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Peter Scholl-Latour

Der Fluch des neuen Jahrtausends


Eine Bilanz

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Redaktion: Cornelia Laqua

PeP eBooks erscheinen in der Verlagsgruppe Random House

Copyright © 2002
by C. Bertelsmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Dieter Bauer

ISBN 3-89480-747-4

Inhaltsverzeichnis




















































































































Vorwort

»Wir haben das dritte Jahrtausend durch ein Feuertor betreten«; der Satz stammt von Kofi Annan, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen anläßlich der Verleihung des Friedens-Nobelpreises. Es hätte dieses Bezugs auf die New Yorker Tragödie vom 11. September gar nicht bedurft, um die psychische Wandlung anzudeuten, die sich unserer Gesellschaft zu bemächtigen scheint. Vergänglichkeit der meisten politischen Projekte und so vieler wirtschaftlicher Heilserwartungen – das ist der Eindruck, der sich dem Autor aufdrängt, wenn er auf die Sammlung seiner Tagesnotizen seit 1997 zurückblickt. Welche Hoffnungen sind doch zerbrochen, seit die Menschheit sich festlich gestimmt versammelte, um den Beginn des neuen Jahrtausends zu begehen! Es läßt sich sogar der Vergleich anstellen zwischen der prallen Zuversicht des 1. Januar 2000 und der Euphorie des 1. Januar 1900. »Wir gehen herrlichen Zeiten entgegen«, hatte es vor hundert Jahren im Wilhelminischen Reich geheißen. An das bevorstehende Massensterben in den Schützengräben von Flandern oder vor Verdun hätte damals niemand gedacht.

Lassen wir uns vielleicht durch die Aktualität in die Irre führen? Wie oft ist beteuert worden, die Vernichtung des World Trade Center stelle einen historischen Wendepunkt dar. In Wirklichkeit ist dort lediglich der westlichen, vor allem der amerikanischen Öffentlichkeit auf spektakuläre Weise vor Augen geführt worden, daß dem Wunschdenken Grenzen gesetzt sind, daß die Welt nicht gut und die Menschheit nicht lieb ist. Ob die Zahl der Opfer fünftausend oder dreitausend beträgt, soll gar nicht diskutiert werden. Das Ereignis war grauenhaft genug. Aber das Massenmorden hat ja viel früher begonnen. In den vergangenen Jahren sind in Zentral-Afrika mindestens zwei Millionen Menschen eines gewaltsamen Todes gestorben. Doch niemand hat diesen Völkermord zur Kenntnis genommen. In dieser Hinsicht hat sich die Botschaft der Globalisierung mitsamt ihrer aufklärerischen Behauptung, alle Menschen seien gleich, als faustdicke Lüge erwiesen. Es ist eben nicht das Gleiche – auch für jeden einzelnen von uns –, ob die Opfer eines Massakers US-Amerikaner oder Kongolesen sind.

Die wütende Entrüstung des Präsidenten George W. Bush und seine Forderungen nach Vergeltung sind nur allzu verständlich. Aber man erzähle uns nicht, der weltweite Terrorismus habe erst mit den arabischen Selbstmord-Attentätern von New York und Washington seine Fratze enthüllt. Der Terrorismus existiert seit Kain und Abel und hat seitdem nicht aufgehört, in dieser oder jener Form – religiös, ideologisch, nationalistisch oder ganz einfach verbrecherisch motiviert – seine blutige Beute anzufordern. Der Blick richtet sich dabei auf Nord-Irland, das Basken-Land, Algerien, Schwarz-Afrika, Kaschmir, die Philippinen etc., etc. und heftet sich schließlich auf das »Heilige Land«. Selbst die USA wurden ja vor ein paar Jahren durch die mörderische Explosion von Oklahoma erschüttert. Nur war dieser Terrorismus – wie auch die Ermordnung diverser Präsidenten –»home made«, wie man auf Neu-Deutsch zu sagen pflegt.

In diesem Buch handelt es sich um ein Kaleidoskop von Kommentaren, Fernseh-Dokumentations-Texten, Reportagen und Interviews. Sie sind in chronologischer Reihenfolge und ohne jede nachträgliche Berichtigung abgedruckt. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ist die hedonistische Grundstimmung, in der sich die westliche Industriegesellschaft sonnte, düsteren Vorahnungen eines langsamen, aber unaufhaltsamen Verfalls gewichen. Unter dem Schlagwort »Globalisierung« triumphierte bisland die Überzeugung, dass die Prädominanz von Wirtschaft und High-Technology den Primat der Politik abgelöst habe. Das Denken in strategischen Kategorien – so hörte man – sei vollends zum Anachronismus geworden. Waren wir nicht am »Ende der Geschichte« angelangt, wie Francis Fukuyama seinen Jüngern verkündete?

Es ist ja gar nicht so lange her, da wurde die Profit-Explosion der »new economy« als Verheißung unermesslichen Wohlstandes gefeiert. Die überlieferten Normen des ständigen Pendelns zwischen Aufstieg und Abstieg schienen außer Kraft, der Kurve der Börsengewinne keine Grenze nach oben gesetzt. Die Finanz-Spekulation wurde zum Lebenselement einer ganzen Generation. Der Begriff des »share holders« drohte die staatsbürgerliche Idee des »Citoyen« zu verdrängen, auf die wir uns seit der Französischen Revolution so viel eingebildet hatten. Allen Ernstes wurde in Deutschland die Vorstellung erwogen, man könne den Rentnern und Pensionären von morgen, deren Bezüge durch die schrumpfende Demographie nicht mehr zu decken wären, über die Not des Alters hinweghelfen, indem man sie rechtzeitig zum Kauf von Aktien anhielt. An ein Schrumpfen der Dividende wollte doch niemand mehr glauben. Das Wort Rezession war aus dem ökonomischen Vokabular verbannt.

»Regieren macht Spaß«, hatte es beim Amtsantritt der Koalition Schröder–Fischer geheißen, und somit erhielt die »Spaßgesellschaft« ihre regierungsamtliche Konsekration. Jedermann sprach von jener Globalisierung, die ja auf dem Feld der rasanten Kommunikations- und Informationstechnik tatsächlich alle Erwartungen übertraf. Wer nahm zur Kenntnis, daß im »Herzen der Finsternis«, in den verwüsteten Städten Afrikas, zwar gewaltiger Werbe-Aufwand für Mobil-Telefon, E-Mail und Internet betrieben wurde, daß sich jedoch zwanzig Kilometer davon entfernt im Dschungel der Rückfall in die Steinzeit und ihre düsteren Zauber-Riten vollzog. Nie wirkte Europa provinzieller als in dieser euphorischen Zwischenphase des Tanzes um das Goldene Kalb. Der kommerzialisierte Exhibitionismus der »Love Parade« zum Beispiel sollte Fröhlichkeit vortäuschen, und wer ahnte schon am Rande des Berliner Tiergartens, daß die permissive Überflussgesellschaft, die dort zelebriert wurde, sich auf einer schrumpfenden Insel materiell Begünstigter austobte, daß die weitaus größte Fläche des Globus weiterhin von Elend und Gewalt beherrscht blieb.

Schon die Balkan-Konflikte passten nicht mehr in dieses Bild krampfhafter Harmlosigkeit. Vor allem die Deutschen wurden im Kosovo daran erinnert, dass man nicht »in Unschuld regieren kann«, wie die Franzosen sagen, dass man der Tragik der »conditio humana« nicht entrinnt. Gleichzeitig gab sich die neue Plutokratie in den Ländern der sogenannten »Dritten Welt«– stimuliert durch die Profitneurose der großen multinationalen Konzerne – als »RaubtierKapitalismus«, zu erkennen, wie Helmut Schmidt feststellte. Die Amüsier-Industrie, die durch die Omnipräsenz des Fernsehens einen so ungeheuerlichen Auftrieb erhielt, gefiel sich immer mehr in »Hanswurstiaden«. Wer es nicht verstand, »happy and beautiful« zu erscheinen, war auf der falschen Seite gelandet, galt als »Loser«. Nur noch finstere Kulturpessimisten mochten an Nietzsche und sein Zarathustra-Wort erinnern: »Wir haben das Glück erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln.« Selbst die Jugend Israels stand ja im Begriff, das mythische Staatskonzept der zionistischen Gründerväter in eine Art befestigten Club Méditerrannée umzufunktionieren. Erst durch die Selbstmordattentäter der El-Aqsa-Intifada wurden sie sich wieder bewußt, daß der Judenstaat dazu verurteilt ist, wie Daniel in der Löwengrube zu leben.

Wird die Verwüstung von »Ground Zero« sich dauerhaft in das kollektive Gedächtnis eingraben? Mit dem Abstand von wenigen Monaten können wir folgende grundlegende Veränderungen festhalten, die durch den Schock des World Trade Center bewirkt wurden. Amerika legt in der Abwehr des Terrorismus eine grimmige, quasi religiöse Form der patriotischen Entschlossenheit an den Tag. Die USA scheinen gewillt, ihre Rolle als imperiale Hegemonie voll auszuspielen. Das frühere Prinzip amerikanischer Kriegführung unter Bill Clinton: »no dead – keine eigenen Toten« gilt heute nicht mehr. Präsident George W. Bush fühlt sich offenbar in der Rolle des Welt-Sheriffs und hat einen gnadenlosen Kampf gegen das »Böse« angesagt, der sich eventuell über Jahre und weite Regionen des Erdballs erstrecken soll. Nach der Katastrophe von New York sei sein Land – in einer Reaktion der Selbsterhaltung –»less innocent – weniger unschuldig« geworden, verkündete er.

Alle Spekulationen, die verschwörerischen Kräfte des militanten Islamismus zwischen Nord-Afrika und Indonesien könnten der geballten Macht der US-Streitkräfte die Stirn bieten, haben sich zunächst als Anmaßung und Illusion erwiesen. Es gibt keine islamische Großmacht, sondern nur Gruppierungen religiöser Extremisten, die zwar zum Äußersten, zur Selbstaufopferung bereit sind, aber in offener Feldschlacht keine Chance haben, wie das Beispiel Afghanistan lehrt. In Washington weiß man, daß diese Konfrontation längst nicht gewonnen ist. Auch die Vernichtung Osama bin Ladens und seiner Organisation El Qaida böte keine Gewähr dafür, daß aus der Masse von 1,3 Milliarden Muslimen nicht immer neue Scharen von Gewalttätern und »Märtyrern« hervorgehen werden. Schon kommt Furcht auf, künftige Anschläge gegen die verhaßten Industrie-Nationen des Westens könnten auf Massenvernichtungswaffen zurückgreifen.

Am Rande des schicksalhaften Konfliktes zwischen dem globalen Zivilisationsanspruch Amerikas und dem konspirativen Aufbäumen einer unberechenbaren islamischen Revolution kündigen sich seit dem 11. September schicksalhafte Kräfteverschiebungen an. Bei aller Rivalität zwischen Moskau und Washington in Zentral-Asien zeichnet sich dennoch das Zusammenrücken dieser ehemaligen Gegner des Kalten Krieges ab, ja eine überraschende Interessengemeinschaft gegenüber dem subversiven Islamismus. In der Volksrepublik China ist unterdessen alles im Fluß. Peking könnte sich am Ende als wahrer Nutznießer eines unabsehbaren militärischen Engagements, einer Kräfteverzettelung der USA im Kampf gegen den Halbmond herausstellen. Schon entdecken die beiden »weißen« Mächte – Russland und Amerika – eine heimliche Solidarität angesichts der neuen »gelben Gefahr«, angesichts des unaufhaltsamen Aufschwungs im Reich der Mitte. Was nun die Europäer betrifft, so bieten ihre kleinlichen Rivalitäten, ihre widersprüchlichen Solidaritätsbeteuerungen gegenüber Washington ein klägliches Bild der Schwäche und Abhängigkeit. Die NATO ist ihrer ursprünglichen Sinngebung beraubt und sucht verzweifelt nach neuen Perspektiven. Auf die Europäische Union wirft der 11. September 2001 düstere Schatten der Dekadenz. Die Europäer, so scheint es, begnügen sich bereits mit der Rolle der »Graeculi« der Antike in ihrer Beziehung zum transatlantischen Rom unserer Tage.

Paris, im Dezember 2001

Peter Scholl-Latour

Erfahrungen im Krieg

27. Juni 1999

Der französische Indochina-Krieg, der bei den Linksparteien im Mutterland als »sale guerre«– als schmutziger Krieg – verschrien war, steckte für das Häuflein Korrespondenten, die damals von Hanoi ausschwärmten, voller Tücken. Aber irgendwie nahmen wir diese Gefahren nicht so recht wahr. Viele französische Reporter hatten vorher selbst in der Fernost-Armee gedient und setzten sich den gleichen Risiken aus wie die kämpfende Truppe. Man fuhr im Jeep über unsägliche Schlammpisten in die Gefechtszone bei Vinh Yen und schob sich zum Schutz gegen Minenexplosionen einen Sandsack unter den Hintern. Im Fall von Verwundungen im Dschungel stand damals kein einziger Hubschrauber zum Abtransport zur Verfügung. Ich war nicht einmal in irgendeiner Form versichert.

Ab 1951 kamen auch amerikanische Kollegen hinzu, und wir wußten ohnehin, daß der Krieg, der sich noch bis 1954 hinschleppen sollte, verloren war. Die Volksbefreiungs-Armee Mao Tse-tungs hatte nämlich die Nordgrenze von Französisch-Indochina erreicht. Mir war es damals vergönnt, den äußersten verbliebenen Außenposten unter der Trikolore am Rande von Yünan an Bord einer Ju 52 zu erreichen und von dort aus in Begleitung eines französischen Oberst und eines Trupps Thai-Partisanen nach Norden zu reiten. »Wenn Sie wollen, können Sie ein Stück nach China vordringen«, hatte der Colonel gesagt; »dort drüben gibt es noch ein paar Kuomintang-Partisanen, die wir unterstützen.« In Wirklichkeit waren sie mehr Banditen als Freiheitskämpfer, und ich war froh, als ich mit meinem Thai-Dolmetscher im Galopp wieder den Grenzfluß Nam Kum erreichte. Das war das einzige journalistische Unternehmen, bei dem ich eine Waffe getragen habe.

Die Nacht des französischen Waffenstillstandes habe ich im Reisfeld etwa 100 Kilometer südlich von Hanoi verbracht. Die Soldaten des dortigen Regiments der Kolonial-Infanterie hatten zu meinem Schutz eine rechteckige Grube ausgehoben, wo ich auf einem Feldbett wie in einem Grab schlief, soweit das die Artillerie des Vietminh erlaubte. Die Partisanen Ho Tschi Minhs schossen aus allen Richtungen, feierten ihren Sieg in Erwartung der nahen Feuereinstellung. Am nächsten Morgen verabschiedete mich der französische Kommandant mit den Worten: »In Nord-Afrika sehen wir uns demnächst wieder.« Auf der Rückfahrt nach Hanoi passierten wir mehrere brennende Lastwagen, die auf Minen gefahren waren.

Der Algerien-Feldzug der Franzosen war ein wenig rühmliches Kapitel der auslaufenden Kolonial-Epoche. Das Land war weitgehend »pazifiziert«, und man konnte sich über weite Strecken ohne Geleitschutz bewegen. Der Terror beschränkte sich im wesentlichen auf Bombenanschläge in den Städten oder auf blutige Gemetzel in der Kabylei und im Aures-Gebirge, wo die Algerier der Befreiungsfront und die auf französischer Seite kämpfenden »Harki« sich wie beim Schlachten von Hammeln die Gurgeln aufschnitten zum sogenannten »sourire berbère«, zum »Lächeln der Berber«, wie man damals etwas zynisch sagte. Mit zwei Zügen Fallschirmjägern und Fremdenlegionären habe ich im Akfadu-Wald, im Herzen der Kabylei, aus dem Hubschrauber springend, die Vernichtung einer algerischen »Katiba« aus unmittelbarer Nähe miterlebt, und ich entzifferte auf der grünen Uniformjacke des getöteten Unterführers der »Befreiungsfront« jenen Koran-Spruch, der für mich fortan zum Leitmotiv wurde: »Allah ist mit den Standhaften.« Der wirkliche Totentanz für die Europäer von Algier begann erst, als die Generäle gegen de Gaulle putschten und die Terror-Organisation OAS neben dem wahllosen Mord vermutlicher Gegner auch zur Geiselnahme von Journalisten überging.

Dem außer Rand und Band geratenen Kongo der frühen 60er Jahre blieb es vorbehalten, den Romantitel Joseph Conrads, »Das Herz der Finsternis«, mit aktuellem Inhalt auszufüllen. Den Stammeskriegen Afrikas war die multinationale »Ordnungsmacht« der Blauhelme Dag Hammarskjölds in keiner Weise gewachsen. Italienische Piloten der Uno, die für verhaßte belgische Kolonialisten gehalten wurden, fielen in Kindu, der Heimat der »Leopardenmenschen«, dem Kannibalismus zum Opfer. Persönlich habe ich am Ufer des Tanganjika-Sees – bei einem Abstecher zu den »Simbas«, den Löwen, wie sie sich selbst nannten – das größte Entsetzen meiner Karriere empfunden. Ich sah mich plötzlich wie auf der »Zeitmaschine« H. G. Wells' in eine andere Phase der Menschheit, in den Horror der Steinzeit zurückversetzt, und mitsamt dem Kamera-Team waren wir einer Horde von Speerträgern ausgeliefert, die Tierfelle trugen und sich durch den Wassersegen ihrer Zauberer gegen Kugeln gefeit wähnten.

Der amerikanische Vietnam-Feldzug zwischen 1965 und 1975 mit seinem enormen Material-Aufwand hatte mit dem französischen Indochina-Krieg sehr wenig gemeinsam. Die akkreditierten Journalisten genossen während dieser Kampagne alle nur denkbaren Privilegien. Es genügte, einen Flecken auf der Landkarte anzugeben – auch wenn es sich um den bedrängtesten Stützpunkt der U.S. Army handelte –, und man wurde per Hubschrauber dorthin transportiert. Bedenklich waren vor allem die Explosiv-Fallen und die »Booby-Traps« des Vietcong. Zahlreiche Verluste entstanden auch durch sogenanntes »friendly fire«. Zu Füßen der Höhe 875, die später in einem Film als »Hamburger Hill« glorifiziert wurde, war ich im laotischen Grenzgebiet bei Dak-To Augenzeuge, wie die Bomben der U.S. Air Force in den eigenen Stellungen einschlugen und schwere Verluste verursachten. Zur Entschuldigung der Piloten muß gesagt werden, daß die Nord-Vietnamesen ihre Sappen und Tunnel so nahe an die Amerikaner herangetrieben hatten, daß eine Unterscheidung kaum noch möglich war. In Erinnerung bleibt mir auch die kuriose Praxis des »Body-Counts«, der »Leichen-Zählung« beim Presse-Briefing in Saigon. Jeden Tag wurden horrende Zahlen von getöteten Vietcong gemeldet, denen zufolge längst kein Partisane Ho Tschi Minhs mehr hätte leben dürfen. Wie diese Ziffern zustande kamen, habe ich bei einer Patrouille in Zentral-Annam entdecken können. Ich hatte mich einer Kompanie der First Cav, einer Traditions-Division der Indianer-Kriege, angeschlossen. Von Zeit zu Zeit ließ der Captain Granatwerferfeuer auf die umliegenden Dschungelhöhen eröffnen und meldete per Sprechfunk jedesmal eine willkürliche Zahl getöteter Vietcong. Die Angaben waren frei erfunden, aber der Offizier hielt eine plausible Erwiderung parat. »Wenn ich keine Erfolge melde, stehe ich gegenüber den anderen Einheiten, die ähnlich wie ich operieren, ja dann steht die First Cav gegenüber der Nachbar-Division, die vor keiner Übertreibung zurückschreckt, ziemlich dumm da, und wir werden von unseren Vorgesetzten gerügt.« Meine Gefangennahme durch den Vietcong, die 1973 nur 60 Kilometer nördlich von Saigon erfolgte, hat mich in meiner Erfahrung bestätigt, daß die Vietnamesen sehr disziplinierte und ideologisch motivierte Gegner waren, durchaus keine Wilden. Wäre ich den »Roten Khmer« in Kambodscha hingegen in die Hände gefallen, wäre ich auf der Stelle gefoltert und zu Tode geprügelt worden.

Der erste Golfkrieg, der zwischen Iran und Irak, zwischen dem Ayatollah Khomeini und dem Diktator Saddam Hussein acht Jahre lang andauerte und der etwa eine Million Tote gefordert hat, war viel dramatischer als die nachfolgende amerikanische Operation »Wüstensturm«, von der die Presse weitgehend ausgeschlossen blieb und die beim TV-Publikum als Computerspiel ankam. Meine persönliche Beziehung zu Khomeini öffnete mir hier viele Wege, und das Ufer des Schatt-el-Arab nach der Zurückeroberung des Hafen Khorramshahr durch die iranischen Revolutionswächter und das Halbwüchsigen-Aufgebot der »Bassidji«– mit Hunderten von in der Sonne verwesenden Leichen toter Iraker – bot ein Bild des Grauens. In jener Stunde wäre ein siegreicher Vorstoß der Iraner auf Basra möglich gewesen. Der scheiterte am Einspruch der Mullahs. Der grausigsten Gefahr, die den Kriegsschauplatz in den Sümpfen Mesopotamiens heimsuchte, dem systematischen Gas-Krieg gegen die todesmutigen, aber völlig ungeschützten Angriffswellen der Iraner, bin ich durch ein glückliches Geschick nicht ausgesetzt gewesen. Der völkerrechtswidrige Einsatz hochentwickelter toxischer Stoffe durch Saddam Hussein, das sollte dennoch festgehalten werden, ist von der westlichen Berichterstattung verschwiegen worden. Er war ja durch die USA, durch die Sowjetunion und mehrere europäische Staaten unter flagranter Verletzung aller Menschenrechtskonventionen abgesegnet und beliefert worden.

Der endlose Bürgerkrieg im Libanon ist mir als Vabanque-Spiel, als eine Art russisches Roulette in Erinnerung. Wenn wir als Reporter die feindlichen Linien am Museum von Beirut und an der Karantina passierten, dann hieß es, an den offenen Schneisen Vollgas zu geben, um den Scharfschützen beider Seiten zu entgehen. Im April 1986 fand meine Ankunft in Beirut in Begleitung eines Geo-Fotografen per purem Zufall präzis an einem Tag statt, als die U.S. Air Force versuchte, den libyschen Staatschef Gaddhafi mit ihren Bomben auszulöschen. Mit meinen Kollegen verbrachten wir als einzige Gäste eine beklemmende Nacht im Hotel »Commodore«, nachdem wir erfahren hatten, daß der britische Journalist MacCarthy bei seinem verzweifelten Fluchtversuch in Richtung Flugplatz als Geisel verhaftet wurde. Er sollte mehrere Jahre in qualvollen Kellerverliesen verbringen. Am nächsten Morgen erreichten wir auf Schleichwegen das sichere Drusen-Gebirge, wo unsere Gastgeber uns mit konsternierten Mienen die Leichen von drei eben ermordeten angelsächsischen Geiseln vorführten, die sie am Straßenrand entdeckt hatten. Im Hotel »Summerland«, von schwerbewaffneten Drusen geschützt, fühlten wir uns in Sicherheit und konnten nicht ahnen, daß genau an dieser Stelle wenige Wochen später zwei deutsche Ingenieure von Siemens von Terroristen verschleppt würden, die sich dem Hotel über das Meer genähert hatten. Ich bezweifle, ob mir bei einer Entführung durch die schiitische Hisbollah mein Vorzeige-Foto mit dem Ayatollah Khomeini viel genutzt hätte.

Hingegen kam mir bei meinem Ausflug ins afghanische Kampfgebiet der Umstand zugute, daß ich in angemessener Situation eine Reihe von Koran-Versen zitieren konnte. Bei den Mudschahedin der »Hezb-e-Islami«, die den Ruf von Fanatikern genossen, fühlte ich mich in voller Sicherheit, und mein mongolischer Leibwächter schützte mich, als ruhe der Segen des Propheten auf mir. Unsere gemeinsame Furcht galt den sowjetischen Kampfhubschraubern vom Typ MI-24, denen die Afghanen damals noch wehrlos ausgeliefert waren. Erst die Lieferung von Boden-Luft-Raketen vom Modell Stinger sollte den Mudschahedin Entlastung verschaffen und am Ende den Abzug der Sowjet-Armee erzwingen. Ich habe bei dieser Expedition nie gezögert, in den ständig wiederholten Kampfruf »Allahu akbar« einzustimmen, denn warum sollte ich nicht die Größe Gottes preisen?

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Aber kommen wir zum Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, der mir – weil er sich auf altem europäischen Kulturboden abspielt – besonders skandalös und abscheulich erscheint. Ich habe dort sämtliche Bürgerkriegsparteien in ziemlich schlimmer Erinnerung: die »Tschetniks« des serbischen Verbrechers Arkan, die am Wochenende von Belgrad heranreisten, sich mit Slibowitz vollaufen ließen und von den Höhen südlich Sarajevos wahllos Passanten abknallten, wie auch jene kroatischen Milizionäre, die beim Passieren ihrer Kontrollposten in der Herzegowina unser mit »D« gekennzeichnetes Auto mit »Heil Hitler« begrüßten. Den muslimischen Partisanen, die im zerschossenen »Holiday Inn« in Begleitung von leichten Mädchen und riesigen Doggen ihre Gelage feierten, bevor sie mit unglaublicher Kühnheit ihre fast unhaltbaren Stellungen gegen die Serben bezogen, hätte man ebensowenig im Bösen begegnen mögen. Den Sadismus, die bestialische Grausamkeit, die sich auf dem Balkan auch heute noch austoben, habe ich weder am Libanon noch in Tschetschenien registriert. Sie bleiben eine Schande für unseren angeblich zivilisierten Kontinent.

Den Kosovo habe ich zur Zeit der serbischen Besetzung – zwischen Pec und Pristina, zwischen Prizren und Novipazar – gründlich inspiziert. Ich werde demnächst in diese Gegend zurückkehren – nicht um den Helden oder den Abenteurer zu spielen, was meinem Alter auch gar nicht mehr anstände, sondern weil mich eine lange Erfahrung gelehrt hat, daß die eigene Anschauung vor Ort durch nichts zu ersetzen ist. Bei ihrem Balkan-Engagement sollten sich die deutschen Politiker, denen die Fürsorgepflicht für die Bundeswehr-Soldaten am Amselfeld obliegt, folgendes einprägen: Das vielgerühmte G-8-Abkommen, das die fiktive Erhaltung einer jugoslawischen Föderation vorsah, ist heute nur noch ein Papierfetzen, und die Entwaffnung bzw. die »Demilitarisierung« der ominösen UCK – eine unerträgliche Wortklauberei – ist bestenfalls punktuell zu erreichen. Die Nato-Truppe droht dort in einen heimtückischen Partisanenkrieg mit wechselnden Fronten und Gegnern verstrickt zu werden. Die Guerilla und deren Bekämpfung gehen stets mit besonderer Brutalität einher. Die französischen Paras, die während der Schlacht von Algier den Bombenlegern der Algerischen Befreiungsfront nachstellten, sind bei den Verhören von Verdächtigen auch vor Folterungen nicht zurückgeschreckt, genausowenig wie die Amerikaner bei der Operation »Phoenix« in Vietnam. Nachträglich hat General Massu, ein durchaus ehrenwerter Offizier, der diese Aktion befehligte, seine bittere Erfahrung in drastischer Form resümiert: »In Algier sind wir hineingeschlittert in Blut und in Scheiße – dans le sang et dans la merde.«