Inhalt

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Der Supermarkt im Nebel
  6. Rain Song
  7. Garten Eden
  8. Der Amaryllis-Virus
  9. Ein Fest der Liebe

Über den Autor

Andreas Eschbach, 1959 in Ulm geboren, studierte Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete zunächst als Softwareentwickler. Als Stipendiat der Arno-Schmidt-Stiftung »für schriftstellerisch hoch begabten Nachwuchs« schrieb er seinen ersten Roman DIE HAARTEPPICHKNÜPFER. Bekannt wurde er durch den Thriller DAS JESUS VIDEO. Mit EINE BILLION DOLLAR (2001), DER LETZTE SEINER ART (2003), DER NOBELPREIS (2005) und zuletzt AUSGEBRANNT stieg er endgültig in die Riege der deutschen Top-Autoren auf. Andreas Eschbach lebt heute als freier Schriftsteller in der Bretagne.

Andreas Eschbach

Eine unberührte Welt

Band 4

BASTEI ENTERTAINMENT

Der Supermarkt im Nebel

Wie entstehen eigentlich Ideen zu Geschichten? Das werde ich oft gefragt. Am Beispiel der folgenden Erzählung lässt es sich, glaube ich, bemerkenswert gut nachvollziehen. Alles, was ich dazu erklären muss, ist, dass hier in der Bretagne, wo meine Frau und ich seit einiger Zeit leben, sehr oft sehr dichter Nebel herrscht – und dass wir anfangs auf den vielen kleinen Straßen zwischen all den kleinen Orten mit nahezu gleichlautenden Namen öfter mal die Orientierung verloren haben.

Der Rest – ist Fantasie …

»Völlig unnötig«, sagte Ulrich. »Dass wir beide in der Gegend herumfahren nur wegen einem Glas Meerrettich, meine ich.«

»Ich bin eben solidarisch«, sagte Juliane.

»Und dann an Heiligabend. Haben die Geschäfte überhaupt noch auf?«

»Bis dreizehn Uhr.«

Ulrich riss das Steuer zur Seite. »Hast du den gesehen? So zu rasen bei dem Nebel.«

»Mmh.«

»Dass auch immer was fehlen muss. Für wie viel haben wir gestern eingekauft? Zweihundertsechzig Euro, und dann vergessen wir den Meerrettich. Wenn was nicht geht, dann Nürnberger Rostbratwürste ohne Meerrettich.«

»Wir hätten ja auch was anderes machen können.«

Ulrich schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, nein, nein. Wir werden nicht unsere Traditionen aufgeben, nur weil wir keine Vorratshaltung hinkriegen. Das ist ja fast peinlich. Wenn ich da an deine Freundin Gertrude denke –«

»Gerda. Du sagst immer Gertrude, aber sie heißt Gerda.«

»Gerda, mein ich doch. Ist dir schon mal aufgefallen, dass man bei der reinschneien kann, wann man will – die hat immer alles da? Nachtische, Eis, frisches Obst, was du willst … Und das, wo sie allein lebt. Ich frag mich, wie sie das macht. Ich frag mich sowieso, wie so was geht, mit dem mickrigen Gehalt. All die Reisen, die sie unternimmt. Und gut angezogen ist sie auch immer.«

»Sie näht viel selber. Das spart eine Menge.«

Ulrich schob den Kopf vor, spähte hinaus. »Wo muss ich denn jetzt ab? Der Nebel wird immer dichter, hab ich das Gefühl. Rechts, oder?«

»Ich weiß nicht. Ich hab nicht aufgepasst.«

»Na toll. Da hätte ich auch gleich allein fahren können.«

Juliane seufzte. »Müssen wir denn unbedingt streiten? An Weihnachten?«

»Ich streite doch gar nicht.«

»Klang aber so.«

Ulrich holte geräuschvoll Luft, schwieg aber. Nach einer Weile sagte er in bemüht konziliantem Ton: »Ich habe mich bloß gefragt, wieso wir das mit dem Einkaufen nicht hinkriegen. Zwei erwachsene Leute. In der Firma geht’s doch auch. Man hat ein Lager, hat ein Verzeichnis – Lagerhaltung eben. Das ist in einem Haushalt doch nicht anders. Wir müssten uns einfach nur angewöhnen, jede Woche einen Speiseplan aufzustellen. Vielleicht auch systematisch die Prospekte mit den Sonderangeboten durchsehen – dass man die nicht bloß wegschmeißt und sich ärgert, verstehst du, sondern auch nutzt! Und immer eine Einkaufsliste zu schreiben.«

»Für Weihnachten müssen wir ja wohl keinen Speiseplan aufstellen.«

»Eben. Da könnten wir sogar dieselbe Einkaufsliste jedes Jahr –«

»Ulrich!«, schrie sie.

Das Auto legte sich zur Seite, als Ulrich reagierte und das Steuer herumriss. »Ups«, machte er. »Scheiß-Nebel. Das ist aber auch eine blöde Kurve …« Er ging mit dem Tempo runter. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo wir im Moment sind.«

Juliane zeigte nach links, wo etwas durch den Nebel schimmerte. »Da. Da ist ein Supermarkt.«

»Superkauf?«, las Ulrich. »Waren wir hier schon mal? Kommt mir ganz unbekannt vor.«

»Ist doch egal. Meerrettich werden sie schon haben.«

»Stimmt auch wieder.«

Der Nebel lag dick und wattig über dem Parkplatz, beschlug Ulrichs Brille, als sie ausstiegen, und feuchtete ihre Mäntel. Die Leuchtreklame über dem Eingang war von einem Heiligenschein umhüllt.

»Der muss ganz neu aufgemacht haben«, konstatierte Juliane, als sie ins Innere kamen. Alles war ganz neu und sauber und von geradezu überirdischem Glanz erfüllt … Was aber vermutlich an der beschlagenen Brille lag. Oder überhaupt an dem Kontrast zu dem Sauwetter draußen.

»Einen Wagen?«, tadelte Ulrich, als Juliane nach einem der Einkaufswagen griff. »Um ein Glas Meerrettich zu kaufen?«

»Wenn wir schon mal da sind …«

»Nein, nein, nein.« Er nahm ihr den Wagen aus der Hand und schob ihn zurück. »Nicht schon wieder Spontankäufe für hundertzwanzig Euro.«

Das Obst sah märchenhaft aus, das Gemüse wie gerade eben geerntet. Die Fischtheke war eine Offenbarung, die Auswahl der Weine ein Traum, und in der Ecke mit den Backwaren roch es wie im Himmel.

»Und gar nicht teuer!«, flüsterte Juliane. »Im Gegenteil, billiger als bei uns im –«

»Auch das günstigste Sonderangebot kostet Geld«, widersprach Ulrich kategorisch.

Also widerstanden sie allen Versuchungen tapfer und schritten schließlich mit nichts als einem Glas Meerrettich in der Hand auf die Kassen zu, vor denen lange Schlangen turmhoch gefüllter Einkaufswagen warteten.

Im letzten Moment schnappte sich Juliane einen Cremetiegel aus dem Regal mit den Kosmetika. »Gesichtscreme«, erklärte sie. »Brauch ich dringend.«

Ulrich sagte nichts. Erst auf dem Weg zum Auto brummte er etwas von wegen, dass der Laden tatsächlich nicht schlecht gewesen sei und sie in Zukunft durchaus öfter mal hier einkaufen konnten.

Doch so oft sie es auch versuchten, sie fanden den Supermarkt nicht wieder. Sie mussten in dem Nebel völlig die Orientierung verloren haben.

Ein Jahr später, wieder an Weihnachten, hielt Ulrich das Meerrettichglas in der Hand und studierte das Etikett. »Das hat gar kein Haltbarkeitsdatum. Meinst du, der ist noch gut?«

»Meerrettich hält lange«, sagte Juliane.

Ulrich schraubte den Deckel ab, roch am Inhalt. »Ja, ich glaub, der ist noch gut. Und noch halb voll, wäre schade drum gewesen.« Er tat sich einen ordentlichen Klecks auf den Teller. »Scheint irgendwie nie alle zu werden, oder? Das ist doch das Glas, das wir damals –«

»Ja«, sagte Juliane. »Schon seltsam. Meine Creme habe ich auch noch.«

Zwei Jahre später, am Abend des zweiten Advents, waren sie wieder einmal zu Gast bei Julianes Freundin Gerda. Sie saßen in ihrer gemütlichen kleinen Küche und aßen einen wunderbaren Tafelspitz mit Salzkartoffeln, dazu Meerrettich.

»Der gleiche, den wir auch haben«, meinte Ulrich und nahm das Glas in Augenschein. »Auch kein Haltbarkeitsdatum. Unserer ist immer noch halb voll oder so, den müssen wir mal wegwerfen.«

»Wieso?«, fragte Gerda. Gerda war nur wenig älter als sie beide, wirkte mit ihrem graumelierten Haar und ihrer aufrechten Haltung aber wie eine weise Alte.

»Weil wir ihn vor ziemlich genau zwei Jahren gekauft haben«, lachte Ulrich.

»Und wo?«

»Bei einem Supermarkt, der hieß … Juliane, wie hieß der noch mal? Das war eine verrückte Geschichte.« Sie erzählten sie ihr. Von der Fahrt durch den Nebel und wie sie sich gestritten hatten wegen dieses fehlenden Glases Meerrettich für ihr traditionelles Weihnachtsessen.

Gerda hatte große Augen bekommen. »Und ihr habt nur ein Glas Meerrettich und eine Gesichtscreme gekauft? Ja, kennt ihr denn die Legende nicht?«

Ulrich klappte der Kinnladen herunter. »Was für eine Legende?«

»Der Supermarkt im Nebel. Der magische Supermarkt. Nie gehört?«

Juliane und Ulrich schüttelten die Köpfe, synchron.

»Was man dort eingekauft hat, geht einem nie wieder aus«, erklärte Gerda ernst. »Allerdings gelangt man nur ein einziges Mal im Leben dorthin – und zwar dann, wenn man am wenigsten darauf gefasst ist.«

Juliane wandte den Kopf. Ihr Blick wanderte über die Regale der angrenzenden Speisekammer, die voll standen mit Dosen, Packungen, Flaschen und Körben voller Obst und Gemüse. »Du hast jedenfalls gut reagiert«, sagte sie.

Auf der Heimfahrt schwiegen sie beide lange, bis Juliane schließlich sagte: »Einkaufslisten, hmm? Speisepläne?«

Ulrich sagte nichts.

»Dieses Weihnachten«, fuhr Juliane fort, »kochen wir auf jeden Fall was anderes als sonst.«

Ulrich räusperte sich. »Und was?«

Ihr Kinn schob sich vor, während sie hinaussah in die kalte, klare Winternacht. »Weiß ich noch nicht. Das entscheiden wir ganz spontan.«

© 2007 Andreas Eschbach

Rain Song

Es war vor langer, langer Zeit. Ich war noch wesentlich jünger und schlanker als heute, und ich weilte in Griechenland, in einer beschaulichen kleinen Ferienanlage. Es war Mai, und das Wetter war herrlich.

Die Ferienanlage war in der Tat so klein und beschaulich, dass man mit den anderen Gästen durchaus in Kontakt kam. Wie viel waren es? Ein Dutzend vielleicht, soweit ich mich erinnere. Man saß abends lange auf der Terrasse beisammen, bei Ouzo und Retsina, Mondlicht und Zikadengezirpe, und redete über Gott und die Welt.

Einer war dabei, der eine Gitarre hatte, und er brachte uns eines Abends alle auf die Beine, um gemeinsam zu singen und zu tanzen. Keinen Sirtaki, sondern indianische Tänze. Behauptete er zumindest. Es waren einfache Melodien und einfache Schritte, und es war gut nachvollziehbar, dass man sich damit in so etwas wie eine Trance hineintanzen kann.

Am nächsten Morgen war der Himmel bewölkt. Das sei nicht ungewöhnlich um diese Jahreszeit, meinte der Leiter der Anlage. Irgendjemand meinte scherzhaft, vielleicht habe man am Abend zuvor versehentlich einen Regentanz getanzt und sich damit den Rest des Urlaubs verdorben.

Ich weiß noch, wie sich meine Augen weiteten, als ich das hörte. Was für eine Idee für eine Geschichte!

Abergläubische Leute machen mich rasend. Ich meine, man hat uns gewarnt, oder? Und nicht nur einmal. Das Wetter hat schon lange verrückt gespielt, und all die Wissenschaftler, die uns in den Ohren gelegen sind von wegen, dass wir zu viele Treibhausgase in die Luft blasen, zu viele Gifte, zu viel Dampf und so weiter. Man konnte es irgendwann doch nicht mehr hören.

Also: Das Klima stand schon lange dicht davor, umzukippen. Und dann ist es eben umgekippt. Darüber sollten all die Leute mal nachdenken, die jetzt hinter mir her sind.