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Für Nathalie Heinen, die mir mit Witz,
Weitblick und
sprachlicher Kompetenz ihre Heimat,
die Deutschsprachige
Gemeinschaft Belgiens,
immer wieder aufs Neue ans Herz
legt.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage Oktober 2011
ISBN 978-3-492-95386-3
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH 2011
Umschlag: semper smile, München
Umschlagmotiv: Kurt Kormann / Corbis, Brian Roberts / stock.xchng
Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
»Auf diesem Boden wachsen sonderbare Menschen, bei Arm und Reich. Zäh und tüchtig, verschlagen und heimlich, Bauern und Diplomaten, die wissen, wie man Flöhe husten hört und Mücken zur Ader lässt.«
Und die von noch viel mehr Dingen zwischen Himmel und Erde wissen, die Nichteifelern von der Wiege bis zum Grab ein Geheimnis bleiben werden.
»Möchten Sie ein Huhn adoptieren?«
Die Stimme klingt weich, weiblich und sehr jung. Dennoch jagt sie mir einen Todesschreck ein. Ich habe keinen Menschen herankommen hören. Niemals wäre ich vor meinem Restaurant auf die Leiter gestiegen, wenn ich irgendjemanden in Sichtweite vermutet hätte. Zentnermenschen wie ich vertrauen ihr Gewicht ohnehin nicht gern ansteigenden Sprossen an. Aber mir bleibt keine Wahl. Weil das immer noch schief hängende Restaurantschild meine Mitarbeiter nicht zu stören scheint, werde ich es eben selbst gerade rücken müssen.
An diesem ungewöhnlich freundlichen Frühlingstag Ende April rechne ich mit keiner Windhose, die mich herabschleudern könnte. Wiewohl ich sehr gut weiß, dass hier in der Schnee-Eifel, kurz Schneifel genannt, nicht nur jede von mir bestiegene Leiter, sondern auch das Wetter sehr schnell umschlagen kann.
Wenn die Einkehr morgen endlich aufmacht, soll alles perfekt sein. Schließlich habe ich lange genug auf dieses Ereignis warten müssen. Nicht nur Behördenquälereien, sondern vor allem Gewaltverbrechen scheußlichster Art hatten die Eröffnung meines speziellen Feinschmeckerrestaurants immer weiter hinausgezögert.
Aber da nicht nur meine Zukunft, sondern auch die meiner Freunde vom Erfolg der Einkehr abhängt und ich zudem aus statistischen Gründen davon ausgehe, dass in diesem Flecken namens Kehr für Jahrhunderte im Voraus genug gemordet worden ist, bin ich hier an der deutsch-belgischen Grenze geblieben. Mit dem Restaurantschild hat Jupp heute früh unsere Zukunft festgenagelt. Nur leider schief.
Ästhetisch und symbolisch verstörend. Darum bin ich in die Luft gegangen.
Aus der ich jetzt äußerst vorsichtig hinabsteige.
»Wie bitte?«, frage ich, als ich wieder meinen eigenen festen Grund unter den Füßen habe.
Vor mir steht ein streng bezopftes blondes Mädchen in einem viel zu umfänglichen geblümten Kittelkleid, das in den Fünfzigerjahren wohl der letzte Schrei gewesen sein mag. Unter dem absurden Gewand lässt die Frühlingsbrise eine sehr zierliche Figur erahnen. Ein solches Bauernkind habe ich hier noch nie gesehen. Es hält mir ein Papptablett mit Eiern hin und wiederholt die Frage, die mich erschreckt hat: »Möchten Sie ein Huhn adoptieren?«
»In der Schale?«, gebe ich prompt zurück und streichele ein braunes Ei.
»Natürlich nicht«, flüstert das vielleicht fünfzehnjährige Mädchen, wird knallrot und verstummt. Offensichtlich pubertäre Verlegenheit. Erst als sie mich fast flehentlich ansieht, fällt mir auf, wie ausnehmend hübsch das so unvorteilhaft hergerichtete Geschöpf ist. Eine zarte exquisit erblühte Schönheit, bei der sich bereits klassische Züge ähnlich denen einer Diva der Kinofrühzeit abzeichnen.
Kein Modefotograf würde an einer solchen Versuchung vorbeigehen können, ohne ihr mit ein paar aufmunternden Worten seine Visitenkarte zuzustecken. In meinem früheren Leben als Moderedakteurin für ein Hochglanzblatt ist mein Blick für das optisch Besondere im Alltäglichen aufs Feinste geschärft worden. Dieses Engelsgesicht ist eine Sensation.
»Wenn du einen Witz machst, darf ich das auch«, gebe ich sanft zurück. Ich überlege, ob es nun ein Segen oder ein Fluch ist, dass die großen dunkelblauen Augen unter diesen Nerzhaar-Wimpern nur kuhbestandene Weiden und menschenleere Weiten erblicken müssen.
»Es ist kein Witz. Wenn Sie ein Huhn adoptieren, schenkt es Ihnen jeden Tag ein Ei«, erwidert sie.
»Schau mal«, sage ich, deute nach oben auf das Schild und sehe gleich wieder weg. »Das hier ist ein Restaurant. Was nutzt mir da ein einziges Ei am Tag?«
»Eben!«, bestätigt das Mädchen. »Wenn Sie zehn Hühner adoptieren, kommt Sie das im Monat günstiger, als jeden Tag zehn Eier woanders zu kaufen.«
Vorsichtig stellt sie das Eiertablett auf einem der beiden Gartentische am Eingang ab.
»Genauso stelle ich mir mein Restaurant vor«, sage ich kopfschüttelnd. »Unter jedem Stuhl scharrt ein Huhn.«
»Nein, nein«, sagt die schöne junge Hühneradoptionsvermittlerin, »die Tiere bleiben bei uns; Sie müssen sich um gar nichts kümmern, und die Eier bringe ich Ihnen jeden Tag selbst her. Ein Huhn kostet zehn Euro im Monat, zehn Hühner sind achtzig Euro und zwanzig Hühner hundertfünfzig Euro. So viel Bioeier im Laden kosten …«
»… mehr«, erwidere ich nickend, ohne nachzurechnen. Als Schwan unter Hühnern. So ähnlich könnte die Schlagzeile lauten, mit der meine Exkollegen vom Boulevard den sicheren Sieg dieser Eifelerin beim Model-Casting feiern würden.
»Und Sie tun ein gutes Werk, wenn Sie unseren Gnadenhof unterstützen.«
Nein, ich täte kein gutes Werk, meinen alten Kontakten dieses Landei zum Fraß vorzuwerfen. Die Branche würde sie kaputt machen, ihr vermutlich in jederlei Hinsicht die Unschuld rauben. So etwas darf ich nicht auf mein Gewissen laden.
Gnadenhof, hat sie gesagt. Also wohnt das Mädchen in Gudruns altem Haus ein paar Hundert Meter weiter. Es gehört jetzt David, dem Mann aus Texas, der im vorigen Jahr herkam, um jenes Eigentum wieder in Besitz zu nehmen, das seiner Familie von den Nazis gestohlen worden war. Wir hatten seine Mutter zwei Jahre zuvor als legitime Erbin ausfindig gemacht und ihr den Hof übereignet, den ich durch Unrechtshandlungen anderer geerbt hatte. Und auf dem meine Freundin Gudrun aufgewachsen ist.
Gudrun hat sich vor fast zwei Jahren in einer Hinterkammer meines Restaurants häuslich niedergelassen und wird ab morgen in der Einkehr den Gästen die Gerichte vorsetzen, die ich komponiere. Gudrun ist sehr tüchtig und von angenehm ausgeglichenem Gemüt – wenn sie nicht gerade einen der grausamen Schicksalsschläge einstecken muss, von denen sie gebeutelt wird. Dann putzt sie.
Vor Kurzem ist David bei ihr eingezogen. Er ist immer gut gelaunt und zeichnet sich durch erstaunliche Bedürfnislosigkeit aus. Mit den Worten, er wisse noch nicht, ob er sich auf lange Sicht in der Eifel einrichten wolle, zerstob er allerdings Gudruns Traum von der Rückkehr in ihr altes Elternhaus am Arm des Mannes, dem es jetzt gehört. Als er vor drei Monaten ankündigte, den Hof einer armen Bauernfamilie zu verpachten, deren eigenes Anwesen wegen der dramatisch gesunkenen Milchpreise zwangsversteigert wurde, hatte Gudrun mit Engelszungen auf ihn eingeredet.
»Mit einem Gnadenhof gehen die sofort wieder bankrott! Wer zahlt schon gutes Geld für schlechte alte Tiere? So etwas hat in der Eifel keine Zukunft«, sagte sie. Die beschwörende Betonung, die sie auf das Wort Zukunft legte, ließ uns alle erschauern. Jeder Ansatz, sich ihren Traum von einem Mann fürs Leben zu verwirklichen, ist bisher in eine Katastrophe gemündet, an deren Ende mehr als nur eine Leiche zu beklagen war.
Die Kleine mit dem Eiertablett sieht aus, als würde sie zu Hause Ärger kriegen, wenn sie mit ihrer Adoptionsmission scheitert.
Ich stehe wieder auf und mustere die mittelgroßen Eier. Von alten ausgemusterten Hühnern? Wohl eher von Hennen, denen der Gnadenhof ein Dasein in der Legebatterie erspart hat.
»Wie heißt du?«, frage ich.
»Pia«, antwortet sie und setzt zögerlich hinzu: »Prönsfeldt.«
Den Namen könnte sie nach Streichung des Umlauts als Model glatt behalten.
»Wir sind die Pees«, erklärt Pia. Ein bitterer Unterton schwingt in ihrer Stimme mit. »Mein Papa heißt Paul, meine Mama Petra und meine Schwester Patti, eigentlich heißt sie Patrizia. Blöd, nicht?«
»Es gibt Schlimmeres«, sage ich leichthin. »Ich habe auch die gleichen Anfangsbuchstaben. Katja Klein. Wenn ich einen Mann namens Klaus geheiratet und der meinen Nachnamen angenommen hätte, hätten wir unsere Kinder Karl und Katharina nennen können; das wären dann unsere Großen und wir gemeinsam die Kaas gewesen.«
Zum ersten Mal schleicht sich ein Lächeln in das bisher so ernste und fast ängstlich wirkende Gesicht. Auf dem Wochenmarkt hat dieses Mädchen bestimmt noch nie gestanden.
»Sind Sie aber nicht.«
»Nein. Wie alt bist du, Pia?«
Sie zögert.
»Gerade achtzehn geworden«, flüstert sie schließlich.
Das überrascht mich, ich hatte sie auf höchstens fünfzehn geschätzt.
»Oh, Entschuldigung, da muss ich ja Sie sagen.«
»Nee, nee, ist schon gut so«, wehrt sie ab. »Meine Schwester und ich werden immer für jünger gehalten.«
»Später werdet ihr euch darüber freuen.«
»Ich weiß nicht.«
»Ist deine Schwester jünger oder älter?«
»Ein Jahr älter.«
»Dann seid ihr euch wohl sehr nah?«
Sie antwortet nicht.
»Ich hätte gern eine Schwester in meinem Alter gehabt«, sage ich, »aber ich war ein Einzelkind.«
»Muss schön gewesen sein.«
»Versteht ihr euch denn nicht?«
»Doch, doch«, antwortet sie eilig. »Meine Schwester ist meine beste Freundin.«
Klar, denke ich, sie sind neu hier, und in der Nachbarschaft gibt es kaum jemanden in ihrem Alter.
»Aber du hast auch einen Papa«, fahre ich fort. »Ich hatte leider keinen.«
»Es gibt Schlimmeres«, gibt sie mir ohne ein Lächeln meine Worte zurück. Eilig setzt sie hinzu:
»Möchten Sie nun die Hühner adoptieren?«
»Wie viele habt ihr denn?
»Weiß nicht genau, dreißig, vierzig. Und einen Hahn.«
»Natürlich. Und was habt ihr denn noch für Tiere?«
»Vier Pferde, ein Muli, einen Pfau, zwei Kühe, sieben Hunde, neun Katzen, ein Schaf, fünf Schweine und ein paar Gänse. Sind Sie an einem Hund interessiert?«
»Da hätte Linus bestimmt was dagegen.«
»Ist das Ihr Mann?«
»Nein, mein Hund.«
Mit Karacho fährt ein Wagen in den Hof. Der belgische Jeep hält mit quietschenden Reifen. Erschrocken starrt Pia auf die Aufschrift Polizei und greift nach dem Eiertablett.
»Es ist nicht verboten, Hühner zur Adoption freizugeben«, beruhige ich sie und treffe rasch eine Entscheidung.
»Gib mir die Eier«, sage ich und nehme dem Mädchen die Nachkommenschaft meiner künftigen Adoptivschar ab. Die Menschen auf der Kehr sollten einander beistehen. Und natürlich auch Geld in meinem Restaurant lassen. Ich verbuche die Sache unter Nachbarschaftshilfe mit Eigenwerbung. Zudem ist es praktischer, Eier ins Haus geliefert zu bekommen, als sie im Auto selbst zu transportieren.
»Ich bring euch das Geld morgen vorbei und schau mir meine Hühner an«, sage ich. »Außerdem lade ich die gesamte Familie« – beinahe hätte ich gesagt alle Pees – »zur Eröffnung ein. Sag das bitte deinen Eltern.«
Pia nickt und huscht davon, bevor Marcel seinem Auto entstiegen ist. Der Polizeiinspektor aus der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, kurz DG genannt, ist zwar mein Freund, aber als meinen Lebensgefährten betrachte ich ihn nicht. Mit Gewichtigkeit kenne ich mich aus, und eine solche Bezeichnung würde zu schwer auf unserer fragilen emotionalen Beziehung lasten.
»Tach, wer war die denn?«, fragt er und schaut dem rennenden Mädchen hinterher.
»Eine spät pubertierende Eifelerin, die an meine Mutterinstinkte appelliert hat«, sage ich, »erkläre ich dir nachher.«
Andere Paare fallen sich bei der Begrüßung um den Hals. Uns überkommt das nur, wenn einer von uns beiden gerade knapp dem Tod entronnen ist, also eher selten. Ein Wiedersehensritual der Zärtlichkeit haben wir nicht entwickeln können. Das mag unserem Alter geschuldet sein – Marcel wird die fünfzig auch demnächst überschreiten –, aber vermutlich hat das eher mit jenem Selbstschutz zu tun, den wir uns beruflich und privat angeeignet haben. Wenn man so unterschiedliche Leben führt wie wir, weiß man nie, in welcher Verfassung man den anderen bei der nächsten Begegnung antrifft. Vor allem, da wir einander drei Tage weder gesehen noch gesprochen haben. Ein sehr verzwickter Fall erfordere seine ganze Aufmerksamkeit, hatte Marcel gesagt, und ich weiß, wie übel gelaunt ihn schlecht laufende Ermittlungen machen können. Er wiederum weiß, welchem Stress ich vor der Restauranteröffnung ausgesetzt bin und wie unleidlich ich werden kann, wenn etwas nicht nach meinen Vorstellungen läuft. Solche Bedenken stehen einer spontanen Umarmung im Wege. Stattdessen sondiert man die atmosphärische Lage und äußert vorsichtshalber erst mal konstruktive Kritik.
»Das Schild hängt schief«, bemerkt Marcel und weist nach oben.
»Sage ich ja«, stimme ich ihm zu. »Alles muss man hier selbst machen.«
Ihn anziehen auch, denke ich, trete näher an ihn heran und berühre entgeistert einen bunten Hemdknopf.
»Habe ich selber angenäht«, bemerkt er stolz. »Sie gleichen der Hemdfarbe am ehesten.«
»Sie sind orange.«
»Die Verkäuferin hat gesagt, sie könnten als aubergine durchgehen.«
»Immer wieder erstaunlich, was bei euch in Belgien so alles durchgehen kann«, murmele ich.
Die schrecklichen Knöpfe sehe ich gar nicht mehr, als wir mit Gudrun und David bei Hein und Jupp am üppig gedeckten Tisch sitzen und über mein Restaurant, über Hühneradoptionen und die Familie Pee reden. Ich sehe etwas anderes. Verstohlene Blicke, die Marcel auf den Wandkalender dieses Schwulenhaushalts wirft. Er nimmt an unserem Gespräch überhaupt nicht teil, sondern starrt immer wieder auf das Foto eines nur mit einem Lendenschurz ziemlich unzureichend bekleideten jungen Muskelpakets mit Kussmund und keck aufgesetztem Bauarbeiterhelm, unter dem ein paar blonde Haarsträhnen dekorativ hervorlugen. Zugegeben, ein knackiger Knabe, aber was fasziniert meinen Freund an ihm?
»Amalie«, sagt Hein. »Das ist doch ein schöner Hühnername. Oder Feodora, Luzinda, Kiki und Mimi. Du musst deinen Pflegehennen unbedingt Namen geben, Katja, das ist persönlicher.«
»Ich pflege sie nicht, sondern koche ihre Kinder«, gebe ich zu bedenken. »Was meinst du, Marcel, ist es da ethisch vertretbar, die Mütter zu taufen? Marcel?«
»Häh?«
Erst bei der zweiten Nennung seines Namens scheint Marcel aus der Trance zu erwachen, in die ihn offensichtlich dieses Mannsbild an der Wand versetzt hat.
»Schlag du doch mal einen passenden Namen vor«, versetzt Jupp sanft, meinen Blick meidend.
»Fred«, beeilt sich Marcel, dem Vorschlag nachzukommen.
Peinliches Schweigen.
»Ist Fred ein Frauenname in Deutschland?«, fragt David schließlich.
»Kurzform für Frederike«, presse ich hervor. Ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich in Marcel so geirrt haben soll. Nicht nur mir wird die Sache langsam unheimlich.
»Hast du ein neues Hobby, Marcel?«, erkundigt sich Hein.
Ein neues Hobby? Seit wann ist das eine Umschreibung für sexuelle Neuorientierung?
»Was für ein Hobby?«, fragt Marcel irritiert.
»Na, Fotografieren!«, ruft Hein. »Ich kann ja verstehen, dass du das Foto auch toll findest. Der Mai ist rein künstlerisch gesehen das weitaus beste Bild in diesem Kalender.«
Marcel schüttelt den Kopf und starrt weiter auf das Bild.
Hein schlägt auf den Tisch, dass die Tassen klirren. »Das ist ja nicht mehr zum Aushalten! Nun steh schon auf und schau es dir genauer an!«
Ich kann es nicht fassen: Marcel steht tatsächlich auf und schreitet zur Wand. Wir sind alle sehr still, als er das Foto intensiv mustert.
»Hackerstivvell!«, schreckt er uns plötzlich auf. »Das ist er!«
»Wer denn?«, flüstert Gudrun.
»Mein Opfer!«
»Dein was?«, frage ich fassungslos.
»Meine Leiche«, setzt Marcel hinzu. »Kann ich das Bild haben?«
»Hol es dir, hol es nur«, sagt Hein, obwohl der Mai noch gar nicht begonnen hat, aber einem derart verstörten Mann darf man nichts abschlagen. »Du kannst den ganzen Kalender mitholen, wenn du willst«, setzt er eilig hinzu.
»Danke, den werde ich auch brauchen.«
Marcel atmet tief aus, als er den Wandkalender herunternimmt.
David ist als Einzigem die Farbe nicht aus dem Gesicht gewichen. Er sieht völlig entspannt aus, betrachtet uns nur etwas ratlos. Aber er lebt erst seit Kurzem auf der Kehr und hat vermutlich noch nie so tief in die Abgründe von vermeintlich wohlvertrauten Menschen blicken müssen wie wir anderen. Wenn ich eins aus den vergangenen beiden Jahren in der Eifel gelernt habe, dann ist es, niemandem mehr rückhaltlos zu vertrauen.
»Ist das dein John Doe?«, fragt David sachlich.
Marcel nickt.
Ich schlage mir an die Stirn. Natürlich! Wie konnte ich nur so blöd sein?
»Du kennst seinen Namen?«, ruft Gudrun entsetzt. Ich ahne, was in ihr vorgeht, und beeile mich, sie zu beruhigen.
»John Doe nennt die Polizei in Amerika unidentifizierte Leichen«, erläutere ich, blicke Marcel Zustimmung heischend an und erschauere nun doch wieder angesichts der orangen Knöpfe auf dem auberginefarbenen Stoff. »Das ist ein Aushilfsname so ähnlich wie Max Mustermann bei uns. Oder Fred bei Marcel.«
»Ach so«, sagt Gudrun misstrauisch.
Marcel steht immer noch.
»Endlich haben wir eine Spur«, sagt er. »Seit drei Tagen versuchen wir herauszufinden, wer der Mann ist.«
»Wie, wo und wann habt ihr ihn gefunden?«, frage ich.
»Vor drei Tagen. Erstochen. Mit dem Kopf im Eiterbach, nahe der N 626.«
Er seufzt, klemmt sich den Kalender unter den Arm und leert im Stehen seine Tasse Kaffee.
»Entschuldigt, aber ich fahre gleich ins Büro und gehe der Sache nach. Tut mir leid.«
Mir nicht. Ich bin erleichtert. Darüber, dass diesmal eine Leiche ein Stück weit weg von der Kehr in Belgien aufgefunden wurde. Und darüber, dass Marcel nur seinen Job tut. Herausfinden muss, wer der arme junge Bauarbeiter war und wer dafür gesorgt hat, dass er nie wieder ein Kalenderblatt schmücken wird.
»Scheußliche Geschichte«, seufzt Hein, als die Haustür hinter Marcel ins Schloss fällt. »Vielleicht hat der Mann einen Freund, der noch gar nichts weiß. Und sich später Vorwürfe machen wird, weil er geglaubt hat, der Junge geht fremd. Weil der sich nicht gemeldet hat. Furchtbar.«
»Die armen Eltern«, sagt Jupp.
»Aber mit uns hat das alles nichts zu tun«, bemerkt Gudrun und strahlt David an. »Wie klug, dass du das gleich verstanden hast!«
»Was hast du gedacht?«, fragt David grinsend zurück. »Dass Marcel ein Date mit dem Bild will?«
Unsere Runde bricht in erlösendes Gelächter aus. Welch ein absurder Gedanke!
Marcel steht in meiner Restaurantküche. Er trägt einen lila Kittel und hält mein Lieblingsmesser mit dem Magnolienholzgriff in der Hand. Jetzt beugt er sich über den nackten Bauarbeiter, der zwischen den Tabletts mit dem Amuse-Gueule auf dem Holztisch liegt. Ruckartig stößt er das Messer in den Toten, zieht es wieder heraus und greift mit der anderen Hand in den Körper hinein.
»Wollen Sie die Eier?«, fragt Pia.
»Nein«, antwortet Marcel, »das Herz.«
Er reicht ihr einen orangen Hemdknopf, an dem ein Blutstropfen glitzert.
»Nehmen Sie nur«, sagt er, und da weiß ich, dass ich träume, denn das Wort nehmen ist Marcel wie jedem Eifeler fremd. Es würde ihm in keinem seiner Träume oder gar im echten Leben einfallen. Was man woanders nimmt, wird im hiesigen Dialekt grundsätzlich geholt – was für alle Zusammensetzungen gilt. Hier wird Blut abgeholt, der Führerschein mangels Kontrollen allerdings eher seltener, ein Kredit aufgeholt, Verantwortung überholt, etwas Schönes weggeholt, mitgeholt oder unterholt.
Marcel kann zudem nicht an meinem geliebten alten Holztisch stehen, weil ich diesen auf Anordnung der Gewerbeaufsicht durch eine Edelstahlanrichte habe ersetzen müssen. Der laute Knall, mit dem der alte Holztisch jetzt zusammenbricht, weckt mich endgültig auf.
Erleichtert stelle ich fest, dass der Lärm von draußen kommt, besser gesagt, von oben. Dumpfes Grollen dringt durch die Mauern meines belgischen Bruchsteinhauses.
Nun, vielleicht sollte ich dieses Frühlingsgewitter als himmlisches Feuerwerk zur Eröffnung meines Restaurants feiern. Mich freuen, dass es zu so früher Stunde ausgebrochen ist und die Chance minimiert, am Abend meine Gäste fernzuhalten.
Ich richte mich in meinem Anderthalbpersonenbett auf und blicke aus dem vorhanglosen Schlafzimmerfenster nach Westen über das belgische Land, in dem ich seit bald zwei Jahren zu Hause bin. Mein Restaurant befindet sich in Deutschland, in Nordrhein-Westfalen. Dennoch kann ich zu Fuß zur Arbeit. Denn der heruntergekommene Hof, in dem ich wohne, liegt dem Restaurant genau gegenüber. Dazwischen gibt es nur die Bundesstraße 265, die asphaltgraue Grenze zwischen Deutschland und Belgien. Farblich passend zum heutigen Morgenhimmel. Kurz nach sieben, viel zu früh zum Aufstehen.
Zu spät aber, um wieder einzuschlafen, findet Linus. Offenbar vom Gewitter geweckt, trottet das schwarze Ungetüm in mein Schlafzimmer, verbeißt sich in mein weißes Federbett, reißt es mir vom Leib und schleppt es wie eine erbeutete Braut in den Flur. Ich höre beglücktes Knurren, als er sich darüber hermacht, wie jede Bestie wahrscheinlich abwägend, ob er es nun zerfetzen oder sich genüsslich darauf herumwälzen soll. Ich bin zu müde, um ihn zurückzupfeifen, zumal in diesem Haus der Hund darüber entscheidet, ob er folgsam ist oder nicht. Sein beklagenswerter Ungehorsam ist nicht meine Schuld. Als ich Linus erbte, war er bereits zu alt, um sich von Hierarchie noch beeindrucken zu lassen. Frierend wuchte ich mich aus dem Bett und stapfe schlaftrunken in den Flur. Konziliantes Fiepen kommt von dem schwarzen Riesenfleck auf der wahrscheinlich nicht mehr so weißen Decke.
Ich brauche starken schwarzen Kaffee, bevor ich mich dem Rest eines Tages stelle, der mit so unheilvollen Traumbildern begonnen hat. Träume sind nicht esoterische Zukunftsvisionen, sondern unverarbeitete Restbestände des Vortags, sage ich mir, bin allerdings immer noch etwas erschrocken, Marcel als Bauarbeiterschlachter gesehen zu haben. Noch dazu mit meinem Santoku-Messer, das ich seit einigen Tagen schmerzlich vermisse. Da hat mein träumender Geist einiges zusammengeführt, das nicht zusammengehört, höchstens allegorisch. Zu einer ganz normalen polizeilichen Ermittlung gehört eben das Sezieren der Erkenntnisse in so fein geschnittene Scheiben, wie sie nur mit einem Santoku-Messer herzustellen sind. Dass Marcel nicht vollkommen ist, dokumentiert der orange Hemdknopf, der wohl nur deswegen blutig ist, weil mein Unterbewusstsein das belgische Aubergine aufgefrischt hat. Das Symbol der Eier ist eine Erinnerung an ausstehende Schulden beim Gnadenhof.
Meine Hände zittern leicht, als ich das fast noch kochende Wasser in den Filter gieße. Im Restaurant gibt es eine teure Kaffeemaschine, aber in meinem eigenen Haus bereite ich mein Aufwachgetränk auf jene altmodische Weise zu, die ich von meiner Mutter einst erlernt habe. Da gurgelt und röchelt nichts, da ist nicht zur Unzeit irgendeine Kammer leer, da läuft nichts über, und zudem verbreitet sich betörender Kaffeeduft. Über jeden Arbeitsgang behalte ich die Kontrolle. Es sei denn, der Himmel beschließt just in jenem Moment, da ich den Filter bis an den Rand gefüllt habe, mir und meiner Vermessenheit einen Donnerknall zu versetzen. Und zwar so krachend, dass ich vor Schreck mit dem Heißwasserkessel den Kaffeetrichter anstoße. Der Versuch, die ganze Sache im Gleichgewicht zu halten, endet mit brühend heißem Kaffeesatz samt Papierfilter auf meiner rechten Hand.
Ich renne zur Spüle und drehe den Kaltwasserhahn auf. Es gurgelt und zischt. Unter dem sich flugs verbreitenden Kaffeeduft lauert der Geruch von verbranntem Steak. Ich verfluche das alte Haus mitsamt seinen Rohren, die ich längst hätte erneuern lassen müssen. Als die ersten Tropfen aus dem Hahn kommen, steht meine Hand schon längst in Flammen.
»Was ist mit deiner Hand?«
Entsetzt starrt Gudrun, zu der ich ins Restaurant gestürzt bin, auf das rote Stück Fleisch am Ausläufer meines rechten Armes.
»Verbrannt«, flüstere ich. »Was soll ich bloß machen? So kann ich doch nicht kochen! Und wie soll ich den Gästen die Hand geben? Ausgerechnet am Eröffnungstag!«
»So was ist an jedem Tag schlecht«, stellt Gudrun gelassen fest, »aber das kriegen wir schon hin.«
»Komm mir jetzt bloß nicht mit Butter oder Mehl«, wehre ich mögliche Eifeler Hausmittel ab.
»Wo denkst du hin!«, erwidert sie empört. »Das würde alles nur schlimmer machen.«
»Eben.«
»Wo ist das Telefon? Es steht nicht auf der Ladestation.«
»Wen willst du um diese Zeit denn anrufen?«, frage ich, zutiefst betroffen, dass sie mir bei meinem Schmerz offenbar erst nach einem Telefonat beistehen will.
»Den Gesundbeter, natürlich.«
»Wie bitte?«, frage ich.
»Du brauchst ja nicht dran zu glauben, aber du wirst sehen, dass es hilft«, versichert Gudrun und rennt hinaus.
Im Flur stößt sie offenbar mit David zusammen. Ich höre Kosenamen, die mich erschauern lassen, schürze in Erwartung des prompt eintretenden Geschmatzes selbst die Lippen und höre dann Gudruns resolute Bemerkung: »Lass mich, David, das ist jetzt sehr wichtig! Du hast doch gestern Nacht in den USA angerufen. Wo ist das Telefon?«
Na toll, ein Überseegespräch auf meine Rechnung. Kopfschüttelnd lasse ich das erste crushed ice aus dem neuen Apparat auf eine Serviette fallen.
»Oh, heck, I’m sorry.«
Die Entschuldigung ist angebracht. Ich sehe allerdings kein Heck, sondern einen durchtrainierten sehr attraktiven männlichen Bug. Gegen den überhaupt nichts einzuwenden ist. Außer, dass er sich in meiner Restaurantküche befindet. Auch gut gebaute männliche Wesen sollten hier mehr als nur einen Slip tragen.
»Guten Morgen«, sage ich, vermutlich mit sehr weit hochgezogenen Augenbrauen und sehr schmalem Mund.
»Ja, ich wusste nicht, dass du schon hier bist«, stottert Gudruns Amerikaner, wirft kurz einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Kaffeemaschine und flüchtet.
»Ich habe es!«, trällert Gudruns näher kommende Stimme.
»Hilf mir lieber, das Tuch um die Hand zu wickeln«, fordere ich sie auf, als sie mit einem großen Grinsen und dem Telefon am Ohr in die Küche schwebt.
»Es klingelt schon! Ja, guten Tag, Herr Schmitz, ich bin die Gudrun Arndt von der Kehr. Ja, von der deutschen Seite, das stimmt. Meine Freundin hat sich grad mit Kaffeesatz ganz fürchterlich die Hand verbrannt …«
Sie hört einen Moment zu, sagt dann: »Katja Klein … Nein, nicht verwandt mit den anderen Kleins von der Kehr. Aber ihre Großeltern hatten den alten Lebensmittelladen in Hallschlag …«
»Gudrun!«, flüstere ich ungeduldig und halte ihr meine Hand hin. Sie klemmt das Telefon zwischen Ohr und Schulter, während sie mir flink das Eistuch um die verbrühte Hand wickelt.
»Der rechte Handrücken und die Finger … ich glaube, alle … Ja, vielen Dank, Herr Schmitz. Auch im Namen von Frau Klein. Gott segne Sie.«
Triumphierend schaut sie mich an, als sie das Telefon auf die Anrichte legt.
»Das war’s?«, frage ich.
»Ja, er wird jetzt für dich beten, und heute Mittag siehst du nicht mal mehr eine Spur von der Verbrennung.«
»Heute Mittag habe ich Brandblasen, und morgen früh geht mir die Haut in Streifen ab. Alles in meinem Namen.«
»Es schadet nicht, wenn du ein bisschen dran glaubst.«
»Aha, und damit den Selbstheilungsprozess in Gang setze, oder wie? Du hast vergessen, ihm zu sagen, dass ich mit dem lieben Herrgott nichts zu schaffen habe und nicht einmal getauft bin.«
»Das ist ihm egal. Er heilt sogar Protestanten.«
»Gesetzt den Fall, diese Telefonbrandsorge funktioniert«, sage ich unwillig, »was bin ich ihm dann schuldig? Der wird doch seine Dienste nicht umsonst anbieten.«
»Natürlich tut er das. Es wäre nicht richtig, gesundzubeten für dran zu verdienen.«
Klar, denke ich, das wäre ungesetzlich.
»Dann würde er zur Strafe Kopfschmerzen kriegen«, fährt Gudrun fort. »Wenn er dir eine Warze wegbetet, gibt er dir sogar Geld dafür. Mensch, was haben wir für ein Glück, dass er noch zu Hause war!«
»Wo heilt er denn sonst noch?«
»Auf Klos zum Beispiel«, antwortet Gudrun. Sie drückt auf einen Knopf der teuren Kaffeemaschine. Es gurgelt.
»Er ist Klempner.«
Gas, Wasser …
»Scheiße!«, entfährt es mir. »Warum hast du das nicht gleich gesagt! Dann hätten wir ihn lieber darum bitten sollen, meine Rohre auszuwechseln.« Ich halte die gesunde Hand hin, um den Kaffee in Empfang zu nehmen. Den brauche ich jetzt dringend. Aber mit zwei Stück Zucker macht Gudrun ihn für mich ungenießbar.
»Du weißt doch, dass ich keinen Zucker nehme!«
»David schon«, bemerkt Gudrun und rührt um. Angesichts meiner Behinderung hat sie dann doch das Herz, mir einen korrekt gefüllten großen Becher hinzustellen, bevor sie wieder zu ihrem Liebsten entschwebt.
Ich bin sehr froh, am Eröffnungstag zu so früher Stunde in der Einkehr zu sein. Mit einer Hand kann ich die letzten Vorbereitungen nämlich nur sehr langsam treffen.
Es gibt viel zu tun. Damit wir uns am ersten Abend alle den Gästen persönlicher widmen können, wird ausnahmsweise kein Menü serviert. Stattdessen gibt es ein kalt-warmes Buffet.
Es erweist sich mir als unmöglich, einhändig die Mini-Paprikaschoten zu enthäuten und auszuhöhlen, also versuche ich mich an der Eier-Sardellen-Knoblauch-Füllung, die aber auch nur zweihändig zu bewerkstelligen ist.
»Gut, dass du mich geweckt hast«, sage ich zu Linus, als ich erfolgreich die dazugehörige Orangen-Koriander-Holunderblütensirup-Vinaigrette anrühre. Ich werfe meinem Hund ein Wurstende zu. Moment mal! Wenn er mir die Bettdecke nicht geklaut hätte, wäre ich nicht kurz vor dem Donnerschlag in die Küche gegangen und könnte jetzt ungehindert basteln …
»Her mit der Wurst!«, schnauze ich ihn an.
Er schleckt sich das Maul.
Gegen Mittag fallen Hein, Jupp und Marcel gleichzeitig bei uns ein. Ich sitze mit erhobener rechter Hand am Küchenfenster und kommandiere Gudrun und David herum.
Beide schälen, füllen, hacken, schnipseln, filetieren, entkernen, rühren, blanchieren, schneiden zu, schrecken ab und klappern, dass es eine Lust ist, zuzusehen. Nur das Würzen übernehme ich selber.
Noch vor zwei Jahren war Gudrun über meine unkonventionellen Häppchen entsetzt, und jetzt beobachte ich, wie sie voller Wollust Ingwerwurzel schabt, Hühnerteile unbekümmert mit Ahornsirup glaciert, Backpflaumen geschickt mit hauchdünnen geräucherten Entenbrustscheibchen umwickelt und gänzlich unangeekelt Lebensmittel zueinander führt, die nach ihrem früheren Ausschließlichkeitsdenken nur in festgelegten Partnerschaften auftreten durften, wenn sie sie denn überhaupt kannte.
Ich hüte mich, ihre Wandlung wohlwollend zu kommentieren. Damit würde ich sie nur zu jenem Satz herausfordern, mit dem sie bisher nahezu jeden meiner kulinarischen Einfälle niedergemacht hat: »Aber der Eifeler isst so was nicht.«
Der will Jägerschnitzel, meint sie.
Das wird er auch bei mir bestellen können. Und sich hoffentlich freuen, wenn kein Schweinefleisch mit in Mehlschwitze weichender Panierpappe serviert wird. Sondern ein hauchdünn geklopftes Hirschschnitzel mit Walnusskruste, in das Pfifferlinge mit Sauerkirschen eingerollt werden.
David stellt sich bei der Küchenarbeit überraschend gewandt an, hinterfragt keine meiner Anweisungen und erledigt mit geschwinder Akkuratesse, was ihm aufgetragen wird. Er arbeitet sehr sauber.
Gern würde ich mehr über ihn in Erfahrung bringen. Zum Beispiel, welchen Beruf er erlernt hat. Auf Fragen nach seiner Tätigkeit in Texas kommt nämlich immer nur eine Antwort auf Englisch: »A little bit of this and a little bit of that.« Frei übersetzt: alles Mögliche. Den ungelernten Arbeiter kann ich ihm nicht abnehmen.
»Er ist eben Künstler«, wehrt Gudrun stets mein offensichtlich unerwünschtes Nachbohren ab. Welcher Art weiß sie nicht oder behält sie für sich. Letzteres glaube ich nicht, es sei denn, er schafft Kunstwerke à la Jeff Koons, was sie vor Grauen garantiert ignorieren würde. Auch moderne Klecksereien sind ganz sicher nicht seine Sache, wenn ich sehe, wie akribisch er Karotten zurechtschneidet, wie ordentlich er alle Zutaten aufreiht und wie emsig er hinter sich und Gudrun herwischt. Gudrun hofft vermutlich, dass er von den Erträgen irgendwelcher transatlantischer Latifundien leben kann, was ich ebenfalls nicht annehme. Ich kenne nur seine Vergangenheit, genauer gesagt, die seiner Eifeler Vorfahren.
In meinem ererbten Besitz habe ich ein offizielles Schriftstück entdeckt, in dem den Angehörigen auf der Kehr der Tod seiner Großmutter Elli Rescheid mitgeteilt wurde. Sie sei bedauerlicherweise an Herzversagen gestorben. Stempel und Unterschrift: Der Standesbeamte von Birkenau. Noch nie haben sich mir die Härchen auf meinen Unterarmen so aufgestellt wie bei der Lektüre dieses Schreibens.
Der Mann, der Davids jüdische Großmutter dem Tod in der Gaskammer ausgeliefert hat, erhielt zur Belohnung den Hof und galt irgendwann als der reichste Grundbesitzer der Kehr. Er hieß Werner Arndt und war Gudruns Vater.
Dass ihm und seiner eigenen Familie dieser Bluthof kein Glück gebracht und er ihn später auf ekelige Weise an meine Verwandtschaft verloren hat, ist wiederum eine andere Geschichte. Wie auch die mühsame Suche nach den wirklichen Erben des einstigen Rescheid-Hofs. Weder Gudrun noch ich hatten auch nur einen Moment lang erwogen, das Grundstück zu behalten, und wir fühlten beide so etwas wie Dankbarkeit, als wir David endlich aufgespürt hatten.
Heute sind der Enkel des Opfers und die Tochter des Täters ein Paar. Ich habe nicht den Eindruck, dass dies zwischen den beiden ein Thema ist. Der Mantel der Geschichte scheint dieselbe gnädig bedeckt zu haben. Auf eine direkte Frage von mir sagte David kurz nach seiner Ankunft: »Das ist alles zwar ganz furchtbar, aber so lange her. Ich habe damit nichts zu tun und Gudrun auch nicht.« In einem Kitschroman würde es heißen, die Liebe habe den Sieg davongetragen. Aber wohin wird sie ihn tragen, den Sieg?
Mir bleibt die Sache unheimlich. Davids Mutter Mathilde lebt noch. Sie war elf Jahre alt, als sie die Eltern verlor und bei Fremden aufwuchs. Sie wird Erinnerungen haben. Vielleicht auch Zorn und Rachegefühle?
Ich weiß, dass in David Quirks Elternhaus viel Deutsch gesprochen wurde. Sein Vater, selbst deutsch-irischer Abstammung, hatte als Besatzungsoffizier die blutjunge Mathilde in die Staaten mitgeholt – wie der Eifeler sagt.
Als er Jahrzehnte später pensioniert wurde und mit ihr nach Temple in Texas zog, kam die Überraschung. Sie wurde in einem Alter schwanger, in dem sich andere Frauen mit der Menopause abquälen.
»Dann musst du ja der Augapfel deiner Mutter sein«, sagte ich, als ich dies aus David herausgequetscht hatte.
»The apple of her eye«, erwiderte er nickend. »Meine Mutter mordet für mich.« Daraufhin erklärte ich ihm den deutschen Konjunktiv, den er sehr verwirrend fand.
»Und was hält sie davon, dass du jetzt schon so lange in Deutschland bist?«
»Sie hofft, dass ich hier eine Frau finde, mit der sie in ihrer Muttersprache reden kann.«
Für Gudrun, die bei diesen Worten ein inneres Leuchten nach außen sandte, gilt dieser Satz als Beweis, dass David in seiner Heimat tatsächlich ungebunden ist.
»Erzählen kann man viel«, gab ich ihr zu bedenken, »was weißt du denn wirklich von David?«
»Ich weiß, dass er gut zu mir ist«, sagte sie einfach. Das ließ mich verstummen.
Meine beiden Küchenhelfer begrüßen die drei Neuankömmlinge mit großem Jubel.
»Ran ans Werk!«, befiehlt Gudrun und drückt Marcel das Fleischermesser in die Hand. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Marcel legt das Messer neben dem fertigen Kalbsbraten ab, der in Scheiben geschnitten meine spezielle Grapefruit-Rosmarin-Honig-Kapern-Tonnato-Soße begleiten soll.
»Ich muss mir wohl mal zuerst die Hände waschen«, bemerkt er und stutzt, als er mich sieht.
»Arbeitsunfall?«, fragt er besorgt, greift nach meinem Arm und streichelt ihn zur Begrüßung oberhalb des Verbandes.
»Verbrannt«, erwidere ich.
»Ich habe schon Herrn Schmitz angerufen«, versichert Gudrun eilig.
»Gut gemacht«, sagt Marcel nickend. »Wann?«
»Ganz früh heute Morgen, kurz nachdem es passiert ist. Er war glücklicherweise zu Hause.«
»Dann können wir ja den Verband schon abholen«, sagt Marcel und knipst die Sicherheitsnadel an der Mullbinde auf.
»Spinnt ihr jetzt alle?«, will ich wissen, entreiße zwar meinen Arm seinem Griff, nicht aber den Zipfel des Verbandes, den er rasch abwickelt. Mir fällt plötzlich auf, dass ich nicht mehr weiß, wann ich den Schmerz zuletzt verspürt habe. Den Eisverband habe ich vor Stunden gewechselt. Die Hand fühlt sich nur eingebunden, aber nicht mehr brennend an. Das hat bestimmt mit der Konzentration auf meine Arbeit, besser gesagt aufs Herumscheuchen der anderen zu tun. Ich hatte überhaupt keine Zeit, mich um meine Verletzung zu kümmern. Ablenkung ist bekanntlich der größte Schmerzvertreiber.
Jetzt ist die Hand ausgewickelt. Der Druck des Verbandes hat sie schneeweiß gemacht. Ich starre auf Hand- und Fingerrücken, mache eine Faust und löse sie wieder. Die normale Hautfarbe kehrt allmählich zurück. Nicht einmal der Hauch einer Rötung ist noch zu erkennen. Fassungslos schaue ich auf die Fläche, die unzweifelhaft verbrüht war. Nichts davon zu sehen. Von einem alten Altersfleck abgesehen geradezu jungfräulich. Ich komme mir wie eine Betrügerin vor.
Gehörte meine Verbrennung etwa zu dem Traum, in dem Marcel das Fleischermesser in den Bauarbeiter stößt? Aber die Szene der Nacht hatte eine comicgleiche Optik; da stimmten weder Perspektiven noch Farben, die schwarzbraune Filtermasse auf meiner Hand am Morgen hingegen war schmerzlich real.
»Sie war wirklich richtig verbrannt«, stottere ich. »Gudrun ist meine Zeugin!«
Gudrun nickt.
»Richtig böse verbrannt«, bestätigt sie.
»Herr Schmitz ist ein Segenskundiger«, informiert mich Marcel. »Er hat dir den Brand geholt.«
»Genommen«, wende ich ein, das Eifeler Idiom momentan nicht ertragend. »Der kann mich doch nicht so mir nichts, dir nichts übers Telefon heilen!«
»Das macht ja auch nicht er, sondern der Herrgott«, sagt Gudrun ungeduldig.
»Übers Telefon?«, wiederhole ich. Mit diesem Mummenschanz möchte ich nichts zu tun haben. »Es war das kalte Wasser und das Eis«, erkläre ich. »Weil ich das eben so schnell draufgetan habe. Sag doch auch was, Hein!« Der ist weltgewandter als die anderen und, wie ich bisher geglaubt habe, jeglichem Aberglauben abgeneigt.
Hein lacht.
»Wir Eifeler lassen jedem seinen Glauben«, sagt er salomonisch. »Glaube du also ruhig dran, Katja, dass dir Wasser und Eis den Brand geholt haben. Hauptsache, er ist weg. Wer heilt, hat recht. Was gibt es Neues über unseren armen toten Bauarbeiter, Marcel?«
»Er war kein Bauarbeiter«, antwortet der belgische Polizeiinspektor und verstummt.
»Nein?«, fragt Jupp. Er klingt enttäuscht. Jetzt ahne ich auch, weshalb der Mai auf dem Kalender in seinem Losheimer Haus vorzeitig aufgeblättert wurde. Der Anblick eines Schwulen in einem der letzten originären Männerberufe hat Jupp erfreut. Schließlich verdient er sich neben Renovierungsaufgaben bei mir und anderen sein Geld als Waldarbeiter.
»Was war er dann? Nur Model?«
Marcel seufzt. »Ihr wisst doch, dass ich euch über laufende Ermittlungen nichts sagen darf.«
»Das ist unfair«, erwidert Jupp vorwurfsvoll. »Es war unser Kalender!«
»Wir haben dir einmal geholfen«, setzt Hein noch einen drauf, »woher willst du wissen, dass wir dir nicht auch sonst weiterhelfen können? Du wirst nicht bestreiten können, dass ich mich in der Schwulenszene gut auskenne.«
In einem früheren Leben hat Hein als Eventmanager in Köln schwule Veranstaltungen organisiert.
»Vielleicht war er ja gar nicht schwul«, lässt Marcel noch einen Informationshappen los. »Die Kalenderleute haben ihn über eine Kölner Agentur für Künstlervermittlung engagiert. Auf die zuständige Dame hat er einen ganz normalen Eindruck gemacht.«
»Normal«, seufzt Hein, verdreht die Augen und fährt sich durch sein lila-grünes Haar. »Die Heten und ihre Vorurteile. Mein Jupp würde auf die auch einen ganz normalen Eindruck machen oder etwa nicht? Also, wie heißt der Mann?«
»Ich bin hergekommen, für Katja beim Kochen zu helfen, nicht für ausgefragt zu werden«, sagt Marcel leise. »Oder hast du den Teig für die Frischkäse-Orangensenf-Kumquat-Taschen etwa schon ausgerollt? Mit dem Fleisch soll sich David abgeben; der kann das besser.«
Während er den Teig aus dem Kühlschrank holt, drehe und wende ich meine rechte Hand. Als sei sie mir gerade erst angepasst worden und ich müsste sie auf ihre Funktionstüchtigkeit prüfen. Mit der Linken streiche ich über gänzlich unversehrte Haut und schüttele den Kopf.
»All die vielen Brandopfer bei Katastrophen«, flüstere ich. »In der Dritten Welt, zum Beispiel. Warum betet die denn keiner gesund?«
Die Panik, die mich angesichts der vielen Vorbereitungen am Morgen ergriffen hat, breitet sich jetzt, eine Stunde vor der offiziellen Eröffnung, immer weiter aus. Dabei ist alles rechtzeitig fertig geworden. Ich habe sogar noch Zeit gefunden, nach Belgien hinüberzuhuschen, um mich mithilfe der Kosmetikindustrie in eine strahlende Gastgeberin zu verwandeln.
Aber anstatt mich sofort voller Vorfreude in die Dusche und auf mein Make-up zu stürzen, sitze ich auf meinem Bett und kann nur daran denken, dass wir heute Nacht wahrscheinlich auf einem Haufen delikater Häppchen sitzen bleiben werden. Dass wir uns schon am Eröffnungstag auf die Beerdigung unseres Restauranttraums vorbereiten können.
»Der Weg ist das Ziel«, murmele ich vor mich hin, und was kommt am Ende des Weges? Vielleicht ein Häuflein von fünf neugierigen Leutchen, die sich für den Einlass-Obolus von zehn Euro satt essen wollen und sich den ganzen Abend an einem Bier festhalten. Nein, der Eifeler trinkt gern und viel.
Wir haben in allen unmittelbar benachbarten Orten von NRW, Rheinland-Pfalz und Belgien Flyer verteilt, also in Hallschlag, Stadtkyll, Jünkerath, Prüm, Hellenthal, Büllingen, Dahlem, Kronenburg, Krewinkel, Scheid, Weckerath, Ormont, Roth, sogar in Bleialf und Sankt Vith Plakate aufgehängt und alle Leute, die wir kennen, informiert. Da wurde dann von unverschiebbaren Kartenspiel-, Kegel- und Jägerabenden gemurmelt, von kranken Kühen und unbetreuten Kindern, von der Angst vor Gewitter, bei dem man natürlich zu Hause bleiben müsse, falls es im Stall einschlage, von der letzten Gelegenheit, vor dem nächsten Regen den ersten Silo zu machen, von der dementen Großmutter, die gern mit Kerzen Weihnachten spielt, von kein Auto zu Hause und in einem Fall von einem überfällig trächtigen Hängebauchschwein. Eine richtige Absage hat uns niemand erteilt. Alle versicherten, für gut essen zu gehen kämen sie ja vielleicht trotzdem. Wenn nicht heute, dann ganz bestimmt morgen, wo es dann auch nicht so voll wäre und man weniger Gefahr laufe, am Buffet der verfeindeten Nachbarin zu begegnen, die angekündigt habe, ganz bestimmt die Einkehr am Eröffnungsabend aufzusuchen. Auf dieser Nachbarin, wer immer sie sein mag, ruhen jetzt meine Hoffnungen.
Als ich eine Stunde später die Bundesstraße nach Deutschland überqueren will, nähern sich von rechts zwei Scheinwerfer. Gut, denke ich, die ersten Gäste, wahrscheinlich aus Prüm, hat die Plakataktion doch geholfen. Die einladende Lichterkette, die Marcel und Jupp inzwischen vor dem Restaurant gespannt haben, ist nicht zu übersehen. Das Auto rauscht heran und donnert mit mindestens hundertzwanzig Stundenkilometern an mir vorbei.
»Siebzig!«, brülle ich den Rücklichtern hinterher und bedauere, dass die Straße zu Deutschland gehört. Wäre sie wie der Randstreifen auf belgischem Hoheitsgebiet, hätte Marcel jetzt eine für die Einkehr strategisch interessante Radarfalle aufstellen können.
Das Restaurant ist noch leer, doch bis zur offiziellen Eröffnung bleibt eine Viertelstunde.
Gudrun hat sich in Schale geworfen. Über schwarzen Seidenhosen trägt sie eine rosa Tunika, die unter der Brust gerafft ist. Eine Mode, die Menschen meiner ausladenden Statur durchaus steht, aber bei schmaleren wie bei Gudrun Gedanken an Schwangerschaft aufkommen lässt. Obwohl auch sie inzwischen aus dem Alter heraus sein dürfte. Kein Hinderungsgrund, den Mann fürs Leben anzupeilen. Ihre letzten beiden Kandidaten waren leider Männer fürs Sterben.
Ich betrachte David, den jetzigen Mann an ihrer Seite. Besser gesagt, an ihrem Ohrläppchen, das er gerade hingebungsvoll anknabbert. David wird leben. Wenn auch wahrscheinlich nicht auf Dauer mit ihr zusammen. Woher ich das weiß?
Keine Ahnung – es ist nur ein Gefühl, so ein magengrubiges, dass David nicht Gudruns wegen hier ist, auch nicht wegen seines neu ererbten Besitzes. Er erweckt auf mich den Eindruck eines abwartenden Menschen, so, als stehe er bereit, einen Auftrag zu erfüllen. Aber für wen, warum und weshalb in diesem abgeschiedenen Gebiet? Wahrscheinlich macht mich sein Ordnungssinn kirre, die Korrektheit, mit der dieser angebliche Künstler Radieschen modelliert und die phänomenale Ortskenntnis, die er sich binnen kürzester Zeit angeeignet hat. Als wir neulich zu dritt auf dem Markt in Blankenheim waren, suchte ich aufs Geratewohl einen kürzeren Weg – eben nicht über die B 51 – zurück zur Kehr und verfuhr mich hoffnungslos. Irgendwo, mitten in einer mir gänzlich unbekannten Pampa, begann mich David auf einmal zu dirigieren. Ich folgte amüsiert seinen Anweisungen, bog in schmale Feldwege ein, die in fichtengesäumte Waldpfade mündeten, und gondelte vorsichtig unbefestigte Hangtrassen aufwärts – bis wir uns plötzlich auf vertrautem Terrain befanden. Jeder andere hätte triumphiert. Zumal ein völlig ortsunkundiger Ausländer. David schien eher beschämt.
»Ich habe halt ein eingebautes Radar«, sagte er entschuldigend, als ich verblüfft auf das Jünkerather Einkaufsgebiet hinabblickte.
»Du bist so was von klug«, lobte ihn Gudrun begeistert, »mit dir kann man sich gar nicht verfahren.«
Warum nicht?, fragte ich mich. Weil er irgendwie eingefahren ist? Ein Texaner auf der Kehr? Wer zum Teufel ist Mr. Quirk wirklich?