Inhalt

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Prolog
  6. 1
  7. 2
  8. 3
  9. 4
  10. 5
  11. 6
  12. 7
  13. 8
  14. 9
  15. 10
  16. 11
  17. 12
  18. 13
  19. 14
  20. 15
  21. 16
  22. 17
  23. 18
  24. 19
  25. 20
  26. 21
  27. 22
  28. 23
  29. 24
  30. 25
  31. 26
  32. 27
  33. 28
  34. 29
  35. 30
  36. 31
  37. 32
  38. 33
  39. Anmerkungen des Autors

Über den Autor

Peter Millar, ein vielfach ausgezeichneter Journalist, wurde in Nordirland geboren und ist in Oxford aufgewachsen. Er schreibt u. a. für die Sunday Times und den Evening Standard und war Korrespondent in Berlin (zur Zeit des Mauerfalls), Moskau, Paris und Brüssel. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in London und in der Nähe von Oxford.

Peter Millar

Projekt Aladin

Thriller

Aus dem Englischen von Rainer Schumacher

BASTEI ENTERTAINMENT

Prolog

Marseille, 19. November

Rauch. Dicker, stickiger, beißender Rauch. Und irgendwo mittendrin: Flammen. Pascale Neveu konnte sie spüren, aber nicht sehen. Tatsächlich konnte sie gar nichts sehen. Es fühlte sich an, als wären ihre Augenlider aneinandergeklebt. Nein, nicht geklebt … miteinander verschweißt, Haut und Fleisch verbrannt, sodass sie unwiderruflich verschmolzen waren. Und das war eine Gnade, denn so waren wenigstens ihre Augäpfel vor der Hitze und dem beißenden Rauch geschützt – ganz zu schweigen davon, dass ihr der Anblick des Blutbads erspart blieb, von dem sie wusste, dass sie sich mittendrin befand.

Doch im Augenblick zählten nur die Flammen. Das dringende Verlangen, nicht versehentlich in ihre Richtung zu stolpern. Das Bedürfnis, von ihnen wegzukommen. So schnell wie möglich. Bevor sie sich in ihre Richtung bewegten. Oder bevor der Feuersturm kam. Pascale wusste, dass sich Brand so entwickeln konnte. Das hatten sie im Training demonstriert, als sie ganze Stockwerke von alten, abbruchreifen Häusern im 27. Bezirk von Paris angezündet und Wind hineingeblasen hatten, sodass die Flammen binnen Sekunden vom einen Ende zum anderen geschossen waren. Wellen von gelbem Feuer hatten alles auf ihrem Weg verschlungen.

Konnte das auch hier geschehen? Pascale wusste es nicht, aber sie sah keinen Grund, der dagegen sprach. Der beißende Gestank musste von verbranntem Gummi stammen. Der andere Geruch, der in der Luft hing und an einen Turnschuh erinnerte, den man zu verbrannten Würsten auf einen Grill geworfen hatte … nun, über den dachte sie am besten gar nicht nach.

Vorsichtig setzte Pascale einen Fuß vor den anderen und ging in die Richtung, die von der zunehmenden Hitze wegzuführen schien. Sie geriet ins Stolpern, und ihre Hände trafen auf etwas, das weich und hart zugleich war. Stoff, vielleicht Schaf- oder grobe Baumwolle – jedenfalls etwas mit weicher Schale und hartem Kern, wie ein verkleideter Treppenpfosten oder eine Stuhllehne. Oder, und der Gedanke drängte sich brutal in den Vordergrund, ein Arm.

Ein Arm, der, als Pascale sich weiter vortastete, in etwas Spitzes, Weiches und auch Warmes und Feuchtes auslief. Da tat sie etwas, wovon sie sich geschworen hatte, es nie zu tun, sollte sie – Gott verhüte – je in eine Situation wie diese geraten. Es war etwas, das man ihr während ihrer gesamten Ausbildung versucht hatte auszutreiben. Sie riss den Mund auf und schrie aus Leibeskräften: »Aidez-moi, au nom de Dieu, AIDEZ-MOI!« Doch schon als sie den Mund öffnete, wusste sie, dass es zu spät war.

*

Schon immer hatten sie geglaubt, dass so etwas passieren könnte, dass es passieren würde. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Eine Frage der Zeit und der Informationen. Informationen, über die Pascale Neveu schlussendlich gestolpert war. Und nun? Konnte es wirklich sein, dass alles zu spät war?

Um 11.00 Uhr war Pascale von der schäbigen Wohnung in einer der ärmlichen Vorstädte Marseilles aufgebrochen, die sie notgedrungen ›Heimat‹ nannte. Wie immer hatte sie auf dem Weg ihre Identität gewechselt, sich neu erfunden. Mit jedem Schritt war sie französischer geworden – oder zumindest das, was Jean Marie LePen und seine Front National als ›französisch‹ empfanden. Als sie schließlich St. Charles erreichte, um dort auf den TGV und ihren Boss zu warten – Commissaire Thomson von der neu gestalteten Direction Centrale du Renseignement Intérieur, kurz DCRI, dem französischen Gegenstück zum amerikanischen FBI –, sah sie wie jedes andere zwanzigjährige Flittchen aus, das auf ihren Sugar Daddy aus Paris wartete. Zwar war das der letzte Eindruck, den sie erwecken wollte, aber er funktionierte. Allein schon aus Höflichkeit sahen die Menschen weg, wenn sie mit ihrem Boss unterwegs war.

Der Zug wurde für 12.15 Uhr erwartet – falls der TGV pünktlich war, und das war er für gewöhnlich. Die Einführung des Hochgeschwindigkeitszuges hatte die Reisezeit von der Hauptstadt nach Marseille auf knapp drei Stunden verkürzt. Das bedeutete, dass Monsieur le Commissaire noch genug Zeit gehabt hatte, sein Frühstück am Gare de Lyon zu genießen, bevor er in den Zug nach Marseille gestiegen war, wo er sich dann von seiner Agentin vor Ort – also Pascale – zum Mittagessen ausführen lassen würde. Das verbessere die Beziehungen zwischen der Zentrale und den Feldagenten, hatte Thomson immer wieder erklärt. Für Pascale erhöhte das jedoch nur die Spesenrechnungen, die der Mann aus Paris im wahrsten Sinn des Wortes ›verkonsumierte‹. Bei genauerer Betrachtung hätte der Rechnungshof denn auch gesehen, wofür ein Großteil der Spesen draufging: für großzügige Mengen exquisiter, aber auch hoffnungslos überteuerter Bouillabaisse im Le Ruhl. Aber Pascale freute sich immer wieder auf die wenigen Minuten, da sie zumindest dem Anschein nach eine ganz normale französische Frau sein konnte. Mittlerweile war sie seit fast zwei Jahren hier stationiert, eine lange Zeit, die sie im Dreck der Einwandererviertel von Marseille verbracht hatte. Wenn sie einkaufen ging, war sie in eine Burka gehüllt, und sie nahm an schier unendlich vielen Gebetsversammlungen teil und hörte zu – immer hörte sie nur zu und suchte in dem endlosen Gerede nach dem einen Körnchen Gold, das die gesamte Operation rechtfertigen würde.

Und nun hatte sie es gefunden, und es war mehr als nur ein Goldkorn. Es war ein ›Goldenes Ei‹, wie die Bürohengste es nennen würden – obwohl ›Silberkugel‹ eine bessere Beschreibung war, sinnierte Pascale und dachte an den unauffälligen kleinen Gegenstand in ihrer Handtasche. Sie fühlte sich nicht wirklich sicher, ihn so zu transportieren – auf den Straßen von Marseille bestand stets die Gefahr, einem Handtaschenräuber zum Opfer zu fallen –, aber es war eine schäbige, kleine Unterarmtasche und keine von Hermès oder Dior, wie man sie in den eleganten Läden an der Rue St-Ferréol fand. Außerdem hatten die Eierköpfe in ihrem schicken neuen Hauptquartier im Pariser Vorort Levallois-Perret ihr gesagt, ein Ei verstecke man am besten in einem Nest.

Am frustrierendsten war jedoch, dass Pascale noch nicht einmal genau wusste, was sie da bei sich trug. Sie war sich darüber im Klaren, dass es von Bedeutung war, doch das war auch schon alles. Sie wusste das anhand des Tonfalls, in dem die Algerier darüber gesprochen hatten, auch wenn es nicht die Art von Algeriern gewesen war, vor der die Analysten sie gewarnt hatten. Sie waren so aufgeregt gewesen, wie kleine Jungen beim Spiel … bei einem tödlichen Spiel, das auf der ganzen Welt gespielt wurde. Und weil diese spezielle Botschaft, die sie in solche Aufregung versetzte, verschlüsselt war, und das mit einem Code, der sich in einem Märchen verbarg. Einem Märchen, das Pascale zwar nicht verstand, aber von dem sie wusste, dass es ein böses Ende hatte. Sie hatte ihrem Boss Andeutungen gemacht, allerdings nur im weitesten Sinne. Er würde warten müssen, bis er sich mit ihr traf; erst dann würde sie ihm Einzelheiten nennen. In jedem Fall war er beeindruckt gewesen und hatte den ursprünglich vereinbarten Termin ihres Treffens zwei Wochen vorverlegt.

Die Metro war überfüllt, wie immer, der typische Mix von Marseille: alte, mediterrane Gesichter, braun gebrannt und voller Falten, und ein paar Touristen, Deutsche vielleicht oder Amerikaner mit Kameras auf der Brust. Dazu kamen die üblichen verarmten Arbeitslosen, die man heutzutage viel zu oft in französischen Großstädten sah, sowie ein gutes halbes Dutzend Kids, schwarz und weiß und alles dazwischen, Söhne von Algeriern, Marokkanern und südfranzösischen Fischern. Das einzige Merkmal, das sie einte, waren Ohrstecker und schwere Halsketten. Jeder der Jungs lauschte seinem eigenen Soundtrack, einer Mischung aus einheimischem Hip-Hop. Die Frauen waren strikt getrennt in solche, die einen Schleier trugen, und jene, die keinen trugen – eine Unterscheidung, die deutlicher war als die von Rasse oder Nationalität. Es war der Unterschied der Gesichter: jener, die man sehen konnte, und jener, die verborgen waren. Neben der Tür saß eine Frau von fast neunzig Jahren, die einem ganz eigenen rassischen Stereotyp entsprach: Sie war eines dieser alten katholischen Weiber, die in Pascales Jugend stets Schwarz getragen und ihre Köpfe bedeckt hatten. Inzwischen hatten sie diese Gewohnheit aufgegeben, als wollten sie sich so von all den Frauen in Burkas und Schadors abheben, die sie ›schwarze Hexen‹ nannten.

Die ›Hexen‹ standen am anderen Ende des Waggons, dicht beisammen, als wollten sie sich gegenseitig beschützen. Nur wenige Menschen verstanden oder kümmerten sich überhaupt darum, unter welch enormem Druck diese unsichtbaren Frauen in ihren eigenen Gemeinden standen, eingeschüchtert von ihren Männern und unterdrückt und verängstigt in einem fremden Land, dessen Sprache sie noch nicht einmal verstanden. Dann waren da die Mädchen, der White Trash mit olivfarbener Haut und Sonnenbrillen auf der Stirn, bauchfreien Tops und Bauchnabelpiercings. Im krassen Gegensatz dazu standen die Mädchen aus dem Maghreb. Auch sie teilten sich in zwei Gruppen: in jene, die ihren Eltern nur pro forma Gehorsam zollten und aus deren modernen paillettenbesetzten Kopftüchern schick frisierte schwarze Locken ragten, und andere, die wie ihre Mütter aussahen, als seien sie ständig in Trauer.

Es war eine der Letzteren, die Pascales Aufmerksamkeit erregt hatte, als der Zug in die Metrostation von St. Charles eingefahren war. Dass die Frau noch jung, ja sogar noch ein Mädchen war, glaubte sie an ihrer Gestalt und den lebhaft funkelnden grünen Augen zu erkennen, die durch den Schador hindurch zu sehen waren. Das Mädchen hatte sie angestarrt, dessen war Pascale sich sicher gewesen. Aber war das nur Neugier, oder hatte das Mädchen sie erkannt? Davor fürchtete sie sich jedes Mal, wenn sie sich einmal im Monat mit Thomson traf. War es möglich, dass man ihr irgendwann einmal gefolgt war, als sie an einer Metrostation auf die Damentoilette gehuscht war und eine Identität gegen die andere getauscht hatte? Hatte man sie beobachtet? Sie ausspioniert? Sie als das erkannt, was sie war?

Pascales Trommelfell schmerzte, während sie darum rang, die Kakophonie aus Schreien des Entsetzens und der Panik sowie das Heulen der Verwundeten zu verarbeiten. Doch dann fühlte sie dieses Ding in ihrer Hand, nachdem sie gestolpert war, und sie erkannte es als das, was es sein musste. Sich selbst hörte sie nicht schreien, nur das Echo. Es war, als käme der Schrei von weit weg, wie durch eine Schlucht, nur dass er immer lauter statt leiser wurde.

Und dann kehrten das Krachen und Knistern zurück, die Hilfeschreie und das verzweifelte Stöhnen. Es traf Pascale wie ein Schlag auf den Kopf, als ihr das Offensichtliche bewusst wurde: Es war passiert. Nach Madrid und London … Marseille. Nicht in Paris, wie alle befürchtet hatten, sondern hier im weichen Unterleib Frankreichs, hier und jetzt und unter der Verantwortung von Pascale.

Und hier und jetzt zählte nur eines: Sie musste raus aus dem Waggon. Pascale hob die Hand und bemerkte mit plötzlich aufkeimender Übelkeit, dass sie über und über mit dem Blut eines anderen bedeckt war. Unter Schmerzen zog sie an den Überresten ihrer Wimpern und riss ihre Lider auseinander.

Die zerstörte Welt um sie herum sah aus, wie sie roch: schwarz verbrannt und in einen Rauchschleier gehüllt, der blau, grau und gelb zugleich war, und das alles in einem Metrowaggon, in kubistische Winkel verdreht und durchzogen von bösartigem Rot, unbeschreiblichem Braun und voller Gesichter, die eher die von Zombies als von Menschen waren. Wie Picassos Guernica, dachte Pascale unwillkürlich. Nur dass solch ein Bild in Schwarz und Weiß wesentlich besser aussah. Im Hintergrund war ein leises Wummern inmitten des Blutbads zu hören: afrofranzösischer Hip-Hop aus Ohrstöpseln, die aus toten Köpfen gerissen worden waren. Das alte Weib wiederum bot ein surreales Bild: Eingeklemmt in eine Ecke und bedeckt von ihrer geschmolzenen Einkaufstüte, zeigte sich nur leichte Überraschung auf ihrem Gesicht, als wäre die Seele bereits in Erwartung der Grausamkeit aus ihrem zerbrechlichen Leib geflohen.

Pascale schaute hinunter und sah den abgerissenen Arm, über den sie gestolpert war, ein blutiges Stück Fleisch in schwarzem Tuch. Automatisch drehte sie sich zu der Stelle um, wo die verschleierten Frauen gestanden hatten. Dort war nichts mehr zu sehen außer versengter Kleidung und dichtem Rauch. Der Geruch von verbranntem Fleisch mischte sich mit etwas Strengem, Chemischem, von dem Pascale wusste, dass es sich um Wasserstoffperoxid handeln musste. So viel Bleichmittel und so wenige echte Blondinen. Halt! Hör auf zu denken! Du musst hier raus! Das eine Ende des Waggons stand lichterloh in Flammen. Polster und Farben schmolzen in einer Hitze, die immer mehr an einen Glutofen herankam. Nur die Plexiglasscheibe neben der Tür hatte Pascale davor bewahrt, die volle Wucht der Explosion abzubekommen. Auch hatte die Scheibe offensichtlich das Mädchen gerettet, das neben Pascale gestanden und ihr mit diesen durchdringenden grünen Augen Sorgen bereitet hatte. Nun lag sie zusammengekrümmt auf dem Boden. Das lange schwarze Gewand war hochgerutscht und enthüllte unsittlich ihre Unterschenkel komplett mit Turnschuhen und Bobbysocks.

Das Mädchen starrte zu Pascale hinauf. Ihre Augen suchten nicht länger, sondern flehten. Sie war verwirrt und verängstigt wie ein kleines, wildes Tier, dessen Gliedmaßen in einer bösartigen Falle gefangen waren. Sie zitterte deutlich, aber soweit Pascale das beurteilen konnte, ohne den Schador abzunehmen, war sie nicht ernsthaft verletzt. Pascale beugte sich zu ihr, um sie in Sicherheit zu ziehen. Das Mädchen murmelte ein verzweifeltes Gebet vor sich hin. Sie stand offenbar unter Schock.

»Kaifa halok?«, fragte Pascale im Arabisch des Maghreb, Bist du okay?, und dann fügte sie auf Französisch hinzu: »Allez, il faut bouger«, Wir müssen hier raus! In diesem Augenblick leuchteten die Augen des Mädchens wieder in jenem strahlenden Grün, obwohl Pascale nicht erkannte, ob das Dankbarkeit oder Erkennen ausdrücken sollte. Und dann fummelte die junge Frau an ihrem Gewand herum und drückte die Hand auf den Bauch, sodass Pascale kurz fürchtete, sie sei vielleicht schwanger und drohe, ihr Kind zu verlieren.

Das war ihr letzter Gedanke. Die junge Frau zog den Schador beiseite, lächelte Pascale an, und die Welt ging in Flammen auf.

1

19. Dezember

London in der letzten Trauerwoche für die Königin. Bei Harrods werkelten die Dekorateure in den Schaufenstern. Zwei Wochen nach dem Tod der Monarchin brannten sie förmlich darauf, endlich die respektvoll schwarz drapierten Porträts herausnehmen und sich wieder der teuren Weihnachtsauslage widmen zu können.

Morgen würden zum ersten Mal in diesem Winter die Lichterketten an der mächtigen Sandsteinfassade des Hauses eingeschaltet werden, um zu verkünden, dass wieder normaler Geschäftsbetrieb herrschte. Doch ›normal‹ war das nicht. Da nur noch vier Einkaufstage blieben, würde das diesjährige Weihnachtsgeschäft für den Einzelhandel weitgehend ins Wasser fallen.

In der ganzen Hauptstadt, vom schicken Knightsbridge bis hin zum Massengeschäft auf der Oxford Street, herrschte nun überall das gleiche Bild: Dunkle Farben wurden so schnell wie möglich gegen weihnachtliches Rot ausgetauscht. Endlich kamen die Festtage. Besser spät als nie.

Als Marcus Frey auf die Brompton Road einbog, blieb er kurz stehen und sah den Angestellten des Royal Borough of Kensington and Chelsea dabei zu, wie sie von Kranwagen aus die schwarzen Schleifen von den Stechpalmengirlanden an den Laternenmasten nahmen und sie durch rote ersetzten. Nette Idee, dachte er sarkastisch, und auch noch so ökonomisch.

»Eine Schande ist das, nicht wahr?«, sagte ein Stimme hinter ihm. Marcus drehte sich um und bemerkte einen untersetzten Mann mit gelbstichigen Augen, der offenbar karibischer Abstammung war. Sein Akzent ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass er in London aufgewachsen war. »Sie war ein gutes, altes Mädchen.«

»Ja, das war sie«, erwiderte Marcus, schob die Brille hoch und lächelte kurz. ›Sie war eine von uns‹, das wollte der Mann damit sagen. Unabhängig von Hautfarbe oder Glauben wünschte sich in Zeiten wie diesen jedermann als ›einer von uns‹ betrachtet zu werden. Es herrschte eine seltsame Stimmung in Großbritannien. Spannung lag in der Luft, als fürchteten die Menschen einen Regimewechsel. Zwar verfügte der Monarch nicht wirklich über Macht, aber dennoch hatte jeder das Gefühl, eine Ära sei zu Ende gegangen, und niemand wusste so recht, was nun folgen würde. Es schien fast, als hätten sich die Zweifel an der nationalen Identität mit dem Tod der Königin in Richtung einer Psychose entwickelt. Schon seit einiger Zeit wussten die Menschen nicht mehr so recht, was es eigentlich bedeutete, ›britisch‹ zu sein, doch ›das alte Mädchen‹ war definitiv ein Teil davon gewesen. Und nun war sie tot.

Identitätskrisen waren etwas, das Marcus Frey verstand; ja, er war sogar ein Spezialist darin. Geboren in Südafrika, war er während des Übergangs von der Apartheid zu einem demokratischen Staat aufgewachsen. Das hatte ihn so stark geprägt, dass er es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, die verschiedenen Arten zu ergründen, auf die Menschen die Welt sahen. Nach zwei Büchern – einem über Nelson Mandela und einem weiteren über den israelisch-palästinensischen Konflikt – hatte er sich damit sogar eine Dozentenstelle für vergleichende Geschichtswissenschaft am All Souls College in Oxford verdient. Das war nicht schlecht für einen jungen Mann Mitte dreißig, aber es bedeutete nicht, dass fortan das Leben nur noch in stabilen Bahnen verlief, bei weitem nicht. Marcus’ Beziehung zu Nazreem Hashrawi, der brillanten, aber auch unberechenbaren palästinensischen Historikerin, mit der er nun schon zum zweiten Mal zusammen war, litt unter Spannungen. Dabei war Nazreem das Wichtigste in seinem Leben. Tatsächlich konnte man im Augenblick sogar von einer Zerreißprobe sprechen, und Marcus hatte keine Ahnung, was er deswegen unternehmen sollte.

Er wusste nur, dass sie darüber reden mussten, und das würden sie heute Abend auch tun … vorausgesetzt, er schaffte es rechtzeitig nach Oxford zurück. Das bedeutete, dass er den Zug um 18.03 Uhr in Paddington erwischen musste. Sein Meeting mit den Bürokraten in ihren gesichtslosen Büros in der trostlosen Vorstadt Croydon war ausgesprochen ermüdend gewesen, nicht zuletzt wegen ihrer Haltung Ausländern gegenüber – besonders jenen aus dem Nahen Osten –, und er freute sich nicht gerade darauf, mit Nazreem darüber zu diskutieren. Das war auch der Grund, warum er zu Harrods gegangen war: um ihr ein kleines Geschenk zu kaufen, einen Kaschmirschal in Schottenmuster, dessen Grundton ihren dunklen, moosgrünen Augen entsprach. Natürlich hätte er in Knightsbridge in die U-Bahn steigen können, doch dann hätte er in Piccadilly in die Circle Line umsteigen müssen. Also war er stattdessen bis zur Kensington High Street gelaufen, obwohl es ein wenig nieselte.

»Mach’s gut, Kumpel«, sagte der Karibe und klopfte Marcus auf die Schulter, als er vom Bürgersteig trat, um die Straße zu überqueren. Dann deutete er an dem Laternenmast hinauf und zu den frisch angebrachten roten Schleifen. »Lächeln. Du bist bei der ›Versteckten Kamera‹.« Und Marcus lächelte, wenn auch nur für einen Moment. Die Show war zwar schon längst abgesetzt, doch heutzutage hatte es den Anschein, als sei ganz Großbritannien bei der ›Versteckten Kamera‹, und das vierundzwanzig Stunden am Tag. Die Kamera oben an dem Laternenmast war vermutlich eine von Tausenden, die den Verkehrsfluss und die ›Mautabgabe‹ überwachen sollten. Dabei wurde unter anderem das Nummernschild jedes Fahrzeugs registriert, das in die Innenstadt fuhr. Aber niemand hatte je gesagt, dass die Kameras Menschen ignorierten. Marcus’ private Digitalkamera verfügte bereits über eine Gesichtserkennung; da hatte die Regierung sicher erst recht Zugriff auf diese Technologie. Vielleicht würde man eines Tages ja auch eine ›Mautabgabe‹ für Menschen einführen und zu bestimmten Zeiten den Zugang zum Stadtzentrum limitieren.

Das ist natürlich nur ein Scherz, sagte er sich selbst, aber er musste es sich zweimal sagen. Auch bei Harrods gab es Kameras an der Fassade, die zwischen den Lichterketten montiert waren. Sie sollten dafür sorgen, dass niemand die Wände beschmierte oder versuchte, die Schaufensterscheiben einzuschlagen, auch wenn Letztere aus verstärktem Glas waren. Und es gab Kameras vor den beiden Banken, an denen Marcus vorüberkam, sowie an der U-Bahnstation von South Kensington.

Wäre er ein Serienmörder auf dem Weg zu seinem nächsten Mord – oder ein notorischer Ehebrecher auf dem Heimweg von seiner Geliebten –, würde irgendwo eine Aufzeichnung darüber existieren, dass er Punkt 17.43 Uhr diesen Weg genommen hatte. Marcus war in einer Umgebung aufgewachsen, in der es nichts Ungewöhnliches war, wenn wohlhabende Weiße ihren Besitz mit Überwachungskameras sicherten; dennoch staunte er immer wieder über die Schnelligkeit, mit der sich diese Technologie nun auch in Großbritannien verbreitete. Noch nie war eine demokratische Gesellschaft derart extensiv, wenn auch angeblich passiv von ihrer Regierung beobachtet worden – und sicher hatte auch noch nie eine Bevölkerung das so fügsam hingenommen wie die Briten.

Marcus schüttelte den Kopf, als er die Treppe zur U-Bahn hinunterlief und seinen iPod aus der Tasche holte. Den dicklichen jungen Vorderasiaten mit dem Rucksack bemerkte er nicht, der an der U-Bahntreppe stand, erst auf seine Uhr schaute, sich dann umdrehte und Marcus folgte. Den Kameras in der Station entging jedoch nichts.

*

Ibrahim Mahmud hatte die Augen geschlossen, als Marcus Frey an ihm vorbeiging. Er lief auf Autopilot. Das tat er nun schon seit Wochen. Erreg keine Aufmerksamkeit. Sprich nicht. Wage kaum zu atmen. Denk das Falsche, und sie werden es wissen. Denk es auch nur einen Augenblick, und du bist tot.

Das waren die Regeln, nach denen er lebte. Die Regeln, die er für sich selbst aufgestellt hatte. Denk nur an das Licht, das helle Licht. Das Licht, das viel zu früh erloschen ist. Denk an die Magie, an die du einst geglaubt hast, die Märchen: an Aschenbrödel und ihre bösen Schwestern; an Humpty und Dumpty und wie sie von der Mauer fielen; an Sindbad den Seefahrer, der weit gereist ist und allerlei Wunder und Schrecken gesehen hat, und an Aladin und seine Wunderlampe, mit der er einen Geist heraufbeschwören konnte. Doch das waren eben nur Märchen. Geschichten aus einer anderen Welt. Die echte Welt war nicht so. Die echte Welt war hart. Gnadenlos. Grausam und dumm. Alles, was man kannte, konnte von einem Augenblick auf den anderen zu Staub zerfallen. Immer wieder und wieder und wieder.

Seit Wochen schon lebte Mahmud eine Lüge. Er lebte mit dem Feind. Er tat so, als wäre er einer von ihnen. Das war leicht genug. Es war, was sie erwarteten. Wenn sie herausfanden, dass er sie betrog, würden sie ihn töten; doch er war bereit, dieses Risiko zu tragen – für seine Schwestern. Für die, die er verloren hatte, und für die, die er retten musste.

Das hier war ein Probelauf, um ihnen zu zeigen, dass er für den Tag bereit war. Und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie von ihm verlangen würden, sich zum letzten Mal zu beweisen. Insgesamt würden sie zu fünft sein. Mahmud hatte die anderen schon kennengelernt und ihnen zugehört, als sie darüber geredet hatten, was sie in ihrer letzten Videobotschaft sagen und welches Erbe sie ihren Familien wie auch ihren Opfern hinterlassen würden. Zu dem Zeitpunkt würden sie bereits getrennte Wege gehen – in eine bessere Welt.

Sharif hatte jedoch nicht die Absicht, diese Reise zu unternehmen. Im entscheidenden Moment würde er ihre Pläne zunichtemachen, sie in alle Winde zerstreuen. Dann würde es eine bessere Welt geben. Diese Welt. Eine Welt ohne Menschen wie sie.

All das und noch viel mehr ging Mahmud im Kopf herum, während er seine Oyster Card durch den Kartenleser zog und die letzten Stufen zum Bahnsteig hinunterging. Nicht rennen, hatten sie ihn ermahnt. Das erregt nur Aufmerksamkeit. Damit hatten sie natürlich recht, und wenn das hier der Ernstfall gewesen wäre, wäre er auch nicht gerannt. Doch er war ja auch fest entschlossen, dass es nie zu diesem Ernstfall kommen würde.

Auf dem Bahnsteig war es ruhig. Die Läden waren bis morgen geschlossen. Erst dann würden die Menschen hereinströmen, um in letzter Minute noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Die Trauerzeit war vorbei. Offiziell. Wenn sie wüssten, dass sie noch gar nicht richtig begonnen hatte! Mahmud warf seinen Rucksack über die Schulter und lief in Richtung des einfahrenden Zuges. Er war sich bewusst, dass jemand ihm folgte, drehte sich aber nicht um. Keine Aufmerksamkeit erregen. Das waren einfach nur Leute, die so schnell wie möglich nach Hause wollten. Zum Zug zu laufen gehörte in London einfach dazu.

Der Waggon war zu zwei Dritteln leer. In einer Ecke saß ein in einen langen Mantel gehüllter Mann Mitte dreißig. Er hatte sich die Kopfhörer seines iPods in die Ohren gesteckt und eine Zeitung unter den Arm geklemmt. Zwei Mädchen hatten die dicken Winterjacken geöffnet, sodass die bauchfreien Shirts zu sehen waren, die sie trotz des miesen Wetters darunter trugen. Munter plapperten sie miteinander und redeten gleichzeitig in ihre Handys. Die beiden schrien förmlich danach, den Zorn des Allmächtigen zu spüren. Mahmud setzte sich ihnen gegenüber und lächelte.

Doch dann verschwand das Lächeln, und auch das Kichern der Mädchen verklang. Schreiende Mädchen, eine schreiende Sirene, und das gebrüllte »Polizei!« ging darin unter. Ein Knie in sein Gesicht, eins in den Unterleib. Helle Augen funkelten ihn aus Sehschlitzen in einer dunklen Maske an. Der Mann war auf ihm, drückte ihn obszön hinunter. Andere standen neben ihm. Mahmuds Arme wurden zur Seite gerissen und mit eisernem Griff auf den Sitz gedrückt. Er starrte in einen metallischen Lauf, der nur wenige Zoll von seinen Augen entfernt war. Er musste schreien. »Halt! Sie machen einen Fehler! Einen schrecklichen Fehler!« Aber da hatte der Schrecken bereits Besitz von ihm ergriffen. Mahmud spürte, wie sich sein Darm entkrampfte. Kurz empfand er die Peinlichkeit der Situation, doch im nächsten Augenblick erreichte die Schockwelle auch schon seine Ohren. Hirnmasse und Schädelsplitter verteilten sich als zäher roter Brei auf dem geborstenen Sicherheitsglas des Waggonfensters.

Der Mann mit der schwarzen Balaklava schaute durch die schmalen Sehschlitze auf die menschlichen Überreste vor ihm auf dem Sitz. Die panischen Schreie und das Heulen der Sirene ignorierte er. Stattdessen sog er den Geruch von Kordit ein, drehte sich zu seinen beiden kräftigen Kollegen um, nickte knapp und erklärte: »Auftrag erledigt!«

*

Marcus wankte. Der furchtbare Knall der Pistole, das Heulen der Sirene, die Schreie der beiden Mädchen, der Gestank von Blut, Kordit und menschlichen Exkrementen … all das und dazu die finsteren maskierten Gestalten mischten sich zu einer apokalyptischen Vision des Schreckens.

Nur einen Augenblick zuvor war noch alles wunderbar gewesen – so wunderbar es denn an einem trüben Dezemberabend für einen Mann mit Beziehungsproblemen sein konnte. Wenigstens war Marcus bis zu diesem Zeitpunkt sicher gewesen, seinen Zug noch zu erwischen. Die Circle Line war fast im selben Moment in die Station eingefahren, da er den Fuß auf den Bahnsteig gesetzt hatte. Er hatte sich einen Platz in der Ecke gesucht, weit genug weg von den zwei kichernden Mädchen, sich die Kopfhörer in die Ohren gesteckt und Händels Zweitem Concerto Grosso gelauscht. Dann war die Welt implodiert.

Marcus saß hustend da, spie und würgte. Das eine Mädchen hatte sich übergeben, das andere schrie unablässig. Einer der schwarz maskierten Männer versuchte, sie zu beruhigen. Uniformierte Polizei war bis jetzt nirgends zu sehen. Marcus rappelte sich auf. Eine kräftige Hand packte ihn an der Schulter, und eine Stimme sagte: »Hier entlang, Sir. Es ist alles in Ordnung.«

Das allerdings bezweifelte Marcus. Die beiden Mädchen waren noch immer in Panik. Die eine schrie unentwegt, und der anderen triefte Erbrochenes aus dem Mund. Der Mann, der sich um sie kümmerte, hatte die Maske abgenommen, um ihnen nicht noch zusätzlich Angst einzujagen, und von irgendwoher war plötzlich eine dickliche Polizistin aufgetaucht, um ihn zu unterstützen. Eine Handvoll Passagiere, die aus den anderen Waggons geströmt waren, versuchten, an den Uniformierten vorbeizuspähen, von denen mehr und mehr den Bahnsteig füllten und den Tatort abschirmten. Die meisten Leute waren jedoch mehr als froh, sich von den Beamten hinausführen zu lassen. Dabei bewiesen sie genau jene Art von stoischer Ruhe, für die die Londoner berühmt waren, und das, obwohl die Erinnerung an die Bombenanschläge vom 7. Juli 2005 noch frisch war.

Plötzlich verhallte die Alarmsirene. Nur noch ein Klingeln blieb davon in Marcus’ Ohren zurück, als eine entschlossene, männliche Stimme über Megafon dröhnte: »Meine Damen und Herren, bitte begeben Sie sich zu den Ausgängen. Es besteht kein Grund zur Sorge. Die Polizei hat die Lage unter Kontrolle. Ich wiederhole: Es besteht kein Grund zur Sorge. Bitte begeben Sie sich zu den Ausgängen. Alle Fahrten der Circle Line sind vorläufig gestrichen.«

Hustend trat Marcus in den kalten, abendlichen Nieselregen hinaus. Dass niemand seine Personalien als Zeuge aufgenommen hatte, war ihm nur am Rande bewusst. Aber vermutlich konnten sie ihn dank der Kameras ohnehin jederzeit ausfindig machen. Er bemerkte, dass er zitterte, doch das überraschte ihn nicht. Er hatte gerade mit angesehen, wie ein Mann getötet wurde, und das aus nächster Nähe. Es war jedoch nicht das erste Mal gewesen; schließlich hatte Marcus lange Zeit im Nahen Osten verbracht, und auch hier in London waren er und Nazreem schon Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt gewesen. Doch Marcus hatte noch nie einen aufgesetzten Schuss gesehen, eine regelrechte Hinrichtung. War der Mann ein Selbstmordattentäter gewesen? Das war die einzige Erklärung. Soweit Marcus das beurteilen konnte, hatte er allerdings nicht wie einer ausgesehen, aber das taten sie eigentlich nie. Genau das war ja der Sinn des Ganzen, nach allem, was Marcus auf den Straßen von Jerusalem gelernt hatte.

Die Straße war voller Menschen aus der U-Bahn. In der Ferne heulte eine Sirene, und Marcus sah, wie ein Krankenwagen sich durch den Verkehr kämpfte. Dafür war es wohl ein wenig zu spät. Marcus riss sich zusammen und kämpfte gegen den Drang an, das Erlebte im Geiste noch einmal durchzugehen. In den Abendnachrichten würde er genug davon zu sehen bekommen. Er winkte ein Taxi herbei, dessen leuchtendes, orangefarbenes Schild verkündete, dass es frei war. Er hatte Glück. Nicht mehr lange, und in der ganzen Gegend würde wegen der Schließung der U-Bahn kein Taxi mehr zu bekommen sein.

Der Taxifahrer blickte Marcus fragend an, als dieser in den Wagen stieg und Paddington als Ziel angab. Der Mann hatte offensichtlich erkannt, dass irgendetwas passiert sein musste, allein schon wegen der Menschenmenge auf der Straße, doch Marcus starrte schweigend zum Fenster hinaus. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, den Albtraum noch einmal durchleben zu müssen, indem er sich mit dem Fahrer in eine jener langen Diskussionen verstrickte, für die die Londoner Taxifahrer so berüchtigt waren.

»Das macht dann sechs achtzig«, sagte der Fahrer, als sie Paddington erreichten. Marcus kramte in seiner Tasche herum und holte eine Zehn-Pfund-Note hervor, wohl wissend, dass er vermutlich kein Wechselgeld erwarten durfte. Der Mann suchte schier endlos in seiner Börse, während die Sekunden verrannen. Marcus nahm an, dass er seinen Zug bereits verpasst hatte.

»Vergessen Sie ’s. Stimmt so«, sagte er und ergab sich dem Unvermeidbaren. »Immerhin ist ja auch Weihnachten.«

»Das stimmt, Kumpel, trotz allem«, erwiderte der Mann und deutete mit dem Kopf auf den Zehner in seiner Hand. Marcus war verwirrt, dann folgte er dem Blick des Fahrers zum sepiafarbenen Gesicht des ›alten Mädchens‹. Dass man auch neue Geldscheine würde drucken müssen, daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Alles okay mit Ihnen?«, fragte der Fahrer. Marcus nickte. Dabei war er ganz und gar nicht ›okay‹.

Auf dem Bahnhofsgelände ging es laut, ja geradezu fröhlich zu, als hätten die Menschen verstanden, dass die erzwungene Trauer nun endlich der festlichen Vorfreude weichen durfte. Marcus sah eine blonde Frau mit Lametta im Haar an der Sandwichbar stehen: der erste Hinweis auf eine der vielen Betriebsweihnachtsfeiern, die nun endlich abgehalten werden durften. In dem Aufzug, der zum Mad Bishop and Bear, dem Bahnhofspub, führte, entdeckte Marcus die ersten rot leuchtenden Weihnachtsohrringe. Hohoho! Raus mit dem Alten und rein mit dem Neuen. Das Leben ging weiter. Das war immer so.

Marcus fragte sich, was diese Leute wohl sagen würden, wenn sie erfuhren, was heute Abend in der Circle Line geschehen war. Konnte es London verkraften, gerade so einem weiteren Terroranschlag entkommen zu sein? Besonders in einer Zeit wie dieser? Der grausame Anschlag in Marseille war genau einen Monat her. Gab es da eine Verbindung? Marcus lief ein Schauder über den Rücken, und kurz blieb er stehen, als der Geruch und Anblick dessen, was er gerade erlebt hatte, in einer Übelkeit erregenden Welle über ihn hereinbrachen. Einen Drink, sagte er zu sich selbst, das ist genau das, was du jetzt brauchst.

Am Fahrkartenautomaten kramte er in seiner Manteltasche nach der kleinen Plastikbörse, in der er seine Kreditkarten aufbewahrte. Er suchte eine aus, steckte sie in den Automaten und grinste aus Gewohnheit in die Kamera über sich. Dann besann er sich jedoch eines Besseren und nahm einen nüchternen Gesichtsausdruck an. Angesichts des Zustands, in dem die Nation sich befand – besonders nach dem, was gerade geschehen war –, könnte derjenige, der diese Bilder auswertete, ein idiotisches Lächeln durchaus fehlinterpretieren. Auch existierte mit Sicherheit ein Bild von ihm aus Kensington, das ihn zeigte, wie er fast gleichzeitig mit dem Bombenleger die U-Bahn betrat.

Der Automat spie einen Fahrschein nach Oxford aus, und Marcus eilte zum Bahnsteig. Dummerweise war der Zug um 18.03 Uhr auf die Minute pünktlich gewesen, doch es gab noch einen um 18.18 Uhr. Er war brechend voll. Marcus bahnte sich einen Weg zu einem Fensterplatz und malte Männchen auf das beschlagene Glas, während der Zug langsam aus dem Bahnhof fuhr. Unter einigen der Langstreckenpendler herrschte Partystimmung, und Marcus hätte sie am liebsten angeschrien und zur Besinnung gebracht. Wussten diese Leute denn nicht, was geschehen war? Aber andererseits … Wie hätten sie? Sie würden es erst erfahren, wenn sie nach Hause kamen und ihre Fernseher einschalteten, und selbst dann würde das Leben weitergehen, wie nach den Anschlägen von 2005 auch. Marcus lauschte wieder seinem Händel und bestellte einen Gintonic von dem vorbeikommenden Getränkewagen. Warm. Ohne Eis.

Die trostlosen Vororte Westlondons wichen nach und nach den Überresten des Grüngürtels und schließlich einer ländlichen Landschaft aus Feldern und Bauernhöfen. Jenseits der Stadtgrenze hatte sich eine dicke Reifschicht auf die Felder und Hecken gelegt. Wie der gefrorene Atem eines Totengräbers, sinnierte Marcus. Oder ging hier wieder einmal seine Fantasie mit ihm durch?

Schließlich ragten in der Ferne die großen Kühltürme des Elektrizitätswerks wie gestrandete Wale gen Himmel und bliesen ihren Dampf in die kalte Winterluft. Und dann waren sie auch schon in den Außenbezirken von Oxford. Über den Dächern der trostlosen Vorstadtlandschaft ragten die Türme der mittelalterlichen Colleges auf.

Marcus sah auf die Uhr, als er aus dem Bahnhof und an den saisonbedingt leeren Fahrradständern vorbeiging; die meisten Studenten befanden sich schon längst in den Weihnachtsferien. Er lief die Hythe Bridge Street hinauf, über die George und auf die Broad Street. Er hatte sich mit Nazreem vor dem King’s Arms verabredet, einem Studentenpub an der Kreuzung Broad und Holywell Street. Aber er war spät dran, und er fragte sich, ob Nazreem wegen der Nässe und Kälte vielleicht schon allein hineingegangen war.

Marcus beschleunigte seine Schritte und dachte darüber nach, was er wohl in ihren moosgrünen Augen lesen würde: Erleichterung, dass er endlich kam, oder Sorge wegen des peinlichen Verlaufs, den ihr Gespräch unweigerlich nehmen würde? Und dann sah er sie. Nazreem stand an der Ecke vor dem King’s Arms und trug ein Kopftuch – allerdings mehr wegen des Dauernieselns denn aus religiösen Gründen. Sie war zwar stolz auf ihre islamische Kultur, ließ sich aber nicht von ihr beherrschen. Dennoch staunte Marcus einen Augenblick lang, wie leicht so ein simples Kopftuch ihr den Anschein westlicher Kultiviertheit nehmen konnte, die sie in England so gern zur Schau stellte. Plötzlich war sie wieder ganz das ängstliche, palästinensische Mädchen auf den von Trümmern übersäten Straßen Gazas, allein und verloren in einer fremden Welt.

Als Marcus die Straße überquerte, kam Nazreem breit lächelnd auf ihn zu. Er schloss sie fest in die Arme, als die schrecklichen Ereignisse in der U-Bahn ihn wieder heimsuchten, und sie erwiderte seine Umarmung, ohne zu wissen, was los war, und sie fragte auch nicht.

Marcus spürte, wie sein Zittern abebbte, und er dachte: Gott, wie nahe müssen wir dem Tod kommen, um zu erkennen, was wirklich im Leben zählt? Er betrachtete Nazreems Gesicht und sah dann zu der auf sie gerichteten Kamera am Indian Institute hinauf, und zum ersten Mal hoffte er, dass das Ding vielleicht ein Auge zudrücken würde.

2

»Du armer Kerl. Ich hatte ja keine Ahnung.« Nazreem streckte die Hand aus und legte sie auf Marcus’, während er mit der anderen ein schäumendes Pint Young’s Special Bitter an die Lippen führte. Sie saßen in dem hinteren Schankraum des King’s Arms mit seinen gemütlichen alten Sesseln und antiken Holztischen, weit genug von der geschäftigen Hauptbar entfernt, um in Ruhe ein Gespräch führen zu können.

»Verzeih mir. Ich habe wieder mal nur an mich gedacht. Ich habe geglaubt, dass du so aufgeregt warst, weil irgendetwas mit den Einwanderungsbehörden schiefgelaufen ist. Dabei hattest du Glück, überhaupt noch am Leben zu sein!« Nazreem nippte an ihrer Cola und nahm die Hand von Marcus’, um sich eine Locke aus der Stirn zu wischen.

»Ich weiß nicht … Was meinst du damit?«

»Ich meine damit, dass du im selben Waggon wie ein Selbstmordattentäter gesessen hast. Wenn die Bombe hochgegangen wäre …«

Marcus schaute ihr die die Augen und sagte: »Ja, natürlich. Du hast recht. Es ist nur … So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Eher andersherum. Das ist lächerlich, nehme ich an, aber zu dem Zeitpunkt ist mir das gar nicht so vorgekommen. Ich musste dabei zusehen, wie jemand aus nächster Nähe erschossen wurde. Es war … schrecklich. Der Lärm, der Gestank, der …« Seine Stimme verhallte. Dann: »Es hat ihm die Schädeldecke weggerissen.« Er schluckte.

»Ich weiß«, sagte Nazreem. »Glaub mir. Ich weiß.«

Ja, Marcus glaubte ihr. Nazreem Hashrawi war eine Tochter Gazas, der vor Menschen nur so wimmelnden palästinensischen Stadt, die in einen schmalen Küstenstreifen im Süden Israels gequetscht war. Ihre Mutter war Französin gewesen, eine Mitarbeiterin von Ärzte ohne Grenzen, doch Nazreem hatte keine Erinnerungen an sie. Trotz aller Bemühungen ihrer Kollegen war sie im Kindbett gestorben, vor allem aufgrund der furchtbaren Zustände und des Medikamentenmangels in den überfüllten Krankenhäusern Gazas. Nazreem war von ihrem Vater großgezogen worden, einem verhältnismäßig gut situierten palästinensischen Geschäftsmann, der sie schließlich nach Ägypten gebracht und ihr einen Studienplatz an der Universität von Kairo besorgt hatte, wo sie Sprachen und antike Geschichte studiert hatte. Marcus war ihr vorgestellt worden, kurz bevor sie ihr Studium abgeschlossen hatte. Er hatte damals einen gebildeten, einheimischen Assistenten gebraucht, um die notwendigen Interviews für sein Buch mit dem Titel ›Gelobtes oder Gestohlenes Land?‹ führen zu können, einer Analyse der Mythen, die sich auf beiden Seiten des israelisch-palästinensischen Konflikts im Laufe der Zeit entwickelt und etabliert hatten.

Das hatte unglaublich gut funktioniert. Er und Nazreem waren ein Paar geworden. Das Buch war in einer Hinsicht sogar zu gut gelaufen. Es war sowohl ein kommerzieller als auch ein akademischer Erfolg geworden, hatte Marcus seine Dozentenstelle in Oxford gesichert und ihn zu einer festen Größe in der im Entstehen begriffenen Gemeinde der vergleichenden Historiografie gemacht. Er hatte Nazreem wegen all der Fakten, die sie zu seinem Werk beigetragen hatte, als Coautorin nennen wollen, doch sie war in Gaza geblieben und die Kuratorin des ersten Museums in der belagerten Stadt geworden. Diese Episode ihres Lebens hatte jedoch in Tränen geendet, als ihr größter Fund, das vermutlich älteste Bildnis der Jungfrau Maria, gestohlen worden war.

Die dramatischen Ereignisse, die darauf gefolgt waren, hatten Nazreem schließlich nach England geführt und sie beide auf eine Art wieder zu einem Paar gemacht, mit der keiner von ihnen gerechnet hatte. Das war vor nunmehr fast zwei Jahren gewesen. Die ersten paar Monate war Nazreem Marcus’ Gast gewesen und hatte mit ihm die Dozentenwohnung im All Souls College geteilt, wenn auch zuerst nicht das Bett. Dann war die Nachricht gekommen, dass das Museum in Gaza nach dem Verlust seines berühmtesten Artefakts vorübergehend geschlossen worden sei und auf absehbare Zeit wohl auch nicht wieder geöffnet werden würde, denn inzwischen herrschte die radikalislamische Hamas im Gazastreifen, und die hatte die Zurschaustellung der Menora, des siebenarmigen Leuchters, sowie jedweder Götzenbilder, egal welcher Religion, verboten. So war Nazreem zu dem Schluss gekommen, dass eine Rückkehr sinnlos wäre. Zu dem Zeitpunkt war ihre Beziehung zu Marcus deutlich komplizierter geworden, und das war sie immer noch.

Sie waren wieder zu einem Liebespaar geworden, was angesichts ihrer Geschichte und der jüngsten gemeinsamen Erfahrungen wohl unvermeidlich gewesen war. Doch Nazreem suchte noch immer nach einer Rolle für sich, nach professioneller und akademischer Erfüllung, die zumindest teilweise den Job würde ersetzen können, den man ihr genommen hatte. Sie war eine Frau, die ihre Berufung gefunden hatte, und dann hatte sie herausfinden müssen, dass sie nicht gewollt wurde. Doch es gab noch ein weiteres Problem: Nazreem war nicht sicher, ob irgendein anderes Land sie wollte. Das war auch der Grund, warum Marcus zur Einwanderungsbehörde in Südlondon gefahren war. Nachdem man ihn am Telefon abgewimmelt hatte, hatte er sich zu einem persönlichen Gespräch mit einem höheren Beamten verabredet, vorgeblich um seine eigene Situation zu diskutieren, aber auch mit der festen Absicht herauszufinden, was sich wegen Nazreem tun ließ.

Marcus war zwar in Südafrika geboren, aber seine Mutter war Engländerin gewesen. Den größten Teil seines Lebens hatte er die Tatsache ignoriert, dass er einen Anspruch auf die britische Staatsangehörigkeit hatte; er musste sie nur formell beantragen. Lange Zeit hatte er sich nicht einmal Gedanken darüber gemacht, besonders nachdem das Ende der Apartheid ihn mit Stolz auf sein Heimatland erfüllt hatte. Doch seit er die Dozentenstelle in Oxford angetreten hatte, war ihm bewusst geworden, dass ein EU-Pass das Reisen in Europa erleichterte, besonders was das Kommen und Gehen in Großbritannien betraf, das dem Schengener Abkommen stur fernblieb, welches in den meisten Kontinentalstaaten die Reisefreiheit garantierte.

Nazreems Situation war jedoch vollkommen anders gelagert. Dank der Abstammung ihrer Mutter hatte sie schon als Teenager einen französischen Pass bekommen. Der machte das Reisen in der EU leicht. Doch seit ihrer Ankunft in Großbritannien war er abgelaufen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Als sie daraufhin in der französischen Botschaft um eine Verlängerung gebeten hatte, war der zuständige Beamte mit dem Pass kurz rausgegangen und hatte anschließend erklärt, so einfach sei das nicht. Die französischen Gesetze waren strenger geworden. Nazreem hatte es versäumt, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen, als sie volljährig geworden war. Der Beamte hatte ihr diesen Umstand mit einem mitfühlenden Lächeln erklärt, was sie nicht gerade mit Hoffnung erfüllt hatte, und bis jetzt war sie nicht nach Frankreich gereist, um die Angelegenheit zu regeln.

Nicht, dass es leicht gewesen wäre, überhaupt dorthin zu kommen. Da Großbritannien nicht Teil des Schengener Abkommens war, gab es Passkontrollen an den Grenzen. Nazreems einzige Alternative waren Reisepapiere der palästinensischen Autonomiebehörde. Die wurden theoretisch zwar in den meisten europäischen Ländern akzeptiert, doch in der Praxis wurde man damit ständig angehalten und überprüft – vor allem, wenn man aus dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen stammte. Und es gab auch noch eine weitere Komplikation: Die palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland – die einzige Behörde, der Israel gestattete, Papiere auszustellen – hatte erklärt, dass sie von der Hamas in Gaza ausgestellte Dokumente nicht länger anerkenne. Tatsächlich wurde die Hamas von der gesamten internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt, und so war fraglich, ob Nazreems ›Pass‹ überhaupt noch einen Wert hatte.

So sah sie sich mit dem Einzigen konfrontiert, das sie noch mehr ängstigte als selbst ihre schlimmsten Albträume, von denen sie wahrlich genug hatte: der Vorstellung, im wahrsten Sinne des Wortes ›staatenlos‹ zu werden. Nicht zu wissen, ob sie reisen, und nicht zu wissen, ob sie bleiben durfte. Ein Flüchtling.

Im Lauf der letzten Monate hatten sie und Marcus immer wieder darüber diskutiert, wie sie eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung in Großbritannien oder sonst irgendeine Form von juristisch bindendem Dokument bekommen könnte. Eine Möglichkeit war, aufgrund ihrer akademischen Qualifikation ein sogenanntes Fachkräftevisum zu beantragen. Die Aussicht auf ein Jobangebot des Magdalen College oder des Pitt Rivers Museums würde dabei helfen. Das wiederum konnte zu einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung und möglicherweise sogar zur britischen Staatsbürgerschaft führen. Nur war ein solches Angebot alles andere als sicher.

das