Inhalt

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Ttel
  4. Impressum
  5. Danksagung und Widmung
  6. Prolog
  7. Teil 1
  8. 1
  9. 2
  10. 3
  11. 4
  12. 5
  13. 6
  14. 7
  15. 8
  16. 9
  17. 10
  18. 11
  19. 12
  20. 13
  21. 14
  22. 15
  23. 16
  1. Teil 2
  2. 17
  3. 18
  4. 19
  5. 20
  6. 21
  7. 22
  8. 23
  9. 24
  10. 25
  11. 26
  1. Epilog
  2. Dramatis Personae

Alexander Lohmann

LICHT-
BRINFER

BASTEI ENTERTAINMENT

Danksagungen und Widmung

Mein Dank gilt wie immer meinen Testlesern, allen voran Linda Budinger, die den Roman von den ersten Arbeitsschritten an begleitet hat. Ferner bedanke ich mich bei Andrea Broichhausen, Marcel König und Jörg Spinger, denen ich dieses Mal besonders viel Hektik zugemutet habe. Und bei Stephan Dierlamm von dierlamm-art.com, vor allem für seine grafische Unterstützung.

Ein ganz besonderer Dank geht außerdem an Torsten Low, der mit seiner Anthologie »Lichtbringer« vorher da war und ohne dessen Zustimmung ich mir für mein Buch einen anderen Titel hätte überlegen müssen … möge dieser erste »Lichtbringer« auch noch viele zufriedene Leser finden.

Widmen will ich diesen Roman meinem Großvater Karl Gerhardts, dessen selbsterfundene Geschichten meine Kindheit begleitet haben, bevor ich noch meine eigenen ausdachte. Ihm verdanke ich meine früheste Prägung als »Geschichtenerzähler«. Und wenn in irgendeinem Winkel dieses Romans etwas zu finden sein sollte, das an Schiffbrüchige auf einer Insel und Piraten erinnert, dann weiß ich zumindest, wo ich das erste Mal von solchen Dingen gehört habe.

Prolog

Leuchmadan erhielt seinen Namen von den Finstervölkern, da er ihnen das Licht von den Sternen auf

die Erde brachte. Doch das war eine Lüge. Zwischen den Sternen ist es dunkel, lichtlos und kalt und

ohne Leben. Wir müssen es wissen.

Denn auf der Flucht vor Leuchmadan haben wir uns aufgemacht, um in den Schatten hinter der Welt

Zuflucht

zu finden - und den Ort seines Ursprungs. Dort wollen wir Leuchmadans Wesen ergründen und

unsere Heimat von

der Finsternis befreien.

Denn das Licht von den Sternen ist eine Lüge.

Mit Leuchmadan kam die Dunkelheit zu uns, und jetzt, da wir mit der letzten Insel unverfälschten

Lebens zwischen den Sternen treiben, sehen wir auch, woher sie kommt.

Die Finsternis lebt im Abgrund jenseits der Welt, und Leuchmadan ist ein Teil davon.

Wir haben das Licht gesucht,

aber hier werden wir es nicht finden.

TEIL 1

DAS VERLORENE PARADIES

1

Der Tag der Scherben - Im 8. Jahr vor Gründung der Union eröffnete die Allianz der Freien Völker die Offensive gegen das Reich von Falinga mit einem folgenschweren Angriff Gulbert, der Führer der Allianz, befahl den Einsatz der neu entwickelten Nukleonenwaffe gegen den stark befestigten Scherbenpass.

Zunächst sprach alles für einen Erfolg. Die Bomben vernichteten nicht nur die Festungen der »Finstervölker«, sie zerschmetterten sogar die Berge rings um den Pass. Doch die Strahlung war so stark, so schwer die Verwüstung, dass die bereits in Opponua aufmarschierten Truppen die entstandene Bresche nicht wie geplant für ihren Vormarsch nutzen konnten.

Der Feldzug wurde erst im nächsten Jahr wieder aufgenommen und entwickelte sich zu einem zermürbenden Stellungskrieg, wie er entlang von Leuchmadans Zinnen von jeher üblich gewesen war. Der Einsatz der Bombe schien keinen Unterschied zu machen. Erste Anzeichen rings um den Pass, Veränderungen in der Vegetation, schrieb man der Strahlung zu.

Es sollte Jahre dauern, bis man erkannte, dass die Schäden sich immer weiter ausbreiteten. Als man bemerkte, dass mehr dahintersteckte als die Auswirkungen der Nukleonenbombe, hatte das verseuchte Land sich schon bis weit nach Bitan hinein ausgebreitet.

Aus: »GESCHICHTE DER UNION«, VON TENDOR ISTARIOS,

PROF. EM. DER POLITISCHEN AKADEMIE ZU OPPONUA

1. Tag des Lichtmonds, im 282. Jahr

nach Gründung der Union

Der Zug rollte den Scherbenpass hinab, und vor den Fenstern des Abteils erstreckte sich, so weit das Auge reichte, eine wüste Landschaft aus gebrochenem Fels und grobem Geröll. Die hohen Berge in der Ferne gerieten immer wieder außer Sicht, verborgen hinter Hügeln von zertrümmertem Gestein, das an diesem Ort bis tief ins Mark der Erde geborsten war.

Frafa die Nachtalbe blickte hinaus, betäubt vom gleichförmigen Auf und Ab der grauen Steinhalden und dem Schlagen der eisernen Räder auf den Gleisen. Es schlug ihr bei jeder Reise aufs Gemüt, wie leblos diese Landschaft war. Der Scherbenpass trug seinen Namen zu Recht, befand sie, obwohl sie sich noch an die scharfzackigen Grate erinnerte, die einst als »die Scherben« bekannt gewesen waren.

Bei der Abfahrt in Opponua hatte sie ein Buch gekauft, zeitgenössische bitanische Lyrik, aber sie hatte keinen Zugang gefunden, und der Band lag nun schon seit Stunden aufgeschlagen auf ihrem Schoß. So ging es ihr seit Jahren mit jedem Buch, das sie in die Hand nahm: Irgendwann legte sie es ermüdet fort und nahm es nicht wieder auf.

In Vordermark, dem ersten Ort hinter dem Pass, betrat ein weiterer Fahrgast das Abteil: ein Bitaner mit vorgewölbtem Bauch, in einer dunklen Weste über dem weißen Hemd und in spitzen Stiefeln. Seine ganze Kleidung war silbern verziert, auch die Stiefel und der breitkrempige Hut. Nach einem flüchtigen Blick wandte Frafa sich wieder zum Fenster hin. In der Scheibe konnte sie das Spiegelbild des Mannes betrachten, ohne den Blick auf ihn zu richten.

Der Mensch blieb in der Türe stehen, zog umständlich sein Billett aus der Tasche, schaute zu Frafa, runzelte die Stirn, schaute auf seine Fahrkarte und dann wieder zu Frafa. Schließlich stieß er einen grunzenden Laut aus, der wohl eine Begrüßung gewesen sein mochte, und wuchtete seinen kleinen Koffer auf das Gepäcknetz ihr gegenüber. Er ließ sich auf den mittleren Platz fallen und streckte ächzend die Beine aus.

»Eine Unverschämtheit«, knurrte er, an niemand Bestimmten gewandt, »dass sie die Strecke durch den Scherbenpass gelegt haben. Die Eisenbahn hat dabei ordentlich Geld gespart, aber ich muss zweihundert Kilometer Umweg im Kolbenbus fahren, wenn ich mich nicht vergiften lassen will.«

»Es ist fast dreihundert Jahre her, seit die Bomben fielen«, antwortete Frafa. »Die Strahlung war bereits harmlos, als die Schienen verlegt wurden.«

Der Bitaner musterte sie, bis Frafa seinen Blick erwiderte. Dann sagte er: »Harmlos für finsteres Gelichter vielleicht. Darum habt ihr den Pass wohl gesprengt: damit die anständigen Menschen vergiftet werden, wenn sie über die Berge kommen.«

Frafa schenkte dem Bitaner ein feines Lächeln. »Wenn ich mich recht erinnere«, sagte sie, »haben die Bitaner diese Nukleonenwaffen gebaut und eingesetzt. Weil sie eine Bresche schlagen und in unser Land einfallen wollten.«

Der Mensch machte eine wegwerfende Handbewegung. »Augenwischerei. Ihr Finstervölker habt uns dazu gebracht. Wenn man wissen will, wer die Verantwortung trägt, sollte man schauen, wer den Gewinn einstreicht, so heißt es bei uns. Und wer hatte den Gewinn? Erst sickerte euer Gift in unseren Boden, und gleich hinterher kamen die Finstervölker und raubten unser Land. Eine Verschwörung vom Anfang bis zum Ende.«

Es summte, und der Bitaner zog einen flachen bernsteingelben Gegenstand aus seiner Westentasche. Ein Phonofor, eine tragbare Gesprächsverbindung. Der Mensch hielt sich mit der Linken das Gerät ans Ohr, während er mit der Rechten an dem Zierstein herumspielte, der die Lederschnur um seinen Hemdkragen schloss.

»Ah, Medan … Ja, bin wieder da. Vier Stunden in diesen verfluchten Finsterzinnen ohne Empfang. Muss mir einen besseren Portalanbieter suchen …«

Frafa seufzte und schaute wieder aus dem Fenster. Die Welt war lauter geworden, seit jeder Gossenkehrer über öffentliche Portale Zugang zum Nexus hatte. Frafa erinnerte sich an eine Zeit, als jene eigentümliche Struktur im Äther nur wenigen Magiebegabten zugänglich gewesen war - und die hatten Besseres zu tun gehabt, als Worte hindurchzuschicken und miteinander über Belanglosigkeiten zu schwatzen …

Nun. Frafa lächelte bei der Erinnerung. Nicht immer.

»… zehn pro Hufe? Was glauben die, worauf sie da sitzen? Bitanische Fettweiden? Vier, und das ist schon zu viel. Eine halbe Wüste, das Land hier. Die sollen froh sein, wenn sie überhaupt einen Käufer finden!«

Draußen ging es auf die Mittagsstunde zu. Schon das wenige Licht, das seitlich an ihrer Sonnenbrille vorbeidrang, stach Frafa in die Augen. Sie schlug das Buch zu und warf es auf das Gepäcknetz. Dann schloss sie die Vorhänge.

Nur eine Minute später beendete der Bitaner sein Gespräch. Er ließ das Phon auf das Tischchen neben sich fallen, beugte sich zum Fenster und riss den Vorhang wieder auf. »So ein Pack«, knurrte er in Frafas Richtung. »Die Menschen in diesem Land sind selbst halbe Finsterlinge geworden. Muss man aufpassen wie ein bitanischer Herdenhund. Berge von Schulden haben sie. Aber sind sie dankbar, wenn ihnen jemand noch ein paar Goldlöwen für ihren wertlosen Boden gibt? Nein! Die würden ihre Wohltäter am liebsten über den Tisch ziehen, sobald man ihnen eine Hand reicht!«

Frafa biss die Zähne zusammen. Die Worte trafen sie tief, auch wenn sie seit sechshundert Jahren nicht mehr die Verantwortung für das Land trug. Dumm. Sie rang die Empfindung nieder und versuchte, ruhig zu bleiben.

»Verzeihung«, sagte sie zu dem bitanischen Landaufkäufer. »Könnten Sie die Vorhänge vielleicht geschlossen halten? Das Licht verursacht mir Kopfschmerzen.«

»Und?«, rief der Bitaner. »Was kann ich dafür? Gutes, ehrliches Sonnenlicht. Weiß auch nicht, warum sie heutzutage Finsterlinge zu ehrbaren Menschen in die Erste Klasse setzen. Soll die Bahngesellschaft doch einen Viehwagen hinter die Lok hängen, ohne Fenster, dann bleibt jeder für sich und alle sind zufrieden.«

Der Bitaner grinste Frafa herausfordernd an. Seine Goldzähne funkelten. Lässig hatte er die Hände am Westenschlag.

Frafa stieß die Luft zwischen den Zähnen hervor. »Sie sollten«, erwiderte sie gepresst, »Ihre Worte bedächtiger wählen. Immerhin sitzen Sie in einem Zug nach Daugazburg, in die Hauptstadt aller Finstervölker. Da werden Ihnen womöglich Leute begegnen, die solche Grobheiten übel nehmen.«

»Na und?« Der Bitaner schob das Kinn vor. »Verklagen Sie mich doch!«

Frafa legte die Fingerspitzen aneinander und musterte ihr Gegenüber. »Sie sollten sich mehr Sorgen um diejenigen machen, die nicht die Geduld für eine Klage aufbringen.«

»Ah!«, sagte der Bitaner. »Sie wollen mir mit Ihrer Magie drohen? Da gibt es Gesetze gegen. Und anderes.«

Mit einer lockeren Bewegung öffnete er die Weste. Zwei kleine Revolver mit silberbeschlagenem Griff steckten in Halftern unter den Achseln. Der Bitaner klopfte auf die Waffe an seiner linken Seite.

»Natürlich reise ich nicht ungeschützt in die Provinz. Eine Kugel fliegt schneller als ein Zauber. Finden Sie sich damit ab, Gnädigste. Die dunklen Tage sind vorbei. Niemand fürchtet mehr die tückische Hexerei von Nachtalben. Das Zaubervolk hat sich überlebt und ist nur noch ein lästiges Ärgernis für ehrbare Leute. Wie Ungeziefer. Man wird es nicht los, aber außer dem Ekel hat man keinen großen Schaden davon.«

Frafa starrte ihn immer noch an. Hinter den dunklen Gläsern konnte er ihre Augen nicht sehen, und Frafa stellte sich vor, wie ihr Blick ihm sein selbstgefälliges Grinsen aus dem Gesicht wischen würde. Was bildete dieser Narr sich ein? Sie war Frafa, Meisterin des Lebens, und sie konnte ihm Krankheiten und zehrende Geschwulste in den Leib setzen, ohne dass man je die Spur zu ihr zurückverfolgen konnte. Was halfen ihm seine Gesetze, wenn niemand das Verbrechen sah? Und was halfen ihm seine Waffen, wenn er nicht einmal bemerkte, wie sie zauberte?

Frafa ließ ihren Geist ausgreifen, ertastete den Körper des Bitaners mit ihrer magischen Aura. Sie fühlte sein Leben, das Innere seines Leibes. Sie spürte Gold, transmetabolische Membranen … Erschrocken zuckte sie zurück.

Ihr war übel.

Fahrig griff sie nach ihrer Handtasche, murmelte etwas Unverständliches und floh auf den Gang. Sie schlug die Tür hinter sich zu und lief einige Meter weiter, bis der Mensch sie nicht mehr sehen konnte. Dann lehnte sie die Stirn gegen die kühle Außenwand und schloss die Augen.

Alchemistische Applikationen.

Frafa klemmte die Ledertasche gegen den schmalen Sims vor sich und wischte sich die Hände an ihrem schillernden grünen Kleid ab. Sie hatte das Innere des Bitaners nur allzu deutlich wahrgenommen, den Zerfall, die Krankheit. Der Landaufkäufer mochte fünfzig Jahre alt sein, und er hatte schon sein Herz und seine Leber eingebüßt. Ärzte hatten sie durch künstliche Organe ersetzt. Frafa hatte auch gespürt, wie der Unrat in den Blutgefäßen sich in seinen Arterien festsetzte, die Venen sackartig erweiterte. Verklebte Lungenflügel, poröse Adern im Gehirn, Magengeschwüre … Frafa fühlte sich so schmutzig, als wäre sie in einen Aussätzigen getaucht.

Oder in einen Toten.

Sie konnte nicht glauben, dass sie ernsthaft darüber nachgedacht hatte, diesen Menschen zu töten. Es waren so zerbrechliche, kurzlebige Geschöpfe, diese Menschen. Voller Krankheit, ohne dass es eines Zaubers bedurfte. Und dieser Bitaner hatte seinen Leib bereits ebenso vergiftet, wie er seine Umgebung mit Worten verschmutzte. Er war die Mühe nicht wert.

Frafa empfand Mitleid mit dem Mann, und sie schämte sich für ihre Wut und dafür, dass sie beinahe die Beherrschung verloren hatte. Vielleicht lag sogar ein Körnchen Wahrheit in seinen Worten.

Frafa erinnerte sich an die frühen Tage der Union, als es undenkbar gewesen war, dass Nachtalben und Bitaner im selben Abteil reisten. Damals hatten die menschlichen Bahngesellschaften kein Finstervolk in der Ersten Klasse geduldet. Frafa wäre unter ihresgleichen geblieben, unter Goblins und Gnomen und Vampiren in der Dritten Klasse, wo man ihr zumindest Respekt erwiesen hätte, nicht unter reichen und mächtigen Menschen, mit denen sie in den letzten Jahrhunderten viel zu oft verkehren musste.

War ihr Platz bei den Völkern, die sie jahrhundertelang regiert hatte, oder bei jenen, die an der Spitze eines Volkes standen?

Frafa blieb auf dem Gang, während der Zug durch die weite Ebene auf Daugazburg zuraste. Sie fühlte das Land dort draußen - ihr Land. Das schwache Leben im kargen Boden, vereinzelt etwas Vieh und ärmliche Weiler. Dörfer mit viel zu wenig Einwohnern … Vor achthundert Jahren waren es Städte gewesen!

Vor achthundert Jahren, als sie Kanzlerin von Falinga gewesen war. So lange war das her, und so oft hatte sich seither alles verändert, dass selbst die Veränderung eintönig wirkte.

Die Bremsen kreischten. Wie von einer Riesenfaust gestoßen, wurde Frafa durch den Gang geschleudert. Sie streckte die Hände nach den Griffen aus, bekam jedoch keinen zu fassen, prallte gegen eine Abteiltür und fiel auf die Knie. Sie stieß sich den Kopf an der Heizungsleiste.

Die Bremsen schrillten noch immer. Frafa raffte sich wieder auf. Der Schmerz in den angeschlagenen Gliedmaßen verging, ihre Prellungen heilten binnen eines Herzschlags. Schorf löste sich von einer Platzwunde, die sie sich bei dem Sturz zugezogen hatte und die schon wieder zugewachsen war. Rufe mischten sich unter das Wimmern gequälten Metalls, und vorn aus dem Zug hörte Frafa einen lauteren, gemeinschaftlichen Aufschrei aus den besser besetzten Wagen der zweiten und dritten Klasse.

Magie zupfte am Rande ihrer Wahrnehmung, eine Aura, die nicht in diese Landschaft passen wollte. Es war Leben, ja, Leben! Leben in einer Fülle, wie sie zwischen Daugazburg und dem Scherbenpass nirgendwo zu finden sein sollte.

Frafa tastete sich verwirrt den Korridor entlang, vorbei an einem weiteren dreisitzigen Erste-Klasse-Abteil, in dem eine Menschenfrau von ihrem Sitz gerutscht war und zwischen Mann und Kind gegenüber auf dem Boden saß. Bevor der Zug hielt, stand Frafa schon am nächsten Ausgang und rüttelte an dem Griff. Das Geschrei aus den anderen Wagen schwoll an, und in der Ferne hörte sie ein Donnern, ein Dröhnen wie von einem Erdbeben.

Menschen drängten in den Gang. Frafa sah einen gut gekleideten Vampir im Hintergrund stehen, der sich mit der Hand den Hut tief ins Gesicht zog und versuchte, sich unauffällig zu verhalten. Es klickte unter ihrer Hand, und die Zugtür sprang auf. Die Menschen flohen in Panik. Frafa gab eilig den Weg frei und stieg aus.

Reisende strömten überall über die Bahngleise. Frafa erkannte weitere Alben unter ihnen, dazu Nachtmahre, Gnome und Goblins, vereinzelte Zwerge und Elfen. Der Wagen Erster Klasse hing hinten am Zug, hier liefen nur einige wenige Fahrgäste über die benachbarten Gleise. Aber rings um die Wagen davor drängten Trauben von Passagieren hinaus in die Ebene. Viele eilten an den Gleisen entlang nach hinten, so weit fort von der Lok wie möglich - die großen Schwungräder der Zugmaschine waren mit Thaumagel gefüllt, und jedes Leck, jeder Tropfen, der herausspritzte und ein lebendes Wesen traf, konnte tödlich sein.

Frafa presste sich gegen den Zug und bahnte sich einen Weg nach vorn, um zu sehen, was dort vor sich ging. Jenseits der Menschenmenge zucken Blitze, es donnerte. Rauchwolken stiegen vor dem Zug auf, ein gutes Stück entfernt, Erdbrocken spritzten in Fontänen himmelwärts. Explosionen oder Einschläge - ein Angriff!

Frafa blieb entsetzt stehen. Als sie mit dem Blick ganz unwillkürlich dem Feuer und der hochgeschleuderten Krume folgte, sah sie den fliegenden Wald - eine riesige Insel von Grün mit einem dicken Klumpen von Mutterboden und Wurzelwerk darunter, die scheinbar schwerelos weit voraus neben den Gleisen schwebte.

Auf ihren Reisen hatte Frafa die fliegenden Waldstädte der Elfen schon oft gesehen, vor allem in Bitan. Aber niemals waren sie so tief geflogen, dass ihr Schatten die Mittagssonne verdunkelte, und noch nie hatte Frafa erlebt, dass die Elfen von dort aus Ziele in der Union angriffen!

Langsam trieb der Wald an den Schienen entlang auf den Zug zu. Frafa spürte keine Magie zwischen der fliegenden Insel und dem Erdboden, und im dichten Qualm und dem aufgeschleuderten Geröll konnte sie auch keine Geschosse ausmachen. Aber es war ein Angriff, ganz unzweifelhaft. Im Schatten unter der Insel stiegen Feuersäulen auf, und das Donnern der Explosionen wurde ohrenbetäubend.

Frafa zögerte kurz, dann lief sie weiter. Je näher sie zur Spitze des Zuges kam, umso verlassener wurde es um sie. Die Fahrgäste fürchteten die Lok noch mehr als die fliegende Insel und den Feuersturm, der darunter tobte. Nur ganz wenige Neugierige, Wagemutige oder Wahnsinnige blieben zurück. Sie suchten Deckung bei den Wagen, kauerten neben dem Bahndamm oder liefen ein Stück die Schienen entlang, um das Schauspiel besser betrachten zu können. Viele von ihnen machten Bilder, während die Erde sich vor ihnen aufbäumte und Feuergarben auf sie zupflügten und Erdschollen Hunderte von Schritten emporspritzten, bis sie fast die Krume des Waldes zu berühren schienen.

Zwei Lokführer in blau-grau gestreifter Uniform kamen aus dem Führerhaus, gerade als Frafa die letzte Koppelung erreichte. Sie warfen der Albe einen kurzen Blick zu, zögerten, dann liefen sie weiter. Sie riefen den Menschen, die zu dicht bei den Gleisen verharrten, eine Warnung zu.

Am schimmernden, wuchtigen Leib der Lokomotive blieb Frafa stehen. Der gepanzerte Koloss maß fünfzehn Doppelschritt von der Führerkabine bis zur Spitze und ragte auf beiden Seiten weit über das Gleisbett hinaus. In der Mitte hatte die Lok eine Höhe von vier Doppelschritt, und die zwei halbkreisförmigen Aufbauten, unter denen sich die thaumakinetischen Schwungräder verbargen, ragten fast noch einmal so hoch darüber hinaus. Frafa berührte das Zugfahrzeug, das neben ihr stand wie eine Festung und das doch leicht zur tödlichen Bedrohung werden konnte.

Der Wald war ein gutes Stück entfernt, zwei, drei Braza, schätzte Frafa. Aber genau konnte sie es nicht sagen. Er war so gewaltig, dass sein Flug allen Gesetzen der Natur Hohn zu sprechen schien. Aus der Ferne sah sie einzelne Bäume, Urwaldriesen, die eigentlich fest im Boden verwurzelt sein sollten und ganz gewiss nicht nach Falinga gehörten!

Ein Feuerball erglühte über dem Bahndamm, erfasste alle sechs Gleisspuren zugleich. In diesem Feuerball bogen sich die Schienen, bäumten sich rotglühend auf wie Riesenschlangen und verbrannten. Der Gestank nach Rauch und nach glühendem Stahl lag in der Luft, Schutt und kleine Steine regneten vom Himmel, prasselten wie feiner Hagelschlag auf Lok und auf Wagendächer. Die Waldinsel trieb scheinbar schwerelos über dem Inferno, kam näher wie vom Wind getragen.

Frafa musste sie aufhalten!

Sie streckte die Sinne aus, spürte das Leben der Bäume, tastete, wie die Wurzeln sich im fliegenden Erdreich verbanden, wie sie Kraft und Macht leiteten …

Ein neues Geräusch riss sie aus ihrer Versenkung. Ein Brausen in der Luft.

Erst jetzt wurde Frafa bewusst, dass die hämmernden Einschläge verstummt waren. Das Land vor dem Zug brannte, in tausend kleinen Feuern, die in dem spärlichen Bewuchs kaum Nahrung fanden und zuckend und knisternd einen Ausweg aus dem aufgewühlten Schlachtfeld suchten. Und hinter dem Qualm kam das Brausen heran, zog über den fliegenden Wald hinweg…

Odontopter.

Die Fluggeräte schossen aus der Rauchwolke hervor und wendeten über der unversehrten Landschaft neben den Gleisen. Ihr Rumpf erinnerte vage an eine Libelle, er war grau und lang gezogen und wies vorne eine Verdickung auf, wo der Pilot und der Antrieb untergebracht waren. Im Augenblick waren die vier Flügel festgestellt, und die Maschinen flogen mit den Turbinen und in höchster Geschwindigkeit. Es dröhnte, ein Windstoß blies über die Eisenbahnwagen und durch Frafas Haar, als die Odontopter abschwenkten. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein.

Die Odontopter sackten ein wenig ab, und die durchscheinenden Flügel begannen zu zittern. Die Piloten drosselten die Turbinen, und die Flieger wurden langsamer und schwirrten bald in reinem Flügelbetrieb. Aus dem Brausen wurde ein dumpfes Summen, und in weitem Bogen nahmen die Odontopter die riesige Waldinsel in die Zange. Frafa zählte vier von den Fluggeräten, aber womöglich waren noch mehr davon hinter dem Wald und in den dichten Qualmwolken verborgen.

Gleißende Punkte sausten von den Flugmaschinen fort und in langen Ketten phosphorstrahlend auf Bäume und Laubwerk zu. Sie zerbarsten, hundert Schritte von ihrem Ziel entfernt. Feuerfunken zeichneten die Umrisse einer unsichtbaren Blase nach, die den ganzen Wald zu umgeben schien. Die Elfen schützten ihre fliegende Insel mit einem Kraftfeld.

Ein Feuerschweif löste sich von einem der Odontopter, verharrte einen Moment vor dem Fluggerät, dann schoss er unvermittelt los und zerbarst nach kurzem Flug ebenfalls an dem Schutzkreis. Feuer leckte über das Kraftfeld, von der Magie der Elfen auf Abstand gehalten.

Die Odontopter feuerten weitere Raketen ab, die gegen das Schutzfeld hämmerten. Die Blase bekam allmählich Risse. Wer auch immer im fliegenden Wald unter dem dichten Blätterdach seine Magie wirkte, er konnte nicht alle Angriffe abwehren. Wo die Explosionen eine Lücke fanden, stachen Feuerlanzen hindurch. Aber sie verblassten und verloren an Kraft, ehe sie die Bäume erreichten. Phosphorgeschosse verschwanden zischend in den Blättern. Winzige Rauchfahnen kräuselten sich zwischen Bäumen hervor, kaum zu sehen durch den Staub und durch den Qualm rings um das Gleisbett.

Die Elfen erwiderten den Beschuss. Feuerkugeln stiegen von den Bäumen auf, drangen durch das Laub, ohne Spuren zu hinterlassen. In der Luft strahlten sie mit einem Mal heller. Sie beschleunigten, rasten knisternd auf die Odontopter zu.

Ohne ihre Turbinen, nur im Flügelbetrieb, waren die Odontopter langsamer, aber dennoch beweglich. Sie blieben in der Luft stehen, änderten abrupt die Richtung oder flogen rückwärts, um den Lichtgeschossen auszuweichen. Die aber wirbelten herum und verfolgten ihr Ziel, bis sie langsam verblassten. Weitere Feuerbälle stiegen aus dem Wald, und bald schwirrten rings um die fliegende Insel Kugelblitze, Phosphorgeschosse, Raketen und summende Flugmaschinen in einem bizarren Tanz durcheinander.

Frafa schaute in das blitzende Feuergefecht und presste die Lider zusammen. Rote Funken flimmerten ihr vor den Augen. Die Kriegsodontopter aus Daugazburg fanden inzwischen kaum noch Zeit, den massiven Beschuss zu erwidern, und ihre Vorräte an Raketen gingen zur Neige. Frafa musste wieder eingreifen.

Sie duckte sich hinter die Lokomotive, doch sie zuckte zurück vor der Berührung. Fester Stahl, und die Schwungräder waren mit einer zusätzlichen Panzerung von Skermakial überzogen, doch darunter lauerte der Tod. Konnte sie dieser Deckung trauen? Sie war sich nicht sicher, ob die Lok einer verirrten Phosphorgranate oder gar dem Aufprall einer abstürzenden Flugmaschine standhielte.

Keine Zeit für solche Sorgen.

Wieder griff Frafa mit ihrer Aura aus, warf sie mit einem kühnen Schwung durch den Äther hinan. Sie ertastete Baumriesen und weit verzweigte Wurzelgeflechte, die pulsierten vor Magie. Dazwischen verwoben eine Unzahl von kleinerem Leben: Farne und Sträucher und Gräser; Ranken und Blumen; Waldtiere - und Elfen, Hunderte, die Bewohner des fliegenden Waldes. Frafa erspürte sie alle.

Nur einen Moment lang schmeckte sie die Eindrücke, dann schob sie alles von sich fort und konzentrierte sich auf das Wesentliche: auf die Bäume! Die großen Bäume der Waldinsel bildeten einen vielfach verflochtenen Organismus, der das ganze Gebilde zusammenhielt. Ihr Wurzelwerk trug den Boden, auf dem alles wuchs. Ihre lebendige Aura leitete die Magie, speicherte sie, ließ den Wald fliegen, hielt den Schutzschild aufrecht, gab den Bewohnern Kraft für die magischen Angriffe …

Frafa teilte ihre eigene Aura tausendfach und ließ sie in das Wurzelwerk sickern. Ihr Geist schlich durch die feinen Bahnen in den Stämmen empor, lenkte Magie um, hielt hier einen Strom an Kraft auf, löste dort eine Verbindung. Ganz allmählich schwächte sie den Zusammenhalt des Waldes. Erde rieselte unten zwischen den Wurzeln hervor und fiel herab wie ein Sturzregen von geronnenem Blut. Geschosse von den Odontoptern, die nicht auf die Bäume zielten, sondern auf den Grund darunter, fanden ihr Ziel und rissen große Stücke Mutterboden und Wurzelteile heraus. Denn während die Elfen oben zauberten, unterhöhlte Frafa das Netz von Magie unter deren Füßen und grub dort Lücken in den Schutzschirm.

Dann stieß sie auf Widerstand. Eine andere denkende, zielgerichtete Essenz stellte sich ihr in den Weg. Frafa wich geschickt aus, wie ein Schädling, der an den Wurzeln nagte und sich nicht fassen ließ. Der Widerstand wuchs. Immer weitere Präsenzen machten Jagd auf sie im magischen Flechtwerk des Elfenwaldes, beseitigten hinter ihr die Schäden, peinigten ihren Geist und schnitten Glieder von dem vielarmigen Selbst, in das Frafa ihre Aura verwandelt hatte. Die Elfen hatten sie entdeckt.

Sie zog sich zurück, bündelte Kräfte, wich hierhin und dorthin aus, zog ihre Geistarme wieder an sich. Zaghaft tastete sie nach der Essenz ihrer Verfolger. Sie spürte erst sechs, dann achtzehn und schließlich vierzig Gegner auf ihrer Fährte, Elfenmagier von unterschiedlicher Kraft und Erfahrung. Frafa studierte sie, während sie kämpfte, und bald war sie überzeugt, dass die bedeutsamsten Zauberer des fliegenden Waldes an diesem magischen Duell beteiligt waren.

Der Wald war deren Heimat und deren Schöpfung. Sie kannten ihn, und sie hatten das magische Geflecht, das ihn zusammenhielt, für ihre Zwecke vorbereitet. In einem erbitterten Gefecht drängten die Elfen die Nachtalbe zurück, die so dreist in das Herz ihrer Zuflucht eingedrungen war. Die Wunden, die Frafa geschlagen hatte, schlossen sich wieder, kaum dass ihr nagender Geist davonwich -der Wald und seine Magie war ein zauberisches, lebendes Geschöpf und heilte sich selbst.

Frafa floh, nicht zurück durch den Äther in ihren Körper, sondern immer weiter ins Elfenheim. Höher und höher floh ihre Aura die Wurzeln empor, in die Stämme, während die Elfen Frafas Geistarme kappten und sie vor sich hertrieben.

Dann saß der Kern von Frafas Sein in einem gewaltigen Stamm des fliegenden Waldes gefangen. Doch da riss sie alle noch ausgreifenden Stränge ihrer Essenz wieder an sich. Sie bündelte ihre Aura zu einem einzigen Zauber. Krankheit und Fäulnis schossen wie ein Blitz durch das Holz, die Säfte des Urwaldriesen verkochten in einem Ansturm wilder Magie. Und draußen, in der grobstofflichen Welt, riss der Stamm auf, barst vier Schritte über dem Boden und spie faulige Splitter in das Unterholz.

Frafa hatte den Ort sorgsam gewählt, an dem sie all ihre ausgesandten Kräfte wieder vereinigte: Im Umkreis dieses Stammes saßen die mächtigsten ihrer Gegner. Während der Geist dieser Elfen in den Tiefen des arkanen Spektrums tastete, ging über ihren Leibern eine gewaltige Eiche nieder. Frafas Macht bohrte sich tiefer in den todgeweihten Baum, spaltete ihn bis hinauf in die Krone. Der Stamm schüttelte seine Äste ab, zerbrach in Stücke und krachte hinterher. Frafas Geist raste da schon wieder in den Stumpf hinab und weiter in die Wurzeln.

Ihre stärksten Gegner waren abgelenkt, und die anderen konnten ihrer Macht nichts entgegensetzen. Während die Elfen schwankten, setzte Frafa ihnen nach. Wieder faserte ihre Aura aus, in vierzig starke Arme diesmal. Sie fiel den zurückweichenden Feinden in den Rücken und folgte den Verbindungen, die die Zauberer selbst geschaffen hatten, von der arkanen Welt bis in ihren Körper. Es verging kaum ein Wimpernschlag von dem Augenblick, da der Baum fiel, bis zu Frafas Gegenangriff -nur ein Wimpernschlag, in dem die Elfen schwankten und sich neu ausrichteten. In diesem Wimpernschlag war Frafa über ihnen, in ihnen, mit einer Aura, die noch immer aufgeladen war mit der Magie von Tod und Vernichtung.

Frafa spürte den Aufschrei, den Schmerz ihrer Gegner. Nach einer kurzen Berührung zuckte sie zurück und war wieder im Wald. Allein. Die Zauberer, die ihr eben noch widerstanden hatten, waren nicht mehr da. Sie starben oder waren tot oder kümmerten sich um das, was Frafa in diesem einen Augenblick in ihren Körpern angerichtet hatte.

Solange die Elfen damit abgelenkt waren, vollzog Frafa in rasender Geschwindigkeit all jene Wege nach, die sie vorher im Kampf erkundet hatte. Sie faserte auseinander, raste die Wurzeln zurück, vom Stamm bis zum feinsten Wurzelhaar. Sie löste und hemmte, sie entzwirbelte und verknotete, während sie sich zurückzog, und spulte all die Strukturen der Magie ab, die in diesem Moment niemand mehr schützte und pflegte.

Und dann war sie wieder zurück, in ihrem Leib bei der Lokomotive. Sie blickte auf.

Der fliegende Wald schwebte immer noch dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, zwei Braza schräg vor dem Zug und einen halben Braza über dem Boden. Die Wurzeln hingen jetzt herunter wie tote Würmer, ihr feines Geflecht auseinandergerissen. Erde löste sich in großen Brocken. Keine Lichtkugeln schwebten mehr durch die Luft. Die Odontopter summten wie wütende Hornissen über den belaubten Kronen, und ihre Geschosse schlugen ungehindert zwischen die Bäume.

Stichflammen verzehrten das Blattwerk und schossen hoch über die Wipfel. Der fliegende Elfenwald brannte. Weitere Raketen schlugen an der Seite ein, und Feuerzungen leckten von einem Ende des Waldes bis zum anderen.

Während Frafa sich erschöpft an die Leiter lehnte, die zum Führerhaus der Lok emporführte, stürzten vor ihr die brennenden Bäume vom Himmel, ein Feuerregen, der eine große Stadt unter sich hätte begraben können. Hundert Schritt hohe Stämme fielen lodernd wie feurige Säulen durch eine Wolke von Qualm und Dreck, bis nichts zurückblieb als ein gewaltiger Brand, der die Schienen unter sich begrub.

Frafa atmete durch. Selbst auf die Entfernung spürte sie die Hitze des Feuers auf der Haut. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, die Reisenden zusammenzusuchen, die Lokführer zurückzuholen und den Zug einige Braza zurückzusetzen, damit sie alle in Sicherheit wären. Aber Frafa fühlte sich zu schwach. Seit Jahrzehnten hatte sie kaum mehr einen Zauber wirken müssen, und in dem Jahrtausend, das sie lebte, hatte sie noch nie an einer Schlacht teilgenommen, die eine solche Zaubermacht erfordert hätte.

Ein leises Lächeln schlich sich auf ihre Züge, ein Hauch von Euphorie, der gewiss ihrer Schwäche geschuldet war.

Ein einmaliges Ereignis!

Der Gedanke ernüchterte sie. Das hier war mehr gewesen als eine einmalige Gelegenheit, ihre Magie zu erproben. Es war ganz unerhört und beunruhigend!

Frafa wusste, dass die Elfen mit der Politik der Union unzufrieden waren. In ihren fliegenden Wäldern flohen sie vor dem Blut der Erde, das sich immer weiter ausbreitete auf dem Kontinent, und oft genug hatten sie den Menschen vorgeworfen, dass diese den Kampf gegen die Verseuchung des Bodens, der doch in ihrem Bündnis mit den Finstervölkern fest vereinbart worden war, nicht mit der notwendigen Tatkraft führten. Frafa hatte von Anschlägen gehört, die in den bitanischen Provinzen von Elfen verübt worden waren. Von Übergriffen zwischen Elfen und Menschen; von Auseinandersetzungen über die Flugwege der magischen Wälder.

Doch dies war das erste Mal, dass die Elfen eine ihrer fliegenden Inseln in die Lande der Finstervölker gelenkt hatten, um dort einen Terroranschlag auszuführen.

War das nun ein einmaliges Ereignis - oder ein erstmaliges? Nach diesem Wahnsinn, der hier geschehen war, wer wusste, was darauf folgen würde?

2

Formbein - Ein Sammelbegriff für feste Substanzen aus organischer Materie, die sich unter Druck und Hitze in beliebige Formen pressen lassen. Formbein wird meist aus pflanzlichen Rohstoffen gewonnen, die durch alchemistische Verfahren verflüssigt und destilliert werden.

Die Herstellung von Formbein ist mit einem gewissen Aufwand verbunden, doch da als Ausgangsmaterial Abfallprodukte verwendet werden können und wegen der vielfältigen Bearbeitungsmöglichkeiten, erfreut sich der Stoff in der Fertigung dennoch einer steten Beliebtheit. Inzwischen sind zahlreiche Varianten mit unterschiedlichen Materialeigenschaften entwickelt worden. Manche Hersteller werben damit, dass ihre Formbeinvarianten es mit der Festigkeit von Stahl aufnehmen können.

Die Bezeichnung »Formbein« oder auch »künstlicher Knochen« geht vor allem auf die weiße bis schmutzig graue Färbung zurück, die zu Anfang im Herstellungsprozess als angestrebtes Ziel für die Grundsubstanz galt - nicht zuletzt, um einen neutralen Ausgangszustand für die künstliche Färbung des Endprodukts zu schaffen. Alternative Bezeichnungen wie »künstliches Holz« beschrieben zunächst nur einzelne Endprodukte, wurden im Handel allerdings rasch als Begriff für die gesamte Stoffklasse übernommen, da die Assoziation mit »Knochen« vielfach als unvorteilhaft empfunden wird.

Aus: »TECHNIKLEXIKON«, VON ISKWELZA VON DAUGAZBURG

Drei Tage zuvor, im äußersten Westen von Bitan

Der schäbige Stehimbiss lag in einem Altbau in Marikantos. Die Decke war hoch, das dunkle Mauerwerk zeigte sich überall unter dem abbröckelnden Putz, und die wenigen Gäste hielten den Kopf gesenkt und kümmerten sich nicht umeinander. Regen schlug gegen die große Scheibe, die innen von einem dicken Film überzogen war, sodass man fast nicht hindurchsehen konnte.

Bloma der Gnom stand seinem Lieferanten gegenüber, einem Elfen mit strähnigem blonden Haar, eingefallenen Wangen und einer spitzen Nase. Der Kerl hatte sich einen Tisch im hintersten Winkel der Imbissstube ausgesucht, möglichst weit weg von der einzelnen nackten Glühbirne, die über dem Tresen von der Decke hing.

»Hier.« Der Elf holte ein Päckchen aus seinem Mantel und schob es über den Tisch. Dabei schaute er sich so auffällig verstohlen um, dass Bloma unwillkürlich seufzte.

Bloma Sockels, genannt die »Knochenklinge«, konnte Stümper nur schwer ertragen. Aber was machte das schon - seine Laune war bereits im Keller, und aufgeflogen war er ohnehin.

Drei weitere Päckchen folgten. »Ich weiß immer noch nicht, warum ihr meine Hilfe braucht«, fuhr der Elf fort. »Ihr hättet die Ware viel besser selbst durchs Land schmuggeln können. Mit euren spe-zi-ellen Gnomenkünsten!« Er zwinkerte Bloma verschwörerisch zu.

Wenn Bloma mit den Zehenspitzen auf der Fußstütze balancierte, konnte er gerade eben über die Platte des kleinen Stehtisches schauen. »Du glaubst nicht, wie oft wir unterwegs von den Frettchen gefilzt worden sind«, sagte er und zwinkerte ebenfalls. »Man könnt fast meinen, die Polizei traut uns Gnomen alle Verbrechen zu. Keine Ahnung, wo der Ruf herkommt.«

»Menschen eben«, fuhr der Elf mit gesenkter Stimme fort. »Mich schaut hier jeder für einen Terroristen an, nur weil ich ein Elf bin. Und wenn man mich mit dem Zeug erwischt hätte … Ich hab mich nur drauf eingelassen, um Geld für die Reise zu kriegen. Fort von dem verseuchten Boden.«

»Ja, ja, klar«, sagte Bloma, ohne genau hinzuhören. Er schob die Päckchen in eine Stofftasche und ließ sich von der Trittstange gleiten. Erst da fiel ihm auf, dass der Elf die Hand erwartungsvoll über den Tisch streckte. Bloma griff in die Innentasche seiner Jacke und warf achtlos einen Packen Geldscheine hin. Einige der menschlichen Gäste unterbrachen ihre Unterhaltung und starrten den Elf an. Bloma trat rasch durch die Tür und hinaus in die Nacht.

Marikantos war eine Hafenstadt im Westen Bitans. Die jahrhundertealten Bauten der Altstadt zeugten von vergangener Größe, doch inzwischen war der Ort zu einer verschlafenen Kleinstadt herabgesunken. Seit Menschen und Finstervölker in einer Union verbunden waren, hatte das Leben sich in den Osten verlagert. Der Handel mit den Südlanden erreichte Marikantos kaum.

Es war eine graue Nacht. Der Wind drückte den Regen vom Meer in die Straßen, und die wenigen Passanten trugen die Mantelkragen hochgeschlagen oder fochten mit widerspenstigen Schirmen gegen die steife Brise. Die meisten Straßenlaternen waren zerschlagen. Das Licht, das hinter einigen Fenstern brannte, war so trübe wie Leuchmadans Zeitalter.

Von seinem Verfolger war nichts zu sehen, aber Bloma wusste, dass er da war - ein Frettchen in Zivil, ein Geheimpolizist, der ihm schon vom Hotel aus gefolgt war.

Bloma ging langsam, bog dann unvermittelt in eine dunkle Seitengasse ein und fing an zu rennen. Bald hallten rasche Schritte hinter ihm wie ein Echo. Der Gnom lief um zwei Ecken und drückte den Stoffbeutel fest an die Brust. Er würde die Päckchen später sorgfältig prüfen. Wenn bei dieser Verfolgungsjagd etwas losgerüttelt worden war, konnte das ihr Leben in Gefahr bringen.

Oder schlimmer: den Erfolg ihrer Mission!

Im Laufen schon nestelte er die Uhr vom Handgelenk. Die Tasche hatte er sich unter den Ellenbogen geklemmt, und das Herz schlug ihm bis zum Hals bei dem Gedanken, dass sie hinunterfallen könnte!

Bloma war ein Stück in die Gasse hineingelaufen, dann sah er sich um. Keine Zeugen in der Nähe! Hastig stellte er die Tasche ab. Er legte die Uhr vor sich auf den Boden - und machte sich klein.

In Käfergröße stand er auf dem nassen Pflaster. Das Wasser umspülte seine Beine, schoss durch die Ritzen zwischen den Steinen wie ein wilder Bergbach. Die Uhr ragte vor ihm auf, ein Metallgehäuse, so groß wie ein Wagen. Gleich neben dem Stellrad für die Zeiger zeichneten sich die Umrisse einer Klappe ab. Sie war durch einen Riegel verschlossen, so fein, dass er für einen großen Betrachter bloß aussah wie ein Relief.

Hinter der Klappe lag ein Hohlraum, ein begehbarer Schrank für den geschrumpften Gnom, voll mit Kleidung und Ausrüstung. Bloma sprang hinein, riss die Blaspistole aus Formbein aus einer Halterung und holte eine kleine Schachtel aus der Schublade darunter. Im Nu war er wieder auf der Straße. Aber nun war er nicht mehr allein!

Er spürte die Anwesenheit des anderen, kaum dass er die metallene Hülle verlassen hatte. Neben dem Regen, der in Tropfen, so groß wie eine Eimerladung Wasser, auf das Kopfsteinpflaster hämmerte, neben den schmalen Wildwassern, die in den Ritzen schäumten und gurgelten, war noch etwas anderes da, eine Masse und eine Ansammlung von Lauten, die der winzige Gnom mehr fühlte, als dass er sie mit seinen natürlichen Sinnen wahrnahm.

Bloma schaute entsetzt nach oben, ob schon ein Fuß auf seine Uhr niederging und ihn achtlos zertreten würde … Doch er zögerte nicht lange und machte sich groß. Während er sich konzentrierte, brachte er schon die Pistole in Anschlag.

Seine größer werdende Gestalt stieß in den Regen. Tropfen trafen ihn mit der Wucht von Pflastersteinen, und benommen stand er in seiner natürlichen Gestalt wieder auf der Straße. Der Mensch vor ihm war ein dunkler Umriss, vor Schreck erstarrt, als der Gnom unvermittelt vor ihm auftauchte.

Bloma zielte in Richtung der verschwommenen Silhouette und drückte ab. Zischend fuhren die Giftpfeile aus dem Lauf, zweimal, dreimal. Bloma blinzelte sich das Wasser aus den Augen.

Als sein Blick wieder klar wurde, lag der Mensch schon auf dem Boden. Er war tot - die Mischung in den Bolzen wirkte schnell. Bloma schlug den Mantel des Toten zurück und fand rasch die Dienstpistole, den Ausweis, ein Sprechgerät. Er hatte den Richtigen erwischt.

Der Gnom zog die Schachtel hervor, die er aus der Uhr mitgenommen hatte. Er schob sie auf, und knapp zwei Dutzend Holzstäbe mit verdicktem Kopf kamen zum Vorschein. Sie sahen aus wie besonders große Zündhölzer.

Bloma starrte darauf und fluchte.

Rot und Grün.

Bei diesem Licht und im Regen wirkten die Streichholzköpfe selbst für die scharfen Augen eines Gnoms alle gleichermaßen grau. Wie sollte er da ein passendes Paar finden?

Er kniff die Augen zusammen und drehte die Packung hin und her. Aber die Gasse, in die er seinen Verfolger gelockt hatte, war vollkommen dunkel. Schließlich glaubte er, winzige Unterschiede in der Schattierung erkennen zu können. Er holte zwei Hölzer hervor, hielt die Köpfe gegeneinander. Ja. Das mussten zwei verschiedene Farben sein!

Bloma beugte sich zu dem toten Menschen. Die Hölzer liefen zum einen Ende hin spitz zu, und er drückte das eine Hölzchen an einer weichen Stelle in den Kopf des Menschen, bis es fast ganz verschwunden war. Ein dünner Blutfaden lief dem Toten über die Wange und wurde vom Regen davongespült. Dann ging Bloma zu den Beinen, zog an dem toten Körper, bis der ausgestreckt dalag, und steckte das zweite Holz in die Wade.

Dann sprang er hastig zurück.

Es knisterte. Ein feines Glühen durchzuckte die Leiche von einem Hölzchen bis zum anderen. Dünne Rauchfäden stiegen aus der Kleidung des toten Polizisten. Flämmchen züngelten über den Stoff, und ein modriger Geruch zog durch die Gasse. Nach und nach verbrannte der Leib zu Asche, unter einem Zauberfeuer, das nur ab und zu heller aufflackerte, aber niemals ganz erlosch. Am Ende blieben nur graue Flocken, die der Regen fortwusch.

In der Pension fand Bloma nur seinen Freund Wisbur vor. Wisbur saß an dem viel zu hohen Tisch, hatte seine Ausrüstung aus der Uhr geholt, hatte sie vergrößert und ordnete sie gerade. Als er die Tür hörte, blickte er auf und legte die Hand auf die Blaspistole. Er atmete auf, als er Bloma erkannte.

»Alles in Ordnung, Bloma?«, fragte er.

»Nenn mich ›Knochenklinge‹, Wisper«, erwiderte Bloma. »Keine Namen im Einsatz. Man weiß nie, wer zuhört. Aber ja, alles gut gelaufen.«

Er holte die Tasche unter seiner Jacke hervor. Dann sah er sich um. »Wo sind Greif und Reißer?, fragte er.

Wisbur »Wisperwind« Unterbusch zuckte die Achseln. »Unterwegs«, meinte er.

Bloma runzelte die Stirn.

Einen Augenblick lang herrschte unbehagliches Schweigen, dann redete Wisbur weiter: »Der Pensionswirt hat Kaution verlangt. Weil wir Gnome sind, verdammter Rassist. Segga und … ich meine, Greif und Reißer waren sauer. Sie wollten dem Burschen zeigen, was Gnome sind.«

Bloma schüttelte den Kopf. »Davon kriegen wir die Kaution erst recht nicht wieder.«

»Nur wenn der Wirt ihre Streiche bemerkt, bevor wir abreisen. Sie wollten im Keller eine Flasche Wasser hinter die Schränke kippen, damit der Kerl einen hässlichen Schimmelfleck kriegt. Oder ein Heizungsrohr anbohren. Irgendwas, was erst später auffällt.«

»Ich wäre beruhigter, wenn sie bei so was geschickter wären«, erwiderte Bloma. »Wenn sie auffallen, können wir ernsthafte Schwierigkeiten kriegen. Und damit meine ich nicht die Kaution.« Er wies beiläufig auf die Päckchen, die er mitgebracht hatte.

»Da fällt mir noch eine Menge mehr ein, wie wir auffliegen können«, sagte Wisbur. »Sobald sie die Elfen haben, kommen sie auch uns auf die Spur.«

»Nein.« Bloma widersprach entschieden. »Die Frettchen schnappen sich die elfische Widerstandsgruppe, von der wir die Bomben haben, klar. Aber damit haben sie genau die Schuldigen, die sie haben wollen. Was kümmern sie ein paar Gnome, wenn sie elfische Terroristen haben?«

Wisbur musterte seinen alten Freund skeptisch. Der aber legte ihm die Hand auf die Schulter, lächelte und meinte: »Ich sag's dir, Wisper, genau so wird es laufen: In zwei Tagen brennen wir den Herren ihre Insel der Seligen nieder, den Elfen wird man die Schuld daran geben, und die Großen werden sich untereinander zerfleischen.

Und am Ende wird der Bund der Knochenmesser triumphieren, wie in alten Tagen.«

Die Insel der Seligen - so stand es in verschnörkelten Buchstaben auf dem großen Schild an der offiziellen Zufahrt zum Anwesen. Die Gnome mieden die Vorderseite und näherten sich dem Grundstück von der Seite.

In ihrer großen Gestalt liefen sie den Hügel empor, bis zu einer Sperre aus Stacheldrahtrollen. Sie legten die Päckchen ab, zogen ein Tarnnetz darüber und gingen dahinter in Deckung. Hinter dem gerollten Stacheldraht ragte ein höherer Zaun aus Maschendraht auf. Der Geruch nach Ozon hing in der Luft. Dann und wann sahen die Gnome Funken tanzen, wenn Insekten die stromführenden Drähte kurzschlossen. Ein noch höherer Zaun aus dünnem Stahlrohr verlief als dritte Linie dahinter und ließ einen schmalen Korridor frei bis zum vorherigen Zaun.

Es dauerte nicht lange, bis dort eine Patrouille entlangkam. Zwei dunkel gekleidete Menschen, die Hunde mit breiter Schnauze an der Leine führten. Die schwarze Uniform gab in der finsteren Nacht eine gute Tarnung ab, aber die Gnome sahen trotzdem genug. Die Menschen allerdings würden trotz ihrer Nachtsichtbrillen Schwierigkeiten haben, die flachen Päckchen im Gras zu erkennen. Die Gnome hofften darauf, dass den Hunden ihre Anwesenheit ebenfalls entging. Sie hatten sich dick genug eingesprüht mit einem Mittel, das die empfindlichen Hundenasen täuschen sollte.

Die Wachen gingen weiter, und die Gnome machten sich bereit. »Greifenklaue« und »Reißzahn«, daheim im Tal auch einfach als Segga und Waldron bekannt, liefen in ihrer kleinen Gestalt auf den Zaun zu. Es war ein langer Weg für sie, und sie würden eine Weile brauchen, bis sie auf der anderen Seite ankamen.

Bloma und Wisbur warteten eine Weile, bis die Streife außer Sicht war. »Wir haben zwanzig Minuten«, flüsterte Bloma dann. Sie nahmen ihre große Gestalt an.

Hastig zogen sie das Tarnnetz von den Päckchen. Da erschienen Greif und Reißer auf der anderen Seite des Stacheldrahts. Bloma und Wisbur klemmten sich jeder zwei Päckchen unter den Arm und liefen los. Vor dem Stacheldraht blieben sie stehen, warfen die Päckchen hinüber, und ihre Gefährten fingen sie auf.

»Alles sauber«, rief Greifenklaue halblaut.

»Aber der zweite Zaun sieht übel aus.« Reißzahn schaute misstrauisch über die Schulter.

Bloma und Wisbur wechselten in ihre kleine Gestalt und huschten unter den Drahtschleifen hindurch. Der dicke Draht war mit feinen Klingen besetzt, scharf wie ein Skalpell und voller Widerhaken. Doch für die käfergroßen Gnome blieben Lücken, breit wie Prachtstraßen und hoch wie Triumphbögen.

Der schmale Streifen bis zum nächsten Zaun war mit feinem Sand bestreut. Als sie ihn überquerten, spürten sie die Anwesenheit ihrer Gefährten, die in ihrer großen Gestalt warteten. Bloma hielt inne und stieß zischend die Luft aus.

Auf den ersten Blick bestand der mittlere Zaun aus einfachem Maschendraht, der mit einer dünnen Schicht Formbein überzogen war. Aber dazwischen waren drei stromführende Leitungen eingeflochten, und hauchdünne Drähte spannten sich zwischen den Maschen, Signaldrähte, die vermutlich auf bloße Berührung reagierten.

Doch viel unmittelbarer war eine ganz andere Gefahr: Unterhalb des Zauns verlief ein kleiner Graben. Er mochte fünf Zentimeter tief und dreißig Zentimeter breit sein, so genau ließ sich das nicht sagen, denn ein weißes Gespinst verwob sich dort zu einem wallenden Vorhang, der vom unteren Rand des Maschendrahts bis in den kleinen Graben reichte.

Ortstreue Spinnen, die man gezielt hier angesiedelt hatte, damit keine Gnome unter dem Zaun hindurchlaufen konnten. Wisbur sah ihre schwarzen Leiber in den Netzen, wo sie sich träge bewegten. Er legte die Hand an die Blaspistole, aber es waren zu viele, als dass sie sich den Weg hätten freischießen können.

»Lass den Unsinn«, sagte Bloma. »Die Anker!«

Er nahm seine Armbrust vom Rücken, spannte sie und legte einen Wurfanker auf, den er an der Seilrolle befestigte. Dann visierte er sein Ziel an. Es dauerte eine Weile, bis er eine saubere Stelle fand, weit genug entfernt von allen Signaldrähten und von den Starkstromleitungen.

Er schoss, und der Anker flog durch die angepeilte Masche des Zauns. Bloma blockierte die Seilrolle. Das Geschoss wurde unvermittelt aufgehalten und riss Bloma ein Stück weit nach vorn. Wisbur hielt den Atem an.