Inhalt

  1. Cover
  2. Inhalt
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Zitat
  8. Kapitel 1
  9. Kapitel 2
  10. Kapitel 3
  11. Kapitel 4
  12. Kapitel 5
  13. Kapitel 6
  14. Kapitel 7
  15. Kapitel 8
  16. Kapitel 9
  17. Kapitel 10
  18. Kapitel 11
  19. Kapitel 12
  20. Kapitel 13
  21. Kapitel 14
  22. Kapitel 15
  23. Kapitel 16
  24. Kapitel 17
  25. Kapitel 18
  26. Kapitel 19
  27. Kapitel 20
  28. Kapitel 21
  29. Kapitel 22
  30. Kapitel 23
  31. Kapitel 24
  32. Kapitel 25
  33. Kapitel 26
  34. Kapitel 27
  35. Kapitel 28
  36. Kapitel 29
  37. Kapitel 30
  38. Kapitel 31
  39. Kapitel 32
  40. Kapitel 33
  41. Kapitel 34
  42. Kapitel 35
  43. Kapitel 36
  44. Kapitel 37
  45. Kapitel 38
  46. Kapitel 39
  47. Kapitel 40
  48. Kapitel 41
  49. Kapitel 42
  50. Kapitel 43
  51. Kapitel 44
  52. Kapitel 45
  53. Kapitel 46
  54. Kapitel 47
  55. Kapitel 48
  56. Kapitel 49
  57. Kapitel 50
  58. Kapitel 51
  59. Kapitel 52
  60. Kapitel 53
  61. Kapitel 54
  62. Kapitel 55
  63. Kapitel 56
  64. Kapitel 57
  65. Kapitel 58
  66. Kapitel 59
  67. Kapitel 60
  68. Kapitel 61
  69. Kapitel 62
  70. Kapitel 63
  71. Kapitel 64
  72. Kapitel 65
  73. Kapitel 66
  74. Kapitel 67
  75. Kapitel 68
  76. Kapitel 69
  77. Kapitel 70
  78. Epilog
  79. Danksagungen

Über die Autorin

Greg Iles wurde in Deutschland geboren, da sein Vater damals die medizinische Abteilung der Amerikanischen Botschaft leitete. Er verbrachte seine Jugend in Natchez, Mississippi. 1983 beendete er sein Studium an der University of Mississippi. Danach trat Greg Iles zunächst als Profi-Musiker auf, bevor er sich der Schriftstellerei widmete. Seine Bücher erscheinen inzwischen in 25 Ländern. Der überaus produktive Autor pflegt außerdem eine Leidenschaft für Filme. Zu seinem Roman »24 Stunden« schrieb er selbst das Drehbuch. Iles lebt mit Frau und zwei Kindern in Natchez, Mississippi.

Greg Iles

Adrenalin

Thriller

Aus dem Amerikanischen von
Bernd Rullkötter

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Madeline und Mark,

die den höchsten Preis für mein Schriftstellerleben zahlen.

Ich danke euch.

Niemand, der unrecht hat, kann einem Mann standhalten,

der recht hat und nicht nachgibt.

– Captain Bill McDonald, Texas Ranger

»Du bist ein Tier.«

»Nein, schlimmer. Ein Mensch.«

– Runaway Train

1

Mitternacht im Garten der Toten. Ein silberweißer Mond, der hoch über dem spiegelschwarzen Fluss und dem Deich steht, wirft sein kaltes Licht auf das Louisiana-Delta. Ich stehe zwischen den schimmernden Steinen auf der Mississippi-Seite und zittere. In weitem Rund bin ich der einzige lebende Mensch. Zu meinen Füßen liegt eine nackte Granitplatte; darunter ruht die Leiche meiner Frau. Auf dem Grabstein steht:

SARAH ELIZABETH CAGE

1963–1998

Tochter, Ehefrau, Mutter, Lehrerin

Du wirst geliebt

Doch ich habe mich nicht um Mitternacht auf den Friedhof geschlichen, um das Grab meiner Frau zu besuchen, sondern weil ein Freund mich dringend darum gebeten hat. Aber ich bin nicht um unserer Freundschaft willen gekommen, sondern aus Schuldbewusstsein, vor allem aber auch Furcht. Der Mann, auf den ich warte, ist fünfundvierzig, aber für mich wird er immer neun Jahre alt sein. Damals, während der Mondlandung von Apollo 11, erreichte unsere Freundschaft ihren Höhepunkt. In der Jugend sind Freundschaften inniger als später im Leben; deshalb empfindet man ein umso tieferes Gefühl der Schuld, wenn ein Freund aus Jugendtagen sich von einem entfernt und man nicht genug unternimmt, um die Beziehung aufrechtzuerhalten. In meinem Fall ist es umso schmerzlicher, weil Tim Jessup im Laufe der Jahre immer wieder in Schwierigkeiten geraten ist.

Meine Furcht aber hat nichts mit Tim zu tun. Er ist bloß ein Bote, der mir möglicherweise Nachrichten bringt, die ich nicht hören will. Vielleicht werden diese Nachrichten die Gerüchte bestätigen, die in unserer Gegend kursieren. Und wenn diese Gerüchte stimmen, hat sich etwas Schreckliches, Monströses in meine Stadt eingeschlichen, und ich habe ihm die Tür geöffnet.

Ja, es ist meine Stadt: Vor zwei Jahren habe ich in einem Anfall von Pflichtgefühl für das Bürgermeisteramt kandidiert, um meine Heimatstadt Natchez zu retten, und ich war überheblich genug zu glauben, ich könne einen Pakt mit dem Teufel schließen, ohne unser aller Tugend zu schädigen. Aber das war Wunschdenken.

Meine Uhr zeigt 12.30 Uhr. Dreißig Minuten nach dem verabredeten Zeitpunkt, und immer noch ist neben den schulterhohen Steinen zwischen mir und der Cemetery Road nichts von Tim Jessup zu sehen. Nach einem stummen Abschied von meiner Frau gehe ich zurück zum Jewish Hill, unserem Treffpunkt. Ich mache kaum Geräusche im taufeuchten Gras. Die Namen, die in die Grabsteine gemeißelt sind, kenne ich mein Leben lang. Sie stehen für die Geschichte dieser Stadt – und meine eigene. Friedler und Jacobs und Dreyfus oben auf dem Jewish Hill; Knox und Henry und Thornhill bei den Protestanten; Donelly und Binelli und O’Banyon bei den Katholiken. Und auf dem »Colored Ground«, wie er auf der Friedhofskarte bezeichnet wird, liegen jene Sklaven, die im Dunstkreis der weißen Welt lebten und sich nach dem Tod einen Flecken geweihter Erde verdient haben. Die meisten Schwarzen aber wurden ohne Grabstein bestattet. Man muss weiter die Straße hinunter, zum staatlichen Friedhof, um die Gräber von wirklich freien Schwarzen zu finden. Viele waren Soldaten, die zu den 2800 unbekannten Toten der Nordstaatenarmee im amerikanischen Bürgerkrieg gehörten, die hier ruhen.

Aber dieser Friedhof hier atmet eine noch ältere Geschichte. Einige der Toten, die hier bestattet sind, wurden Mitte des achtzehnten Jahrhunderts geboren, doch würden sie morgen wieder zum Leben erwachen, würden Teile der Stadt ihnen kaum verändert erscheinen. Kleinkinder, die an Gelbfieber starben, liegen neben spanischen Dons und vergessenen Generalen. Alle verwesen unter weinenden Engeln und marmornen Heiligen, während sich die knorrigen Äste der Eichen, an denen Bärte aus Spanischem Moos herunterhängen, über ihnen ausbreiten. Natchez ist die älteste Stadt am Mississippi, älter als New Orleans; wenn man sich die verwitterten Grabsteine anschaut, die krumm und schief dastehen, gibt es keinen Zweifel mehr daran.

Ich war das letzte Mal hier, um einen Schaden in Höhe von einer Million Dollar zu begutachten, den betrunkene Randalierer an den unersetzlichen schmiedeeisernen Statuen angerichtet hatten, die diesen Friedhof so einzigartig machen. Deshalb werden die vier Tore vor Einbruch der Dunkelheit jetzt mit Eisenketten verschlossen. Tim Jessup weiß das; es ist einer der Gründe, weshalb er diesen Ort für unsere Verabredung gewählt hat. Als Tim mich anrief, dachte ich, er würde den Friedhof aus Gründen der Bequemlichkeit vorschlagen, denn er arbeitet auf einem der Casinoschiffe, der Magnolia Queen, die unterhalb des Jewish Hill vertäut ist, und seine Schicht endet um Mitternacht. Aber Tim sagte mir, es gehe ihm um die Abgeschiedenheit – nicht nur seinetwegen, auch meinetwegen. Außerdem nahm er mir das Versprechen ab, unter keinen Umständen bei ihm zu Hause anzurufen oder seine Handynummer zu wählen.

In einem anderen Leben war ich Staatsanwalt. Ich habe sechzehn Menschen in die Todeszelle geschickt. Rückblickend bin ich mir nicht mehr sicher, wie das zustande kam. Jedenfalls wachte ich eines Tages auf und begriff, dass ich nicht von Gott auserkoren war, die Schuldigen zu richten. Also gab ich meinen Job bei der Bezirksstaatsanwaltschaft von Houston auf und kehrte zu meiner jüngeren Frau und meiner Tochter zurück. Weil ich nicht wusste, was ich mit meiner überschüssigen Zeit anfangen sollte (und wegen akuten Geldmangels), schrieb ich meine Erfahrungen vor Gericht nieder und habe – wie ein paar andere Juristen, die John Grishams Beispiel folgten – genug Bücher verkauft, dass mein Name auf den Bestsellerlisten erschien. Wir legten uns ein größeres Haus zu und schickten Annie auf eine Privatschule. Ein nie gekanntes Gefühl der Selbstzufriedenheit schlich sich in mein Leben ein – das Gefühl, zu den Erwählten zu gehören, denen auf jedem Gebiet Erfolg beschieden ist. Ich hatte eine beneidenswerte Laufbahn, eine wunderbare Familie, etliche gute Freunde und eine Menge treuer Leser. Und ich war jung und arrogant genug zu glauben, dies alles verdient zu haben und dass es nie enden würde.

Dann starb meine Frau.

Vier Monate nachdem mein Vater, ein Arzt, bei ihr Krebs diagnostiziert hatte, mussten wir sie beerdigen. Sarahs Tod hätte mich und meine vierjährige Tochter beinahe zerbrochen. In meiner Verzweiflung flohen wir aus Houston und kehrten zurück in diesen kleinen Ort in Mississippi, wo ich aufgewachsen bin, zurück in die liebevolle Umarmung meiner Eltern. Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Annie ist mittlerweile elf und die Reinkarnation ihrer Mutter. Zurzeit schläft sie zu Hause, während eine Babysitterin in meinem Wohnzimmer sitzt.

Ich schaue wieder auf die Uhr. Wo bleibt Tim Jessup? Ich gebe ihm noch fünf Minuten. Wenn er bis dahin nicht zu diesem mitternächtlichen Treffen erschienen ist, muss er halt wie jeder andere während der Öffnungszeiten zu mir ins Rathaus kommen.

Mein Herz pocht, nachdem ich den Hang zum Jewish Hill hinaufgestiegen bin, doch mit jedem Atemzug wird mir der Duft der grünen Oliven zugetragen, die Mitte Oktober immer noch blühen. Darunter verbirgt sich ein Gemisch durchdringenderer Gerüche: Kudzu und feuchter Humus und irgendetwas Totes, Verwesendes zwischen den Bäumen.

Als ich den Rand der Erdtafel erreiche, die den Jewish Hill bildet, fällt das Land mit atemberaubender Schroffheit vor mir ab. Bis zum Fluss geht es fast siebzig Meter steil eine Klippe aus windgepeitschtem Löß hinunter. Dieser üppige, fruchtbare Boden ist aus Fels entstanden, der von Gletschern fein gemahlen wurde. Aus dieser Höhe kann man mit fast berauschendem Stolz nach Westen über eine endlose Ebene blicken. Vielleicht war es dieses Gefühl, das viele Nationen veranlasst hat, unsere Gegend für sich zu beanspruchen. Frankreich, Spanien, England, die Konföderation – sie alle haben es versucht, und sie alle sind genauso gescheitert wie die Natchez-Indianer vor ihnen. Am westlichen Ende des Hügels steht eine Bank unter einer amerikanischen Flagge. Die Bank wartet auf Trauernde, Liebespaare und alle anderen, die hierherkommen. Sie ist der beste Platz, um Tims letzte vier Minuten abzuwarten.

Als ich mich auf den Weg dorthin machen will, bewegt sich ein Paar Scheinwerfer die Cemetery Road hinauf wie die Lichter eines Schiffes, das gegen den Wind ankämpft. Bald darauf rattert ein unscheinbarer Pick-up an den billigen Häuschen auf der anderen Straßenseite vorbei, verschwindet hinter der nächsten Kurve und hält auf die Devil’s Punchbowl zu, eine tiefe Schlucht, wo Geächtete vom Natchez Trace, der alten Handelsstraße, einst die Leichen ihrer Opfer abluden.

»Das war’s, Timmy«, sage ich laut. »Deine Zeit ist um.«

Der Wind, der vom Fluss kommt, lässt mich frösteln. Ich bin erschöpft und reif fürs Bett. Ich gehe nach rechts auf einen Hang zu, wo mein alter Saab hinter der Friedhofsmauer geparkt ist. Als ich mich vorbeuge, um den Hügel hinunterzurutschen, wird die Stille von einem drängenden Flüstern durchbrochen: »He, Alter! Bist du da oben?«

Ein Schatten schiebt sich vom Friedhof her zum Rand des Jewish Hill vor. Von meinem Standort aus kann ich alle vier Eingänge des Friedhofs sehen, doch ich habe keine Scheinwerfer gesehen und keinen Motor gehört. Aber Tim Jessup materialisiert so plötzlich wie eines der Gespenster, die nach Meinung vieler Einwohner von Natchez auf diesem alten Hügel herumspuken. Ich weiß, dass es Tim ist, denn er war früher ein Junkie und bewegt sich immer noch so: ruckartig, wobei er dauernd den Kopf schwenkt, als hielte er nach der Polizei Ausschau, während seine dünnen Beine ihn auf der Suche nach einer dunklen Ecke vorantreiben, in der er sich den nächsten Schuss setzen kann.

Jessup behauptet, seit längerer Zeit clean zu sein, hauptsächlich dank seiner neuen Frau Julia. Ich war zuerst skeptisch, als ich von Julias Ehe mit Jessup hörte, aber im Ort heißt es, sie habe Wunder gewirkt. Julia hat Jessup den Job als Blackjack-Dealer auf den Casinoschiffen besorgt, den er seit nunmehr einem Jahr ausübt, in letzter Zeit auf der Magnolia Queen.

»Penn!«, ruft Jessup schließlich mit lauter Stimme. »Ich bin’s, Mann. Komm raus!«

Sein Gesicht ist im Mondlicht erschreckend hager. Obwohl wir beide fast gleich alt sind – unsere Geburtstage liegen genau einen Monat auseinander –, sieht er zehn Jahre älter aus als ich. Seine Haut hat die lederne Beschaffenheit wie die eines Mannes, der zu viele Jahre der Mississippi-Sonne ausgesetzt war; sein ergrauender Schnurrbart ist von Zigarettenrauch braungelb verfärbt, und Haut und Augen zeigen eine gelbliche Tönung wie bei einem Menschen, dessen Leber bald den Dienst versagt.

Als Jungen hatten Jessup und ich eine enge Beziehung, weil wir beide Arztsöhne waren. Wir wussten um das Gewicht dieser Last, denn von den ältesten Söhnen wird meist erwartet, dass sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten. Diese Erwartung konnten weder Tim noch ich erfüllen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Mit einem Seufzer der Resignation trete ich hinter dem Grabstein hervor und rufe in Richtung des Flusses: »Tim? He, Tim! Hier bin ich. Penn.«

Jessups Kopf schnellt herum, und seine rechte Hand zuckt zu seiner Tasche. Eine Sekunde lang fürchte ich, dass er eine Pistole zieht, aber dann erkennt er mich, und seine Augen weiten sich vor Erleichterung.

»Mann«, sagt er mit einem Grinsen. »Ich dachte schon, du hättest kalte Füße gekriegt.«

Er schüttelt mir die Hand, und ich staune, dass Jessup mit fünfundvierzig Jahren immer noch wie ein überdrehter Hippie klingt.

»Du bist derjenige, der sich verspätet hat«, erwidere ich.

Er nickt öfter als nötig, denn nichts ist ihm wichtiger, als in Bewegung zu sein. Wie teilt der Bursche bloß den ganzen Abend Blackjack-Karten aus?

»Ich konnte nicht so schnell vom Schiff runter«, erklärt er. »Ich glaube, sie beobachten mich. Sie beobachten uns immer. Jeden. Und vielleicht ahnen sie etwas.«

Ich möchte ihn fragen, von wem er redet, aber ich nehme an, dass er das Thema noch ansprechen wird. »Ich habe deinen Wagen gar nicht gesehen. Woher bist du gekommen?«

Das wettergegerbte Gesicht verzieht sich zu einem listigen Grinsen. »Ich hab so meine Tricks, Mann. Wer mit solchen Leuten zu tun hat, muss vorsichtig sein. Das sind Raubtiere. Sie spüren eine Bedrohung und reagieren blitzartig – zack!« Tim klatscht in die Hände. »Purer Instinkt. Wie bei Haien.« Er wirft einen Blick zur Stadt hinüber. »Wir sollten uns Deckung suchen.« Er deutet auf die einen Meter hohen Mauern, die ein Familiengrab umschließen. »Genau wie auf der Highschool. Erinnerst du dich noch, wie wir hinter diesen Mauern hier Gras geraucht haben? Im Sitzen, damit die Cops das Glühen der Joints nicht sehen konnten?«

Tim schwingt sich mit überraschender Behändigkeit über die Mauer, und ich folge ihm, wobei ich schaudernd an den einen Vorfall auf diesem Friedhof denke, den ich mit Tim in Verbindung bringe: Spät an einem Halloweenabend warfen wir, ein halbes Dutzend Jungen, unsere Liegeräder über die Mauer und rasten johlend über die schmalen Wege, bis uns eine Meute wilder Hunde die Eichen in der Nähe des dritten Tores hinaufjagte. Ob Tim sich auch noch daran erinnert?

Mit einem letzten besorgten Blick zur Cemetery Road lässt er sich auf den feuchten Boden sinken und lehnt sich an die bemoosten Ziegel in einer Ecke, wo zwei Mauern zusammentreffen. Ich setze mich an die angrenzende Mauer im rechten Winkel zu ihm, sodass meine Laufschuhe seine zermürbten Segelschuhe fast berühren. Jetzt erst wird mir klar, dass Tim sich nach der Arbeit umgezogen haben muss. Die Uniform, die er im Dienst trägt, ist schwarzen Jeans und einem grauen T-Shirt gewichen.

»Konnte nicht in Arbeitskleidung herkommen«, sagt er, als hätte er meine Gedanken gelesen, doch er hat nur auf meinen Blick reagiert. Offensichtlich haben die Drogen, die er im Laufe der Jahre genommen hat, seinen einst so scharfen Geist nicht gänzlich zerstört.

Ich beschließe, auf weiteren Smalltalk zu verzichten. »Du hast am Telefon ein paar ziemlich gruselige Dinge erwähnt. Gruselig genug, um mich zu dieser Stunde hierherzulocken.«

Tim nickt und wühlt in seiner Tasche nach etwas, das sich als gekrümmte Zigarette erweist. »Kann nicht riskieren, sie anzuzünden«, sagt er und steckt sie sich zwischen die Lippen, »ist aber gut zu wissen, dass ich sie für die Heimfahrt habe.« Er grinst noch einmal, bevor er eine ernste Miene aufsetzt. »Also, was hattest du vor meinem Anruf gehört?«

Ich möchte nichts wiederholen, was Tim nicht bereits selbst gesehen oder gehört hat. »Gerüchte über Prominente, die zum Glücksspielen einfliegen und dann schleunigst wieder abhauen. Profisportler, Rapper, was weiß ich. Leute, die normalerweise nicht hierherkommen.«

»Hast du von den Hundekämpfen gehört?«

Meine Hoffnung, dass die Gerüchte falsch sind, schwindet. »Ich habe gehört, dass sich in der Richtung irgendwas abspielt, aber es war schwer zu glauben. Okay, ich könnte mir denken, dass sich ein paar Hinterwäldler unten im Tal oder jenseits des Flusses auf so was einlassen, aber keine High Roller oder Berühmtheiten.«

Tim saugt an seiner Unterlippe. »Was noch?«

Diesmal antworte ich nicht. Ich habe andere Gerüchte gehört – zum Beispiel darüber, dass Prostitution und harte Drogen im Schutz der Glücksspielbranche gedeihen. Aber das gab es schon immer. »Ich will keine Vermutungen über Dinge anstellen, die vielleicht nicht wahr sind.«

»Du redest wie ein beschissener Politiker.«

Wahrscheinlich bin ich sogar einer geworden, aber ich fühle mich eher wie ein Anwalt, der die Wahrheit aus der Geschichte eines unzuverlässigen Mandanten herausfiltert. »Warum erzählst du mir nicht einfach, was du weißt? Dann werde ich dir sagen, ob es mit meinen Informationen übereinstimmt.«

Tim, der mit jeder Sekunde ängstlicher aussieht, gibt seiner Nikotinsucht schließlich doch nach. Er holt ein Feuerzeug hervor, lässt die Flamme auflodern, berührt damit das Ende der Zigarette und zieht die Luft durch das Papierröhrchen ein wie jemand, der an einer ellenlangen Wasserpfeife nuckelt. Er hält den Rauch besorgniserregend lange zurück, bevor er ausatmet und sagt: »Weißt du, dass ich ein Kind habe? Einen Sohn.«

»Ja. Ich habe ihn vor ein, zwei Wochen mit Julia im Supermarkt gesehen. Sieht prächtig aus.«

Tims Lächeln erhellt sein Gesicht. »Genau wie seine Mutter. Sie ist immer noch eine Schönheit, stimmt’s?«

»Stimmt«, pflichte ich wahrheitsgemäß bei. »Tja, also … was machen wir hier, Timmy?«

Er erwidert immer noch nichts, sondern nimmt einen weiteren langen Zug, wobei er die Hände um die Zigarette legt, als wäre sie ein Joint. Sein ganzer Körper bebt, aber nicht nur wegen der Kälte, und zum ersten Mal fürchte ich, dass er wieder Drogen nimmt.

»Tim?«

»Es ist nicht das, was du denkst. Ich trage den ganzen Scheiß seit längerer Zeit mit mir herum, und manchmal krieg ich das Zittern.«

Er weint, stelle ich erstaunt fest, und wischt sich die Tränen aus den Augen. Ich drücke sein Knie, um ihn zu trösten.

»Tut mir leid«, flüstert er. »Wir sind weit von der Mill Pond Road entfernt, stimmt’s?«

Die Mill Pond Road ist die Straße, in der ich aufgewachsen bin. »Ja. Alles in Ordnung?«

Er drückt seine Zigarette an einem Grabstein aus und beugt sich vor. In seinen Augen sehe ich eine Leidenschaft, die ich ihm gar nicht mehr zugetraut hätte. »Wenn ich dir mehr erzähle, gibt es kein Zurück. Verstehst du? Wenn ich dir sage, was ich weiß, wirst du nicht mehr schlafen können. Ich kenne dich. Dann bist du wie ein Pitbull und lässt nicht mehr los.«

»Hast du mich nicht deshalb herbestellt?«

Jessup zuckt die Achseln. Sein Kopf und seine Hände sind wieder zappelig. »Ich will dich nur warnen, Penn. Wenn du dem Problem aus dem Weg gehen willst, dann tu es jetzt. Klettere über die Mauer und renn zu deinem Auto. Ein kluger Mann würde das tun.«

Ich drücke den Rücken gegen die kalten Ziegel und denke über seine Worte nach. Das Schicksal kann sich urplötzlich von einem wolkenlosen Himmel auf dich stürzen, wie bei der Krebserkrankung meiner Frau, oder es kann dir auf deinem Weg auflauern, sichtbar für jeden, der es sehen will. Aber manchmal ist es bloß eine Straßengabelung, und nur selten steht ein Freund neben dir, der dir sagen kann, welcher Weg der bessere ist. Es ist die älteste menschliche Alternative: behagliche Ignoranz oder mit Schmerz erkauftes Wissen. Ich kann beinahe hören, wie Tim an seinem Blackjack-Tisch auf der Magnolia Queen fragt: »Erhöhen oder halten, Sir?« Wenn ich doch nur eine Wahl hätte! Aber da ich geholfen habe, die Queen nach Natchez zu bringen, ist die Sache von vornherein entschieden.

»Erzähl schon, Timmy. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«

Jessup schließt die Augen und bekreuzigt sich. »Dem Himmel sei Dank«, flüstert er. »Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn du nicht mitgemacht hättest. Ich hab mich weit aus dem Fenster gelehnt, Mann. Und ich bin ganz allein.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Lass uns hoffen, dass mein zusätzliches Gewicht dich nicht aus dem Fenster stürzen lässt.«

Er mustert mich lange; dann zieht er etwas aus der Gesäßtasche. Es sind offenbar zwei Spielkarten. Er hält sie mir mit der Handfläche nach unten hin. Die Karten sind fast ganz unter seinen Fingern verborgen.

»Soll ich eine Karte ziehen?«, frage ich.

»Das sind keine Karten, das sind Fotos. Mit einem Handy aufgenommen.«

Ich strecke die Hand aus und nehme die Fotos entgegen. Ich habe Tausende von Tatortfotos bis ins Detail betrachtet und rechne nicht damit, von Schnappschüssen geschockt zu werden, die Tim Jessup in seiner Gesäßtasche mitgebracht hat. Aber als er sein Feuerzeug anzündet und es über das erste Foto hält, höre ich im Kopf ein Summen wie von tausend Wespen, und mir dreht sich der Magen um.

»Ich weiß«, sagt er. »Aber es kommt noch schlimmer.«

2

Linda Church liegt unter dem Mann, der ihren Lohn zahlt, und versucht, sich ihre Furcht nicht anmerken zu lassen. Während er verschwitzt und mit brennenden Augen in sie hineinstößt, stellt sie sich vor, eine Steinfigur in einer Kathedrale zu sein, deren tote Augen nichts enthüllen. Linda liest in ihrer Freizeit Fantasy-Romane, und manchmal malt sie sich aus, eine Gestalt in einem Buch zu sein, eine Edelfrau, die durch einen grausamen Schicksalsschlag gezwungen wird, Dinge zu tun, die sie hasst. So etwas passierte den Heldinnen am laufenden Band. Schon ihr Leben lang (oder seit sie als Vierjährige die Prinzessin in ihrer Kindergartenaufführung spielte) sucht Linda nach ihrem Prinzen. Er soll sie aus dem Dornenlabyrinth hinausführen, zu dem ihr Leben geworden ist. Als sie den Kerl kennenlernte, der sie nun vögelt, glaubte sie, der magische Moment sei endlich gekommen. Nur ein Jahr, bevor sie dreißig wurde (und mit einem trotz manch derber Behandlung unversehrten Äußeren), war Linda endlich vom Schicksal zu einem Prinzen gelenkt worden. Er sah aus wie ein Filmschauspieler und redete tatsächlich wie ein Prinz in den Filmen, die ihre Großmutter sich früher angeschaut hatte. Wie Laurence Olivier oder Cary Grant.

Aber Cary Grant war gar nicht Cary Grant. Er hieß Archie Leach oder so, also war er nicht der, für den man ihn immer gehalten hat. Hier zeigte sich die Wahrheit des Lebens: Nichts ist das, wofür man es hält, und niemand ist der, der zu sein er vorgibt.

Wäre Lindas Prinz zu einem Frosch geworden, hätte sie wenigstens den Trost des Vertrauten gehabt. Aber dieses Märchen endete anders, denn der falsche Prinz verwandelte sich in eine Schlange mit nadelscharfen Zähnen, aus denen scheußliches Gift spritzt. Linda wusste nun, dass sie nur eine von zwanzig oder dreißig Frauen war, mit denen er auf der Magnolia Queen geschlafen hatte und die er wahrscheinlich immer noch bumste, egal was er behauptete. Denn welche Frau konnte riskieren, ihn abzuweisen, solange gut bezahlte Arbeit kaum zu finden war?

»Was ist heute Abend mit dir los?«, grunzt er, ohne seine Bewegungen zu unterbrechen. »Drück die Pissklappen zusammen und sieh zu, dass er was zu tun hat.«

Vor allem hasst sie seine Stimme, denn seine klangvolle Redeweise in der Öffentlichkeit ist nur ein weiterer Mantel, der das verhüllt, was sich unter seiner Haut und hinter seinen kalten, berechnenden Augen befindet. Er ist tatsächlich wie eine Gestalt in ihren Büchern, aber kein Held, sondern ein Gestaltwandler, ein Dämon, der weiß, dass er am leichtesten in die Seele normaler Menschen eindringen kann, wenn er als das erscheint, was sie sich am innigsten wünschen; wenn er sie glauben lässt, dass er sie so sieht, wie sie gesehen werden wollen. Auf diese Weise hatte er Linda in die Falle gelockt. Er brachte sie dazu, an ihre geheimsten Fantasien über sich selbst zu glauben, lange genug, bis sie sich ihm willig hingab, um dann die Maske fallen zu lassen.

Die Schrecken jener Nacht haben sich Lindas Seele wie Narbengewebe eingeprägt. Binnen weniger Minuten begriff sie, auf was sie sich eingelassen hatte, und irgendetwas in ihrem Innern verdorrte für alle Zeit. Es geschah in diesem Zimmer, einem höhlenartigen Raum in den Tiefen der Magnolia Queen. Es ist eines von nur zwei Zimmern auf dem Casinoschiff, in denen es keine Sicherheitskameras gibt. Linda arbeitet oben in der Bar namens The Devil’s Punchbowl, die »Schüssel des Teufels«, aber die Frauen auf der Queen bezeichnen dieses verbotene Zimmer als die wahre Teufelsschüssel. Denn hier kümmert sich der Dämon um alle Geschäfte, die vom Tageslicht verschont werden müssen. Hierher bringt er Kartenzähler und andere Unruhestifter, um sie auf den Stuhl zu schnallen, der in der Mitte des Zimmers am Boden festgeschraubt ist. Hierher bringt er die Frauen, die das Gleiche ertragen müssen wie Linda in jener Nacht, als die Maske gefallen war.

Nachdem er sich davongemacht hatte und Linda sich wieder zurechtmachte, so gut es ging, schwor sie sich, das Schiff zu verlassen. Aber sie hatte nie den Mut aufgebracht. Zum Teil lag es natürlich am Geld und an der Versicherung. Hinzu aber kam die Fähigkeit des Geistes, sich selbst zu belügen. Eine vertraute Stimme flüsterte ihr ein, dass sie sich geirrt habe, dass sie einige jener Dinge, die er getan hatte, falsch verstanden habe. Dass sie im Grunde um diese Dinge gebeten habe – wenn nicht ausdrücklich, dann durch ihr Tun. Aber jeder neue Besuch des Dämons bestätigte ihren warnenden Instinkt, und ihre Furcht war gewachsen. Sie wollte unbedingt aufhören, wollte runter von der Queen und aus der Stadt flüchten, aber sie tat es nicht. Der Dämon schien eine seltsame Macht über sie zu haben – nein, er besaß diese Macht wirklich –, weshalb Linda Angst hatte, jemandem ihre schreckliche Lage anzuvertrauen. In Augenblicken der Klarheit geriet sie deshalb außer sich. Das war ein Fall schlimmster sexueller Belästigung. Natürlich könnte er dagegenhalten, dass die Beziehung einvernehmlich gewesen sei. Sie war ihm – scheinbar begeistert – sexuell gefügig gewesen, und abgesehen von seinem Büro und diesem Zimmer wird jeder Zoll des Casinos von Überwachungskameras abgedeckt, sogar die Toiletten, obwohl das gesetzlich verboten war.

Linda hat darüber nachgedacht, ob sie ein paar von den anderen Mädchen, mit denen er es treibt, bitten soll, zusammen mit ihr einen Anwalt aufzusuchen. Aber das wäre noch riskanter, als ihr ganzes Geld auf einen der Spieltische auf dem Oberdeck zu legen. Die Gewissheit, dass der Mann, der nun in ihr ist, das Gleiche mit diesen vielen anderen Frauen getan hat, lässt Linda schaudern, doch sie schreit nicht auf und versucht nicht, ihn wegzustoßen. Zwar würde die Heldin in einem ihrer Romane so handeln und ihm im »Augenblick der größten Leidenschaft« eine Hutnadel oder einen Dolch in den Rücken stechen, aber das wirkliche Leben ist anders. Im wirklichen Leben kommt dieser Augenblick und verstreicht, und wenn der Kerl sich dann von ihr rollt, hat Linda das Gefühl, dass ihre Seele mitsamt den blutigen Wurzeln herausgerissen wurde und nur noch eine leere Hülle von ihr übrig ist.

In diesem Zustand war Linda gewesen, als ihr wahrer Prinz auf der Bühne ihres Lebens erschien. Er ritt nicht auf einem weißen Ross und trug kein Wams und kein Zauberergewand, sondern die Uniform eines Blackjack-Dealers. Seine Augen waren ganz anders gewesen als die, die jetzt über ihr lodern; sie waren sanft, gütig und unendlich verständnisvoll gewesen. Irgendwie hatte sie geahnt, dass er ihre Qual durchschaute, bevor er sie ansprach. Allerdings kannte er die Einzelheiten nicht; dann wäre er ein toter Mann gewesen, denn er ist dem Gestaltwandler nicht gewachsen. Außerdem ist er zu gut für seine Arbeit – und auch zu gut für Linda. Doch dieser Meinung schließt er sich nicht an. Er liebt sie.

Leider ist er verheiratet. Mit einer wirklich netten Frau. Linda verachtet sich, weil sie den Mann einer Anderen haben will. Aber was soll man tun, wenn man jemanden aufrichtig liebt? Wie kann man ein Gefühl verbannen, das stärker ist als die Dunkelheit, die einen von innen her auffrisst?

»Du liegst da wie ’ne Matratze«, knurrt der Dämon verächtlich. »Willst du, dass ich ein paar Freunde über dich drübersteigen lasse, wenn ich fertig bin?«

Linda zuckt vor Furcht zusammen und bewegt die Hüften schneller. Sie schließt die Augen und betet, dass der Dämon, der sich in ihr bewegt, ihren heimlichen Prinzen nicht entdeckt und vor allem nicht dem auf die Schliche kommt, was ihr Prinz in genau diesem Moment tut, um die Welt wieder ins Lot zu bringen. Denn wenn der Dämon oder seine Handlanger das herausfinden, wird Timothy eines grässlichen Todes sterben. Und vorher werden sie ihn zum Reden bringen. Das ist eine ihrer Spezialitäten.