KAPITEL 4
Annabelle Conroy streckte die langen Beine und betrachtete die Landschaft, die am Fenster des Amtrak-Acela-Waggons vorüberzog. Sie nahm fast nie die Eisenbahn; im Normalfall reiste sie in achttausend Meter Höhe, naschte Erdnüsse, schlürfte gepanschte Sieben-Dollar-Drinks und brütete den nächsten Coup aus. Heute nahm sie den Zug, weil ihr Begleiter, der eins achtzig große Milton Farb, keinen Fuß in ein Vehikel setzte, das die Fähigkeit und Absicht hatte, vom Boden abzuheben.
»Ein Flugzeug ist das sicherste Reisemittel, Milton«, hatte Annabelle ihn aufgeklärt.
»Nicht, wenn es sich in einer Spirale abwärts schraubt. Dann beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass man ins Gras beißt, satte hundert Prozent. Und diese Aussicht behagt mir überhaupt nicht.«
Mit Genies ließ sich nur schwer diskutieren, hatte Annabelle herausgefunden. Dessen ungeachtet hatte Milton, der Mann mit dem fotografischen Gedächtnis und dem blühenden Talent, Zeitgenossen auf geradezu brillante Weise anzulügen, hervorragende Arbeit geleistet. Nach einer erfolgreichen Aktion waren sie aus Boston abgereist. Ein bestimmter Gegenstand befand sich wieder da, wo er sein sollte, und niemand war auf die Idee gekommen, die Polizei zu rufen. In Annabelles Welt höchst riskanter Gaunereien war so etwas beinahe schon Perfektion.
Als der einzige Stromlinienzug der Amtrak auf dem verschlungenen Weg zur Ostküste dreißig Minuten später in einen Bahnhof rollte, blickte Annabelle aus dem Fenster und erschauderte unwillkürlich, als der Zugführer die Ankunft in Newark/New Jersey bekannt gab. Jersey war Jerry-Bagger-Land, doch zum Glück hielt der Acela nicht in Atlantic City, wo der brutale Kasinokönig seinen Stammsitz hatte. Andernfalls hätte Annabelle den Zug nicht genommen.
Außerdem hatte sie genug Verstand, um zu wissen, dass Jerry Bagger allen Grund hatte, Atlantic City zu verlassen und ihr nachzujagen, ganz gleich, wo sie steckte. Wenn man einen Verrückten wie Bagger um 40 Millionen Dollar beschiss, musste man damit rechnen, dass er keine Kosten und Mühen scheute, einen in die Hände zu bekommen, um ihm tausend Fetzen Fleisch gleichzeitig aus dem Leib zu reißen.
Annabelle sah Milton an, der mit seinem jungenhaften Gesicht und längeren Haaren einem Achtzehnjährigen glich. In Wirklichkeit ging der Mann auf die fünfzig zu. Er beschäftigte sich an seinem Notebook und stellte Berechnungen an, die weder Annabelle noch sonst jemand begreifen konnte, der unter dem geistigen Niveau eines Genies blieb.
Gelangweilt stand Annabelle auf, wechselte hinüber in den Bordimbiss und kaufte ein Bier sowie eine Tüte Chips. Als sie wieder gehen wollte, sah sie auf einem Tischchen eine herrenlose New York Times liegen. Sie setzte sich, trank das Bier und aß Chips, während sie gemächlich die Seiten durchblätterte und nach irgendeiner Information suchte, die der Auslöser zu ihrem nächsten Abenteuer sein könnte. Sobald sie in Washington eintraf, musste sie wichtige Entscheidungen treffen, darunter die, ob sie im Lande bleiben oder ins Ausland verschwinden sollte. Sie wusste genau, wie die Antwort lauten müsste. Derzeit wäre eine unbekannte Insel im Südpazifik der richtige Aufenthaltsort für sie; dort ließe sich der Tsunami namens Jerry Bagger in aller Ruhe aussitzen. Bagger war Mittsechziger, und da sie, Annabelle, eine solche Riesensumme bei ihm abgezockt hatte, war sein Blutdruck wahrscheinlich gewaltig in die Höhe geschnellt. Mit ein bisschen Glück gab er demnächst bei einem Herzinfarkt den Löffel ab, und dann wäre Annabelle wieder frei wie ein Vogel. Aber sie durfte nicht darauf bauen, dass es so kam: Bei jemandem wie Jerry musste man stets damit rechnen, dass einen das Glück verließ.
Die Entscheidung hätte ihr nicht schwerfallen dürfen, und doch hatte sie ihre Probleme damit. Annabelle war mit einem sonderbaren Grüppchen von Männern vertraut geworden – zumindest so vertraut, wie jemand ihres Schlages es sich erlaubte –, das sich Camel Club nannte. Beim Gedanken an dieses Quartett schmunzelte sie vor sich hin. Einer der Männer trug den Namen Caleb Shaw und arbeitete in der Kongressbibliothek. Caleb erinnerte sie stark an den feigen Löwen im Zauberer von Oz. Plötzlich aber schwand das Lächeln aus ihrem Gesicht. Oliver Stone, der Anführer dieses kleinen Klüngels von Außenseitern, war ein gänzlich anderes Kaliber. Er musste eine höllische Vergangenheit hinter sich haben, eine Lebensgeschichte, die sogar Annabelles Werdegang übertraf, der sehr bewegt und ungewöhnlich war, zumal für eine Sechsunddreißigjährige. Sie bezweifelte, dass sie je wieder einem Mann wie ihm begegnen würde.
Annabelle hob den Blick zu einem jungen Mann, der eben an ihr vorüberging und sich keine Mühe gab, seine Bewunderung für ihre hochgewachsene, kurvenreiche Gestalt, die langen blonden Haare und das hübsche Gesicht zu verhehlen, dessen Attraktivität auch nicht von der kleinen, fischförmigen Narbe unter dem Auge beeinträchtigt wurde, ein Andenken an ihren Vater Paddy Conroy, den besten Kleinbetrüger seiner Generation und – jedenfalls nach dem Urteil seines einzigen Kinds – miesesten Vater der Welt.
»Hallo«, sagte der junge Mann. Mit seiner schlanken, sportlichen Figur, dem zerzausten Haar und den teuren Klamotten, die allerdings schon vom Design her billig aussahen, hätte der Bursche einer Reklame von Abercrombie & Fitch entsprungen sein können. Annabelle durchschaute ihn sofort als privilegierten College-Jungen mit weit mehr Geld, als ihm guttat, und dementsprechendem unerträglich schnöselhaften Benehmen.
»Hallo«, antwortete sie und blickte wieder in die Zeitung.
»Wohin fahren Sie?«, fragte er und setzte sich neben sie.
»Nicht dahin, wohin Sie fahren.«
»Aber Sie wissen doch gar nicht, wohin ich fahre«, entgegnete er verschmitzt.
»Genau das ist der springende Punkt, oder?«
Er kapierte gar nicht, was sie meinte, und es interessierte ihn auch nicht. »Ich bin Student. In Harvard.«
»Oh! Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Aber ich stamme aus Philly. An der Main Line. Meine Eltern haben dort ein Anwesen.«
»Hui, hui«, gab Annabelle eindeutig desinteressiert zur Antwort. »Es ist nett, Eltern mit einem Anwesen zu haben.«
»Ja, vor allem, wenn die Eltern die halbe Zeit außer Landes sind. Ich gebe heute Abend eine kleine, aber wilde Party. Haben Sie Lust zu kommen?«
Annabelle spürte, wie der Blick des Bürschchens sie von oben bis unten musterte. Na gut. Also ist es wieder mal so weit. Sie wusste, dass es klüger wäre, sich zusammenzureißen, doch bei solchen Typen konnte sie sich einfach nicht zurückhalten.
Sie faltete die Zeitung zusammen. »Keine Ahnung. Wenn Sie wild sagen, wie wild meinen Sie?«
»Wie wild möchten Sie’s denn haben?«
Annabelle sah dem Jungen an, dass ihm das Wort »Schätzchen« auf der Zunge lag, doch er verkniff es sich; auf jeden Fall jetzt noch, am Anfang der Konversation.
»Ich erlebe ungern Enttäuschungen.«
Er berührte sie am Arm. »Ich glaube nicht, dass Sie enttäuscht sein werden.«
Sie lächelte und tätschelte ihm die Hand. »Wovon reden wir eigentlich? Schnaps und Sex?«
»Versteht sich von selbst.« Er drückte ihren Arm. »Übrigens, ich reise Erster Klasse. Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?«
»Geht da noch mehr ab außer Schnaps und Sex?«
»Sie wüssten vorher gerne Einzelheiten?«
»Auf die Details kommt es nun mal an, äh …«
»Steve. Steve Brinkman.« Er lachte gekünstelt auf. »Einer von den Brinkmans. Mein Vater ist Vorstandsvorsitzender einer der größten Banken des Landes.«
»Damit Sie Bescheid wissen, Steve, sollte es auf Ihrer Party bloß Coke geben – und ich meine nicht den Softdrink –, wäre ich bitter enttäuscht.«
»Auf was stehen Sie denn? Ich kann es garantiert besorgen. Ich habe Beziehungen.«
»Goofballs, Dollys, Hog, dazu anständiges Zubehör. Bloß keine Limonade.« Mit dieser Einschränkung meinte sie Drogen minderwertiger Qualität. »Limonade zieht mich immer runter.«
»Wow, Sie kennen sich ja gut aus«, sagte Steve und ließ den Blick nervös über die anderen Fahrgäste im Bordimbiss streifen.
»Schon mal auf Drachenjagd gewesen, Steve?«, fragte Annabelle.
»Äh … nein.«
»Das ist ’ne irre Methode, sich Heroin reinzuziehen. Falls es einen nicht umbringt, geht man auf den tollsten Trip der Welt.«
Er nahm die Hand von ihrem Arm. »Klingt nicht besonders verlockend.«
»Wie alt sind Sie?«
»Zwanzig. Warum?«
»Eigentlich suche ich mir lieber jüngere Männer. Ich finde, wenn ein Typ achtzehn wird, hat er Saft und Kraft schon zum Großteil verspritzt. Kommen auch Minderjährige zu der Party?«
Steve stand auf. »Vielleicht war mein Vorschlag doch nicht so toll.«
»Ach, ich bin nicht wählerisch. Es dürfen gern auch Mädels sein. Ich meine, wen stört es, wenn man vom Crystal Meth nicht mehr richtig aus der Wäsche gucken kann?«
»Ich glaube, wir lassen es lieber gut sein«, sagte Steve ernüchtert. »Tja, dann will ich mal wieder …«
»Eins noch.« Annabelle zückte die Damenbrieftasche und zeigte einen gefälschten Dienstausweis vor. »Kennen Sie das Kürzel DEA?«, fragte sie halblaut. »Drogenfahndung?«
»O Gott!«
»Dank der Angaben, die Sie mir über das Anwesen der Brinkmans an der Main Line gemacht haben, fällt es meinem Einsatzteam bestimmt nicht schwer, diesen Wohnsitz zu finden. Das heißt, sollten Sie noch immer die Absicht verfolgen, Ihre geile Party zu schmeißen.«
»Scheiße … oh, bitte, ich schwör’s bei Gott, ich hab bloß …« Er hob eine Hand, um sich an den Kopf zu fassen. Annabelle packte sie und quetschte ihm die Finger zusammen.
»Studier in Harvard, Steve. Sobald du fertig bist, kannst du dir von mir aus nach Lust und Laune das Leben versauen. Aber sei in Zukunft vorsichtig, wenn du in der Eisenbahn fremde Frauen anbaggerst.«
Annabelle sah ihm nach, während er durch den Gang hastete und endlich wohlbehalten in der Ersten Klasse verschwand. Sie leerte das Bier und las gelassen die letzten beiden Seiten der Zeitung. Dann war plötzlich sie diejenige, der das Blut aus dem Gesicht wich.
In einer Villa an der portugiesischen Küste war ein halbtot geprügelter Amerikaner aufgefunden worden, den man als Anthony Wallace identifiziert hatte. Drei weitere Personen hatte man ermordet in der Villa aufgefunden, die an einem einsamen Strandabschnitt lag. Man hielt Raub für das Motiv. Zwar lebte Wallace noch, befand sich aufgrund schwerer Hirnverletzungen jedoch im Koma, und die Ärzte hatten keine große Hoffnung, dass er durchkam.
Annabelle riss den Bericht aus der Zeitung und kehrte unsicheren Schrittes an ihren Platz zurück.
Jerry Bagger hatte Tony erwischt, einen ihrer Komplizen bei der Das-Große-Geld-Nummer! In einer Villa? Annabelle hatte Tony ausdrücklich eingeschärft, sich bedeckt zu halten und nicht mit Geld um sich zu werfen. Der Trottel hatte nicht auf sie gehört, und jetzt war er hirntot. Normalerweise ließ Jerry keine Zeugen am Leben.
Was hatte Jerry aus Tony herausprügeln können? Annabelle kannte die Antwort auf diese Frage. Alles.
Milton hörte auf, die Tasten des Notebooks zu quälen, und hob den Blick zu Annabelles Gesicht, als sie zurückkam. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Sie sagte nichts. Während der Zug in Richtung D. C. jagte, schaute sie wieder aus dem Fenster, sah die Landschaft von Jersey aber nicht mehr. All ihre Zuversicht war verflogen, all ihre Gedanken kreisten nur noch um die drastischen Einzelheiten des qualvollen Todes, den Jerry Bagger für sie plante.