der pole position befindet, die USA in pragmatisch-hemdsärmeliger Manier ihren Jeep steuern (ungeachtet diverser Schlaglöcher), während Europa gemächlich im Fiaker kutschiert.« Schüssel fordert, eine neue Geschichte Europas zu erzählen - eine Geschichte der Vielfalt, der Chancen, der Ideen.
Das zweite Kapitel, Europas Wirtschaft, beginnt mit einer Analyse der Wirtschaftskrise in Mittel- und Osteuropa. Cornelius Ochmann untersucht, wie sich die Finanzkrise auf die noch »jungen« EU-Mitgliedstaaten auswirkt und wie sie damit umgehen. In der europäischen Wahrnehmung stehe der »undisziplinierte, verschwenderische, romanisch geprägte Süden« dem »reformorientierten, sparsamen, germanisch geprägten Norden« gegenüber. Aber wohin, so fragt Ochmann, gehört der »flexible, slawisch dominierte, neue Osten Europas«?
Die Lissabon-Agenda war gestern, »EU-2020« heißt nun die Nachfolgestrategie. Um nachhaltiges Wachstum zu erzielen, muss vor allem die Governance geändert werden. Joachim Fritz-Vannahme, Armando García Schmidt, Dominik Hierlemann und Robert Vehrkamp schlagen ein Benchmarking mit »naming and praising« vor, entwickeln das Konzept eines europäischen Sachverständigenrates und drängen auf mehr Forschungsmittel im EU-Budget.
Obwohl sich der Euro in der Weltwirtschaft mittlerweile als Konkurrenzwährung zum US-Dollar etabliert hat, bleibt Europa zehn Jahre nach dessen Einführung in der globalen Finanz- und Währungspolitik deutlich unter seinen Möglichkeiten. Das derzeitige Problem der Euro-Zone im IWF: Statt nach der Einführung des Euro mit einer Stimme zu sprechen, haben die Europäer ihre jeweils nationale Mitgliedschaft und Repräsentanz im IWF behalten. Robert Vehrkamp zeigt, dass die EU sich in dieser Frage nicht nur selbst blockiert, sondern zudem der Bremsklotz einer zeitgemäßen Governance-Reform des gesamten IWF ist - und er entwickelt eine Lösungsstrategie.
In den wirtschaftlich stark aufgestellten EU-Staaten wird bereits das Ende der Krise ausgerufen - das BIP zeigt zumindest diese positive wirtschaftliche Entwicklung an. Doch einige Wirtschaftsexperten beklagen die Fokussierung auf die Entwicklung der klassischen Wirtschaftsindikatoren. Die Folgen für die Natur, die Endlichkeit der Rohstoffe, die Klimaveränderungen, die wahre Lebenszufriedenheit des Einzelnen, sozialer Zusammenhalt und Bildung werden ausgeblendet. Katharina Benderoth und Isabell Hoffmann fassen die aktuelle Debatte zusammen und zeigen, dass der alleinige Blick auf das BIP heute keine validen Aussagen über den Wohlstand und Zustand einer Gesellschaft mehr zulässt.
Guy Verhofstadt geht in seinem Zwischenruf der Frage nach, ob die europäische Finanzkrise nun Tragödie oder vielmehr Aha-Erlebnis war. Einzelne Staaten, auch nicht die größten und reichsten, können die globale Wirtschafts- und Finanzkrise auf sich allein gestellt nicht bewältigen. Die Staaten der EU, der am stärksten integrierten Region der Welt, müssen sich der Krise gemeinsam entgegenstellen. Denn die Europäer sitzen alle in einem Boot. Nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich, wirtschaftlich und kulturell, bei der Verteidigung ihrer Volkswirtschaften, ihrer Sozialsysteme und ihres Wohlstands, bei der Bewahrung ihrer Rechte und Freiheiten, ihres Rechtsstaats, ihrer Umwelt. Verhofstadt liefert eine Analyse der Geschehnisse rund um die Griechenland-Krise und weist den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Finanz- und Wirtschaftspolitik.
Das dritte Kapitel ist überschrieben mit Europas Weltbild und widmet sich den Beziehungen der EU zu ihren Nachbarn sowie ihrer Rolle in der Welt. So lautet der erste Beitrag auch schlicht »Hallo Nachbar«. Cornelius Ochmann, Christian-Peter Hanelt und Armando García Schmidt analysieren die Europäische Nachbarschaftspolitik, die Union für das Mittelmeer, die Schwarzmeer-Synergie sowie die Östliche Partnerschaft: Wenn es um das Zusammenleben mit den Nachbarn im Osten und im Süden geht, droht die EU den Überblick zu verlieren. Die Autoren meinen: Es ist Zeit für den großen Wurf, der die vorhandenen Ansätze zusammenführt.
Cortnie Shupe widmet sich Russland und seiner Modernisierungsstrategie - vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Weltfinanzkrise hat die Kooperationsbereitschaft und die außenpolitische Ausrichtung Russlands gegenüber dem Westen geändert. Russland möchte durch wirtschaftliche Modernisierung als Weltmacht wiederauferstehen. Zudem hat der Vorschlag des russischen Präsidenten Medwedew für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur die Debatte über das Verhältnis zwischen der EU und Russland belebt.
Der Nahe Osten ist mehr als ein Hort von Konflikten, Krieg und Terror. Diese Region birgt für Europa nicht nur Risiken, sondern auch Chancen mit erheblichen Auswirkungen auf die Außenbeziehungen der Europäischen Union und Rückwirkungen auf die innereuropäische gesellschaftliche Entwicklung. In zahlreichen Ländern im Nahen Osten ist eine dynamische soziale und ökonomische Modernisierung im Gang, deren Träger eine neue Mittelschicht ist. Für Europa gilt es, diese neue Mittelschicht stärker zu entdecken und als Partner für eine gemeinsame Politik der Konfliktlösung, der Rechtsstaatlichkeit und einer gerechten sozialen und ökonomischen Entwicklung zu gewinnen. Christian-Peter Hanelt zeigt Potenziale und Wege für die Nahostpolitik der EU auf.
Nur wenigen Europäern ist bewusst, dass es Handel mit Menschen und Zwangsarbeit mitten unter ihnen gibt. Dabei werden jährlich Tausende von Menschen in die EU gebracht oder innerhalb der EU festgesetzt und mit Gewalt zu Prostitution oder unbezahlter Arbeit gezwungen. Wie kaum eine andere Verbrechensart berührt diese moderne Form des Sklavenhandels den Kern des europäischen Menschenrechtsverständnisses und fordert den Rechtsstaat heraus. Armando García Schmidt und Christal Morehouse zeigen, wie die EU-Mitgliedstaaten und die EU als Ganzes um den richtigen Umgang mit diesem Problem ringen.
Mit dem Vertrag von Lissabon sollte die EU auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik fit für das 21. Jahrhundert gemacht werden. Deshalb wurde mit dem Vertrag von Lissabon das Amt des »Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik« geschaffen und mit Baroness Catherine Ashton als erster Amtsinhaberin besetzt. Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) soll sie bei der Erfüllung ihrer vertraglichen Aufgaben unterstützen. Hat die EU hier wirklich einen Systemwechsel vollzogen oder handelt es sich gar um eine Mogelpackung? Stefani Weiss untersucht, welchen Mehrwert der EAD für die EU und ihre Mitgliedstaaten haben könnte.
Die EU steht für ein friedliches Miteinander fast aller Nationen des Kontinents: Runde um Runde dehnte sich die politische Union aus und jede Erweiterung war zugleich die Bestätigung der Wertegemeinschaft. Doch was genau sind Europas Werte, was ist europäisch, wo liegen die Grenzen, geografisch oder kulturell, fragt Joachim Fritz-Vannahme. Politisch ist die EU ein offenes Projekt auf der Suche nach sich selbst und ihrer endgültigen Form. Als Wertegemeinschaft hingegen gibt sie sich nach außen stolz und selbstsicher - wie eine Union aus einem Guss. Doch die EU muss als Wertegemeinschaft von den eigenen Mitgliedern, ob Regierung, Parlament oder Bürger, endlich respektiert werden. Nur dann wird sich Europa auch in der Welt Respekt verdienen.
Im Anschluss an die Debatten dieses Buches gibt Joschka Fischer einen Ausblick: Einerseits ist die Vollendung eines starken und integrierten Europa die entscheidende Weichenstellung für unsere Zukunft. Andererseits ist dieses Europa trotz seiner großen Erfolge in Vergangenheit und Gegenwart in den meisten europäischen Bevölkerungen unpopulärer denn je. Worin liegt dieser Widerspruch begründet und wie kommen wir zu einer klaren Vision vom Europa der Zukunft? Der ehemalige deutsche Außenminister analysiert die gegenwärtige Lage und zieht seine Schlussfolgerung: Die Vereinigten Staaten von Europa sind nur mit demokratischen Mehrheiten zu erreichen. Der Kampf um diese Mehrheiten wird lange dauern und Kraft kosten - ist er erfolgreich, wird dies zugleich die Geburtsstunde einer wahrhaft europäischen Demokratie sein. Für dieses Ziel zu kämpfen, ist aller Ehren wert, zumal uns die Alternative nur zu bewusst ist.
Unser Dank gilt zunächst allen Autoren, die unter hohem Aktualitätsdruck ihre Beiträge geliefert haben. Bedanken möchten wir uns bei Christian Heydecker für die Recherche zu zahlreichen Grafiken und Übersetzungsarbeiten. Ohne Sibylle Reiter wäre dieser Band nicht pünktlich fertig geworden. Erst durch ihre sorgfältige und geduldige Redaktion konnte das Buchprojekt gelingen. Ihr gilt unser besonderer Dank.
Joachim Fritz-Vannahme
Director, Programm »Europas Zukunft«
Herausgeber des »Spotlight Europe« in der Bertelsmann Stiftung
Dr. Dominik Hierlemann
Senior Project Manager, Programm »Europas Zukunft«
Herausgeber des »Spotlight Europe« in der Bertelsmann Stiftung
1 Europas Demokratie
Einer für alle, alle für einen
Joachim Fritz-Vannahme
Dieser 9. Mai 2010, Europatag auch in Brüssel, wird in Erinnerung bleiben. Wie stets hatten die europäischen Institutionen den Bürgern ihre sonst so strikt kontrollierten Tore weit geöffnet. Viel Volk zwischen viel kühlem Beton und Glas. Im Gebäude des Europäischen Rates wartete ihr Präsident Herman van Rompuy auf die zwölf Weisen. Unter Vorsitz des einstigen spanischen Regierungschefs Felipe Gonzalez hatten sie auf knapp 40 Seiten die Herausforderungen und Chancen für ein »Projekt Europa 2030« formuliert.
Allein ihre anderthalbjährige Arbeit war an diesem Festtag unversehens Nebensache. Denn im »Consilium«, im »Rat«, wie das Gebäude auf Lateinisch offiziell heißt, hasteten Spitzenbeamte aus den Mitgliedstaaten über die Gänge, die Mienen leichenblass vor Angst und Anspannung und die blanke Angst stand auch ihren Regierungschefs ins Gesicht geschrieben, so wurde hernach berichtet.
Es ging um die Zukunft des Euro, die Zukunft der Europäischen Union, es ging ums Ganze. In Zahlen: 750 Milliarden Euro mussten die Mitgliedstaaten aufbringen, um ihre gemeinsame Währung zu stützen. Seit Tagen stand der Euro an den Märkten unter Druck, so sehr, dass kurz vor diesem denkwürdigen 9. Mai der amerikanische Präsident Barack Obama zum Hörer griff und die deutsche Kanzlerin und den französischen Präsidenten inständig drängte, endlich etwas zu tun.
Erst in höchster Not findet die EU zu sich zurück. Nur unter amerikanischem Druck und unter dem viel gewaltigeren der Märkte zeigt sich die Gemeinschaft gemeinschaftsfähig. An diesem Europatag hätte unschwer das Sterbeglöcklein einer Union läuten können, die sich in den Tagen und Wochen zuvor einmal mehr gedankenvoll (»Europa 2030«!) und tatenarm gab und spät, vielleicht zu spät spürte, dass ihre Rettungsaktion zur Hilfe des griechischen Partners zwei Wochen zuvor draußen in der Welt nicht sonderlich Eindruck gemacht hatte.
Zehn Tage später brachte es Bundeskanzlerin Angela M erkel in einer Regierungserklärung auf den Punkt: »Jeder von uns spürt: Die gegenwärtige Krise des Euro ist die größte Bewährungsprobe, die Europa seit Jahrzehnten, ja wohl seit Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahre 1957 zu bestehen hat. Diese Bewährungsprobe ist existenziell...«
Überlassen wir es den Kommentatoren, ob da nun späte Reue mitschwang - es ging an jenem 9. Mai 2010 ums Ganze. Die Existenz der Union stand auf dem Spiel. Mit Merkels Worten: »Das, was sich in jenen Tagen abspielte, war nur die ökonomische Ahnung dessen, was auf Deutschland, Europa und die Welt zukäme, wenn nicht oder falsch gehandelt würde. Die politischen Folgen dagegen sind noch nicht einmal in Gedanken vorstellbar.«
Gerade in Deutschland, als größter Exporteur im Binnenmarkt der Hauptnutznießer des Euro, hatten viele lautstark mit dem Gedanken geflirtet, man könne die Griechen doch aus dem Haus der gemeinsamen Währung weisen oder gar sich selbst unter das vermeintliche Schutzdach der guten, alten D-Mark flüchten. Ein bestürzender Fall von Realitätsflucht, von politisch-populistischer Traumtänzerei.
Mit ein wenig Abstand sind jene Tage im Mai freilich der Idealfall, um die Aufgaben der Union nach innen und nach außen besser zu verstehen. Dieses Argument klingt nach Schwarzer Pädagogik, erst im Angesicht des Untergangs lernt der verstockte Kandidat seine Lektion. Aber genau so war es: Die Welt wartete nicht auf die EU, sie geduldete sich nicht, bis die verwinkelten Verhandlungen unter 27 Mitgliedstaaten und den großen Gemeinschaftsinstitutionen Europäisches Parlament und Europäische Kommission, Rat der Mitglieder und Zentralbank endlich ein Ergebnis zeitigten.
Die Union sieht sich selbst gern als treibende Kraft einer neuen Weltordnung. Mit einem Mal war sie die Getriebene. Dies lehrt: Will die Europäische Union auf die globalen Herausforderungen antworten, benötigt sie dafür dringend welthaltige Leitbegriffe, die für das 21. Jahrhundert taugen und konsequent in starke Institutionen und politische Prozesse übersetzt werden. Sie muss hierfür nicht lange suchen, ein wenig gesunder Menschenverstand und die Besinnung auf das Geleistete helfen beim Finden.
Neue Leitbegriffe
Die neuen Leitbegriffe sind Solidarität und Selbstbehauptung. Die Notwendigkeit einer europäischen Selbstbehauptung ergibt sich von selbst aus dem eben Gesagten. Warum aber dieses Wort so eng verknüpfen mit dem Begriff der Solidarität? Weil Selbstbehauptung nicht von selbst zu bekommen ist. Europa muss dafür etwas tun und die eigene Stärke im politischen Alltag stets neu erzeugen - durch solidarisches Handeln. Genau das fiel der EU in den Wochen vor jenem 9. Mai unsäglich schwer. Der Preis wäre um ein Haar der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit von 27 unter sich zerstrittenen Kleinstaaten gewesen.
Das Kerngeschäft und die Kernidee der Union ist Solidarität - und das auf vertrackte Weise von Geburt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 an. So lässt sich nicht nur der damals geschaffene Europäische Sozialfonds verstehen, sondern sogar die lange alles beherrschende Gemeinsame Agrarpolitik - mit der expliziten Aufgabe, den Landwirten ein angemessenes Auskommen zu sichern. Die Vergemeinschaftung dieser Politik - was ist sie anderes als ein Akt, der Solidarität begründet und zugleich allen Beteiligten abverlangt?
Das stärkste Beispiel gelebter und nicht bloß gefühlter Solidarität ist der Euro.
Solche Instrumente und Institutionen erzeugen im Alltag Solidarität und im Krisen- und Konfliktfall erzwingen sie diese sogar. Das Wort meint also in diesem Zusammenhang nicht ein Gefühl der Sympathie, sondern die von Eigennutz beförderte Einsicht, dass in der EU die Regel der drei Musketiere oberstes Gebot ist: Einer für alle, alle für einen. Wer diese Regel bricht, schwächt sich und das Ganze. Wer die gemeinsame Solidarität aushöhlt, der untergräbt die Aussichten auf Selbstbehauptung - die eigene wie die gemeinsame. Wem hierzu die rechte Einsicht fehlte, den belehrte die Euro-Krise eines Besseren.
Solidarität und Selbstbehauptung
Quelle: Bertelsmann Stiftung
So besehen ergibt sich eine polit-logische Reihe für das einzig sinnvolle und aussichtsreiche Vorgehen Europas auf globalem Parkett: Die Union muss nach geeigneten Instrumenten und Institutionen suchen, um nach innen jenes Maß an Solidarität zu erzeugen, zu stärken und zu garantieren, das nach außen ihre Selbstbehauptung überhaupt erst ermöglicht und verstetigt.
Europa auf der Weltbühne
Vielleicht hilft hier ein Vergleich mit anderen Akteuren auf globalem Parkett weiter, gleichsam als Spiegelung des europäischen Profils. Denn in China, Russland oder selbst in den USA gehorcht die Selbstbehauptung anderen, eben nationalen, häufig auch nationalistischen Regeln.
Kein Präsident Medwedew wird im russischen Föderationskreis Fernost oder Wolga die Gouverneure um ihre Meinung fragen, ehe er seine Politik gegenüber Washington formuliert. Ein Barack Obama wird nicht mit Kaliforniens Governor Schwarzenegger telefonieren, ehe er zu einem NATO-Gipfel reist. Und Vorsitzender Hu Jintao muss keinen der Hierarchen der Provinzen Yunnan oder Sichuan auch nur um Stellungnahme bitten, ehe er seine Außenpolitik definiert.
Diese Methode zentralistischer Entscheidung wird gern als Zeichen der Stärke gewertet - und den abstimmungsgeleiteten Europäern darum als Schwäche vorgeworfen. »Europa - welche Telefonnummer?«, spottete einst Henry Kissinger. Er selbst spricht heute aus gutem Grund nicht mehr so, wird aber von entnervten europäischen Bürgern, Politikern und Kommentatoren fleißig weiter zitiert. Doch ist der mühsame und unelegante Prozess einer permanenten Abstimmung unter 27 Partnern nicht das beste Training für den Auftritt auf der Weltbühne in einer multipolaren Zeit? Die EU ist längst ein weltpolitischer Akteur von Rang: größter Handelsblock, größter Geber von Entwicklungshilfe, mit dem Euro einstweilen zweite Reservewährung der Welt, zudem Krisen- und Konfliktschlichter auf vier Kontinenten.
Eine neue Weltordnung, die den Namen auch verdient, wird nach Regeln geformt werden, nach denen auch die EU konstruiert ist und lebt: Multilateralismus, geeinte und dabei geteilte Souveränität, gemeinsame Regeln und Normen, ein politisch eingehegter Markt, Respekt vor dem anderen.
Im Umkehrschluss freilich gilt auch: Sollte es stattdessen zur großen Weltunordnung kommen, wird kein Akteur davon so tief getroffen werden wie die EU. Denn ihre Raison d’être hätte sich dann als globalisierungsuntauglich erwiesen.
Wer sich als Europäer heute behaupten will, der kann sich keinen andauernden Streit, keinen spürbaren Mangel an Solidarität mehr leisten - und schon gar nicht eine lange Bedenkzeit zur Abstimmung gemeinsamer Positionen. Ein einiges Europa in der Welt braucht darum ebenso willige und willensstarke Akteure in den eigenen Hauptstädten sowie gemeinsame, approbierte Verfahren und Institutionen in der Brüsseler Zentrale, die diesen Willen gestalten und beschleunigen helfen.
Im Prinzip kann der zu Recht viel gescholtene, kaum gelesene Vertrag von Lissabon durchaus helfen. Mehrheitsentscheidungen werden jetzt zum Regelfall, die Drohung mit einem Veto macht weniger Eindruck als zuvor. Aber wie die Weltwirtschaftskrise von 2008 und die Euro-Krise von 2010 auf erschreckende Weise zeigten, wird dieser Vertrag allein der Weltlage nicht gerecht. Er hielt jedenfalls keine einzige Antwort auf diese Krise bereit. Zur Selbstbehauptung der Union auf globaler Ebene bedarf es daher neuer Instrumente des solidarischen Handelns, also eines gemeinsamen politischen Willens, diese Instrumente zu schmieden.
Jetzt soll nicht gleich wieder der europäische Außenminister eingefordert werden, der im Vertrag von Lissabon nicht so heißen darf, aber in der Praxis in naher Zukunft hoffentlich genau so auftreten wird. Nein, blicken wir fürs Erste zum Beispiel auf die Doha-Welt-handelsrunde. WTO-Chef Pascal Lamy berichtet, dass trotz Stillstand in 80 Prozent aller Streitfragen inzwischen Einigkeit bestehe. Die letzte Tagung scheiterte am indischen und amerikanischen Veto, beim nächsten Mal könnte es nach dem Wechsel in Washington besser enden.
Verhandelt hatte hier im Namen der Europäer der EU-Kommissar für Handel. Gewiss gab es da, vor allem aus Paris, auch schon mal Kritik an dessen Vorgehen. Aber das Verfahren bleibt unangetastet, die EU spricht mit einer Stimme. Washington, Delhi, Kairo wissen genau, wen sie anzurufen haben.
Wenn die EU sich in Handelsfragen derart einig zeigt - warum dann nicht auch andernorts? Der ehemalige Präsident des Internationalen Währungsfonds und deutsche Bundespräsident Horst Köhler beispielsweise forderte in seiner Berliner Rede im März 2009 die Europäer auf, »ihre Interessen im IWF und in der Weltbank in einem Sitz zu bündeln«.
Eine neue Weltordnung
Und wenn die Europäer schon dort ihre Energien in einem Sitz und einer Stimme bündeln würden - warum dann nicht auch gleich in den Vereinten Nationen? Das steht nicht auf der Tagesordnung und würde die Interessen der europäischen Nuklearmächte Frankreich und Vereinigtes Königreich beschädigen? Doch nur, wenn man die Welt weiter in den Begriffen und Größenordnungen von 1945 denkt!
Weshalb soll die Weltorganisation über sechs Jahrzehnte nach ihrer Gründung - im Zeichen von Spätkolonialismus und aufziehendem Kalten Krieg - eigentlich noch Absprachen gehorchen, die aus einer fernen, fremden Zeit stammen, Absprachen, die damals 51 Nationen betrafen und denen heute 192 gehorchen sollen? Ein Ethos der heraufziehenden Weltgesellschaft wird sich in neuen Regeln niederschlagen müssen: Die Europäer würden nach innen - Solidarität! - wie nach außen - Selbstbehauptung! - gewinnen, wenn sie diesen Übergang zu neuen Regeln selbst einleiten und betreiben würden.
Weltmacht Europa?
Quelle: IWF, WTO, OECD
Weltmacht Europa?
Quelle: IWF, WTO, OECD
Die eurozentrische Welt ist heute passé, endgültig, und die transatlantische Vorherrschaft des Westens geht auch zu Ende. Der Kreis der Akteure ist rapide gewachsen und wächst weiter - Japan gehört seit Langem dazu, auch Südkorea, sodann Russland, China, Indien, Brasilien, die sogenannten BRIC-Staaten, aber auch Indonesien, Mexiko, Südafrika, die Staaten am Golf. Als sich Anfang April 2009 die G-20-Staaten zum Krisengipfel in London trafen, da bedeutete allein schon das formale Arrangement den Abschied von der alten Welt, vielleicht brachte es sogar schon eine Formel für die neue, heutige Welt.
Zugegeben, das nötige weltpolitische Instrumentarium der EU für ihre neue Rolle ist noch im Entstehen begriffen. Mehr noch hinken das europäische Selbstverständnis und das strategische Denken den eigenen Möglichkeiten und den neuen Tatsachen hinterher. Nach den beiden Jahrzehnten der nötigen und erfolgreichen Neuordnung Europas muss sich künftig der Blick dieser EU auf den ganzen Globus richten. Ohne Solidarität und Selbstbehauptung wird die Union in dieser Welt zur Randgröße schrumpfen, nicht Subjekt, sondern Objekt der Zeitläufte. Entweder sie beherzigt die Regel: Einer für alle, alle für einen. Oder aber sie erleidet dieses Schicksal: Keiner kommt alleine durch. So ist die Welt nun einmal.
Der Euro in Not
Mit aller Härte mussten die Europäer im Frühjahr 2010 in der Griechenland-Krise erleben, dass die Krise des Euro zur Krise der EU anschwoll. Jener Schutzschirm von 750 Milliarden Euro (so viel gibt der EU-Haushalt in sechs Jahren aus!) konnte zwar die Märkte einigermaßen beruhigen. Im Fortgang aber muss er zu jener Wirtschaftsunion führen, die beim Beschluss einer Wirtschafts- und Währungsunion vor fast zwei Jahrzehnten am Widerstand vieler europäischer Partner, aber auch vieler Kräfte in der damaligen Regierung Helmut Kohl (der sie wollte, aber nicht bekam) scheiterte.
Vor allem französische Präsidenten von François Mitterrand bis Nicolas Sarkozy führten gern die Forderung nach einem »gouvernement économique« im Munde, blieben aber die genaueren Umrisse dafür stets schuldig. Doch allein das Wort genügte und schon stellten sich in Bonn und Berlin vielen die Nackenhaare auf. So lähmten Frankreich und Deutschland über Jahre in zwieträchtiger Eintracht den Aufbau wenigstens einer abgestimmten Fiskalpolitik.
»Die Idee, dass man eine gemeinsame Währung haben kann und jeden machen lässt, wie er will, ist falsch«, erklärte Dominique Strauss-Kahn, Chef des Internationalen Währungsfonds, am 19. Mai 2010 gegenüber der FAZ: »Ich glaube, dass die Deutschen dieser Idee nun stärker näher kommen. Man braucht ein Instrument, um die Politiken konsistenter zu machen. Die Franzosen mögen das Wirtschaftsregierung nennen, die Deutschen Stabilitätspakt. Es kommt nicht darauf an, wie man es nennt.«
Unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise hat sich tatsächlich in der Regierung Merkel der Widerstand etwas gelegt. Im März 2010 überraschte ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble mit dem Vorschlag eines Europäischen Währungsfonds nach Vorbild des Internationalen Währungsfonds - also eine Art Feuerwehr und Aufbauhelfer für in Not geratene Euro-Mitglieder (die Umrisse eines solchen Fonds entwarfen im Februar 2010 die Ökonomen Daniel Gros vom Brüsseler Think Tank CEPS und Thomas Mayer, Chefökonom der Deutschen Bank, in ihrem Aufsatz »How to deal with sovereign default in Europe«).
Auch das Rettungspaket von 750 Milliarden Euro muss von institutionellen Regeln begleitet werden: Wann kann ein Not leidendes Mitglied hier Bürgschaften oder gar Kredite beantragen, wie ist das Verfahren geregelt, wer soll neben den Regierungen ein Entscheidungs- oder auch nur Mitspracherecht haben - nur die Europäische Zentralbank? Auch die Kommission? Oder gar das Europäische Parlament?
Beide Ideen bereiten einer Wirtschaftsregierung den Boden. Die Stabilitätskriterien der Währungsunion allein genügen nicht länger, um die Weltwirtschaftsmacht EU für die krisenanfällige Weltwirtschaft von heute stark zu machen. Kriterien, gegen die zuerst nicht die Griechen verstoßen haben, sondern Deutschland und Frankreich in den Jahren 2002 und 2003. Sie hatten damals mithilfe des Rates der Finanzminister, also der Regierungen, das von ihnen selbst zuvor erfundene Strafverfahren der Kommission abgewendet und damit eine Klage der Brüsseler Aufseher beim Europäischen Gerichtshof ausgelöst. Der strenge Zuchtmeister Deutschland (jedenfalls sieht man sich dort in Währungsfragen gerne so) war also nicht nur Sünder, sondern auch für die »Aufweichung« des Paktes mitverantwortlich. Er schwächte die Selbstbehauptung der EU, indem er sich der Solidarität (und Solidität) entzog.
Was beim Blick auf die drei Kriterien des Stabilitätspaktes gern vergessen wird, ist der Nachsatz, also der Wachstumspakt. »Beim Staat sehen die Maastricht-Kriterien eine Dreiprozentgrenze für die Neuverschuldung und 60 Prozent für die Gesamtverschuldung (jeweils relativ zum BIP) vor. Diese Richtwerte wurden so gewählt, weil bei einem nominellen Wachstum von fünf Prozent eine Neuverschuldung von drei Prozent eine konstante Gesamtverschuldung von 60 Prozent ergibt. Liegt das nominale BIP-Wachstum in einem Aufholprozess deutlich höher, so könnte auch die Neuverschuldung steigen, ohne die Obergrenze der Gesamtverschuldung zu verletzen«, schreibt der Ökonom Michael Dauderstädt.
Das Wachstum in der Euro-Zone bleibt aber - erst recht nach dem Krisenschock - hinter den genannten fünf Prozent zurück, die Neu- und die Gesamtverschuldung stiegen fast durchweg weit über die Höchstmarken hinaus. Noch vor der wachsenden Verschuldung ist also eine anhaltende Wachstumsschwäche der EU das Kernproblem - und dahinter eine zu geringe Produktivität.
Deutschland reagierte in der Föderalismusreform darauf mit der sogenannten Schuldenbremse, einer begrenzten Nettokreditaufnahme des Bundes nach 2016 auf 0,35 Prozent des BIP. Nach Mai 2010 wurde dies als möglicher Weg für alle EU-Mitglieder und besonders für die Mitglieder der Euro-Zone debattiert. Dadurch entstünde neben der Kontrolle des Stabilitätspaktes durch die Aufsicht der Kommission auch in den nationalen Haushalten (zu kontrollieren durch die Parlamente!) eine rechtlich bindende, gemeinsame Regel. Auch dies wäre durchaus ein Weg zu mehr Solidarität und zu einer europäischen Wirtschaftsregierung. Sie wäre in diesem Falle nicht zentralistisch angelegt, sondern dezentral wirksam, dank einer Regel für alle. So könnten Kontrolle (durch Kommission und Zentralbank) und Selbstkontrolle (durch die eigenen Parlamente) kombiniert werden.
Die Euro-Krise kann durchaus einen Integrationsschub einleiten. Wieder einmal lernt die Union nur durch äußeren Druck. Gleichwohl darf diese Krise nicht den verbreiteten Eindruck verstärken, die EU stehe auf tönernen Füßen und ihre Erfolge hätten im Licht gewaltiger neuer Krisen keine Chance. Die in Selbstbehauptung übersetzte Solidarität steht bereits auf erstaunlich breitem Fundament - nur merken das viele in Europa nicht.
Erstes Fallbeispiel: Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg verhängte nach Klage der Brüsseler Kommission gegen den amerikanischen Softwarekonzern Microsoft eine Konventionalstrafe in Höhe von fast einer halben Milliarde Euro wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung in Europa. Microsoft streitet zwar weiter um die Höhe des Betrags, erkennt jedoch implizit die europäische Gerichtsbarkeit an. Grund: Auf dem größten Binnenmarkt der Welt will man nicht noch mehr riskieren.
Die Europäische Kommission untersagte im Jahr 2001 die in den Vereinigten Staaten bereits genehmigte Fusion von General Electric und Honeywell Bull wegen einer marktbeherrschenden Machtballung. Wohlgemerkt: Eine europäische Institution verbietet zwei amerikanischen Konzernen ihre strategische Entscheidung - und kommt damit durch. Wie machtlos also ist diese EU tatsächlich?
Nächstes Beispiel: Die Europäische Nachbarschaftspolitik wird all jenen Partnern der EU zuteil, die sich und ihre Politik freiwillig an ein Regelwerk binden, das Brüssel erarbeitet hat. Ziel ist ein »Ring stabiler, befreundeter Staaten«, was zuvorderst für Europas Sicherheit und Selbstbehauptung angenehmer ist als ein Ring der Krisen und Kriege. Angeboten werden Ländern von Marokko über Ägypten und Israel bis hin zu Aserbaidschan solche Vorteile wie Marktzugang oder Modernisierungshilfen; im Gegenzug werden den Vertragspartnern Reformen bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit abverlangt.
Das ist Machtpolitik, wenngleich die Europäer hier eilfertig ergänzen würden: auf friedliche, vernünftige und möglichst faire Weise. Auch ohne jemals Mitglied der EU werden zu wollen, unterschreiben die Partner der ENP einen Gutteil der Normen und Verfahren, die innerhalb der EU über Jahrzehnte hin entwickelt, für gut befunden und zum alltäglichen Recht einer gelebten Solidarität wurden.
Der französische Politikwissenschaftler Zaiki Laidi beschreibt die Europäische Union darum treffend als »normatives Imperium«, das inzwischen auch globale öffentliche Güter wie etwa Umwelt, Ressourcen, Kinder (Kinderarbeitsverbote!) schütze. Gewiss ist die EU auf diese Weise am einflussreichsten, sagen wir ruhig: am mächtigsten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Doch mit ihrer Handelsund Außenwirtschaftspolitik setzt sie, wie der Oxforder Politikwissenschaftler Jan Zielonka erläutert, längst auch global Maßstäbe.
So wird die internationale Klimaschutzdebatte, Stichwort Kyoto-Prozess, maßgeblich von europäischen Standards und Zielen mitbestimmt - und das auch nach dem Scheitern des Kopenhagener Klimagipfels 2009 (bei dem sich China und Indien mit ihrem Nein durchsetzten, aber jede gestalterische Kraft schuldig blieben). »Empire by example« nennt Zielonka dies - »das Imperium des guten Beispiels«.
Das Wort vom Imperium mag manche Europäer und besonders deutsche Ohren überraschen oder schockieren; schließlich überzogen europäische Herrscherhäuser und Nationen den ganzen Globus jahrhundertelang mit imperialem Waffengetöse und mit Händlergier. Heute wird niemand gezwungen, seine Politik oder Wirtschaft auf dieses neue Europa auszurichten: Aber eine wachsende Zahl von Nationen in allen Erdteilen erkennen die Vorteile, ja das Vorbild europäischer Normsetzung an.
Die Golfstaaten etwa arbeiten an einer gemeinsamen Währung nach dem Vorbild des Euro. Der lateinamerikanische Mercosur unternimmt seit Langem - leider mit wenig Erfolg - den Versuch, einen eigenen Binnenmarkt zu schaffen, nach europäischem Modell. Und die ASEAN-Mitglieder beginnen zu verstehen, dass historischer Hass am ehesten durch eine nach vorne gerichtete Kooperation überwindbar wird. Europa macht Schule.