Cover
Stephen King:Die Arena
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel
UNDER THE DOME
bei Scribner, New York
»Play It All Night Long«: Copyright © 1980 by Zevon Music. Published by Zevon Music and Imagem Music. All rights reserved. Used by permission.
»Talkin’ at the Texaco«: Words and music by James McMurtry.
Copyright © 1989 by Short Trip Music (BMI). Administered by Bug Music.
All rights reserved. Used by permission.
Copyright © 2009 by Stephen King
Copyright © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lothar Strüth
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, Anja Filler
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-03806-9
V004
www.heyne.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

DAS BUCH
Über den Autor
Widmung
Einige (aber nicht alle), die am Dome Day in Chester’s Mill waren:
DAS FLUGZEUG UND DAS WALDMURMELTIER
1
2
3
BARBIE
1
2
3
4
5
JUNIOR UND ANGIE
1
2
3
4
5
6
HAUPT- UND NEBENSTRASSEN
1
2
3
4
5
6
7
MASSIG TOTE VÖGEL
1
2
3
4
5
6
7
KUDDELMUDDEL
1
2
3
4
5
6
7
WIR ALLE UNTERSTÜTZEN DAS TEAM
1
2
3
4
5
6
ZUM BESTEN DER STADT; ZUM BESTEN DER BURGER
1
2
3
4
5
6
7
GEBETE
1
2
3
4
5
6
7
WAHNSINN, BLINDHEIT, RASEN DES HERZENS
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
ES IST NICHT SO SCHLIMM, WIE’S NOCH WIRD
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
NJUCK-NJUCK-NJUCK
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
LENKWAFFENEINSATZ STEHT BEVOR
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
FALSCHE ANSCHULDIGUNGEN
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
ROSA STERNSCHNUPPEN
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
ES FÜHLEN
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
IM KNAST
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
SALZ
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
ASCHE
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
SPIEL DEN SONG DIESER TOTEN BAND
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
VOLL IM EIMER
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
ÜBERALL BLUT
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
AMEISEN
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
HALLOWEEN KOMMT VORZEITIG
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
ÜBERLEBENDE
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
TRAG DAS AUF DEM HEIMWEG, DANN SIEHT ES AUS WIE EIN KLEID
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
ANMERKUNG DES AUTORS
Copyright

DER AUTOR

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, Carrie, erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Bei Heyne erschien zuletzt eine Sammlung mit Kurzromanen: Zwischen Nacht und Dunkel.

ANMERKUNG DES AUTORS

Als ich im Jahr 1976 erstmals versucht habe, Under the Dome (Die Arena) zu schreiben, kroch ich nach zweiwöchiger Arbeit mit eingeklemmtem Schwanz von den rund fünfundsiebzig Seiten weg, die ich zustande gebracht hatte. Diese Seiten waren an dem Tag im Jahr 2007, an dem ich mich zu einem Neubeginn hinsetzte, längst verschollen, aber das Eingangskapitel – »Das Flugzeug und das Waldmurmeltier« – hatte ich noch so gut im Kopf, dass ich es fast wortgetreu niederschreiben konnte.

Überfordert hatten mich nicht die vielen Personen der Handlung – ich mag Romane mit üppiger Personalausstattung –, sondern die technischen Probleme, die dieser Roman aufwarf, vor allem die ökologischen und meteorologischen Auswirkungen der Kuppel. Die Tatsache, dass eben diese Probleme mir das Buch wichtig erscheinen ließen, bewirkten, dass ich mir feige – und faul – vorkam, aber ich hatte schreckliche Angst, ich könnte alles vermurksen. Also fing ich etwas anderes an, aber die Kuppel – the dome – als Idee für einen Roman ließ mich nie mehr los.

In den seither vergangenen Jahren ist mein guter Freund Russ Dorr, ein Arzthelfer aus Bridgton, Maine, mir bei den medizinischen Aspekten vieler Bücher – vor allem bei The Stand – Das letzte Gefecht – behilflich gewesen. Im Spätsommer 2007 habe ich ihn gefragt, ob er bereit wäre, eine weit größere Rolle zu übernehmen: als Hauptrechercheur für einen langen Roman mit dem Titel Under the Dome. Er war einverstanden, und dank Russ stimmen die meisten technischen Details in diesem Buch, denke ich. Es war Russ, der Recherchen zu computergesteuerten Lenkwaffen, Jetstream-Verläufen, Methamphetamin-Rezepten, tragbaren Notstromaggregaten, radioaktiver Strahlung, möglichen Fortschritten in der Mobilfunktechnologie und hundert weiteren Dingen angestellt hat. Es war auch Russ, der Rusty Everetts im Eigenbau hergestellten Strahlenschutzanzug erfand und erkannte, dass man aus Autoreifen atmen kann, zumindest für gewisse Zeit. Sind uns Fehler passiert? Bestimmt. Aber die meisten werden sich als meine erweisen, weil ich manche seiner Antworten falsch verstanden oder falsch interpretiert habe.

Meine beiden ersten Leser waren meine Frau Tabitha und Leanora Legrand, meine Schwiegertochter. Beide waren kritisch, human und hilfreich.

Nan Graham als Redakteurin hat aus dem Dinosaurier, der dieser Roman ursprünglich war, ein etwas leichter zu bewältigendes Buch gemacht; jede Seite des Manuskripts war mit ihren Änderungen übersät. Ich bin ihr zu großem Dank für all die Morgen verpflichtet, an denen sie um sechs Uhr aufgestanden ist und ihren Bleistift in die Hand genommen hat. Ich habe versucht, ein Buch zu schreiben, in dem das Gaspedal ständig durchgetreten bleibt. Nan hat das verstanden, und wenn ich einmal nachließ, hat sie meinen Fuß mit ihrem niedergedrückt und gerufen (als Randnotiz, wie’s bei Redakteuren üblich ist): »Schneller, Steve! Schneller!«

Surendra Patel, dem dieser Roman gewidmet ist, war dreißig Jahre lang ein Freund und eine unfehlbare Quelle des Trosts. Die Nachricht, er sei an Herzversagen gestorben, erreichte mich im Juni 2008. Ich saß auf der Treppe zu meinem Büro und weinte. Als dieser Teil vorüber war, ging ich wieder an die Arbeit. Nichts anderes hätte er erwartet.

Und Sie, treuer Leser? Danke, dass Sie diese Story gelesen haben. Wenn sie für Sie so spannend war wie für mich, sind wir beide gut dran.

S. K.

DAS FLUGZEUG UND DAS WALDMURMELTIER

1

Aus einer Höhe von zweitausend Fuß, wo Claudette Sanders gerade eine Flugstunde nahm, leuchtete die Kleinstadt Chester’s Mill im Morgenlicht, als wäre sie frisch hergestellt und eben erst dorthin verfrachtet worden. Autos rollten die Main Street entlang und schickten Sonnenblitze herauf. Der Turm der Congo Church sah spitz genug aus, um den makellos blauen Himmel zu durchbohren. Die Sonne raste über das Flüsschen Prestile, während die Seneca V es überflog – Flugzeug wie Wasserlauf auf demselben Diagonalkurs über und durch die Stadt.

»Chuck, ich glaube, ich sehe zwei Jungen neben der Peace Bridge! Sie angeln!« Sie lachte vor Entzücken. Die Flugstunden waren ein Geschenk ihres Mannes, des Ersten Stadtverordneten. Obwohl Andy der Überzeugung war, wenn Gott den Menschen zum Fliegen bestimmt hätte, hätte er ihm Flügel gegeben, ließ er sich extrem leicht beeinflussen, und so hatte Claudette schließlich ihren Willen bekommen. Sie hatte das Erlebnis von Anfang an genossen. Aber dies hier war mehr als Vergnügen; es war ein Hochgenuss. Heute hatte sie erstmals verstanden, was das Fliegen so großartig machte. Was das Coole daran war.

Chuck Thompson, ihr Fluglehrer, berührte das Steuerhorn leicht und zeigte dann auf die Instrumente. »Klar doch«, sagte er, »aber wir wollen trotzdem weiter aufpassen, Claudie, okay?«

»Sorry, sorry.«

»Halb so schlimm.« Er war seit vielen Jahren Fluglehrer und mochte Schüler wie Claudie, die begierig waren, etwas Neues zu lernen. Sie würde Andy Sanders vielleicht schon bald eine Menge Geld kosten: Sie liebte die Seneca und hatte schon erklärt, dass sie gern genauso eine besitzen würde, allerdings keine gebrauchte. Eine nagelneue Maschine würde rund eine Million Dollar kosten. Claudie Sanders war zwar nicht eigentlich verwöhnt, aber doch eine Frau mit teuren Vorlieben, die Andy, dieser Glückspilz, anscheinend mühelos befriedigen konnte.

Chuck gefielen auch Tage wie dieser: unbegrenzte Sicht, kein Wind, ideale Schulungsbedingungen. Trotzdem schwankte die Seneca etwas, als sie überkorrigierte.

»Du verlierst deine glücklichen Gedanken. Tu das nicht. Neuer Kurs hundertzwanzig. Wir fliegen die Route 119 entlang. Und geh auf neunhundert runter.«

Das tat sie, und die Seneca war wieder perfekt ausgetrimmt. Chuck entspannte sich.

Sie überflogen Jim Rennies Gebrauchtwagenplatz, dann blieb die Stadt hinter ihnen zurück. Auf beiden Seiten der 119 lagen Felder, standen Bäume in flammenden Herbstfarben. Der kreuzförmige Schatten der Seneca huschte über den Asphalt, wobei eine dunkle Tragfläche über einen Ameisen-Mann mit einem Rucksack hinwegglitt. Der Ameisen-Mann sah auf und winkte. Chuck winkte zurück, obwohl er wusste, dass der Kerl ihn nicht sehen konnte.

»Gottverdammt schöner Tag!«, rief Claudie aus. Chuck lachte.

Sie hatten noch vierzig Sekunden zu leben.

2

Das Waldmurmeltier trottete auf dem Randstreifen der Route 119 in Richtung Chester’s Mill, obwohl die Stadt noch eineinhalb Meilen entfernt lag und selbst Jim Rennie’s Used Cars nicht mehr war als ordentlich aufgereihte blitzende Reflexionen an der Stelle, wo die Straße nach links abbog. Das Murmeltier plante (soweit Waldmurmeltiere überhaupt etwas planen), schon lange vorher wieder in den Wald abzubiegen. Vorläufig jedoch war der Randstreifen in Ordnung. Es war weiter von seinem Bau entfernt als beabsichtigt, aber die Sonne auf seinem Rücken war warm, und die frischen Gerüche in seiner Nase erzeugten rudimentäre Vorstellungen – keine echten Bilder – in seinem Gehirn.

Es machte halt und richtete sich kurz auf den Hinterläufen auf. Seine Augen waren nicht mehr so gut wie früher, aber gut genug, um es einen Menschen erkennen zu lassen, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite näher kam.

Das Murmeltier beschloss, trotzdem noch etwas weiter zu gehen. Menschen ließen manchmal gute Sachen zu fressen liegen.

Es war ein alter Bursche, ein fetter alter Bursche. Früher hatte es oft Mülltonnen geplündert, daher kannte es den Weg zur Müllhalde von Chester’s Mill so gut wie die drei Gänge seines Baus; auf der Müllhalde gab es immer gute Sachen zu fressen.

Der Mann blieb stehen. Das Murmeltier erkannte, dass es entdeckt worden war. Gleich vorne rechts lag eine umgestürzte Birke. Darunter würde es sich verstecken, bis der Mann vorbei war, und sich dann nach leckeren …

So weit kam das Murmeltier in seinen Gedanken – und mit noch drei Watschelschritten –, obwohl es entzweigeschnitten worden war. Dann fiel es am Straßenrand auseinander. Blut spritzte und pumpte; Eingeweide quollen in den Staub; seine Hinterläufe traten zweimal zuckend aus, dann bewegten sie sich nicht mehr.

Sein letzter Gedanke vor der Dunkelheit, in der wir alle, Murmeltiere wie Menschen, versinken: Was ist passiert?

3

Die Anzeigen aller Instrumente fielen auf null zurück. »Was zum Teufel?«, sagte Claudie Sanders. Sie wandte sich Chuck zu. Ihre Augen waren geweitet, aber in ihnen stand keine Panik, nur Verwirrung. Für Panik war keine Zeit.

Chuck sah die Instrumente nicht mehr. Stattdessen sah er, wie der Bug der Seneca eingedrückt wurde. Dann sah er beide Luftschrauben zerschellen.

Für weitere Beobachtungen war keine Zeit. Oder für sonst irgendetwas. Die Seneca explodierte über der Route 119 und ließ Feuer auf die nähere Umgebung herabregnen. Und Leichenteile. Ein rauchender Unterarm – Claudettes – landete mit dumpfem Aufprall neben dem sauber halbierten Waldmurmeltier.

Das war am 21. Oktober.

BARBIE

1

Barbie begann sich besser zu fühlen, sobald er an der Food City vorbeiging und die Stadtmitte hinter sich ließ. Als er das Schild mit der Aufschrift SIE VERLASSEN DIE GEMEINDE CHESTER’S MILL KOMMEN SIE RECHT BALD WIEDER! las, fühlte er sich noch besser. Er war froh, unterwegs zu sein, und das nicht nur, weil er in The Mill eine ziemlich gute Abreibung bezogen hatte. Es war das gute alte Weiterziehen, das ihn aufgeheitert hatte. Er hatte sich mindestens zwei Wochen lang unter seiner eigenen kleinen grauen Wolke bewegt, bevor er auf dem Parkplatz des Dipper’s vermöbelt worden war.

»Eigentlich bin ich nur ein Vagabund«, sagte er und lachte. »Ein Vagabund auf dem Weg zum Big Sky.« Und warum zum Teufel nicht? Der weite Himmel: Montana! Oder Wyoming. Die gottverdammte Rapid City, South Dakota. Überall, nur nicht hier.

Er hörte einen näher kommenden Motor, drehte sich um – ging jetzt rückwärts – und reckte den Daumen hoch. Was er sah, war eine wundervolle Kombination: ein schmutziger alter Ford Pick-up mit einer kecken jungen Blondine am Steuer. Aschblond, sein liebstes Blond von allen. Barbie setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. Das Mädchen am Steuer lächelte ebenfalls, und, o mein Gott, wenn sie auch nur einen Tick über neunzehn war, würde er seinen letzten Lohnscheck aus dem Sweetbriar Rose verspeisen. Zweifellos zu jung für einen Gentleman von dreißig Sommern, aber völlig straßentauglich, wie man in seiner getreidegenährten Jugend in Iowa gesagt hatte.

Der Pick-up wurde langsamer, so dass Barbie darauf zuging … und beschleunigte dann wieder. Im Vorbeifahren bedachte sie ihn mit einem weiteren kurzen Blick. Das Lächeln stand noch auf ihrem Gesicht, hatte sich aber in ein bedauerndes verwandelt. Ich hatte einen kurzen Hirnkrampf, besagte das Lächeln, aber jetzt hat die Vernunft wieder die Oberhand.

Und Barbie glaubte, sie vom Sehen zu kennen, obwohl sich das nicht mit Bestimmtheit sagen ließ. Sonntagmorgens war das Sweetbriar immer ein Tollhaus. Aber er glaubte, sie mit einem älteren Mann, vermutlich ihrem Dad, gesehen zu haben, beide mit dem Gesicht in einem Teil der Sunday Times vergraben. Hätte er sie im Vorbeifahren ansprechen können, hätte Barbie gesagt: Wenn Sie mir vertraut haben, dass ich Ihre Würstchen und Eier anständig brate, können Sie mir bestimmt ein paar Meilen weit auf dem Beifahrersitz trauen.

Aber das konnte er natürlich nicht, deshalb hob er nur die Hand zu einem kleinen Nichts-für-ungut-Gruß. Die Bremsleuchten des Trucks flackerten, als überlegte sie noch immer. Dann erloschen sie, und der Ford beschleunigte weiter.

In den folgenden Tagen, während die Zustände in The Mill sich immer mehr verschlimmerten, würde er diesen kleinen Augenblick in der warmen Oktobersonne wieder und wieder vor sich ablaufen lassen. Vor allem dachte er an dieses zweite Aufflackern der Bremsleuchten … als hätte sie ihn schließlich doch erkannt. Das ist doch der Koch aus dem Sweetbriar Rose. Vielleicht sollte ich …

Aber vielleicht war ein Abgrund, in den schon bessere Männer als er gestürzt waren. Hätte sie sich die Sache anders überlegt, wäre sein ganzes späteres Leben anders verlaufen. Sie musste es nämlich nach draußen geschafft haben; er sah die kecke Blondine oder den schmutzigen alten Ford F-150 nie wieder. Sie musste die Stadtgrenze von Chester’s Mill in den letzten Minuten (oder sogar Sekunden) überquert haben, bevor sie abgeriegelt wurde. Mit ihr zusammen wäre er draußen und in Sicherheit gewesen.

Es sei denn, dachte er später, wenn er nicht schlafen konnte, das Anhalten, um mich aufzunehmen, hätte eben lange genug gedauert, um zu lang zu sein. Dann wäre ich vermutlich trotzdem nicht hier. Und sie auch nicht. Weil man dort draußen auf der 119 fünfzig fahren darf. Und mit fünfzig Meilen in der Stunde …

An dieser Stelle würde er in Zukunft immer an das Flugzeug denken.

2

Die Maschine flog kurz hinter Jim Rennie’s Used Cars – eine Firma, die Barbie nicht mochte – über ihn hinweg. Nicht dass er dort ein Montagsauto gekauft hätte (er hatte seit über einem Jahr kein Auto mehr, sein letztes hatte er in Punta Gorda, Florida, verkauft). Aber Jim Rennie jr. war einer der Kerle bei dem nächtlichen Überfall auf dem Parkplatz des Dipper’s gewesen. Ein College-Bengel, der etwas zu beweisen hatte, und was er nicht allein beweisen konnte, bewies er als Teil einer Gruppe. Nach Barbies Erfahrung war das die Art, wie die Jim juniors dieser Welt Geschäfte machten.

Aber das lag jetzt hinter ihm. Jim Rennie’s, Jim junior, das Sweetbriar Rose (Gebackene Muscheln, unsere Spezialität! Immer »ganz«, niemals »Streifen«), Angie McCain. Andy Sanders. Die ganze Chose, auch das Dipper’s (Abreibungen auf dem Parkplatz, unsere Spezialität!). Alles hinter ihm. Und vor ihm? Nun, die Tore Amerikas. Goodbye Smalltown Maine, hello Big Sky.

Oder vielleicht, zum Teufel, würde er wieder nach Süden ziehen. Auch wenn dieser Tag noch so schön war, lauerte ein, zwei Kalenderblätter weiter der Winter. Vielleicht war der Süden eine gute Idee. Er war noch nie in Muscle Shoals gewesen, aber der Klang dieses Namens gefiel ihm. Gottverdammte Poesie, das war Muscle Shoals, und dieser Gedanke heiterte ihn so auf, dass er den Kopf hob, als er das Sportflugzeug kommen hörte, und ihm fröhlich zuwinkte. Er hoffte auf ein Wackeln mit den Tragflächen als Reaktion, bekam aber keines, obwohl die Maschine tief und langsam flog. Barbie tippte auf Touristen – bei all dem flammenden Herbstlaub war heute ihr Tag – oder vielleicht auf einen jungen Flugschüler, der zu angestrengt Kurs und Höhe hielt, um sich mit Erdlingen wie Barbie abzugeben. Aber er wünschte ihnen alles Gute. Egal, ob Touristen oder ein Junge, der noch mindestens sechs Wochen bis zu seinem ersten Alleinflug vor sich hatte, Barbie wünschte ihnen von Herzen nur das Beste. Dies war ein guter Tag, und jeder Schritt von Chester’s Mill weg machte ihn besser. Zu viele Arschlöcher in The Mill, außerdem: Reisen war gut für die Seele.

Vielleicht sollte das Weiterziehen im Oktober zum Gesetz werden, dachte er. Neues nationales Motto: JEDER GEHT, WENN DER OKTOBER KOMMT. Man bekommt seine Packerlaubnis im August, kündigt Mitte September zum Monatsende, dann …

Er blieb stehen. Nicht allzu weit vor ihm, auf der anderen Seite der Asphaltstraße, war ein Waldmurmeltier. Ein verdammt fettes. Gleichzeitig geschmeidig und frech. Statt sich eilig ins hohe Gras zu flüchten, kam es weiter auf ihn zu. Vor ihm lag eine umgestürzte Birke mit ihrer Krone auf dem Randstreifen, jede Wette, dass das Murmeltier sich gleich darunter verkroch, bis der große böse Zweibeiner vorbei war. Andernfalls würden sie sich wie zwei Vagabunden passieren, der vierbeinige unterwegs nach Norden, der zweibeinige nach Süden. Barbie hoffte, dass es dazu kommen würde. Das wäre cool.

Diese Gedanken gingen Barbie sekundenschnell durch den Kopf; der Schatten des Flugzeugs war noch zwischen ihm und dem Murmeltier: ein schwarzes Kreuz, das den Highway entlanghuschte. Dann passierten zwei Dinge fast gleichzeitig.

Als Erstes etwas mit dem Murmeltier. Eben noch ganz, lag es plötzlich in zwei Teilen da. Beide hielten mitten in der Bewegung inne, sein schlagartig erschlafftes Kiefergelenk ließ sein Maul offen stehen. Das da sah aus, als wäre das Fallbeil einer unsichtbaren Guillotine herabgesaust. Und noch während er das dachte, explodierte direkt über dem halbierten Murmeltier das kleine Sportflugzeug.

3

Barbie blickte nach oben. Vom Himmel fiel eine zerquetschte Bizarro-World-Version des hübschen Sportflugzeugs, das Sekunden zuvor über ihn hinweggeflogen war. In der Luft darüber drehten sich orangerote Feuerzungen, eine Blüte, die sich weiter und weiter öffnete, eine Amerikanische Katastrophen-Rose. Rauch quoll aus der abstürzenden Maschine.

Etwas schepperte auf die Straße und ließ Asphaltbrocken hochspritzen, bevor es nach links ins hohe Gras kreiselte. Ein Propellerblatt.

Wäre es statt ins Gras in meine Richtung geflogen …

Für einen kurzen Moment sah sich Barbie entzweigeteilt – wie das unglückliche Murmeltier –, dann wandte er sich zur Flucht. Er schrie, als erneut etwas vor ihm aufschlug. Doch statt eines weiteren Propellerblatts war es ein in Jeansstoff gekleidetes Männerbein. Blut war keins zu sehen, aber die Seitennaht war weit aufgeplatzt und ließ weißes Fleisch und drahtige schwarze Haare sehen.

Der Fuß fehlte.

Barbie hatte das Gefühl, in Zeitlupe zu rennen. Er sah einen seiner eigenen Füße, der in einem zerschrammten alten Arbeitsstiefel steckte, ausschreiten und den Boden berühren. Dann verschwand er hinter ihm, während sein anderer Fuß ausschritt. Alles langsam, sehr langsam. Wie eine Zeitlupenwiederholung in einer Baseball-Übertragung, wenn ein Spieler versucht, die zweite base zu »stehlen«.

Hinter ihm erhob sich ein gewaltiges hohles Dröhnen, gefolgt vom Knall einer Sekundärexplosion, gefolgt von einer Hitzewelle, die ihn von den Fersen bis zum Genick traf und ihn wie eine warme Hand vorwärtsschob. Dann wurden alle Gedanken weggeblasen, bis nur mehr der animalische Selbsterhaltungstrieb seines Körpers übrig war.

Dale Barbara rannte um sein Leben.

4

Nach etwa hundert Metern die Straße entlang wurde die große warme Hand zu einer Geisterhand, obwohl der von einer leichten Brise herangetragene Gestank von brennendem Benzin – dazu ein süßerer Geruch, der von einer Mischung aus schmelzendem Kunststoff und verbranntem Fleisch stammen musste – sehr intensiv war. Barbie rannte weitere sechzig Meter, bevor er stehen blieb und sich umsah. Er keuchte lautstark. Er glaubte nicht, dass das vom Rennen kam; er rauchte nicht und war gut in Form (nun … passabel; seine rechten Rippen schmerzten nach der Abreibung auf dem Parkplatz des Dipper’s noch immer). Stattdessen führte er es auf Schrecken und Verzweiflung zurück. Er hätte von abstürzenden Flugzeugtrümmern – nicht nur von einem weggeflogenen Propellerblatt – erschlagen worden oder darunter verbrannt sein können. Reiner Dusel hatte ihn davor bewahrt.

Dann sah er etwas, was sein hektisches Keuchen mitten im Atemzug stoppte. Er richtete sich auf und betrachtete die Unfallstelle genauer. Die Straße war mit Trümmern übersät – es war wirklich ein Wunder, dass er nicht erschlagen oder wenigstens verletzt worden war. Eine verdrehte Tragfläche lag rechts vor ihm; die andere Tragfläche ragte aus dem ungemähten Timotheusgras links, nicht weit von dem wild gewordenen Propellerblatt entfernt. Außer dem Bein in Jeansstoff konnte er eine abgetrennte Hand und einen Arm erkennen. Die Hand schien auf einen Kopf zu deuten, als wollte sie sagen: Das ist meiner. Dem Haar nach ein Frauenkopf. Die entlang der Straße verlaufende Hochspannungsleitung war zerfetzt. Ihre Drähte lagen knisternd und zuckend auf dem Randstreifen.

Hinter Kopf und Arm lag die verdrehte Röhre des Flugzeugrumpfs. Barbie konnte NJ3 lesen. Falls das Kennzeichen länger gewesen war, fehlte der Rest.

Aber nichts davon hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt und ihm den Atem geraubt. Die Katastrophen-Rose war inzwischen verschwunden, aber es gab noch Feuer in der Luft. Bestimmt brennender Treibstoff. Aber …

Aber er rann die Luft herab wie eine dünne Schicht. Dahinter konnte Barbie eine für Maine typische Landschaft sehen – noch friedlich, noch nicht reagierend, aber trotzdem in Bewegung. Flimmernd wie die Luft über einem Müllverbrennungsofen oder einem offenen Feuer. Als hätte jemand Benzin auf eine Glasscheibe gekippt und dann angezündet.

Geradezu hypnotisiert – so fühlte es sich jedenfalls an – ging Barbie zurück zum Absturzort.

5

Sein erster Impuls war, die Leichenteile zu bedecken, aber es waren zu viele. Jetzt entdeckte er ein weiteres Bein (dieses in grünem Gabardine) und einen weiblichen Torso, der in Wacholderbüschen hing. Er konnte sein Hemd ausziehen und damit den Frauenkopf verhüllen, aber was dann? Nun, er hatte noch zwei Reservehemden in seinem Rucksack …

Jetzt kam ein Fahrzeug aus Richtung Motton, der nächsten Kleinstadt im Süden. Ein kleinerer Geländewagen, der ziemlich raste. Jemand musste den Absturz gehört oder den Blitz am Himmel gesehen haben. Hilfe. Gott sei Dank Hilfe. Barbie stand breitbeinig über der weißen Linie, weit genug weg von dem Feuer, das weiter auf diese unheimliche Wasser-auf-einer-Fensterscheibe-Art vom Himmel herablief, und schwenkte die Arme X-förmig über dem Kopf.

Der Fahrer hupte kurz, um zu zeigen, dass er ihn gesehen hatte, und bremste dann so scharf, dass er eine mehr als zehn Meter lange Bremsspur hinterließ. Der Wagen hatte noch gar nicht richtig angehalten, da war er schon aus seinem kleinen grünen Toyota heraus: ein großer, schlaksiger Kerl mit langer grauer Mähne, die unter einer Baseballmütze der Sea Dogs hervorquoll. Er rannte auf die andere Straßenseite, um dem herablaufenden Feuer zu entgehen.

»Was ist passiert?«, rief er. »Scheiße, was …«

Dann prallte er gegen etwas. Mit voller Wucht. Barbie sah, wie die Nase des Kerls seitlich verbogen wurde, als sie brach. Aus Mund, Nase und Stirn blutend, prallte der Mann von dem Nichts zurück. Er fiel auf den Rücken, rappelte sich aber gleich sitzend auf. Er starrte Barbie mit benommen erstauntem Blick an, während das Blut über die Brust seines Arbeitshemds strömte, und Barbie starrte zurück.