Andreas Eschbach, 1959 in Ulm geboren, studierte Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete zunächst als Softwareentwickler. Als Stipendiat der Arno-Schmidt-Stiftung »für schriftstellerisch hoch begabten Nachwuchs« schrieb er seinen ersten Roman DIE HAARTEPPICHKNÜPFER. Bekannt wurde er durch den Thriller DAS JESUS VIDEO. Mit EINE BILLION DOLLAR (2001), DER LETZTE SEINER ART (2003), DER NOBELPREIS (2005) und zuletzt AUSGEBRANNT stieg er endgültig in die Riege der deutschen Top-Autoren auf. Andreas Eschbach lebt heute als freier Schriftsteller in der Bretagne.
Eine unberührte Welt
Band 2
BASTEI ENTERTAINMENT
eBook-Teilausgabe Band 2
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
© 2008 by Andreas Eschbach
und by Bastei Lübbe AG, Köln
Copyright-Einzelnachweis am Ende der jeweiligen Geschichte
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0394-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die nächste Geschichte ist zwar gänzlich ohne Sprachschnittstelle entstanden, hat dafür aber inzwischen mehrere Sprachbarrieren erfolgreich überwunden.
Beginnen wir am Anfang. Im Frühjahr 1997 meldete sich ein gewisser Sascha Mamczak bei mir, seines Zeichens Redakteur der im Verlag Thomas Tilsner erscheinenden Zeitschrift »Science Fiction Media«, die einen Relaunch plante, größer, bunter, aufsehenerregender. Und für die erste Ausgabe im neuen Format wünsche man sich eine Kurzgeschichte von mir.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Zu der Zeit schrieb ich gerade an dem Roman »Jesus Video«, von dem ich mir einiges versprach, aber ich schob die Arbeit daran beiseite, um eine Idee für eine Kurzgeschichte zu verwirklichen, die mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf ging und die, behaupte ich mal, nach einem Anlass gesucht hat, geschrieben zu werden.
Die Story erschien, sehr schön aufgemacht, im September 1997 in der Ausgabe 132 der »Science Fiction Media«. Wer das Heft noch besitzen sollte, weiß hoffentlich, dass er es mit einem Sammlerstück zu tun hat, denn die Zeitschrift gibt es inzwischen längst nicht mehr. Sascha Mamczak wechselte kurz darauf zum Heyne-Verlag, wo er zunächst Assistent des Herausgebers Wolfgang Jeschke wurde und später dessen Nachfolger.
»Die Wunder des Universums« erhielt 1998 den Literaturpreis des SFCD (der heute »Deutscher Science Fiction Preis« heißt) in der Kategorie »beste Kurzgeschichte«.
1998 wurde ich auch zum ersten Mal nach Frankreich eingeladen, zu dem damals erstmalig in Poitiers – vor der absolut irreal wirkenden Kulisse des Futoroscopes – stattfindenden Festival »Utopia ’98«, wo ich unter anderem meinem späteren französischen Verleger Pierre Michaut begegnete. Auf diesem Festival wurde der Plan ausgebrütet, eine Anthologie mit Beiträgen aller ausländischen Autoren herauszugeben, und da lag es nahe, die eben preisgekrönte Kurzgeschichte zu wählen. Übersetzt von Claire Duval, die später auch »Die Haarteppichknüpfer«, »Solarstation« und »Jesus Video« übersetzte, erschien die Story im Oktober 1999 in der Anthologie »Utopia 1« in der Edition l’Atalante.
Das Festival zog zwei Jahre später nach Nantes um und nannte sich von da an – nicht zuletzt wegen irgendwelcher Namensstreitigkeiten – »Utopiales«. Es ist heute das größte Science Fiction-Festival der Welt; selbst die amerikanischen Gäste, die in Sachen Festivals allerhand gewöhnt sind, staunen Bauklötze angesichts des Besucherandrangs und der sonstigen Dimensionen. Und es ist ein Ort der Begegnung. So begegnete ich dort zum Beispiel dem amerikanischen Autor James Morrow, der ungefähr zur gleichen Zeit, als ich damit begann, meine Anthologie »Eine Trillion Euro« mit Storys europäischer Autoren zu organisieren, den Plan entwickelte, in den USA eine Anthologie mit herausragenden Stories europäischer Autoren herauszugeben. Er brauchte ein wenig länger als ich, was aber möglicherweise daran liegt, dass er ein überaus sorgsamer Lektor ist: Er übernahm »Die Wunder des Universums« für seine Anfang 2007 erschienene Anthologie, die den Titel »The SFWA European Hall of Fame« trägt – aber erst nach einem enormen Mailwechsel mit dem Übersetzer, Doryl Jensen (der auch »Die Haarteppichknüpfer« ins Englische übersetzt hat), und mir, einer Diskussion um Detailfragen, die die Geschichte an Umfang weit übertrifft. Die gravierendste Änderung war, dass er sich einen anderen Namen für die Hauptfigur wünschte. Einen, der für amerikanische Ohren europäisch klang. Wir einigten uns auf »Ursula Froehlich«.
Die englische Version liest sich sehr schön. Aber trotz allem: Hier ist das Original, und für mein Gefühl ist dies nach wie vor die schönste Fassung.
Sie saß da, das klobige Sprechfunkgerät in der Hand, und studierte die Falten an ihren Handgelenken. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie dort die ersten dauerhaften Falten an ihrem Körper entdeckt hatte. Falten an den Handgelenken! Nicht an den Augen und nicht um den Mund, an den Handgelenken. Und seither störte sie der Anblick. Wahrscheinlich, weil das der erste Beweis gewesen war, dass nicht nur andere Leute alterten, sondern auch sie.
Doch Leute alterten nicht nur. Sie starben auch.
Sie presste die breite Taste wieder. »Joan Ridgewater ruft die T.S.S. HOMELAND«, wiederholte sie ihr Sprüchlein. »Bitte kommen.« Ja, dachte sie, bitte kommen. Bitte kommt endlich. Ich warte auf euch; verzweifelt warte ich.
Sie sah zu, wie ihr Atem zu Nebel wurde. Bald würde er zu Eis werden und mit leisem Klirren zu Boden fallen. Klirrende Kälte nannte man das; sie hatte davon gelesen. Und nun erlebte sie es.
Eine Stimme drang, endlich, durch das alles aufsaugende Rauschen des Sonnensturms, leise und unverständlich zuerst, bis die intelligenten Filterstufen sie zu fassen bekamen und wie durch Zauberei hörbar und verständlich machten. »Hier spricht die T.S.S. HOMELAND, Commander Esteban. Wir empfangen Sie wieder, Joan, bitte bestätigen.«
Eine jähe, schmerzhafte Freude durchzuckte sie. »Bestätige!«, rief sie. »Ich kann Sie klar und deutlich verstehen, Marko!«
»Schön, Sie zu hören, Joan. Wie ist Ihre Lage?«
Sie zog die Steuereinheit der Lebenserhaltungssysteme in den Lichtkegel ihrer kleinen Lampe. »Energiereserven sind auf 2,3 Einheiten. Sauerstoffreserve auf 0,8.« Sie hatte das Gefühl, dass ihre Stimme zitterte. Vielleicht von der Kälte, die sich durch ihren Thermoanzug fraß. Bestimmt von der Kälte.
»Bestätige. Energie zwo-drei, Sauerstoff null-acht – Wasser?«
Er klang sachlich, geschäftsmäßig. Als sei alles normal. Joan spürte einen Stich angesichts seiner Gedankenlosigkeit.
»Marko«, sagte sie leise, »dies ist der Jupitermond Europa. Ich sitze auf einer hundert Kilometer dicken Eisschicht. Wasser ist nicht das Problem.«
Sie hörte ihn schlucken. Sie kannte Marko Esteban von einem der Lunartreffen – ein junger, drahtiger Frachterkommandant mit Ehrgeiz nach mehr. Sie sah ihn beinahe vor sich.
»Entschuldigen Sie«, sagte er verlegen. Dann, nach einer Pause: »Ich gebe die Werte weiter. Wir rechnen das durch.«
Es sollte beruhigend klingen, aber es klang nicht mehr beruhigend. Joan spürte die Angst wie einen dicken, zähen Klumpen im Bauch. Sie atmete tief ein. Die kalte Atemluft biss in der Nase.
»Marko«, fragte sie und wunderte sich über die Ruhe in ihrer Stimme, »ihr werdet es nicht mehr rechtzeitig schaffen, nicht wahr?«
»Wie gesagt, wir müssen alles nochmal durchrechnen …«
»Marko-«
Pause. Lange, abgrundtiefe Pause zwischen den Sternen. Dann hörte sie Schmerz in der Stimme von Commander Marko Esteban. »Sie haben recht«, sagte er. »Wir werden es nicht mehr rechtzeitig schaffen.«
Joan schloss die Augen, ließ ihren Kopf nach vorn sinken, bis die Stirn das kalte Plastik des Kommunikators berührte. In ihr verkrampfte sich alles, sodass sie einen Augenblick fürchtete, sich übergeben zu müssen. Dann ließ es nach. Mehr noch, der Klumpen in ihrem Bauch schien zu schrumpfen, wich einem gelösten, warmen Gefühl. So, als habe ihr Körper eingesehen, dass Angst nichts mehr nützen würde. Die Gesetze der Himmelsmechanik waren unerbittlich in ihrer Klarheit und Berechenbarkeit, und die interplanetaren Flüge waren diesen Gesetzen unausweichlich unterworfen. Der Zeitpunkt, an dem die HOMELAND nach einem Flug über Millionen von Kilometern in die Umlaufbahn um Europa eintreten würde, ließ sich auf die Minute genau vorherberechnen, und nichts in der Welt vermochte an diesem Flugplan etwas zu ändern.
»Joan?«
Sie hob den Kopf wieder. »Ist in Ordnung«, flüsterte sie, räusperte sich und wiederholte: »Es ist in Ordnung, Marko. Im Grunde habe ich es die ganze Zeit gewusst.«
»Es tut mir so leid …«
»Und mir erst.«
Schweigen. Er schien etwas sagen zu wollen, wusste aber nicht, was. Plötzlich merkte sie, dass sie eigentlich nur ihm zuliebe wartete; dass sie das Bedürfnis hatte, eine Weile mit sich allein zu sein und kostbare Augenblicke ihres Lebens opferte, weil er sich unwohl fühlte. »Marko«, sagte sie also, »ich schalte jetzt ab. Ich denke, ich melde mich später noch einmal. Machen Sie’s gut.«
»In Ordnung.« Er schien erleichtert. »Sie auch.«
Sie schaltete das Gerät ab, legte es beiseite, barg das Gesicht in den Armen und ließ den Tränen freien Lauf.
Irgendwann – Stunden später, so kam es ihr vor – sah sie sich plötzlich selbst da sitzen, in dem kleinen, aufblasbaren Rettungszelt, das kaum groß genug war, um darin zu stehen, mutterseelenallein auf der endlos weiten Oberfläche des Jupitermondes. Es war ein so seltsames Bild, dass sie aufhörte zu weinen, als erwache sie aus einem bösen Traum.
Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus in der dämmrigen Enge des Zelts. Obwohl es schiere Unvernunft war – jeder Schleusendurchgang verschlang kostbare Energie für die Pumpe und entließ unvermeidlich Reste wertvoller Atemluft in das Vakuum –, sie musste hinaus!
Draußen war Nacht, aber ein abnehmender Jupiter hing riesig am Himmel, ein gewaltiger gelblicher Ball mit pastellartigen Streifen in roten und braunen Farbtönen, der die Landschaft mit samtenem Licht übergoss. Sie hätte diesen majestätischsten aller Planeten ewig anschauen können, ewig dem Spiel seiner Wolken, seiner filigranen, unablässig changierenden Wirbel folgend, das nichts ahnen ließ von der wirklichen Gewalt der Stürme, die in der Wasserstoff-Helium-Atmosphäre tobten und denen bisher kein von Menschen erbautes Raumfahrzeug standgehalten hatte.
Aber sie würde ihn nicht ewig anschauen können. Ewig war entschieden das falsche Wort.
Was für ein einsamer Platz dieser Mond war. Nicht einmal die Geborgenheit einer Felsnische gab es, nicht einmal eine Bergwand, hinter die man sich hätte ducken können gegen die sternenvolle Leere, in die man hinaufsah. Der Untergrund war flach von Horizont zu Horizont, eine schutzlose, nackte Ebene, auf der sie stand wie ein verlorenes Kind. Von außen betrachtet sah das Zelt aus wie ein Akt der Verzweiflung.
Was es im Grunde ja auch war. Joan wandte sich um, setzte sich in Richtung auf die Rettungskapsel in Bewegung, mit vorsichtigen, kleinen Schritten. Europa war ein Himmelskörper, der fast so groß war