Inhalt

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Danksagungen
  7. Prolog
  8. 1
  9. 2
  10. 3
  11. 4
  12. 5
  13. 6
  14. 7
  15. 8
  16. 9
  17. 10
  18. 11
  19. 12
  20. 13
  21. 14
  22. 15
  23. 16
  24. 17
  25. 18
  26. 19
  27. 20
  28. 21
  29. 22
  30. 23
  31. 24
  32. 25
  33. 26
  34. 27
  35. 28
  36. 29
  37. 30
  38. 31
  39. 32
  40. 33
  41. 34
  42. 35
  43. 36
  44. 37
  45. 38
  46. 39
  47. 40
  48. 41
  49. 42
  50. 43
  51. 44
  52. 45
  53. 46
  54. 47

Über den Autor

Greg Iles hat sich vom Geheimtipp zu einem der wichtigsten amerikanischen Thriller-Autoren entwickelt. Greg Iles wurde in Deutschland geboren, sein Vater leitete die medizinische Abteilung der Amerikanischen Botschaft. Die Bücher von Greg Iles erschienen in über zwanzig Ländern. Der Autor lebt mit Frau und zwei Kindern in Natchez, Mississippi Weitere Informationen über seine Romane und Filme finden Sie unter www.gregiles.com.

GREG ILES

@ E.R.O.S.

Aus dem Amerikanischen von
Uwe Anton

BASTEI ENTERTAINMENT

Für meine Frau

Dr. Carrie McGee Iles

Das Licht

an beiden Enden des Tunnels …

Danksagungen

Wie immer gilt mein Dank meiner Agentin Natasha Kern.

Und Ed Stackler, einem jungen Redakteur der alten Schule, einem der letzten in einer Branche, die dafür keine Zeit mehr hat.

Vielen Dank an Elaine Koster für kluge Ratschläge.

Besonderen Dank an Stephen King; sowie an Michaela Hamilton dafür, daß sie eingesprungen ist, an Peter Schneider für kreative Hinweise, Hank Doliner für allgemeine Grundsätze und dem Team bei Dutton/Signet für die Fachkenntnisse und den Einsatz.

Besonderen Dank an Oriana Green, für zu viele Beiträge, als daß ich sie hier aufzählen könnte, Gott sei Dank.

Besonderen Dank an Robert und Frances Royal.

Besonderen Dank an »woodyq«.

Ich verdanke viel dem Augenarzt Dr. Lou Jacobs, der mir großzügig Einblicke in seine Erfahrungen mit der Neurochirurgie gewährt hat.

Für allgemeinen medizinischen Beistand danke ich: Dr. Jerry Iles, Dr. Michael Bourland, Dr. Tom Carey, Dr. John White, Dr. Tom Weed.

Gerichtsmedizin: Natalie (Raven), die veröffentlichten Werke von John Douglas, Robert Ressler, Ann Burgess und Allen Burgess.

Für allgemeine Hilfe danke ich: Dr. Robert Savant, Dr. John McGee, Keith Rayburn, Jim Easterling, Beverly Halpern, Geoff Iles, John Lanzon, Robert Hag, Mary Lou England, Dr. Noah Archer, Trish Archer, Finley Hootsell, John George und Win.

Dank auch den Mitgliedern von CompuServe und America Online, die mir tausendfach geholfen haben, besonders Pat Reinken und Emery Werberg.

Ich verdanke besonders viel den Werken von Joseph Campbell, Camille Paglia, Steven Levy, Jeffrey Burton Russell, Carl Jung, Neil Finn, Toad the Wet Sprocket und Sting.

Leser: Courtney Aldridge, Betty Iles.

Wie immer Dank an Madeline für ihre Geduld und an ihre Großmütter dafür, daß ich sie so lange bei ihnen abladen konnte. Sonst hätte ich das Buch nie fertigbekommen.

Alle Fehler gehen auf meine Kappe.

Prolog

Lieber Vater,

wir sind gestern abend in New Orleans gelandet.

Eine feuchte Stadt.

Flach, tief, weitläufig. Eine einzige Gruppe hoher Gebäude in der Ferne.

Der Taxifahrer war überraschenderweise ein Cajun. Ein hagerer, brauner, runzliger Mann. In Chinatown erwischt man nie einen Chinesen als Taxifahrer. Ich hätte mit einem Osteuropäer gerechnet, wie man sie überall findet.

Er schaute immer wieder in den Rückspiegel, während wir durch eine alte Vorstadt fuhren, die er »Metry« aussprach. Hier sind die Weißen einst vor »de Niggas« geflohen. Jetzt fliehen sie über den Lake Pontchartrain. Ich habe an dem Computer auf meinem Schoß gearbeitet, aber mit einem Ohr seinen Worten gelauscht.

Die Nacht brach herein über einem aufgehenden Mond, als wir auf einen höher gelegenen Teil des Freeways und dann vorbei am Superdome fuhren. Kali muß ein schwarzer Schatten für ihn gewesen sein, neben mir auf dem Rücksitz, ein Schatten mit leuchtenden schwarzen Augen.

Sie wollte den Fahrer umbringen.

Ich spürte es.

In ihrer Handtasche der Schal – die heilige Waffe. Ich sehe ein Bild in ihrem Kopf: Er hält an einer Ampel, als wir die Abfahrt zur Unterwelt der ebenerdigen Straßen nehmen. Sie legt die Schlinge um seinen Hals und raubt ihm heimlich das Leben …

Ich lege eine Hand leicht auf ihr Handgelenk und spüre ein Zucken, das meinen Eindruck bestätigt. Sie ist bereit.

Ich weiß, wenn ich die Hand unter ihren Sari schiebe, werde ich feststellen, daß sie feucht ist. Sie lebt für diese Abende.

Ich hoffe, daß die Sicherheitsvorkehrungen nicht strenger als erwartet sind.

Ich schiebe die Hand unter ihren Sari.

Sie ist naß. Geradezu glühend heiß.

Zeit ist Feuer.

Wie gegensätzlich wir doch sind, wie absolut gegensätzlich.

Ich kann mich zurückhalten. Weiß mich zu beherrschen.

Trotze der Sache.

Kali kennt nur das Leben.

Sie legt den Kopf auf die Rücklehne; schwarze Augen funkeln durch halb geschlossene Lider. Ich bewege meine Hand, während wir die Abfahrt hinab auf den Poydras fahren, und rette dem Fahrer damit wahrscheinlich das Leben.

Wir fahren weiter zum Canal und French Quarter.

Kali kommt lautlos zum Höhepunkt.

Der Fahrer riecht sie. Beißend, scharf. Ich erkenne Wachsamkeit auf seinem Nacken, so wie er den Kopf schräg hält. Seine Blicke schießen wieder zum Rückspiegel. Eine Hure? fragt er sich.

Kali lächelt ihn im Spiegel an. In ihrem Lächeln liegt Tod. Tod, in den ein Mann vielleicht freiwillig geht. Sie ist betörend schön. Und so sollte es auch sein.

Du hast ihrem Vater viel Geld für sie bezahlt.

Wir verließen das Taxi vor Galatoire’s, betraten das Restaurant, gingen sofort wieder und wechselten noch zweimal das Taxi.

Ermüdend, aber nützlich.

Die Absicherung der Villa war beträchtlich, aber nicht schlimmer, als ich erwartet hatte. Eine kleine Privat-Armee, wie es sich für eine amerikanische Kultfigur gehört. Leibwächter, die man von Gott weiß was für einer Agentur angeheuert hatte – wahrscheinlich irgendein Haufen, der von einem Expolizisten geleitet wurde, der sich in Ausübung seines Jobs zwanzig Jahre lang einen hinter die Binde gegossen hatte.

Das Schmiedeeisen des Zauns war von erlesener Qualität, französischer Einfluß. Ich ließ die rechte Hand über die Spitzen gleiten, als wir daran vorübergingen. Ich würde mir an ihnen blaue Flecken holen, das wußte ich, aber ich fühlte mich fit.

Fast verwegen. Das Gitter entsprach denjenigen auf den Balkonen des ersten Stocks.

Pittoresk.

Auf der Straße drängten sich alle möglichen Touristen. Die meisten davon Gaffer. Ich neigte den Kopf, als wir an den Wachposten am Tor vorbei gingen. Einer nickte leicht, schaute auf meine Aktentasche. Der andere folgte mit den Blicken Kali. Selbst der sich bauschende Sari konnte die scharfen Konturen ihres Körpers nicht verbergen.

»Gleich wenn wir um die Ecke sind?« fragte sie.

»Sobald nicht mehr so viele Leute da sind.«

Als wir um die Ecke bogen, schmolz die Menge dahin, als hätte irgendein Inspizient sie verscheucht. Kali raffte den Sari und war innerhalb von ein paar Sekunden über den Gitterzaun und zwischen den Palmwedeln und Bananenbäumen. Ich war vorsichtiger. Ich schob die Aktentasche zwischen den Gitterstäben hindurch und kletterte dann hinüber.

Wir standen dicht nebeneinander zwischen den tropfnassen Bäumen und schauten zu der von Flutlicht erhellten Fassade der Villa hinüber. Solides Mauerwerk, wie ein Nebengebäude von Versailles. Kalis Hand legte sich auf mein unter dem Reißverschluß geschwollenes Glied. Sie drückte mich leicht, eine Krankenschwester, die den Puls fühlte.

Ich erschauerte. »Wir müssen warten.«

Ein kurzes Einatmen. »Wie lange?«

Ich ging zwischen den dunklen Blättern in die Hocke, bootete den Computer und loggte mich wieder bei EROS ein. »Sie ist noch an ihrem Computer. Sie sucht nach mir.«

»Dann soll sie dich doch finden.«

Ich schaltete den Computer aus, legte ihn in die Aktentasche zurück und rief mir die fotokopierten Blaupausen in Erinnerung zurück, die das Archiv mir so pflichtbewußt geschickt hatte. »Das Fenster ganz oben rechts«, sagte ich. »Jetzt.«

Die Aussicht, das offene Gelände zwischen dem Zaun und der Villa überqueren zu müssen, war für mich entmutigend. Für Kali war es nichts. Sie glaubt, wir seien in solchen Augenblicken unsichtbar. Weniger als Schatten. Wir seien nur noch Zweck.

Unter dem Seitenbalkon öffnete ich den Aktenkoffer. Kali nahm das Seil heraus und warf den gummierten Haken über die Eisenstäbe des Balkongeländers. Sie klettert wie ein Dieb.

Ich warf die Aktentasche hoch.

Ein Koffer mit Utensilien für eine Vergewaltigung, so würde die Polizei den Inhalt bezeichnen.

Aber es ist so viel mehr.

Ich hatte mich auf Widerstand eingestellt, aber die gläserne Balkontür stand offen. So ist es oft: Man lädt das Böse geradezu ein.

Kali zog das Seil hinter uns hoch.

Wir gingen gemeinsam durch den Flur. Dicker Teppichboden. Die Klimaanlage flüsterte aus der Decke. Irgendwo das regelmäßige Ächzen eines sich langsam drehenden Deckenventilators.

Ich folgte dem Ächzen.

Es führte uns ins Schlafzimmer. Kali bezog ihren Posten neben der Tür. Ich sehe es immer wieder: Das Schicksal entwirrt sich zum Chaos.

Ich öffne die Tür so leise wie möglich.

Die Patientin sitzt vor ihrem Computer, mir den Rücken zugewandt. Sie trägt ein langes, fließendes Gewand, das einem ihrer frühen Romane hätte entnommen sein können. Du solltest einen Penny an eins der Ventilatorblätter kleben, damit dieses Geräusch aufhört, will ich sagen. Aber ich verzichte darauf. Statt dessen sage ich:

»Ich bin da, Karin.«

Der Stuhl kippt auf den Teppich, als sie in sprachlosem Entsetzen aufspringt. Ihre Augen sind hinter der Brille fast gänzlich weiß. Sie ist schwerer als auf ihren Publicityfotos. Ihr Blick fliegt zu meiner sichtbaren Hand, sucht nach einem Messer oder einer Pistole. Aber sie ist leer.

»Wie sind Sie hier hereingekommen?« flüstert sie.

Ich würdige sie keiner Antwort.

»W-Wer sind Sie?«

»Prometheus.«

Ihre Augen wurden größer, als ich es für möglich gehalten hätte. »Aber ich habe doch gerade eben …« Sie schaut zu dem Computer. »Wie …?«

»Das ist nicht wichtig. Ich bin endlich zu dir gekommen. Um dir zu geben, was du am meisten begehrst.«

Sie starrt mich an; ihr Gehirn trommelt offenbar hinter den glasigen Augen. »Wie … hast du einen Wagen für uns?« fragt sie schließlich.

»Ich dachte, du könntest einen von deinen kommen lassen.«

»Ja«, sagt sie. »Wenn du mich nur noch ein paar Dinge …«

»Nein.«

Sie erstarrt neben ihrem Nachttisch. Ihre Blicke schießen nach unten, dann wieder zurück zu meinem Gesicht. Alles bricht zusammen. Kali hatte recht: Phantasie und Wirklichkeit sind zwei verschiedene Universen. Ich bin gekommen, um zu retten, aber wer erkennt schon einen großen Zweck, wenn die Sicht vor Entsetzen umwölkt ist? Meine Hoffnungen brechen um mich herum zusammen wie zerschmetterte Ikonen. Ich schiebe die rechte Hand hinter den Rücken und schließe die Finger um den Griff der Pistole.

»Karin?« bitte ich, biete ihr eine letzte Chance.

Dann zerbricht ihre Maske, enthüllt ihre Panik, und ihre Hand fährt zum Nachttisch. Ich sehe dort einen Schalter. Einen Alarmknopf.

Ich habe keine andere Wahl, muß einfach schießen.

Die Federn des Pfeils erblühen auf ihrem Leib, direkt über der Stelle, wo ihr Nabel sein muß. Die Patientin schaut mit animalischem Unverstand nach unten und zieht den Pfeil heraus, aber dafür ist es viel zu spät. Dann läuft sie. Das tun die Tapferen normalerweise immer.

Sie läuft direkt zu mir. Eigentlich nicht auf mich zu, sondern direkt zu mir hin, weil ich zwischen ihr und der Tür stehe.

Ich lasse sie an mir vorbei.

Sie schnappt nach Luft.

Ich drehe mich um.

Kali steht auf der Schwelle. Die treue Kali. Safrangelber Sari, nußbraune Haut, pechschwarzes Haar, noch schwärzere Augen. Sie hält einen bösartig gekrümmten Dolch in der Hand. Eine furchterregende Waffe. Ganz einfach. Wirksam in zwei Dimensionen, der physischen wie der seelischen.

Die Patientin dreht sich zu mir um, hofft auf irgendeine Erklärung. Wie stark ihr Herz klopfen muß!

»Kali«, sage ich, bedauere jeden Augenblick.

Die Patientin fährt wieder herum, als sie hört, daß Kali die Tür schließt, beobachtet, wie die junge Frau sich mit meiner Aktentasche geschmeidig über den Boden bewegt, wie ein schwarzer Engel.

Kali stellt die Tasche ab, richtet sich dann auf und öffnet den Sari. Er fällt zu Boden. Sie ist darunter völlig nackt. Ich beobachte, wie die Patientin herauszufinden versucht, was hier wohl geschieht, während der Ketamincocktail durch ihren Organismus fließt. Warum zieht die Inderin sich aus? Kurz bevor sie das Bewußtsein verliert, kommt sie vielleicht darauf; daß Kali sich auszieht, damit kein Blut ihre Kleidung beschmutzt.

Ich muß mich ebenfalls ausziehen, doch vorher gehe ich zum Computer, logge mich aus, gebe ein paar Befehle ein und schalte das Gerät ab. Dann kehre ich zu der Patientin zurück, knie nieder und öffne die Aktentasche.

»Was ist da drin?« fragt sie dumpf und setzt sich auf den Boden.

»Meine Instrumente.« Ich nehme eine Knochenzange aus rostfreiem Stahl aus dem Koffer und versuche zu lächeln, doch mein Herz ist ein schwarzes Loch.

Die Patientin hat für ihre Romane genug Nachforschungen betrieben, um die Knochenzange als solche zu erkennen. In blinder Panik versucht sie erneut, die Tür zu erreichen, kriecht wie ein Kleinkind auf allen vieren, doch Kali drückt sie flach auf den Bauch. Ich beobachte sie schweigend, bis ich sehe, daß der Dolch aufblitzt und sich gegen die Kehle der Patientin drückt.

»Wage es ja nicht«, sage ich, aufgeschreckt von der Blutgier in ihren Augen. Ich spreche nun gebieterisch. »Zieh sie aus.«

Wir ließen uns mit der Patientin Zeit. Wir konnten es uns leisten, denn Karin duldete keine Wachmänner in ihrer Villa. Aber unsere Möglichkeiten waren beschränkt. Wie ich mich danach sehnte, mich in diesen reglosen Körper zu ergießen. Aber das war natürlich unmöglich.

Diesmal zwang ich Kali, vorsichtig zu sein, damit kein Blut an ihre Füße kam. Nachdem sie fertig war und ich meine Proben eingesammelt hatte, zogen wir uns in die Dusche zurück. Echter Marmor. Wir trugen Badekappen aus Gummi, damit so wenig Haare wie möglich in das Abflußsieb gerieten. Das Blut glitt von unserer rasierten Haut und wirbelte auf dem weißen Stein. Endlich konnte ich mich gehenlassen.

Selbstbeherrschung ist so wichtig.

Kali kniete in dem heiß sprühenden Wasser vor mir nieder. Ich hatte mich so lange zurückgehalten, daß weder ihr Können noch ihr Eifer erforderlich waren. Sie schluckte jeden Tropfen des Beweismittels, wie es auch erforderlich war. Vielleicht hatte sie Spuren ihrer eigenen Erregung zurückgelassen, aber was soll die Polizei damit schon anfangen? Sie wird sowieso schon verwirrt genug sein.

Als wir uns aus der Villa schlichen, nun nicht mehr nur mit dem Aktenkoffer, sondern auch mit dem gefüllten Gummisack bewehrt, dachte ich an die Patientin. Ein so großes Potential: für meine Arbeit, für die ganze Public Relation. Alles verloren, und wofür? Für mehr Homogenität? Aber ich darf mich nicht bei Fehlschlägen aufhalten. Starke Seelen erfreuen sich an Widrigkeiten.

Morgen ist ein anderer Tag.

1

Das Leben ist einfach.

Für je komplizierter Sie das Ihre halten, desto weniger wissen Sie über Ihre wirklichen Lebensumstände.

Lange Zeit über habe ich das nicht verstanden.

Jetzt ist es mir völlig klar.

Man ist hungrig, oder man ist satt. Man ist gesund, oder man ist krank. Man ist seiner Frau treu, oder man ist es nicht. Man lebt, oder man ist tot.

Ich lebe.

Wir beklagen uns über komplizierte Zustände, über moralische Grauzonen, aber wir suchen Zuflucht in diesen Dingen. Komplexität bietet Zuflucht vor Entscheidungen und damit auch davor, Maßnahmen ergreifen zu müssen. In den meisten Situationen zögen die meisten von uns es vor, nichts zu tun.

Sic transit gloria mundi.

Etwas stimmt nicht.

Ich starre auf die Telefonnummer der Polizei von New Orleans, die ich mir gerade von der Auskunft besorgt habe.

Irgendwie habe ich schon seit einiger Zeit gewußt, daß etwas nicht stimmt, aber anscheinend mußte erst geschehen, was heute geschehen ist, damit ich es mir eingestehe; mich über den inneren Widerstand hinwegsetze.

»Ich habe Informationen über den Mordfall Karin Wheat«, sage ich, als die Verbindung zustande kommt.

»Ich verbinde Sie mit der Mordkommission«, sagt eine weibliche Stimme.

Ich schaue von meinem Schreibtisch zu dem kleinen Farbfernseher hoch, den ich sechzehn Stunden am Tag auf CNN eingestellt habe. Dort läuft gerade die Sendung International Hour. Dank CNN habe ich von dem Mord erfahren.

»Detective Mozingo«, sagt eine männliche Stimme.

»Ich habe Informationen, die den Fall Karin Wheat betreffen.«

»Wie heißen Sie?«

»Harper Cole.«

»Adresse?«

»Ich rufe aus Rain in Mississippi an.«

Eine Pause. »Von wo?«

»Eine Gegend im Delta, wo Landwirtschaft betrieben wird.«

»Wieso wissen Sie etwas über den Fall Wheat? Die Leiche wurde erst vor sechs Stunden entdeckt?«

»Ich habe es gerade auf CNN gesehen. Sie haben eine reguläre Nachrichtensendung unterbrochen, um die Villa der Wheat zu zeigen. Sie war wohl berühmter, als ich dachte.«

Ich höre, daß der Detective seufzt, die Hand vor die Sprechmuschel hält und etwas murmelt, daß sich wie »… beschissen hohes Ansehen …« anhört.

»Arbeiten Sie an dem Fall?« frage ich ihn.

»Nein, Gott sei Dank. Den hat Mayeux. Aber ich nehme die Information entgegen. Was glauben Sie denn zu wissen?«

»Ich glaube, ich weiß, wie sie ermordet wurde.«

»Wir wissen, wie sie ermordet wurde, Sir.«

Heutzutage traue ich keinem mehr, der mich Sir nennt. »Entschuldigung. Ich meine, wie der Mörder auf sie gekommen ist. Wie er sie ausgewählt hat.«

Erneutes Schweigen. Ein argwöhnisches.

»Es ist ziemlich kompliziert«, fahre ich fort. »Ich arbeite als Sysop – Entschuldigung, als Systemoperator – eines Online-Computer-Services. Sind Sie damit vertraut?«

»Nicht so richtig«, sagt der Detective mißtrauisch.

»Haben Sie schon mal von America Online gehört? Von CompuServe?«

»Ja. Das Internet, nicht wahr?«

»So in etwa. Der Online-Service, für den ich arbeite, heißt EROS. Er beschäftigt sich ausschließlich mit Sex.«

»Sie meinen, so was wie Telefonsex?«

Großer Gott. »Vielleicht sollte ich warten und mit Detective … Mayeux sprechen, so heißt er doch?«

»Ja. Er ist aber noch am Tatort. Sagen Sie mir einfach, was Sie wissen, und …«

Mozingo spricht noch, aber ich höre ihm nicht mehr zu. Ich schaue erstaunt auf das Gesicht eines Mannes, den die CNN-Bildunterschrift als Michael Mayeux bezeichnet, Detective beim NOPD. Sein Hemd ist schweißgetränkt, und er steht neben dem hohen, schwarzen, gußeisernen Tor der Villa, die Karin Wheat gehört. Ich erkenne sie aufgrund der vorherigen Sendung. Der Bürgersteig vor dem Tor ist mit leuchtend gelbem Polizeiband abgesperrt, aber vor der Begrenzung stehen mindestens hundert Leute zwischen fünfzehn und fünfzig. Mehr Frauen als Männer.

Fans.

Detective Mayeux betrachtet gereizt eine schwarze Reporterin. »Ich kann zu diesem Zeitpunkt keinen Kommentar dazu abgeben«, sagt er. Er ist ein sonnengebräunter Mann von mittlerer Größe, Anfang Vierzig, vielleicht vier bis fünf Kilo Übergewicht. Die Reporterin stößt ihm das Mikrofon fast ins Gesicht.

»Was ist mit den Meldungen, daß Miss Wheats Leiche sexuell mißbraucht und verstümmelt wurde?«

Mayeux schaut gequält drein. »Das kann ich kategorisch verneinen, Charvel«, sagt er und scheint etwas vergnügter dreinzuschauen, als in ihren Augen Enttäuschung aufflackert.

»Sind Sie noch da?« bellt eine Stimme in mein Ohr.

»Ja, sicher«, murmele ich und beobachte, wie Mayeux einer Streifenpolizistin bedeutet, sie solle die Menge zurückdrängen. »Ich sehe den Typ gerade.«

»Welchen Typ?«

»Ihren Kollegen. Mayeux. Sie zeigen ihn live auf CNN. In diesem Augenblick.«

»Verdammt, der ist ständig in der Flimmerkiste zu sehen.«

Ich komme zu dem Schluß, daß mir Mayeux’ Aussehen besser gefällt als Mozingos Stimme. »Hat Detective Mayeux’ Anschluß einen Anrufbeantworter?«

Der Detective legt eine Hand auf die Sprechmuschel und ruft dann etwas. »Ich verbinde Sie.«

Eine weibliche Tonbandstimme teilt mir mit, daß ich eine Nachricht von bis zu zehn Minuten Länge hinterlassen kann.

»Mein Name ist Harper Cole«, sage ich deutlich. »Ich rufe aus Mississippi an.« Dann stocke ich. Ich kann nicht einfach meinen Namen und meine Nummer hinterlassen. Bei so einem Mordfall kommt Mayeux vielleicht erst in ein paar Tagen dazu, mich zurückzurufen. Ich wiederhole die Telefonnummer noch einmal, halte dann inne und sammle meine Gedanken.

»Ich rufe an, weil ich glaube, daß dieser Mord … der an Karin Wheat … vielleicht im Zusammenhang mit einigen anderen … keinen Morden, aber … doch, vielleicht doch Morden steht. Ich arbeite als Systemoperator für einen Online-Computer-Dienst … einen landesweiten Service … namens EROS. In den letzten Monaten ist mir aufgefallen, daß ein paar Frauen das Network plötzlich ohne Angabe von Gründen verlassen haben. Sie hätten den Vertrag einfach beenden können, aber ich bin nicht der Ansicht, daß sie das getan haben. Der Firma ist es bestimmt nicht recht, daß ich Sie deshalb anrufe, aber ich halte es für meine Pflicht. Es ist zu kompliziert, um es auf Anrufbeantworter zu sprechen, aber ich fürchte, diesen anderen Frauen könnte auch etwas zugestoßen sein. So etwas in der Art, was mit Karin Wheat passiert ist. Vielleicht ist dieselbe Person darin verwickelt. Denn Karin Wheat war Kundin bei EROS. Das ist übrigens eine vertrauliche Information. Sie werden es nicht verstehen, wenn ich es Ihnen nicht persönlich erkläre. Es wäre nett, wenn Sie mich so schnell wie möglich zurückrufen würden. Ich bin immer zu Hause. Ich arbeite zu Hause und bleibe immer ziemlich lange auf. Danke.«

Auf dem Fernsehschirm ist Mayeux von dem schmiedeeisernen Tor verschwunden. Die Menschenmenge ist größer als zuvor. Die Kamera streicht über mehrere männliche Gesichter, die mit Lidschatten und Eyeliner geschminkt sind. Anhänger von Karin Wheats esoterischer Prosa. Ein Schwarzweißfoto der Autorin erscheint und füllt ein Viertel des Bildschirms aus. Es ist das Umschlagfoto aus ihrem letzten Buch. Ich erkenne es, weil dieser Roman – Isis – in meinem Bücherregal steht. Ich habe ihn gekauft, nachdem ich die ersten On-line-Gespräche mit Karin geführt hatte. Sehr interessante Gespräche.

Karin Wheat war eine verquere Lady.

Ich erhebe mich vom Schreibtisch und gehe zum Minikühlschrank, um mir ein eiskaltes Tab zu holen. Damit breche ich die Monotonie der Diät-Cokes. Das Zeug sprudelt nicht nur stärker, mir schmeckt es auch wirklich. Als ich mich wieder hinter meinen Gateway 2000 setze, habe ich die Dose halb geleert.

Preisnotierungen von der Chicago Mercantile Exchange scrollen langsam über den Bildschirm. Das ist mein eigentlicher Job. Warentermingeschäfte, Anleihen, Rentenwerte, sogar landwirtschaftliche Produkte. Ich mache es von zu Hause aus, nur mit meinem eigenen Geld; das macht es einfach. Keine selbstmordgefährdeten Klienten, mit denen ich mich abgeben muß. Ich halte im Augenblick eine Zehnerpartie S&P-Kontrakte, aber im Augenblick steht keine Krise an.

Ich trinke noch einen Schluck Tab und schaue über den postmodernen schwarzen Tisch, auf dem der EROS-Computer und die Satelliten-Bildverbindung stehen. Es ist später Nachmittag, und online herrscht nur wenig Betrieb. Im Augenblick hauptsächlich Hausfrauen: romantisches Herz-Schmerz-und-Sex-Zeugs. Die richtigen Freaks sind jetzt auf dem Nachhauseweg von der Arbeit.

Meine Frau sollte es auch sein. Derzeit arbeitet sie in Jackson, der Hauptstadt des Staates, achtzig Minuten entfernt von unserem Bauernhaus inmitten der Baumwollfelder des Deltas. Drewe ist Ärztin – ihre Zeit als Assistenzärztin im Krankenhaus liegt drei gesegnete Jahre zurück – und genauso alt wie ich, dreiunddreißig. Ich denke gerade, daß ich allmählich damit anfangen sollte, uns etwas zum Abendessen zu kochen, als das Telefon klingelt.

»Hallo?«

»Hier spricht Detective Michael Mayeux, NOPD.«

Seine Stimme hat den blechernen Funkklang, den Handys eigentlich nicht haben sollen, aber meistens doch haben. »Danke, daß Sie so schnell zurückgerufen haben.«

»Hab’ gerade meinen Anrufbeantworter abgehört«, erklärt er. »Achtundzwanzig Verrückte haben sich schon gemeldet. Vampire haben sie umgebracht, Zombies. Ein Typ behauptet, er sei ein Buhlteufel und habe sie getötet.«

»Und warum haben Sie mich dann angerufen?«

»Sie hörten sich nicht ganz so verrückt an wie die anderen. Sie haben gesagt, Sie rufen aus Mississippi an?«

»Richtig. EROS – die Firma, bei der ich Sysop bin – hat ihren Sitz in New York, aber ich erledige meinen Job von hier aus.«

»Ich höre, Mr. Cole.«

»Wissen Sie, was Online-Dienste sind?«

»Klar. AOL, CompuServe, Delphi. Aber Ihre Nachricht vermittelte mir nicht den Eindruck, daß wir über Leute sprechen, die sich im Netz rumtreiben oder ihren Urlaub per Modem buchen.«

»Nein, da haben Sie recht«, sage ich, erleichtert, jemanden gefunden zu haben, dem man nicht alles vorkauen muß.

»Was hat es also mit diesem EROS auf sich? Live-Plaudereien, E-mail, Rollenspiele und so weiter?«

»Genau.«

»Mein Junge ist ein Computernarr. Ich logge mich dann und wann mal in CompuServe ein. Aber ich bin kein Experte. Erklären Sie es, als hätten Sie es mit einem Idioten zu tun.«

»Ich bin selbst einer, Detective. Ich habe Ihrem Anrufbeantworter gesagt, daß Karin Wheat Mitglied bei EROS war.«

»Und Sie haben gesagt, es sei eine vertrauliche Information.«

»Ist es auch. Ich meine, den Bestimmungen des Mitgliedervertrags zufolge. Es ist uns gesetzlich untersagt, die wahre Identität eines Kunden aufzudecken. Bei uns sind eine Menge verheirateter Leute online, die nicht gerade scharf darauf sind, daß ihre Ehepartner das mitkriegen. Und auch ziemlich viele Promis.«

»Aber Sie haben mir Karin Wheats Namen genannt.«

»Nur, damit Sie wissen, wie ernst es mir ist.«

»Bleiben Sie dran – fahr auf die Chartres, Harry. Da bin ich wieder, Mr. Cole. Sie haben gesagt, Karin Wheats Tod könnte mit einigen anderen Frauen im Zusammenhang stehen? Ihrem Verschwinden oder so was?«

»Genau. Ich möchte Ihnen – für den Anfang zumindest – die Namen dieser Frauen geben und Sie bitten, sie zu überprüfen. Heimlich, wenn das geht. Das können Sie doch, oder?«

Mayeux schwieg einen Moment lang. »Sie meinen, ich soll herausfinden, ob sie noch leben?«

»Genau.«

»Ja, das können wir. Aber warum haben Sie das noch nicht getan, wenn Sie sich solche Sorgen machen? Sie haben doch ihre Telefonnummern, oder?«

»Ja. Und ich habe auch schon daran gedacht. Aber ehrlich gesagt … man hat mir gesagt, ich solle es bleiben lassen.«

»Wer hat das gesagt?«

»Jemand in der Firma. Hören Sie, können Sie sich einfach die Namen notieren? Vielleicht bin ich ja verrückt, aber ich würde mich dann besser fühlen, okay?«

»Schießen Sie los.«

Ich lese die Namen und Nummern von einem Notebook ab. Mayeux wiederholt alles, was ich ihm genannt habe; ich vermute, er spricht auf ein Tonbandgerät. »Das sind fünf verschiedene Bundesstaaten«, stellt er fest. »Sechs Frauen, fünf Staaten. Über den ganzen Kontinent verteilt.«

»Der Informations-Superhighway«, erinnere ich ihn.

»Kein Scheiß … Na ja, ich melde mich wieder, wenn dabei was rumkommt. Muß aufhören, Mr. Cole. Wird Zeit, mit den Feen und Vampiren zu sprechen.«

Das Gespräch hat mich seltsam aufgewühlt.

Nach Wochen des Argwohns habe ich endlich etwas unternommen. Ich verspüre die Versuchung, Miles in Manhattan anzurufen und ihm geradeheraus zu sagen, was ich getan habe, lasse es aber bleiben. Falls Miles Turner recht haben sollte – falls all diese Frauen zufrieden in ihre Rollen als glückliche Hausfrauen oder erfüllte Karrierefrauen zurückgeschlüpft sind –, will ich ihm die Genugtuung nicht gönnen. Aber falls ich recht haben sollte … falls diese Frauen alles andere als wohlauf sind …

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Miles erfahren sollte, was ich weiß. Die Erkenntnis schockiert mich ein wenig. Ich kenne Miles Turner seit über zwanzig Jahren. Seit der Grundschule. Damals war er exzentrisch. Und während der letzten fünfzehn Jahre – seit er 1978 Mississippi verließ, um zum MIT zu gehen – habe ich ihn kaum noch gesehen. Es war Miles, der mich überhaupt dazu gebracht hat, für EROS zu arbeiten. Aber ich kann ihm keinen Vorwurf machen. Ich war ein willfähriger Faust.

Als ich den dumpfen Knall höre, mit dem Drewe draußen die Tür des Acura zuschlägt, beuge ich mich tief über die Tastatur des Gateway und nehme die Haltung ein, die meine Frau darauf schließen läßt, daß ich in den vergangenen acht Stunden wie ein Verrückter Warentermingeschäfte getätigt habe.

»Mit wem hast du telefoniert?« ruft sie aus der Diele.

Pech gehabt. Auf dem Nachhauseweg muß sie versucht haben, mich mit ihrem Handy zu erreichen. Das tut sie oft, da der Blick durch die Autofenster auf die träge im Sommersonnenschein liegenden Baumwollfelder so nach zehn bis zwölf Sekunden ziemlich langweilig wird.

Drewe beugt sich in mein Büro, weigert sich demonstrativ – wie schon seit ein paar Wochen –, die Domäne des EROS-Computers zu betreten. Meine Frau ist, wie so viele, auf die Zeit eifersüchtig, die ich am Computer verbringe. Aber bei diesem Konflikt geht es um mehr als um eine Frau und einen Computer. EROS ist nicht nur ein Rechner, sondern der Knotenpunkt eines Netzwerkes von fünftausend Personen (die Hälfte davon Frauen), die mitunter von früh bis spät an Sex denken.

»Ich hab’ Hühnerbrüstchen mitgebracht«, sagt Drewe und zieht die Augenbrauen hoch wie ein französischer Küchenchef aus einem Comic.

»Toll«, sage ich. »Ich komme gleich und werf’ sie in die Pfanne.«

Es ist nicht so, daß Drewe nicht an Sex denken würde. Ganz und gar nicht. Es ist auch nicht so, daß sie keinen Spaß am Sex hätte. Sie hat Spaß daran. Aber in letzter Zeit denkt sie auf eine ganz neue Art und Weise über Sex nach. Sie hält ihn nun für ein Mittel zum Zweck. Damit meine ich den natürlichen Zweck.

Kinder.

Sie lächelt. Mit dreiunddreißig und kinderlos hat Drewe noch die straffe Haut und die festen Muskeln einer Frau in den Zwanzigern. Ihr Brüste sind noch hoch und fest, ihr Gesicht ist faltenlos, von Lachfältchen einmal abgesehen. Das liebe ich an ihr. Ich weiß, wie selbstsüchtig mein Wunsch ist, daß sie ihre körperliche Jugend behält. Aber ein Teil von mir möchte das. Ihr Haar ist rötlichbraun, die Haut hell, die Augen sind grün. Sie hat nicht die Schönheit eines Models (ihre jüngere Schwester Erin war das Model) und auch nicht die aufgesetzte Eleganz einer verhätschelten, Aerobic treibenden jungen Studentin. Drewes besonderer Reiz geht von ihren Augen aus. Nicht nur von den Augen selbst, die tiefliegend und klar sind, sondern auch von den Brauen, die wie die Spanten eines Schiffes fein geschwungen und doch kräftig sind. Ihre Augen versprühen reine Intelligenz, kühle, reichlich vorhandene, ungewöhnliche Vernunft.

Drewe Cole ist klug.

Ihr Lächeln wird breiter und zu einem koboldhaften Grinsen – was ich in letzter Zeit nicht mehr so oft gesehen habe –, und dann geht sie zur Küche. Ich werfe einen letzten Blick auf die Zahlen aus Chicago und folge ihr.

Unser Haus wäre für jeden, der nicht auf einer Farm aufgewachsen ist, eine Kuriosität. Es nahm seine Anfänge vor fünfundsiebzig Jahren als quadratisches, einstöckiges Gebäude, das gerade groß genug war, um meinem Großvater mütterlicherseits und meiner Großmutter (die im Alter von neunzehn respektive sechzehn Jahren heirateten) und den ersten Kindern, die sie erwarteten, Unterkunft zu bieten. Doch als die Farm gedieh und weitere Kinder kamen, baute mein Großvater immer mehr Räume an – zuerst mit einer hartnäckig logischen Symmetrie, später offensichtlich dort, wo er sie am einfachsten anhängen konnte. Das Ergebnis ähnelt irgendwie einem hölzernen Kartenhaus, das ein Achtjähriger errichtet hat. Wenn man von einem Zimmer zum anderen geht, muß man manchmal ein paar Stufen auf- oder abwärts gehen, um sich auf eine etwas andere Ebene zu begeben, doch da ich in diesem Haus großgeworden bin, nehme ich diese Abweichungen nicht mehr bewußt wahr.

Das Herz des Hauses ist die Küche, ein langer und zu schmaler Raum. Ich habe mir einmal überlegt, eine Wand herauszureißen und sie zu vergrößern, doch ein befreundeter schwarzer Zimmermann sagte mir, da das gesamte Haus durch irgendeine Rassisten-Magie an diesem Kern zu kleben scheine, sei ich besser beraten, lieber jedesmal den Arsch an dem meiner Frau zu reiben, wenn wir uns gleichzeitig zwischen dem Herd und der Arbeitsfläche gegenüber bewegten. Das erwies sich als guter Rat.

»Sind wir heute reicher oder ärmer?« fragt Drewe von der Spüle aus. Sie wäscht bereits die Hähnchenteile ab.

»So in etwa gleich«, sage ich, hole eine gußeiserne Bratpfanne aus dem Herd und stelle sie auf eine Gasflamme.

Ihre Frage ist oberflächlich. Bei den zehn Kontrakten, um die es geht, und die entsprechen heutzutage für mich dem Durchschnitt, könnte ich höchstens – und das auch nur im allerschlimmsten Fall – etwas fünfzigtausend Dollar verlieren. Das würde uns nicht ernsthaft beeinträchtigen.

Ich bin gut in meinem richtigen Job.

»Hast du heute ein paar Menschenleben gerettet?« sage ich. Meine Frage ist nicht oberflächlich. Drewe ist Gynäkologin. Sie arbeitet in der Abteilung für Geburtshilfe und bringt die Babys zur Welt, die vor dreißig Jahren mein Vater (ein praktischer Arzt) zur Welt gebracht hätte. Normalerweise hat sie nichts mit Autounfällen oder Opfern von Schießereien zu tun, aber oft mit traumatisch verlaufenden Geburten.

Sie beantwortet meine Frage mit einem schnellen Kopfschütteln und wirft die Hähnchenteile in die zischend heiße Bratpfanne. Ich würze sie großzügig, als sie fragt: »Was ist mit EROX?«

Sie hat das Akronym absichtlich falsch ausgesprochen, betont es, wie ein Diskjockey es tun würde: E-Rocks. EROS steht für Erotic Realtime Online Stimulation. Drewe ersetzt das »S« durch ein »X«, um die lüsterne, pornographische Natur des Netzwerks zu betonen. Vor neun Monaten hat sie das noch nicht getan. Sie war von dem Forum genauso fasziniert wie ich, und unser Sexleben blühte mit ihrer Faszination auf. Vor neun Monaten hat sie EROS ausgesprochen, wie es dem griechischen Gott der Liebe und des Begehrens gebührt.

Jetzt ist die Sache noch ein bißchen besser als Telefonsex. Aber nur ein bißchen.

»Etwas wirklich Schlimmes ist passiert«, sage ich.

Drewe schaut besorgt von einer Dose LeSueur-Erbsen auf. Familie, denkt sie. Wer ist gestorben?

»Karin Wheat wurde gestern abend ermordet.«

Sie reißt die Augen auf. »Die Schriftstellerin? Karin Wheat aus New Orleans?«

Ich nicke. »Es kam auf CNN. Kannst du dir das vorstellen?«

»Klar. Jeder, nach dessen Büchern Filme gedreht werden – und der so unheimliche Fans hat wie sie –, kommt im ganzen Land in die Fernsehnachrichten. Ich wette, Hard Copy wird in einer Stunde darüber berichten.«

Sie hat wahrscheinlich recht. Sollte ich es mir ansehen? Ich weiß aus Erfahrung, daß kaum Fakten, aber jede Menge Nervenkitzel gebracht werden. Andererseits kann Drewe nicht mehr als zehn Minuten von Crossfire ertragen.

»Du hörst dich wirklich aufgeregt an«, sagt sie und mustert mich mit echter Besorgnis.

Ich wende den Blick kurz ab, verberge meine Gedanken hinter einem anerkennenden Blick auf die Hähnchenteile. Wieviel soll ich ihr sagen? »Sie war auf EROS geschaltet«, erwidere ich schließlich, wobei ich nicht schuldbewußt klingen wollte, jedoch weiß, daß ich es tue.

»Was? Warum hast du mir das nicht gesagt?«

Ich schaue mit einem gewissen Trotz in den Augen auf. »Du willst seit Monaten nichts mehr von EROS wissen, Drewe. Karin ist erst vor ein paar Wochen dazugekommen.«

Sie hebt das Kinn und betrachtet mich. »Es heißt also schon Karin«, sagt sie schließlich. »Du hast mit ihr online gesprochen?«

»Klar. Die üblichen Sysop-Einweisungen.«

»Bitte.« Sie klemmt die Dose Erbsen in den elektrischen Öffner und übertönt jede Antwort mit einer knirschenden Fanfare. Ich widme mich wieder dem Hähnchen.

»Hast du online Sex mit ihr gehabt?« fragt sie, ohne mich anzusehen.

Ich seufze wütend. »Die Frau ist tot, Drewe.«

»Mein Gott«, sagt sie und kippt die Erbsen in einen Topf. »Ich sollte bei Hard Copy auftreten. Mein Ehemann fickt elektronisch berühmte Frauen.«

Ich gebe auf. Drewe ist auf EROS noch wütender, als ich dachte.

»Weiß man, wer es getan hat?« fragt sie mit unbewegter Stimme.

»Nein.« Ich drehe die Hähnchenbrüste um. »Aber ich glaube, ich weiß es.«

2

Drewe und ich sehen uns das Magazin Hard Copy mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu an. Dramatische Kamerawinkel, sexuelle Anspielungen und unheimlich wirkende Schwarzweiß-Videoaufnahmen von Karin Wheats Villa in New Orleans (mitsamt dem dazugehörigen künstlich erzeugten Nebel) verleihen der Sendung einen viktorianischen Hauch, der an Jack the Ripper denken läßt. Drewe gibt keinen Kommentar ab, während der Beitrag läuft, und ich ertappe mich dabei, daß ich in Gedanken mein Verhör beim Abendessen ein bißchen aufpoliere.

Ich hatte ihre scharfsinnigen Fragen, während ich Hähnchen und ungeschälten Reis kaute, beantwortet und mich bemüht, sie nicht zu beunruhigen, indem ich nicht mehr als unbedingt nötig enthüllte. Sie wollte wissen, wieso mir überhaupt aufgefallen war, daß diese sechs Frauen den Dienst nicht mehr in Anspruch nahmen. Ich konzentrierte mich auf den technischen Aspekt und erklärte ihr, daß diese sechs Frauen aktive User gewesen seien, die plötzlich von den Foren verschwunden seien, aber trotzdem ihre EROS-Beiträge, die wirklich nicht gerade gering sind, weiterhin bezahlt hätten. Ich erwähnte nichts vom anonymen Einzugsverfahren oder von meinen engen Beziehungen zu einigen der Frauen.

Zum Glück konzentrierte Drewe sich auf Miles Turner und seinen erfolgreichen Versuch, mich daran zu hindern, eine interne Untersuchung durch EROS selbst einzuleiten. Auch sie kennt Miles seit unserer Kindheit. Er hatte seine Einwände gegen eine Ermittlung mit dem Schutz der Privatsphäre –, mit der – wie er es ausdrückte – »Vertraulichkeit, die wir den Kunden zugesichert haben«, begründet, und seine Argumente waren wasserdicht. Die Geschäftsführerin von EROS nimmt diese Privatsphäre so ernst, daß sie die Geheimhaltung der Identität eines jeden Abonnenten mit einer Million Dollar versichert hat. Dieser einzigartige Schritt in der Welt der Online-Dienste hatte viel dazu beigetragen, das exponentielle Wachstum ihrer kleinen und teuren Abteilung der digitalen Welt zu gewährleisten. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was für ein Erdbeben meine Entscheidung, die Polizei einzubeziehen, in der EROS-Zentrale in New York auslösen wird.

Als Hard Copy von Werbespots unterbrochen wird, requiriert Drewe den Küchentisch und das Telefon, um die Eintragungen in den Patientenakten auf den neuesten Stand zu bringen und ihre Berichte zu diktieren. Aus irgendeinem Grund sind diese Unterlagen der einzige Teil ihrer Pflichten, den meine sonst so überaus ordentliche Frau nicht pünktlich erledigen kann oder will. Die mit Farbkodes versehenen Aktenstapel, die sie aus dem Büro mit nach Hause bringt, sind oft mit drohenden Mahnungen des Verwaltungsdirektors des Krankenhauses versehen, die in drakonischem Stil warnen, Drewe könne ihrer Privilegien als Angehörige der Abteilungsleitung verlustig gehen.

Während ihre monoton diktierende Stimme durch das Haus hallt, ziehe ich mich in mein Büro zurück und greife mir eine der fünf Gitarren, die an der Wand über dem Doppelbett hängen, auf dem ich mich schon mal ein paar Minuten lang ausruhe, wenn mich die manische Börsenaktivität überkommt. Ich entscheide mich für eine Martin D-28S mit klassisch breitem Hals, aber Stahlsaiten. Ich gleite durch ein paar Akkorde und lasse meinen Gedanken und Fingern freien Lauf. Die Musik hätte einen zufälligen Zuhörer überrascht. Ich bin ein guter Gitarrist. Nicht gerade ein Naturtalent, aber doch ein so versierter, daß ich mir damit den Lebensunterhalt verdienen könnte. Das ist mein alter Beruf.

Ich bin gescheiterter Musiker.

Die Erinnerungen an diese Laufbahn tun noch weh. Ich greife jetzt öfter zu dem Instrument, doch drei Jahre lang habe ich keine Gitarre angefaßt und zwölf Monate lang nicht gesungen. Selbst jetzt noch spiele ich nie meine eigenen Songs. Ich tue nur das, was ich jetzt tue, lasse dem Teil meines Gehirns, der diese Funktion kontrolliert, freien Lauf und schalte meine Stimmung auf Autopilot.

Manchmal überrasche ich mich selbst.

Wie jetzt. Ich habe irgendwie ein langsames Jazzstück voller Arreggios und gedehnter Akkorde in die Einleitung von »Still Crazy After All These Years« übergehen lassen. Ich weiß, ich liebe den hinterhältigen siebenten am Ende dieser Zeile: »I met my o-old lover on the street last night« – päng. Verdammt, was soll’s, denke ich, singe mich durch den ganzen Song und ende völlig unbeabsichtigt bei einem möglichen Mord. »Now I sit by my window and I watch the cars. And I fear I’ll do some damage one fine day. But I would not be convicted by a jury of my peers …« Als ich fertig bin und den nicht vorhandenen Ovationen lausche, merke ich, daß Drewe mein Arbeitszimmer betreten hat und neben der Tür steht. Zum erstenmal seit sechs Wochen.

»Hört sich gut an«, sagt sie. »Wirklich gut.«

»Es fühlt sich gut an.«

»Denkst du an eine alte Liebhaberin?«

»Nein. An meinesgleichen. Was glaubst du, was wohl aus ihnen geworden ist?«

Sie lächelt bedauernd. »Sie sind erwachsen geworden, haben geheiratet und Kinder bekommen.«

Wie die meisten Männer habe ich blindlings den Bock geschossen, auf unseren Streit zurückzukommen. Ein Kind kriegen. Ich nehme an, eine Menge Paare in unserem Alter führen diese Debatte. Zumindest oben im Norden und im Westen. Unten im Süden bekommen die meisten Paare ihre Kinder noch, wenn sie in den Zwanzigern sind.

Wir nicht.

Zum Teil tragen unsere Berufe Schuld daran. Fahrende Sänger und erschöpfte Medizinstudentinnen sind kaum in der idealen Position, eine Familie zu gründen, selbst wenn sie verheiratet sind, was Drewe und ich nicht waren, bis ich die Musik aufgab. Aber es steckt noch mehr dahinter. Seit wir verheiratet sind, haben wir ein ziemlich geregeltes Leben geführt, und unser gemeinsames Einkommen ist schon fast unanständig hoch. Meine Eltern sind tot, aber Drewes sind gerade von sanften Anspielungen dazu übergegangen, meine Fortpflanzungsfähigkeit überhaupt in Frage zu stellen.

Wenn nur die Anzahl meiner Samenfäden sowie ihre Beweglichkeit das Problem wäre. Wie viele andere Menschen auch habe ich meine Geheimnisse. Einige sind klein, entstanden in Augenblicken, in denen ich hätte aufrichtig sein können, auch wenn es schmerzhaft gewesen wäre, mich aber anders entschieden hatte. Andere sind größer und beziehen sich ausnahmslos auf Frauen, bei denen es sich nicht um meine Gattin handelt.

Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Von dem Augenblick an, da Drewe und ich das Ehegelübde abgelegt haben, habe ich nicht mehr die nackte Haut einer anderen Frau berührt. Aber irgendwie ist das nur ein kleiner Trost. Denn das Geheimnis, das mich nun plagt, ist viel gefährlicher als Ehebruch, viel schändlicher. Wäre ich katholisch, würde ich es wohl eine Todsünde nennen.

Nein, ich bin nicht schwul.

Aber ich habe Angst.

Als das Telefon endlich klingelt, schlafen Drewe und ich schon seit Stunden. Ich erwache, setzte mich sofort auf und greife wie einer meiner schottischen Vorfahren nach dem Schwert, finde statt dessen aber ein schnurloses Telefon in meiner Hand.

»Hallo?«

»Mr. Cole?«

Ich blinzle, versuche gleichzeitig, die Augen und den Kopf klarzubekommen. »Äh … was?«

»Hier ist Detective Michael Mayeux. NOPD. Wir haben heute nachmittag miteinander gesprochen.«

Drewes schlafender Körper verdeckt meinen Blick auf den Radiowecker. »Wie spät ist es?«

»Drei Uhr zwanzig in der Nacht. Es tut mir leid, aber ich bin gerade erst dazu gekommen, die Namen zu überprüfen, die Sie mir genannt haben. Diese sechs Frauen …«

»Klar.« Ich bemerke eine seltsame Ernsthaftigkeit in Mayeux’ Stimme.

»Harper?« Drewe setzt sich im Bett auf und zeigt auf das Fenster. »Da draußen ist jemand. Sieh doch.«

Als ich erkenne, daß unsere Vorhänge von außen von etwas erhellt werden, bei dem es sich um Autoscheinwerfer handeln muß, läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Um diese Zeit bekommen wir nie Besuch. Wir bekommen überhaupt nur selten Besuch.

»Bleib hier«, sage ich zu ihr, »ich hole eine Waffe.«

»Bitte tun Sie das nicht, Mr. Cole.« Mayeux’ Stimme läßt mich zusammenfahren. »Wenn Sie aus dem Fenster schauen, werden Sie wohl einen Streifenwagen sehen.«

»Das Cairo County hat keine eigene Polizei«, sage ich und gehe vorsichtig zum Fenster.

»Ein Teil Ihrer Farm liegt im Yazoo County«, erwidert Mayeux. »Das müßte Sheriff Buckner vom Yazoo County sein. Kennen Sie ihn?«

»Ich weiß, wer er ist.« Ich öffne die Vorhänge ein wenig und sehe auf der Kiesauffahrt vor unserem Haus tatsächlich einen Streifenwagen, einen weißen Chevrolet Caprice. »Verdammt, was hat der um drei Uhr morgens auf meiner Auffahrt zu suchen?«

»Beruhigen Sie sich, Mr. Cole. Sheriff Buckner ist dort, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten.«

Schöne Scheiße. »Warum kann ich das nicht so ganz glauben, Detective?«

Er schweigt zu lange. Ich bedeute Drewe, still zu sein. »Verdammt, was geht hier vor, Mayeux?«

»Diese Frauen, von denen Sie mir erzählt haben. Sie sind alle tot.«

Auf meinem Gesicht steht Schweiß. Gerade eben war er noch nicht da. Ich spüre ihn in meinem Haar, auf den Unterarmen, in den Kniekehlen. Dieser kleine, intuitive Teil meines Bewußtseins, der stets das Schlimmste annimmt, hat Besitz von meinem Körper ergriffen. Ich hatte recht. Ich hatte recht, und ich hätte früher handeln sollen. »Alle sechs?« frage ich mit kaum hörbarer Stimme.

»Sie alle sind in den letzten neun Monaten ermordet worden, Mr. Cole. Und ich muß Ihnen sagen, es gibt eine Menge Leute im ganzen Land – Polizeibeamte –, die mit Ihnen über diese Frauen sprechen möchten.«

Ich versuche nicht einmal, den chemischen Wirbelsturm in meinem Gehirn in zusammenhängende Wörter umzuwandeln.

»Nur zwei dieser Morde wurden vor dem heutigen Abend miteinander in Verbindung gebracht, Mr. Cole. Diese beiden fanden in Kalifornien statt.«

Ich schließe die Augen. Juliet Nicholson. Tara Morgan.

»Wir hätten gern«, sagt Mayeux freundlich, »falls Sie sich morgen freimachen können, heißt das, daß Sie zu uns aufs Präsidium hier in New Orleans kommen und mit uns sprechen. Was halten Sie davon?«