HIOBS
BRÜDER
Historischer
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2009 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelgestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung eines Motivs von © James Wragg / Trevillion Images
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0116-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Ines,
die leider schon gehen musste
Kürzlich las ich einen amerikanischen Roman, dessen Hauptfigur einen sehr ausgefallenen Namen hatte. Vielleicht war er sogar hübsch, aber da ich nicht wusste, wie man ihn ausspricht, bin ich mit der Figur nie warm geworden.
Das soll Ihnen hier nicht passieren.
Angelsächsische Namen spricht man (von wenigen Ausnahmen abgesehen) so aus, als wären es deutsche, »Losian« also etwa so wie »Florian«. Der Buchstabe »Æ« bzw. »æ« ist identisch mit unserem »Ä«. Nur das »th« – das im Angelsächsischen noch mit einer Rune dargestellt wurde – lispelt man auf englische Art.
Die Namen Haimon und Eustache spricht man französisch aus, also etwa »Ämon(g)« und »Östasch«.
Sie wurden eidbrüchig und versäumten ihre Vasallenpflichten, weil die mächtigen Männer sich Burgen bauten und sie gegen den König hielten. Und dann unterdrückten sie das leidgeprüfte Volk dieses Landes. Ich kann nicht beschreiben, welche Gräuel sie an den armen Menschen begingen, und auch die Kirchen verschonten sie nicht. Wo ein Mann sein Feld bestellte, brachte die Erde kein Korn hervor, denn das Land war durch all diese Schandtaten zugrunde gerichtet. Und die Menschen sagten, dass Christus und seine Heiligen schliefen.
Angelsachsenchronik
Wegen der Überschaubarkeit der Personenzahl gibt es dieses Mal nur ein Verzeichnis der historischen Persönlichkeiten, damit Sie nachvollziehen können, wer im Roman erfunden ist und wen es wirklich gegeben hat.
Kaiserin Maud, die eigentlich Königin von England sein sollte
Henry Plantagenet, ihr ältester Sohn
Stephen, König von England
Eustache de Boulogne, sein ältester Sohn
Geoffrey de Mandeville, Earl of Essex und Ungeheuer, der zu Beginn der Handlung schon tot ist, aber immer noch Wirkung zeigt
Robert de Beaumont, Earl of Leicester
Richard de Clare, Earl of Pembroke
Robert, Earl of Gloucester, der uneheliche Halbbruder der Kaiserin
William, sein ältester Sohn
Roger, sein frömmster Sohn
Thomas Becket, ein junger Diplomat am Beginn einer glänzenden kirchlichen Laufbahn
John de Chesney, Sheriff von Norfolk
Aliénor von Aquitanien, Königin von Frankreich, Kreuzfahrerin, Königin von England und vieles mehr
Henry de Blois, Bischof von Winchester, König Stephens Bruder
William Turba, Bischof von Norwich
»Sieh dich um, du Ausgeburt der Hölle«, knurrte der Mönch. »Wirf einen letzten Blick auf die Welt.«
Unwillkürlich folgte Simon der Aufforderung, obwohl er sich so fest vorgenommen hatte, genau das nicht zu tun. Er blieb stehen, wandte sich um und blickte zurück über die rastlose, aufgewühlte See. Der Wind fuhr ihm ruppig durch die Haare und wehte ihm eine Strähne ins Auge, aber der Junge konnte nichts tun, um sie zurückzustreichen, denn die Brüder hatten ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt. Anscheinend fürchteten sie, der fünfzehnjährige, schilfdünne Knabe sei in der Lage, es mit vier gestandenen Benediktinern gleichzeitig aufzunehmen.
Ein Sonnenstrahl brach durch die bleifarbene Wolkendecke und tauchte das Meer und die flache Küste des Festlandes drüben in ein gleißendes, geradezu unirdisches Licht. Simon sah das Heidekraut aufleuchten, und der Turm der Klosterkirche, der eigentlich gedrungen und hässlich war, wirkte mit einem Mal filigran und schimmerte wie Elfenbein. Eine kleine Schafherde graste dicht zusammengedrängt unweit der klösterlichen Obstwiesen. Wie gelbe Wollflocken wirkten die Tiere aus der Ferne. Dann schob sich eine der schweren Wolken vor die Sonne, und das einsam gelegene St.-Pancras-Kloster versank wieder im Zwielicht.
Nicht gerade überwältigend, hätte Simon gern gesagt, um der Welt, die ihn ausstieß, zu bekunden, dass er gut auf sie verzichten könne. Doch nicht einmal zu dieser trotzigen Lüge bekam er Gelegenheit, denn die Brüder hatten ihn geknebelt, damit er sie nicht verfluchen konnte.
Der alte Mönch mit dem Glatzkopf und den weißen Haarbüscheln in den Nasenlöchern, der sich während des Exorzismus so in Rage gebetet hatte, dass er irgendwann ohnmächtig zusammengebrochen war, stieß den Jungen mit seinem knorrigen Gehstock zwischen die Schulterblätter. »Vorwärts!«
Simon kehrte der Welt den Rücken.
Das kleine, aber stabile Ruderboot, mit welchem die Brüder ihn hergebracht hatten, schaukelte auf den kurzen Wellen. Mit zwei dicken Leinen war es am Anlegesteg vertäut. Vermutlich graute den wackeren Brüdern davor, ihr Bötchen könne abtreiben und sie hier stranden, nahm Simon an.
Keine dreißig Schritte vom Bootssteg entfernt erhob sich ein Palisadenzaun mit einem mächtigen hölzernen Torhaus.
»Der Schlüssel, Bruder Martin«, drängte der mit den Nasenhaaren. Es klang ungeduldig und ein bisschen nervös.
Sie hatten wirklich Angst vor ihm, wusste Simon. Jetzt ganz besonders. Sie fürchteten, im letzten Augenblick könne noch irgendetwas schiefgehen, könne er sich mithilfe der finsteren Mächte, die ihm innewohnten, befreien und sie alle niederstrecken oder in Regenwürmer verwandeln. Bruder Nasenhaar hielt seinen Eschenstock einsatzbereit hoch, und die hellen Augen strahlten unnatürlich. »Nun mach endlich«, drängte er seinen Mitbruder.
Der nahm den größten Schlüssel, den Simon je im Leben gesehen hatte, vom Gürtel und steckte ihn in ein ebenfalls riesiges, schwarzes Vorhängeschloss. Erst als dessen Bolzen aus einer rostigen Öse gezogen war, konnten die beiden anderen Brüder den mächtigen Eisenriegel hochstemmen, der das Tor versperrte. Solche Schließkonstruktionen gehörten natürlich eigentlich auf die Innenseite eines Burgtors.
Aber hier war eben alles anders.
Die beiden jungen Mönche mussten ihre gesamte Kraft aufbieten, um einen der schweren Torflügel weit genug zu öffnen. Als der Spalt so breit wie ein Mann war, traf Simon ein tückischer Stoß mit dem Stockende in den Nacken, er torkelte über die Schwelle und fiel auf die harte Erde. Da er seinen Sturz nicht mit den Händen abfangen konnte, landete er auf der Brust, und für einen Moment konnte er sich nicht rühren. Als er Bruder Nasenhaar brummen hörte: »Gott sei dir gnädig, Söhnchen«, fuhr sein Kopf herum, aber schon schlug das Tor hallend zu.
Simon wälzte sich auf die Seite, spürte eiskalten Schlamm unter der Wange und weinte.
Er weinte lange und bitterlich. Er war zutiefst entsetzt über das, was ihm geschehen war. Er war einsam, und er hatte Angst. Vor der ewigen Verdammnis, die der ehrwürdige Abt ihm prophezeit hatte, aber noch ein bisschen mehr vor dem, was ihn hier erwarten mochte. Vor dem Rest seines Lebens.
Er schluchzte, und als die Tränen ihm die Nase verstopften, bekam er mit einem Mal keine Luft mehr, denn der Knebel machte es ihm fast unmöglich, durch den Mund einzuatmen. Simon fing an zu keuchen, krümmte sich und versuchte erfolglos, sich auf die Knie aufzurichten. Gerade als die Panik sich seiner bemächtigen wollte, spürte er eine Hand auf dem Arm.
»Schsch. Nur die Ruhe, mein Sohn«, hörte er eine Stimme murmeln. Kräftige Arme umschlangen ihn von hinten, eine Hand strich ihm über die Stirn.
Simon erstarrte vor Schreck und versuchte, über die Schulter zu erkennen, was für eine Kreatur es war, die ihn gepackt hielt, aber er konnte den Kopf nicht weit genug drehen, und außerdem war es fast dunkel im Torhaus.
»Schsch. Atme. Gleich wird es besser, du wirst sehen.«
Es war eine gütige Stimme. Simon entspannte sich ein wenig, ließ sich in die Umarmung zurücksinken und betete, dass er nicht ausgerechnet jetzt einen Anfall bekommen möge.
Allmählich wurde es besser. Die Erstickungsangst verging, und er atmete wieder ruhiger. Schließlich packten die Hände ihn unter den Achseln und hievten ihn auf die Füße. Im nächsten Moment wurde der Knoten des widerwärtigen Lumpens gelöst, mit dem sie ihn geknebelt hatten.
Simon spuckte aus, rieb sich den Mund an der Schulter und drehte sich um. »Danke.«
Er fand sich Auge in Auge mit einem hageren Angelsachsen in einem zerschlissenen Mönchsgewand. Der Mann war jünger, als das graue Haar und der weiße Zottelbart auf den ersten Blick schließen ließen, vierzig vielleicht, und die blauen Augen funkelten wie vor jugendlichem Übermut. Seine Haltung war ein wenig gekrümmt, so als habe er zu viel Zeit über fromme Bücher gebeugt verbracht.
»Alle fangen hier so an wie du, weißt du«, sagte er. »Alle liegen am Tor und heulen. Aber so schlimm ist es gar nicht, glaub mir. Man gewöhnt sich daran. Wie ist dein Name, mein Sohn?«
»Simon de Clare.«
»Ah! Von edelstem normannischem Geblüt. Eine Ehre für uns, eine Ehre. Willkommen auf der Insel der Seligen, Simon de Clare.«
»Ich dachte, sie heißt die Insel der Verdammten«, entgegnete Simon.
Aber der Angelsachse schüttelte den Kopf. »So nennen sie sie dort draußen«, antwortete er und ruckte abschätzig das Kinn zum Burgtor hinüber. »Wir hier drinnen wissen es besser.«
Simon nickte, aber er war keineswegs überzeugt. »Und wie ist dein Name?«, fragte er.
»Ich bin der heilige Edmund«, stellte der Angelsachse sich vor. »Aber du kannst mich King Edmund nennen, das tun hier alle. Wir legen keinen großen Wert auf Förmlichkeiten.«
Simon spürte, wie das vorsichtige Lächeln auf seinem Gesicht gefror. Irre. Dieser Kerl war vollkommen irre. Wie alle hier. Was für ein Narr er doch war, dass er auch nur für einen Augenblick Hoffnung geschöpft hatte. Er räusperte sich mühsam. »Und wirst du mir die Fesseln abnehmen, King Edmund?«
Der zeigte ein spitzbübisches Lächeln. »Sobald ich weiß, wie gefährlich du bist.«
»Oh, keine Bange«, gab der Junge bitter zurück. »Ich bin völlig harmlos.«
»Wenn du das glaubst, kennst du dich selbst schlecht, Simon de Clare. Kein Mann ist harmlos. Weswegen bist du hier?«
Simon wandte das Gesicht ab. Die Schande brannte wie Galle in seinem Innern, an der vertrauten Stelle gleich hinter dem Brustbein. »Darüber möchte ich lieber nicht sprechen«, brachte er gepresst hervor.
»Das kannst du halten, wie du willst«, gab King Edmund gleichmütig zurück. »Aber es besteht kein Grund, dich zu schämen. Jeder von uns hier hat einen Makel. Genau wie die da draußen, nur ist er bei uns vielleicht ein bisschen augenfälliger. Doch wenn du hier eines lernen kannst, dann, dich dessen, was du bist, nicht zu schämen.«
Simon schnaubte, um nur ja nicht wieder anzufangen zu heulen. »Ich glaube, das wird mir verdammt schwerfallen, King Edmund.«
Der zwinkerte ihm zu. »Das macht nichts. Du hast ja den Rest deines Lebens Zeit. Und wenn ich dich noch einmal fluchen höre, mein Sohn, dann wirst du’s bereuen, du hast mein Wort.«
Der leutselige Ton hatte sich ebenso wenig geändert wie das verschmitzte Lächeln, aber plötzlich spürte Simon einen Schauer seinen Rücken hinabrieseln. Hatte er einen Widerschein des Wahnsinns in den blauen Augen des Angelsachsen aufleuchten sehen? Oder hatte er es sich nur eingebildet, weil es eben das war, was man hier zu sehen erwartete? Simon, der mehr als sein halbes Leben unter den vorgefassten Meinungen anderer Menschen zu leiden gehabt hatte, misstraute seinem eigenen Urteil.
»Ich bitte um Entschuldigung, heiliger King Edmund.« Sorgsam hielt er jeden Anflug von Hohn aus seiner Stimme, nickte dem Mann in der Mönchskutte höflich zu, der sich für den wohl am glühendsten verehrten angelsächsischen Märtyrer hielt, ließ ihn stehen und trat aus dem Torhaus in den Innenhof der alten Inselfestung.
Er ging mit langsamen Schritten, die Hände unverändert auf dem Rücken zusammengebunden, und schaute sich um. Er war erschüttert, aber nicht überrascht von dem Anblick, der sich ihm bot: eine Burganlage typischer normannischer Bauart, schnell zusammengezimmert, aber solide. Vermutlich hatte der Eroberer irgendeinen Unglücksraben unter seinen Getreuen mit diesem kargen Eiland im Meer beglückt und ihm befohlen, hier eine Festung zu errichten und nach dänischen Invasionsflotten Ausschau zu halten. Aber die Dänen kamen schon lange nicht mehr. Vor mehr als dreißig Jahren war die Burg aufgegeben worden, und man konnte unschwer erkennen, dass niemand in all der Zeit auch nur irgendwo einen neuen Nagel eingeschlagen hatte. Dennoch standen die Palisaden in Reih und Glied und so unverrückbar wie am ersten Tag, und der hölzerne Burgturm oben auf der Motte schien sogar noch ein Dach zu haben.
King Edmund folgte Simon aus dem Torhaus, gesellte sich zu ihm und schickte sich an, ihn herumzuführen, so wie ein stolzer Burgherr es mit einem Besucher getan hätte. Er zeigte auf eine halb vermoderte Holzhütte auf der rechten Seite. »Wir glauben, dass dies hier einmal das Backhaus war. Jedenfalls gibt es eine Feuerstelle, und wir kochen hier unser Essen.«
»Was esst ihr denn?«, fragte Simon. »Woher … ich meine, hier wächst doch nichts, und ich rieche kein Vieh.«
»Nein, nein«, gab King Edmund glucksend zurück. »Wir müssen nicht im Schweiße unseres Angesichts unser Brot verdienen. Das ist einer der Vorzüge, wenn man in den Augen der ahnungslosen, umnachteten Welt nicht mehr zu den Kindern Gottes zählt. Die Mönche kommen etwa einmal im Monat mit dem Boot herüber und bringen uns, was sie entbehren können. Mehl. Hafer. Fisch und Zwiebeln. Brennholz, aber immer zu wenig. Im Sommer manchmal ein bisschen Obst. Im Herbst nach dem Schlachten Fleisch und Wurst, wenn wir Glück haben … Du kannst nicht zufällig kochen?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Schade. Bist du sicher?«, hakte King Edmund nach.
»Seh ich aus wie ein verdammter Küchenjunge?«, brauste der junge Normanne auf, und King Edmund stürzte sich mit einem schrillen, wahrhaft markerschütternden Schrei auf ihn.
»Ich hab dir gesagt, du sollst nicht fluchen! Ich hab es dir gesagt, du kleiner Drecksack! Du kannst nicht behaupten, ich hätte dich nicht gewarnt! Man flucht nicht in Gegenwart der Heiligen!«
Er riss ihn zu Boden, warf sich auf ihn und trommelte mit den Fäusten auf Brust und Kopf ein. Simon lag auf seinen gefesselten Händen und konnte nicht einmal sein Gesicht schützen. Eher zufällig streifte die Faust seine Nase, die augenblicklich zu sprudeln begann, aber bevor es richtig schlimm wurde, packte jemand den rasenden King Edmund und riss ihn zurück.
»Ich schätze, das ist genug.« Es war eine angenehme Stimme, in der eine eigentümliche Mischung aus Respekt und Autorität schwang. »Ich bin überzeugt, er hat es nicht böse gemeint.«
Mit schreckgeweiteten Augen sah Simon zu seinem Retter und King Edmund empor, der noch ein paar Augenblicke weiterschrie und sich dann ebenso plötzlich beruhigte, wie er zu toben begonnen hatte.
»Es wäre gut, wenn du dich entschuldigst«, riet der Neuankömmling dem Jungen ohne besonderen Nachdruck. Sein Haar und Bart waren ebenso lang und zottelig wie die des selbsternannten Heiligen, aber weizenblond. Er mochte Mitte zwanzig sein, und Simon konnte nicht entscheiden, ob die Augen blau oder grün waren. Kräftige Hände legten sich um seine Oberarme und halfen ihm auf die Füße. Dann stellte der Mann mit den seltsamen Augen sich hinter ihn und begann geduldig, den Knoten seiner Handfesseln zu lösen.
Simon warf King Edmund einen argwöhnischen Blick zu. »Tut mir leid«, knurrte er.
»Das hast du eben auch gesagt«, gab der heilige Märtyrerkönig zurück und stapfte beleidigt davon.
»Großartig«, murmelte Simon vor sich hin. »Ich hab wirklich nicht lange gebraucht, mir den ersten Irren zum Feind zu machen.«
»Sei unbesorgt. Er ist nicht nachtragend. Heute Abend hat er dir verziehen. King Edmund ist einer der Harmloseren unter uns. Und erstaunlich gebildet. Er kann sogar lesen.«
»Er sieht aus wie ein Mönch«, bemerkte Simon über die Schulter.
»Ich glaube eher, dass er Priester war. Er kennt sich aus in der Welt und mit den Menschen. Ich schätze, er war ein guter Hirte, bevor er …« Er ließ den Satz unvollendet.
Simon spürte, wie der Strick endlich von seinen Handgelenken verschwand. Erleichtert ließ er die gefühllosen, eiskalten Hände sinken, rieb sie kurz und fuhr sich mit der Linken über die blutende Nase. Dann wandte er sich um und verneigte sich leicht. Er wusste nicht so recht, warum er das tat, aber es erschien ihm richtig. Trotz der albtraumhaften Umgebung und seiner abenteuerlichen Erscheinung strahlte dieser Mann eine natürliche und darum unaufdringliche Vornehmheit aus. »Seid Ihr Normanne, Monseigneur?«, fragte Simon ebenso hoffnungsvoll wie ungläubig.
Der Blick der eigentümlichen Augen richtete sich in die Ferne. »Ja.«
Simon hatte das Gefühl, als habe er etwas Falsches gesagt. »Ich meinte nur …«, fügte er hastig hinzu. »Weil Ihr so fließend Angelsächsisch sprecht.« Er wies vage in die Richtung, wo King Edmund verschwunden war.
»Was heißt das heutzutage schon? Du sprichst es auch.«
Simon nickte. Es war nicht die Sprache, in der er dachte und träumte, aber er war in diesem Land zur Welt gekommen, genau wie sein Vater, und seine Amme und alle Dienstboten im Haus waren Angelsachsen gewesen. Viele Normannen sprachen Angelsächsisch. Aber nur wenige so wie dieser Mann mit den seltsamen Augen, so mühelos und ohne Akzent.
Simon kaute nervös auf seiner Unterlippe. »Mein Name ist Simon de Clare.«
Die Eröffnung entlockte seinem Retter keine so ehrfurchtsvolle Reaktion wie King Edmund. Er nickte lediglich, ohne sich vorzustellen. »Und was verschlägt dich an diesen im wahrsten Sinne des Wortes gottverlassenen Ort, Simon de Clare?«
Der Junge schob sich die dunklen Fransen aus der Stirn und schlang den guten Mantel fester um sich. »Die Fallsucht«, antwortete er knapp. Es war plötzlich eigentümlich leicht, es auszusprechen, obwohl das Wort die quälende Scham mit sich brachte wie eh und je.
»Sie haben gesagt, du seiest besessen?«
Simon senkte den Blick und schluckte. »Ja.« Dann sah er auf. »Und Ihr?«, fragte er. Es klang fast ein bisschen herausfordernd. »Ihr macht nicht den Eindruck, als gehörtet Ihr hierher, Monseigneur.«
»Das ist ausgesprochen schmeichelhaft, aber du irrst dich.«
»Und habt Ihr einen Namen?«
»Ich nehme es an. Aber ich weiß ihn nicht mehr.« Simon schaute ihm verständnislos ins Gesicht und sah in den grünblauen Augen eine solche Verstörtheit, dass ihm ganz elend davon wurde. »Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, Simon de Clare. Mein Leben, wie ich es kenne, beginnt an einem Tag vor ungefähr zweieinhalb Jahren, als ich in dem Kloster dort drüben am Festland aus einem Fieber erwachte. Offenbar war ich kurz zuvor aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, denn ich trug einen Kreuzfahrermantel. Aber was immer ich dort getan haben mag, wer immer ich war, weiß ich nicht mehr. Darum nennen sie mich Losian.«
Simon wusste, das bedeutete: verloren sein. Verwundert stellte er fest, dass er tatsächlich noch in der Lage war, für eine andere menschliche Kreatur Mitgefühl zu empfinden. Gott und die Welt hatten ihm übel, wirklich übel mitgespielt, aber wenigstens hatte er sich nicht verloren. Ihm ging auf, dass es noch etwas gab, wofür er dankbar sein sollte.
Losian hatte schon beim Aufwachen gewusst, dass heute ein schlechter Tag war. Er hatte in den Knochen gespürt, dass eine Veränderung bevorstand, und Veränderungen waren nicht gut. Sein höchstes – sein einziges – Gut war der Anschein von Gleichgewicht, den er seiner sinnlosen Existenz übergestülpt hatte und der zu nicht geringem Maß aus Resignation bestand. Doch da dieses Gleichgewicht in keiner Wirklichkeit verankert war, geriet es leicht ins Wanken. Darum war jede Veränderung eine Bedrohung, und nun stand sie hier vor ihm in Gestalt dieses Knaben: fünf Fuß groß und so dürr, dass er fast kränklich wirkte. Entweder war er zu schnell gewachsen, oder die frommen Brüder dort drüben hatten ihn hungern lassen, um ihm seinen Dämon auszutreiben. Ein ebenmäßiges, hellhäutiges Gesicht umrahmt von glatten, dunklen Haaren. Meergraue Augen, die ihn anflehten.
Losian wandte den Blick ab. Er hatte diesem Jungen keine Hilfe anzubieten. »In drei Stunden wird es dunkel. Besser, du suchst dir zeitig einen Schlafplatz, sonst bist du morgen früh erfroren.«
Er ließ ihn stehen und überquerte den schlammigen Burghof. An der Westseite standen im Windschatten der Palisaden ein paar Holzhütten, die vermutlich einmal die Gesindequartiere der Burg gewesen waren. Die ganz linke lag ein wenig abseits von den anderen, und sie diente Losian als Wohnstatt. Sie hatte sogar eine Tür. Es gab nicht viel auf dieser Burg, um ihren Bewohnern menschenwürdige Unterkünfte, geschweige denn Komfort zu bieten, aber zweieinhalb Jahre waren eine lange Zeit, wenn man nichts anderes zu tun hatte, als zu improvisieren und ums Überleben zu kämpfen. Wände und Dach der einräumigen Hütte bestanden aus dicken Holzbrettern, die hier und da mit Stroh und Lehm abgedichtet waren. Es gab kein Fenster, denn auf dieser ewig windgeplagten Insel war Schutz vor dem Wetter wichtiger als Tageslicht. Trotz der bitteren Winterkälte war die Hütte unbeheizt. Ein Strohlager mit einer abgeschabten Felldecke, ein Holzschemel und eine Kiste waren das einzige Mobiliar. Losian klappte die kleine Truhe auf und legte den Strick hinein, mit dem der Junge gefesselt gewesen war.
»Es ist so … sauber«, sagte Simon von der Tür.
Losian wandte sich um. »Ich kann mich nicht erinnern, dich hereingebeten zu haben.«
Erschrocken machte Simon einen Schritt rückwärts, sodass er vor der Türschwelle stand. »Ich bitte um Vergebung. Es ist nur … ich weiß nicht, wo ich hinsoll.«
»Platz ist das Einzige, was wir hier im Überfluss haben. Du kannst dir eine eigene Hütte suchen, aber dann wirst du nachts frieren. Die meisten wohnen aus dem Grund zu mehreren zusammen.« Er selbst war die Ausnahme, denn er brauchte einen Rückzugsort, der ihm allein gehörte. Außerdem plagten ihn gelegentlich Albträume, manchmal so schlimm, dass sein eigenes jammervolles Stöhnen ihn weckte. Und daraus machte er lieber ein Geheimnis. »Ich bin sicher, du kannst bei King Edmund oder bei den Zwillingen unterkommen, da wärst du gut aufgehoben. Nur eins solltest du auf keinen Fall tun: Geh nicht zum Burgturm hinauf.«
»Warum nicht?«
Losian schüttelte den Kopf. Es gab Dinge, die man hier besser nicht gleich am ersten Tag erfuhr. »Hör einfach auf mich.«
»Kann ich nicht bei dir wohnen?«, brach es aus dem Jungen hervor, doch noch ehe Losian ablehnen konnte, fügte er hastig hinzu: »Nein. Vergiss, dass ich das gesagt habe.« Dann straffte er die Schultern, als wolle er sich selbst zur Ordnung rufen. »Gott, ich führ mich auf wie ein Bengel. Nur gut, dass mein Vater das nicht gehört hat.«
Losian bewunderte ihn für seine Beherrschung. Und er war erleichtert, dass Simon sich offenbar nicht wie ein Ertrinkender an ihn klammern würde. Er zögerte noch einen Augenblick, dann winkte er ihn herein. »Ist dein Vater ein mächtiger Lord? Ich habe gehört, dass du deinen Namen mit Stolz aussprichst, und du trägst feine Kleider.«
Simon nickte und betrat die Hütte wieder. Er wirkte schüchtern und warf Losian einen prüfenden Blick zu, als wolle er feststellen, ob er ihm auch wirklich nicht zur Last fiel. »Die de Clares sind eine große Familie mit viel Land in England, Wales und der Normandie. Der Mächtigste ist mein Onkel, der Earl of Pembroke. Mein Vater besaß nur ein Landgut, aber wenigstens ein ansehnliches. Er war königlicher Forstaufseher in Lincolnshire. Letzten Herbst ist er gefallen.« Simon brach ab.
Gefallen. Losian sann über das Wort nach. Er wusste, dass ein Krieg im Land tobte. King Edmund hatte ihm das erzählt, und wenn der es sagte, stimmte es vermutlich. Aber hierher kam kein Krieg. Die Belange der Welt konnten den Bewohnern dieser Insel völlig gleich sein. Und manchmal beschlich ihn der grässliche Verdacht, dass ihm das ganz lieb war.
Erst mit einiger Verspätung stellte er fest, dass Simon wieder sprach: »… immer so geplant, dass ich zur Ausbildung in den Haushalt meines Onkels gehen sollte. Mein Onkel wusste auch von der Fallsucht. Das sei schon in Ordnung, hatte er Vater geschrieben, er habe einmal einen Hauskaplan gehabt, der ebenfalls damit geschlagen war, und darum wisse er, dass es schlimmer aussieht, als es ist. Nach Vaters Beerdigung ritt ich also zu ihm nach Shropshire, wo er seine Lieblingsburg hat.«
»Weiter Weg von Lincolnshire«, bemerkte Losian und fragte sich: Woher weiß ich das?
»In Kriegszeiten erst recht«, stimmte Simon zu. »Aber ich bin gut durchgekommen. Mein Onkel nahm mich mit großer Freundlichkeit auf. Es ging zwei Monate lang gut. Dann bekam ich den ersten Anfall.«
»Und da war es vorbei mit der Freundlichkeit?«
Simon nickte. Losian sah, wie er die Zähne zusammenbiss. »Ich weiß, dass er sich geschämt hat, mich zu verstoßen«, fuhr der Junge schließlich fort. »Aber noch mehr schämte er sich vor seinen Freunden und seiner Ritterschaft, so etwas wie mich im Haus zu haben. Vielleicht ist es bei mir schlimmer als bei seinem Kaplan – keine Ahnung. Er schickte mich jedenfalls nach York zum Prior des Klosters, der ein großer Heiler ist. Aber natürlich konnte der auch nichts machen. Er hat sich Mühe gegeben, mir schonend beizubringen, dass ich nicht krank, sondern besessen bin.«
Losian nickte. Den Rest konnte er sich mühelos denken. »Das war der Moment, da du dich hättest davonmachen sollen.«
»Ja, das wollte ich auch. Ich wollte zurück nach Hause. Das Gut gehört ja jetzt mir. Aber die Mönche ließen mich nicht wieder fort. Sie … Sie haben mich eingesperrt und schließlich hierhergebracht.« Er wies vage auf die Bretterwand in die Richtung, wo das Festland und das Kloster lagen.
Losian setzte sich Simon gegenüber auf seine Bettstatt und lehnte sich an die Wand. »Zu den Meistern der Teufelsaustreibung.«
Simon sah ihm forschend ins Gesicht, fragte aber nicht.
Losian sagte es ihm trotzdem. »Es gibt einen Dämon namens Dantalion, der die Erinnerung befällt und auffrisst. Sie haben festgestellt, dass er von mir Besitz ergriffen hat, und nichts unversucht gelassen, ihn mir auszutreiben.« Er sagte es spöttisch. Das schien der sicherste Weg, um zu vermeiden, dass man bei der Erinnerung anfing zu schreien.
»Immerhin hast du’s überlebt«, bemerkte der Junge beklommen.
»So wie du«, gab Losian zurück.
Simon nickte und schaute sich rastlos um, als suche er die rohen Holzwände nach einem unverfänglichen Thema ab. »Wie viele Menschen leben hier?«, fragte er schließlich.
»Siebzehn, dich mit eingerechnet.«
»Nur Männer?«
»Männer und Knaben, ja.«
»Haben sie für die verrückten Frauen eine eigene Insel?«, fragte Simon bitter. »Damit die Verwahrung der Narren und Missgeburten mit Anstand und Sitte vonstattengeht und sie sich bloß nicht vermehren?«
Losian schüttelte den Kopf. Ein halbes Jahr nach ihm hatten die Brüder einmal eine Frau hergebracht; ein gänzlich verwirrtes, verstörtes Geschöpf, das seine Umwelt überhaupt nicht wahrzunehmen schien. Sie hatten ihren Namen nie erfahren. Niemand hier hatte ihr etwas getan, und King Edmund hatte sie wie eine Königin behandelt. Aber in der fünften Nacht hatte sie sich von den Palisaden gestürzt. »Ich glaube, es liegt daran, dass es sich bei Frauen leichter geheim halten lässt«, sagte er. »Ihre Familien schützen sie besser, verstecken sie im Haus oder in einem abgelegenen Kloster. Es ist … einfach etwas anderes. Eine zurückgebliebene Tochter ist ein Schicksalsschlag, aber mit ein bisschen Glück und wenn es nicht gar zu schlimm ist, kann man sie immer noch verheiraten, nicht wahr. Ein zurückgebliebener Sohn hingegen ist eine Schande.«
»Und … und sind sie alle verrückt hier? So wie King Edmund?«
»Nein, nein. Nur drei sind wirklich verrückt. Vier, wenn du mich dazurechnen möchtest, wofür allerhand spricht. Fünf sind einfach nur schwachsinnig. Der Rest sind Krüppel.«
»Krüppel?«, wiederholte Simon ungläubig. »Aber warum in aller Welt sperren sie die hier ein?«
»Weil der ehrwürdige Abt von St. Pancras dort drüben glaubt, dass sie nicht nach Gottes Ebenbild erschaffen sind. Deswegen sei es anderen Menschen nicht zuzumuten, sie in ihrer Mitte dulden zu müssen.«
»Genau wie uns, die besessen sind«, fügte der Junge hinzu.
»Oder die Schwachsinnigen, von denen er sagt, sie hätten keine Seele.«
»Und … was glaubst du?«, fragte Simon.
Losian hatte in den vergangenen zweieinhalb Jahren kaum über ein anderes Rätsel mehr nachgegrübelt. Aber er war immer noch zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen. Es gab Tage und Nächte, da er sich in seinem eigenen Körper so fremd und deplatziert fühlte, dass er sicher war, ihn mit einer unbekannten Präsenz zu teilen. Vielleicht war es ein Dämon, wie die Brüder sagten. An anderen Tagen erschien ihm die Behauptung vollkommen absurd. »Frag King Edmund«, schlug er vor. »Er ist der Gelehrte.«
Simon schnaubte. »Das wären sicher hochinteressante Ausführungen …«
»Das sind sie in der Tat. Abgesehen von der Kleinigkeit, dass er sich für einen toten Märtyrerkönig hält, scheint sein Verstand vollkommen in Ordnung. Er spricht die Messe aus dem Gedächtnis und kann die Bibel praktisch auswendig.«
»Er hält euch die Messe?«
Losian nickte. King Edmund, so absonderlich er auch sein mochte, war kein schlechter Seelsorger. Aber das würde der Junge schon noch selbst herausfinden. Wie so vieles andere auch. »Komm. Die anderen brennen sicher schon darauf, dich in Augenschein zu nehmen.«
»Das fehlt mir noch«, brummte Simon unwillig.
Losian stand auf und sah auf ihn hinab. »Das Leben hier ist eintönig. Ein neues Gesicht ist eine große Attraktion. Ich glaube, heute sind die Zwillinge an der Reihe, das Essen zu kochen. Das heißt, heute ist ein guter Tag. Lass uns gehen, Simon de Clare, sonst ist nichts mehr übrig.« Er warf sich einen schäbigen, vielfach ausgebesserten Mantel über die Schultern, der ihm nachts als zusätzliche Decke diente, und trat in den dämmrigen Winternachmittag hinaus. Simon folgte ihm zögernd. Während sie den Burghof durchquerten, begann es zu nieseln.
Beim Anblick der Zwillinge fuhr Simon der Schreck in die Glieder: Sie waren an der Hüfte zusammengewachsen. Zwei flachsblonde Angelsachsen, die sich wahrhaftig glichen wie ein Ei dem anderen. Sie waren vielleicht drei Jahre älter als er selbst, und sie bewegten sich zusammen mit einer Geschmeidigkeit und Mühelosigkeit, als sei es nur ein Wille, der ihre Glieder lenkte.
»Godric und Wulfric«, stellte Losian vor. »Und dies ist Simon de Clare.«
»Da hol mich doch der …« Godric sah über die Schulter, um festzustellen, ob King Edmund in der Nähe war, ehe er fortfuhr: »Teufel. Ein echter normannischer Edelmann.« Jeder der Zwillinge drosch Simon auf eine Schulter, sodass er fast in die Knie ging, und sie sagten wie aus einem Munde: »Willkommen, Simon.«
»Danke.« Er erwiderte ihr breites Grinsen, auch wenn es sich seltsam anfühlte an diesem Ort des Schreckens.
»Es gibt Hafergrütze«, verkündete Wulfric.
»Ich hoffe, das ist nach deinem Geschmack, denn hier gibt es praktisch immer Hafergrütze«, fügte Godric hinzu.
»Ich bin ganz versessen darauf«, log Simon mit Inbrunst.
Sie lachten. Aus dem Augenwinkel sah Simon Losian neben der Tür an der Wand lehnen. Er hatte die Arme verschränkt und beobachtete sie mit undurchschaubarer Miene.
Das ehemalige Backhaus verfügte neben dem verfallenen Ofen über einen kleinen Herd. Ein Kessel hing über dem Feuer. Simon wärmte sich dankbar die Hände und warf einen Blick auf die blubbernde, gräuliche Grütze. In einem unordentlichen Kreis standen Schemel und umgedrehte Holzkisten um den Herd. Simon zählte verstohlen: sechzehn. »Ich sollte mir einen Stuhl besorgen«, murmelte er und sah sich ratlos um, als hoffe er, ein Schemel werde vom Himmel fallen.
»Nein, nein, wir haben schon einen für dich geholt, als King Edmund uns vorhin erzählte, dass du angekommen bist.«
»Aber ich dachte, wir sind siebzehn«, wandte Simon mit einer Geste auf die zusammengewürfelten Sitzmöbel ein.
Die Zwillinge nickten. »Mit Regy. Der isst allein«, erklärte Godric, seine Miene plötzlich grimmig.
»Warum?«, fragte Simon.
Wulfric sah vorwurfsvoll zu Losian hinüber. »Du hast ihm nichts von Regy erzählt, was?«
»Ich fand, es musste nicht gleich heute sein«, gab Losian achselzuckend zurück.
»Na ja, das ist wahr«, räumte Godric ein. Während er sich über den Topf beugte und rührte, bückte sein Bruder sich noch ein bisschen tiefer und hob einen Stapel Holzschalen vom Boden auf. Gleichzeitig richteten sie sich wieder auf. Simon beobachtete sie fasziniert.
Das entging den Zwillingen nicht. »Es kommt mit der lebenslangen Übung«, erklärte Wulfric. »Das Einzige, worüber ich mir früher oft Sorgen gemacht hab, war, wie es gehen sollte, wenn einer von uns mal heiraten will. Du weißt schon, was ich meine. Es gibt Dinge, bei denen man seinen Bruder einfach nicht gebrauchen kann. Aber das hat sich ja nun erledigt«, schloss er. »So sorgt der Herr für uns, Simon de Clare. Ah, und da kommen die anderen.«
Ein Dutzend Männer und Knaben betraten allein oder zu zweit das kleine Küchenhaus. Der Erste war ein rotwangiger alter Bauer namens Luke, der Simon mit großer Herzlichkeit begrüßte und ihm anvertraute, dass eine Schlange in seinem Bauch wohne. An guten Tagen rolle sie sich zusammen und schlafe, an schlechten Tagen drohe sie, ihn von innen zu zerfleischen, wenn er sich auch nur einen Zoll rühre. Dann müsse er mucksmäuschenstill sitzen.
Aha, machte Simon.
Ein rothaariger Junge, dessen Gesicht und Arme von Sommersprossen übersät waren, kam als Nächster. Den hatten sie Jeremy genannt, erklärte Godric, aber sie wüssten nicht, wie er hieße, denn er sei taubstumm. Dann kam ein dicklicher junger Mann mit einem kugelrunden, zu großen Kopf und schräg stehenden Augen, der Simon keines Blickes würdigte, sondern auf ungelenken Beinen zu Losian hastete und ihn innig umarmte.
Losian drehte den Kopf zur Seite und presste ungeduldig die Lippen zusammen, ließ den stürmischen Liebesbeweis aber ein paar Herzschläge lang über sich ergehen, ehe er sich sanft befreite. »Schon gut, Oswald. Immer mit der Ruhe.«
»Ich hab was für dich«, sagte Oswald strahlend und streckte ihm die rundliche, eigentümlich kleine Hand entgegen. Er sprach seltsam, fand Simon. Nuschelnd und ein bisschen undeutlich.
Losian nahm den Gegenstand, den der junge Mann ihm hinhielt, und betrachtete ihn eingehend. Es war ein Penny, schlammverschmiert und angelaufen, aber hier und da funkelte Silber. »Wo hast du ihn her?«, fragte Losian verblüfft.
»Wehrgang«, erklärte Oswald stolz. »Eingeklemmt zwischen zwei Hölzern.«
Holzbohlen, nahm Simon an.
Losian betrachtete den Fund mit einem verwunderten Kopfschütteln und hielt ihn Oswald dann wieder hin. »Behalte ihn. Du kannst mir nicht immer alles schenken, was du findest. Wenn du ihn polierst, wird er ganz blank.«
Aber Oswald schüttelte entschieden den Kopf. »Für dich«, beharrte er. »Für meinen allerallerbesten Freund.«
»Na schön.« Losian steckte die Münze in den abgewetzten Lederbeutel, den er am Gürtel trug. »Ich heb ihn für dich auf.«
»Du kannst ihm ja ein Bier ausgeben, wenn wir das nächste Mal ins Wirtshaus kommen«, schlug einer der Zwillinge vor. Godric, rief Simon sich in Erinnerung. Der Linke der beiden war Godric.
»Diese Leprakranken müssen reiche Leute gewesen sein, wenn sie ihr Geld auf dem Wehrgang verstreut haben«, meinte Wulfric und begann, Grütze in die Schalen zu löffeln.
»Leprakranke?«, fragte Simon.
Die Zwillinge nickten. »Die waren vor uns hier. Aber dann haben die Brüder von St. Pancras drüben auf dem Festland für die Leprakranken ein Hospital gebaut. St. Giles heißt es. Sehr hübsch, hab ich gehört.« Er sagte es ohne erkennbare Bitterkeit.
Doch Simon hatte noch nicht gelernt, sich mit seinem Schicksal abzufinden. »Und stattdessen sperren sie uns nun in diese trostlose Ruine? Sind wir noch weniger wert als Aussätzige?«
»Nein. Aber die heiligen Brüder von St. Pancras betrachten uns mit anderen Augen«, erklärte King Edmund, der gerade eingetreten war und Simons Frage gehört hatte. »Danke, mein Sohn«, sagte er zu Wulfric, als dieser ihm eine dampfende Schale reichte, dann wandte King Edmund sich wieder an den Neuzugang. Er lächelte milde – seinen Groll hatte er offenbar vergessen, wie Losian vorhergesagt hatte. »Gott schlägt die Menschen mit Aussatz, um sie für ihre Sünden zu strafen. Aber jeder Mensch ist sündig, das wissen sogar die Brüder von St. Pancras. Es kann also jeden von uns treffen, und darum sind wir gehalten, den Aussätzigen zu helfen und ihnen Almosen zu geben. Damit helfen wir uns sozusagen selbst, verstehst du? Es ist ein Dienst an der eigenen Seele. Wir hier hingegen«, und er vollführte eine Geste, die das ganze Küchenhaus umschloss, »wir sind die hoffnungslosen Fälle. Sie glauben, dass Gott uns nicht bestraft, sondern verstoßen hat. Und so erscheint es ihnen nur vernünftig, seinem Beispiel zu folgen.«
Simon starrte ihn an. War dieser gebildete Gottesmann wirklich derselbe, der ihn vorhin wie eine Furie angefallen hatte?
»Griff kommt nicht«, berichtete Wulfstan, ein buckliger, zwergwüchsiger Mann, der Simon bestenfalls bis an die Hüfte reichte. »Er kann nicht aufstehen. Ich hab gesagt, ich bring ihm was und füttere ihn, aber er will nichts mehr.«
»Ich werde nach dem Essen nach ihm sehen«, versprach King Edmund.
»Griff hat die Schwindsucht«, erklärte Godric Simon. »Ich denke, er hat’s bald überstanden.«
»Kann ich seine Schuhe haben, wenn er stirbt?«, fragte Luke. »Und seine Decke?«
»Der Erste, der eine Decke braucht, ist Simon«, entgegnete Losian.
»Aber der hat diesen feinen, dicken Mantel«, protestierte Luke. »Ich brauch die Decke viel dringender.« Sein fröhliches, runzeliges Bauerngesicht verzerrte sich und nahm eine bedenkliche purpurne Tönung an. Mit einem Mal sah er aus wie ein trotziges Kind, das jeden Moment in lautes Geheul auszubrechen droht. »Ich will auch endlich mal was bekommen! Du sagst immer, jemand anders ist vor mir dran und …«
Losian legte ihm die Hand auf den Arm. »Du bekommst die Schuhe. Aber nicht die Decke. Es tut mir leid. Im Übrigen ist Griff noch nicht tot, und wir sollten wenigstens warten, bis wir ihn der See übergeben haben, bevor wir seine Habseligkeiten verteilen.«
»Amen«, sagte King Edmund mit Nachdruck. »Und nun lasset uns beten.«
Alle stellten ihre Schalen auf den Boden, bekreuzigten sich und senkten die Köpfe, während King Edmund ein Tischgebet sprach.
Wieso beten wir, wenn Gott uns verstoßen hat?, fuhr es Simon durch den Kopf, aber er war zu hungrig, um sich jetzt mit dieser Frage zu befassen. Sobald das Gebet beendet war, ergriff er seine Schale und wollte mit den Fingern Grütze herausschöpfen.
»Nein, nein, das ist nicht nötig«, sagte Godric und verteilte hölzerne Löffel. »Früher haben wir mit den Fingern gegessen. Früher haben wir hier überhaupt gelebt wie die Tiere. Bis er kam.« Er zeigte mit seiner Schale auf Losian, der auf einer Holzkiste saß, die Beine übereinandergeschlagen. »Er hat uns dran erinnert, dass wir menschliche Wesen sind, und sorgt dafür, dass wir uns meistens auch so benehmen.«
»Warum steckst du nicht einen Löffel Grütze in deinen viel zu großen Mund, Godric«, grollte Losian.
»Er mag es nicht sonderlich, wenn man das sagt«, vertraute Wulfric Simon im Verschwörerton an. »Wahrscheinlich fürchtet er, dass er eines Morgens aufwacht und sich dran erinnert, dass er ein Rattenfänger oder Schweinehirt war und seine ganze Vornehmheit nur Getue ist.«
Zielsicher und blitzschnell warf Losian seinen Löffel nach ihm, aber die Zwillinge bogen lachend die Köpfe weg – beide im selben Moment.
Simon hätte geglaubt, dass der Anblick von so viel Gebrechen und menschlichem Elend ihn in tiefe Düsternis gestürzt, ihm zumindest nachhaltig den Appetit verschlagen hätte, aber das war nicht der Fall. Vor allem Godric und Wulfric hatte er zu verdanken, dass sein neues Leben ihm nicht ganz und gar unerträglich erschien. Sie hatten ihn eingeladen, zu ihnen in die alte Schmiede zu ziehen, und Simon hatte mit großer Erleichterung angenommen. Sie hatten ihm den Brunnen und die Abtrittbude hinter dem einstigen Viehstall gezeigt und ihm die tägliche Routine dieser sonderbaren Bruderschaft erklärt. Und als es Nacht wurde, legten sie sich auf ihrem Strohlager auf den Rücken und schliefen selig, ohne sich je auf die Seite drehen zu können, während Simon sich rastlos und von schweren Träumen geplagt hin und her wälzte.
Der unerschütterliche Frohsinn, mit dem Wulfric und Godric ihrem Schicksal begegneten, richtete ihn auf, und obwohl sie nur ungehobelte angelsächsische Bauern waren, nahm er sie sich zum Vorbild. Ihnen war es ganz ähnlich ergangen wie ihm, und Simon sollte im Laufe der nächsten Tage lernen, dass die Geschichten all derer, die es hierher verschlagen hatte, sich glichen. Wulfrics und Godrics Vater war ein angesehener Schafzüchter in einem Dorf unweit von Scarborough. Ihre Mutter war bei der Geburt der Zwillinge verblutet, doch weder das noch ihre Anomalie hatte der Vater ihnen je übel genommen. Es war ja nicht so, als hätte die Welt nie zuvor von zusammengewachsenen Zwillingen gehört. Bei Welpen und Kälbern geschah das ja gelegentlich auch. Im Grunde waren sie völlig normal aufgewachsen, und die Leute im Dorf glaubten, dass die Zwillinge mit dem sonnigen Gemüt ihnen Glück brächten, denn seit ihrer Geburt hatte es keine einzige Missernte mehr gegeben. Dann war der Krieg gekommen, und schottische Truppen hatten den ganzen Norden Englands besetzt. Sie taten den Leuten kein Leid, aber sie fraßen ihnen die Haare vom Kopf, und die Dorfältesten hatten entschieden, den Abt von St. Pancras um Vermittlung und Fürsprache zu bitten, denn er war mächtig und bei den Schotten hoch geachtet. Vermutlich war es eine Dummheit gewesen, ausgerechnet die Zwillinge zu schicken, denn wer den Anblick nicht gewöhnt war, erschrak leicht. Trotzdem hatten die Ältesten es beschlossen, weil Wulfric und Godric ihnen eben immer Glück gebracht hatten. Voller Neugier und Abenteuerlust hatten die beiden damals vierzehnjährigen Jungen sich auf den Weg gemacht, und der Abt von St. Pancras hatte sie nie wieder nach Hause gelassen. Aber das Einzige, was ihnen an der ganzen Sache wirklich zu schaffen machte, war der Kummer ihres Vaters.
»Wir wissen nicht, ob er sich je auf den Weg nach St. Pancras gemacht hat, um nachzuforschen, was aus uns geworden ist. Und falls ja, was sie ihm erzählt haben«, sagte Wulfric, als sie am nächsten Morgen mit Simon zusammen die morsche Treppe zum Wehrgang hinaufstiegen. »So oder so: Er muss denken, wir sind tot oder wir fristen hier ein jämmerliches Dasein. Hart für einen Vater, verstehst du.«
Simon nickte beklommen.
»Pass auf, die dritte Stufe von oben macht’s nicht mehr lange«, warnte Godric. »Wir müssen zusehen, wo wir ein bisschen Holz finden, um sie auszubessern.«
»Haben wir Werkzeug?«, fragte Simon.
»Ah!«, rief Wulfric.
»Was?«, fragte Simon verständnislos.
»Du hast ›wir‹ gesagt«, erklärte Godric. »Gestern war es noch ›ihr‹.«
»Oh. Tut mir leid«, murmelte der normannische Knabe verlegen.
»Ist schon in Ordnung«, versicherte Godric. »Man braucht ein Weilchen, ehe man glauben kann, dass man wirklich hier gelandet ist. Denn verdient hat das keiner, weißt du.«
Simon blickte über die Brustwehr, die den gesamten Palisadenzaun umlief. Sie waren auf der Ostseite der Burg hinaufgestiegen, und Simon stellte fest, dass die Insel größer war, als er angenommen hatte. Etwa eine Meile erstreckte sich das flache, bewaldete Land. Dahinter lag die See. Von Horizont zu Horizont. Heute war sie stahlblau, denn das Wetter hatte sich gebessert. Der Himmel war klar und leuchtete in einem verwaschenen Blau. Doch der unablässige Wind war so kalt, dass Simon nach kurzer Zeit glaubte, seine Nase werde abfrieren.
Er wandte den Blick vom Meer ab, denn das Glitzern der Sonne auf dem Wasser war gefährlich für ihn. »Im Wald da unten muss es nur so vor Wild wimmeln«, bemerkte er.
Wulfric seufzte tief. »Ja, aber all die Rehe und Wildschweine könnten genauso gut in Irland sein, soweit es uns betrifft. Aus dieser Burg gibt es kein Entkommen, glaub mir. Losian hat alles versucht. Aber – und das beantwortet auch deine Frage – wir haben keine Schaufeln, um die Palisaden zu untertunneln, keine Äxte, um sie zu fällen. Wir haben ja nicht mal ein Messer, womit ein Mann sich mal den Bart stutzen könnte.«
Simon war bereits aufgefallen, dass alle Haar und Bart lang trugen. Jetzt verstand er auch, warum. »Die Brüder müssen ja große Angst vor uns haben«, knurrte er.
»Vielleicht«, stimmte Godric zu. »Vielleicht wollen sie auch, dass wir wie Tiere leben, um dann sagen zu können: ›Da, schaut sie euch an, sie sind wirklich kein Umgang für anständige Christenmenschen‹. Ich hab keine Ahnung.«
Sie setzten ihren langsamen Rundgang fort. Auf der Westseite beugte Simon sich über die gefährlichen Spitzen der Holzpfähle und schaute nach unten zur Anlegestelle. »Was ist mit Abseilen?«, fragte er.
»Dafür braucht man ein Seil, wie an dem Wort unschwer zu erkennen ist«, erklärte Godric.
»Ihr wollt mir im Ernst erzählen, auf dieser ganzen Burg gibt es kein Seil?«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie nackt und leer die Aussätzigen diese Anlage hinterlassen haben. Das sind genauso arme Schweine wie wir, die nichts haben und darum alles gebrauchen können.«
»Trotzdem stimmt es nicht, dass wir gar kein Seil hätten«, schränkte sein Bruder ein. »Losian sammelt jeden Fetzen, den er finden kann, um irgendwann ein neues, starkes Seil daraus zu drehen. Aber bisher hat er nicht mal genug, um einen Kerl damit aufzuknüpfen.«
»Vielleicht besser so«, warf Godric ein.
»Wieso?«, fragte Simon verständnislos.