Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. 1
  6. 2
  7. 3
  8. 4
  9. 5
  10. 6
  11. 7
  12. 8
  13. 9
  14. 10
  15. 11
  16. 12

Charlotte Link

Reiterhof Eulenburg

Gefährlicher Sommer

Band 3

BASTEI ENTERTAINMENT

1

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Mitten in der Nacht wachte Tom auf. Er spürte stechende Kopfschmerzen und Übelkeit. Als er sich vorsichtig aufsetzte, wurde ihm sogleich schwindelig. Sein Gesicht glühte.

Ich kann doch nicht wirklich krank sein, dachte er entsetzt.

Schon am Abend war es ihm nicht gut gegangen. Er hatte sich müde gefühlt und keinen Hunger gehabt, bei jeder Bewegung war ihm sofort der Schweiß ausgebrochen. Als er dann im Bett war und nach alter Gewohnheit noch hatte lesen wollen, hatten seine Augen zu tränen begonnen. Er war jedoch wild entschlossen gewesen, niemandem etwas zu erzählen; schließlich hatten die Sommerferien gerade erst begonnen, und auf der Eulenburg, der Ferienreitschule seiner Eltern, waren bereits alle Sommergäste eingetroffen. Nicht einen Tag mochte er versäumen. Er durfte jetzt nicht krank werden!

Auf einmal zweifelte er jedoch daran, ob es ihm gelingen würde, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Mühsam erhob er sich, schlich aus dem Zimmer über den Gang zum Bad. Im Spiegel sah er ein blasses Gesicht mit großen, unnatürlich glänzenden Augen. Hoffentlich, überlegte er, ist es nur eine Erkältung. Die geht wenigstens einigermaßen schnell vorbei.

Vorläufig erfährt niemand etwas, schwor er sich. In ein paar Tagen habe ich es überstanden.

Mit steifen, schmerzenden Knochen kroch er in sein Bett zurück und atmete erleichtert auf, als er seinen Kopf niederlegen konnte. Noch nie im Leben hatte ihm etwas so weh getan.

Als Tom am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich noch elender als in der Nacht. Der ganze Körper tat ihm weh. Seine Zunge schien ihm trocken wie Watte und angeschwollen. Stöhnend kletterte er aus dem Bett.

Ich bin doch richtig krank, dachte er matt und spürte, wie sein Wille, die Angelegenheit zu vertuschen, schwächer wurde. Wenn das so weiterging, würde es ihm bald egal sein, ob Sommerferien waren oder nicht.

Im Bad entdeckte er dann einen roten Ausschlag an Hals, Schultern und Oberarmen. Wenn es sich nicht um eine Allergie handelte – und er hatte nie an Allergien gelitten -, musste es eine Kinderkrankheit sein. Windpocken … die fingen seines Wissens hinter den Ohren an. Mit einer komplizierten Verrenkung und unter Zuhilfenahme zweier Spiegel begutachtete er die entscheidende Stelle. Nein, hinter den Ohren konnte er nichts finden. Er überlegte, dass er nach unten gehen und in einem Lexikon nachsehen könnte; vielleicht fände er dort eine Krankheit, auf die seine Symptome passten. Aber noch ehe er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, wurde ihm wieder schwindelig. Er setzte sich auf den Badewannenrand und wartete, dass das Rauschen in seinem Kopf nachließe. Ihm wurde klar: Er war so krank, dass er es nicht einmal schaffen würde, hinunter in das Büro seiner Mutter zu gehen und ein Buch aus dem Regal zu ziehen.

Gerade als er das Bad verließ, begegnete er Kathrin. Das Mädchen gehörte zu den Feriengästen auf der Eulenburg, war schon zum dritten Mal hier und neigte dazu, Schwierigkeiten zu machen, weil ihm das Leben auf dem Reiterhof nicht vornehm genug war. Heute allerdings sah Kathrin nicht so aus, als werde sie ihr übliches Gejammere beginnen. Ihre Miene war kläglich.

»Tom, ich weiß nicht, was mit mir los ist! Mir ist so schlecht! Ich habe so furchtbares Kopfweh, und mir ist ganz heiß!«

Tom starrte sie an. »Du auch?«

»Was heißt – ich auch?«

»Mir geht es auch nicht gut. Ich habe auch so einen komischen Ausschlag am ganzen Körper.«

»Ich auch«, gestand Kathrin. Ihre Wangen waren fiebrig gerötet. »Tom, wir müssen es deiner Mutter sagen.«

»Ja … du hast recht. Leg dich erst mal wieder ins Bett, Kathrin. Ich sage meiner Mutter Bescheid.«

Er wartete das Vorübergehen einer neuen Schwindelattacke ab, ehe er sich auf den Weg die Treppe hinunter machte.

Kathrin und ich, dachte er, und noch ein paar Tage, dann haben es alle, was immer es ist. O Gott, diese Scheißkrankheit wird uns allen die Ferien hier verderben!

Seine düstere Ahnung sollte sich als absolut richtig erweisen.

Draußen schien strahlend die Sonne. Ein leichter, frischer Wind wehte vom nahen Meer her ins Land und sorgte dafür, dass es nicht zu heiß wurde. Die Bäume standen in vollem Laub, die Äpfel färbten sich rot und die Birnen gelb. Auf den weiten Koppeln grasten die Pferde. Vom Meer her strichen Möwen kreischend ins Land, flogen tief über Hof und Stallungen hinweg, hoben sich dann wieder hoch in den Himmel und verschwanden als kleine weiße Punkte am Horizont.

Wie schön es hier ist, dachte Pat, und wie glücklich ich hier bin!

Sie lehnte am Zaun einer Weide und sah ihrer Stute Fairytale zu, die sie, wie im vergangenen Jahr, in einem Transporter mitgebracht hatte. Fairytales Fell glänzte wie eine reife rote Kastanie in der Sonne. Das Pferd hob den Kopf und wieherte lange und fröhlich. Neben Pat lag ihr Hund Tobi. Tobi war ein Mischling undefinierbarer Abstammung; ein Tierarzt hatte einmal gemeint, zumindest einen Berner Sennenhund und einen Collie in ihm zu erkennen, im Laufe der Generationen könnten sich jedoch auch noch eine Menge anderer Rassen hineingemischt haben, hatte er behauptet. Auf jeden Fall war Tobi fast so groß wie ein junges Kalb, hatte zotteliges graues, schwarzes und braunes Fell und riesige weiße Pfoten. Er und Pat hingen wie die Kletten aneinander. Er war ein kleines Hundebaby gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte, er hatte gerade seine ersten tapsigen Schritte gemacht, und Pat hatte ihn von der ersten Sekunde an geliebt. Es ging ihm damals nicht gut: Seine Besitzer misshandelten ihn und hielten ihn angekettet. Bei Nacht und Nebel hatte Pat versucht, ihn zu befreien, und war dabei Hals über Kopf in eine gefährliche Geschichte hineingeraten, hatte schließlich sogar mit ihren Freunden zusammen eine ganze Einbrecherbande gestellt. Tobi war dann für immer bei ihr geblieben.

Sie lächelte in der Erinnerung daran und wandte sich um, als sie Schritte hörte. Zwei blonde Mädchen kamen über die Wiese. Pat winkte ihnen zu. »Hallo, Angie! Hallo, Diane!«

Die Schwestern traten heran. Sie und Pat waren vor einem Jahr zum ersten Mal als Gäste auf der Eulenburg gewesen. Gemeinsam mit Tom und mit Chris, dessen Eltern in der Nähe eine Pension hatten und der Toms bester Freund war, hatten sie damals das Geheimnis um die Einbrecher gelöst. Im Winter waren sie dann erneut auf dem Reiterhof zusammengekommen. Alles war tief verschneit gewesen, den Pferden war weißer Atem aus den Nüstern gequollen, wenn sie mit ihnen durch den Schnee galoppierten. Und wieder hatten sich erstaunliche Dinge ereignet, um einen legendären Schatz war es gegangen, und die Leute, die ihn finden wollten, schreckten vor keinem Mittel zurück, um in den Besitz der vermeintlich unermesslichen Reichtümer zu kommen.

»Weißt du was Neues von Tom?«, fragte Angie.

Pat schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wollte euch gerade dasselbe fragen.«

»Es darf immer noch niemand zu ihm«, sagte Diane. »Frau Andresen sieht aus, als sei es etwas Ernstes, sie läuft mit einem wahnsinnig besorgten Gesicht herum. Angeblich hat Kathrin sich nun auch krank gemeldet!«

»Ach nee!« Pat grinste böse. »Wenn ihr mich fragt, sie will sich nur um die Reitstunde drücken, wie üblich!«

Kathrin war nicht besonders beliebt. Aber jetzt schüttelte Diane den Kopf. »Ich habe sie gesehen. Sie scheint wirklich Fieber zu haben. Außerdem haben noch drei andere über Übelkeit geklagt.«

»So ein Mist«, meinte Pat bedrückt. »Wenn hier irgendeine Krankheit ausgebrochen ist – dann gute Nacht! Am Ende schicken sie uns alle wieder nach Hause.«

»So weit wird es hoffentlich nicht kommen!«, sagte Angie erschrocken.

Die drei Mädchen beobachteten noch eine Weile die Pferde, dann machten sie sich auf den Weg zur Reitstunde. Auf dem Hof sahen sie ein fremdes Auto stehen.

»Der Arzt«, sagte Diane.

Auf einmal hatten sie alle das Gefühl, dass die Dinge nicht so harmlos lagen, wie sie gedacht hatten.

»Tja«, sagte der Arzt und sah Frau Andresen bedeutungsvoll an, »das ist eine ernste Sache. Ihr Sohn hat Scharlach.«

»Was?«

»Das gibt’s doch nicht«, sagte Tom matt.

»Doch, mein Junge. Leider. Es besteht überhaupt kein Zweifel. Du wirst jetzt ungefähr drei Wochen im Bett liegen müssen.«

»Es sind Ferien!«

»Darum kümmern sich Krankheiten nicht«, sagte der Arzt schulmeisterhaft. Dann wandte er sich an Frau Andresen. »Ich würde gerne die drei anderen Kinder, die sich krank gemeldet haben, auch noch untersuchen. Ich fürchte allerdings, ich werde das Gleiche feststellen.«

Frau Andresen war ganz blass geworden. »Das ist natürlich eine ziemliche Katastrophe, Doktor. Ich werde alle Feriengäste nach Hause schicken müssen.«

»Das ist dringend notwendig, ja. Sonst haben Sie in einer Woche hier das reinste Lazarett.«

Wie vorausgesehen hatten sowohl Kathrin als auch die drei anderen ebenfalls Scharlach. Bis zum Abend kam noch ein Mädchen aus der Küche hinzu. Sie stellte sich als die Urheberin des Übels heraus, denn ihre Schwester daheim hatte Scharlach, wie sie arglos berichtete, und sie hatte keineswegs daran gedacht, sich von ihr fern zu halten. Nach diesem Geständnis legte sie sich ins Bett und war gleich darauf vom Fieber geschüttelt.

Die Nachricht vom Scharlach machte in Windeseile ihre Runde in der Eulenburg. Schon am nächsten Morgen trafen die ersten Eltern ein, die ihre Kinder sofort abholen wollten. Vorher hatte Frau Andresen während des Frühstücks im großen Speisesaal erklärt, die Reitschule müsse leider für diese Ferien geschlossen bleiben.

»Es tut mir sehr leid, aber es wäre völlig unverantwortlich, euch hierzubehalten«, sagte sie. »Ihr würdet euch mit einiger Sicherheit anstecken, wohingegen jetzt noch eine Chance besteht, dass ihr davonkommt. Die Ansteckungszeit bei Scharlach beträgt drei bis vier Tage, wenn ihr also in einer Woche noch in Ordnung seid, ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass ihr nicht infiziert seid. Trotzdem müsst ihr euch dann noch vierzehn Tage von anderen fern halten. Ich weiß, das verdirbt euch die ganzen Ferien. Ich kann nur sagen, dass wir von der Eulenburg das alles sehr bedauern.«

Das Frühstück wurde in bedrücktem Schweigen beendet.

Die Reitstunde fiel aus an diesem Tag, denn Frau Andresen hielt es für besser, ihre Gäste so weit wie möglich voneinander getrennt zu halten. Sie hatte inzwischen alle Eltern informiert, ihnen die Rückkehr ihrer Kinder angekündigt und die Rückerstattung der Kosten in die Wege geleitet. Sie war deprimiert und fühlte sich elend. Die Eulenburg war ihre Reitschule, mehr als die ihres Mannes. Ihre Ideen, ihre Tatkraft, ihre Arbeit und ihr Organisationstalent steckten darin. Der Ausbruch der Krankheit, der nun die Schließung der Schule für den Sommer nach sich zog, schien ihr wie ein persönlicher Rückschlag.

Diane rief Chris an, Toms Freund, mit dem sie sich für den Nachmittag zum Schwimmen verabredet hatten. »Wir können nicht kommen«, erklärte sie traurig. »Bei uns ist Scharlach ausgebrochen. Sie machen die ganze Eulenburg dicht und schicken uns nach Hause.«

»Das gibt es doch gar nicht!«, sagte Chris entsetzt.

»Doch. Und wir dürfen nicht mal zu dir rüberkommen jetzt, und du darfst nicht hierher. Ach, Chris, wir hatten uns so auf diese Ferien gefreut!«

Am Nachmittag erschienen Pats Eltern mit einem Pferdetransporter, um ihre Tochter und deren Pferd abzuholen. Sie versuchten zu trösten. »Du hast dein Pferd, und du hast einen schönen Garten daheim. Du kannst es dir doch ganz nett machen.«

»Das ist nicht dasselbe«, widersprach Pat störrisch und schüttelte ihre langen roten Locken, mit denen sie manchmal etwas wild aussah. »Ich werde mich zu Tode langweilen!«

»Vielen Dank«, sagte ihre Mutter, nun auch etwas verärgert. »Wir finden es schön, dass unsere einzige Tochter so gern mit uns zusammen ist!«

Pat durfte sich nicht einmal von Tom verabschieden. Angie und Diane hätten heulen können, als sie ihr nachsahen, wie sie mit Tobi ins Auto stieg, wie der Hänger mit der schönen Fairytale davonrollte.

»So ein Mist!«, sagte Angie aus tiefster Seele.

Bis zum Abend war es schon sehr leer in der Eulenburg geworden. Kein Gelächter, keine Stimmen mehr, kein Herumgewusel von Dutzenden von Jungen und Mädchen. Die Sonne ging rot glühend über dem Meer unter, als Herr Andresen Angie und Diane zum Bahnhof fuhr. Sie wollten nach Hamburg und von dort den Abendzug nach Kiel nehmen. Sie dachten daran, wie Tom sie vor einer Woche an demselben Bahnhof abgeholt hatte – mit einer Pferdekutsche, wie er das immer tat.

Nun kamen ihnen wirklich die Tränen; angestrengt sahen sie zum Fenster hinaus und vermieden es, einander mit ihren Blicken zu begegnen.

»An Weihnachten«, sagte Herr Andresen, »kommt ihr einfach wieder.«

Weihnachten! Es schien ihnen hundert Jahre bis dahin zu sein.

Daheim bemühten sie sich, die Ferien zu genießen, aber eine richtig fröhliche Stimmung wollte nicht aufkommen. In der ersten Zeit durften sie das Haus nicht verlassen und keine Freunde besuchen, denn es musste erst sicher sein, dass sie sich nicht angesteckt hatten. Sie aalten sich im Garten in der Sonne und langweilten sich zu Tode.

»Jetzt hätten wir Reitstunde«, sagte Angie immer, oder: »Jetzt würden wir mit Tom, Chris und Pat am Strand liegen!«

»Wenn ihr euch dauernd so etwas erzählt, werdet ihr euch überhaupt nicht mehr damit abfinden, dass ihr nicht in der Eulenburg seid!« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Jetzt macht halt das Beste aus der Situation. Seid doch zum Beispiel froh, dass ihr euch wenigstens nicht angesteckt habt und nicht wie der arme Tom drei Wochen im Bett liegen müsst!«

Angie murmelte etwas und ging in den Keller, um sich aus der Tiefkühltruhe ein Eis zu holen. Ihre Mutter seufzte. Die Ferien ihrer Töchter begannen sie zu erschöpfen.

Und dann rief nach zwei Wochen überraschend Pat an. Sie klang aufgeregt und sehr vergnügt.

»Hört mal zu«, sagte sie, »meine Mutter hat da eine blendende Idee gehabt …«

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2

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Durch die kleinen Fenster des Flugzeuges konnte man die Insel aus dem Meer aufsteigen sehen. Erst war sie ein undefinierbarer Fleck inmitten tiefblauer Weite, dann bekam sie scharf gezeichnete Umrisse, wurde grün, braun und bergig. Die Hauptstadt Teneriffas, Santa Cruz, erhob sich am Küstenrand, klein wie Punkte leuchteten die Schiffe, die in dem großen Hafen vertäut lagen. Häuser und Hotels waren zu sehen, dazwischen glitzerten hellblaue Swimmingpools. Ein gewaltiges Gebirge zog sich über den Rücken der Insel, ein spitzer Berg ragte daraus hervor.

»Der Pico el Teide«, erklärte eine Passagierin, die Kniebundhosen trug und einen Dackel auf dem Schoß hielt. »Der höchste Berg der Kanarischen Inseln. Im Winter liegt dort oben sogar Schnee.«

Sie richtete diese Auskunft an den fünfzehnjährigen dunkelhaarigen Jungen, der neben ihr saß. Chris nickte. »Ich weiß. Ich habe einen Reiseführer über Teneriffa gelesen. Da oben am Teide wurde in den Sechzigerjahren teilweise die Serie ›Raumschiff Orion‹ gedreht, weil es da aussehen soll wie in einer Mondlandschaft.«

»Gut. Ich sehe, du hast dich informiert. Das sollte man auch tun, bevor man verreist. Über jede Gegend der Welt gibt es so viel Wissenswertes und Interessantes zu erfahren.« Sie fixierte Chris durch ihre dicken Brillengläser. »Die heutige Jugend zeigt allerdings größtenteils einen bedauerlichen Mangel an Bildung. Man ist auch nicht erpicht darauf, noch etwas beigebracht zu bekommen.«

Chris grinste. Er hatte sich tatsächlich sehr genau über die Inseln informiert, und da er über ein gutes Gedächtnis verfügte, hatte er auch viele Details behalten. Er legte los. »Im Altertum wurden die Kanarischen Inseln auch ›Inseln ohne Wiederkehr‹ genannt, weil der Passatwind es den Seefahrern sehr schwer machte, von dort wieder wegzukommen. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden sie nach und nach von den Spaniern erobert, dabei leisteten die Einwohner Teneriffas am hartnäckigsten Widerstand. Man nannte diese Ureinwohner Guanchen, sie lebten in Höhlen, waren vorwiegend Hirten und Bauern und hatten eine steinzeitliche Kulturstufe erreicht. Noch heute streiten Wissenschaftler darüber, ob die Guanchen damals ausgerottet wurden oder einfach mit ihren Eroberern, den Spaniern, verschmolzen. Im Jahre 1797 erschien der berühmte englische Admiral Nelson vor Teneriffa und versuchte, die Insel zu erobern. In der Schlacht bei Santa Cruz verlor er seinen rechten Arm und musste erfolglos den Rückzug antreten. Zum Gedenken an den Sieg Teneriffas über die englische Flotte wird in Santa Cruz noch heute, am 25. Juli, ein großes Volksfest gefeiert.«

Chris hielt inne. Er hatte seinen Text wie auswendig gelernt heruntergeschnurrt.

Die Frau starrte ihn an. »Erstaunlich«, sagte sie.

»Ja, so ist die heutige Jugend, nicht wahr?«, erwiderte Chris ironisch, dann wandte er sich von ihr ab und neigte sich über den Gang, wo auf der anderen Seite seine Freunde saßen.

»Sieht es nicht toll aus da unten?«, fragte er.

Angie, Pat und Diane nickten begeistert. Sie hatten sich bereits auf Urlaub eingestellt, trugen Shorts und T-Shirts und luftige Sandalen. Pat hatte eine überdimensionale Sonnenbrille ins Haar gesteckt. Ihr Lachen klang nicht so frei wie das der anderen. Pat machte sich Sorgen: Zum einen hatte sie Fairytale in Deutschland zurücklassen müssen, und da sie tatsächlich, solange sie das Pferd hatte, noch nicht einen Tag von ihm getrennt gewesen war, wusste sie nicht, wie sie die drei Wochen unter südlicher Sonne und weit fort vom heimatlichen Stall überstehen sollte. Die andere Sorge galt Hund Tobi. Den hatte sie mitnehmen dürfen, aber er musste in einer Kiste im Frachtraum reisen. All ihr Bitten und Betteln hatte nichts genutzt. »Lassen Sie mich ihn doch mit nach vorne nehmen, bitte! Er ist ganz lieb!«

Die Stewardess war hart geblieben. »Das ist gegen die Vorschriften. Nur kleine Hunde dürfen in die Kabine!«

Tobi konnte man beim besten Willen nicht als klein bezeichnen. Pat, die ihn neben Fairytale von allen Wesen auf der Welt am meisten liebte, verging fast vor Sorge: Ob der arme Tobi sich sehr fürchtete?

Angie und Diane hingegen blickten ganz unbekümmert drein.

»Ich werde noch heute im Meer baden«, erklärte Angie. »Oder im Swimmingpool. Die Familie Galicano hat ja bestimmt einen.«

»Außerdem haben sie Pferde«, ergänzte Diane. »Vielleicht können wir heute noch reiten.«

Pats Mutter hatte die Reise organisiert. Heimlich hatte sie mit ihrer Schwester telefoniert, die mit einem Spanier verheiratet war und auf Teneriffa lebte. Ihr Mann baute dort Swimmingpools, hauptsächlich für Deutsche und Engländer, die sich Bungalows auf der Insel gekauft hatten, oder für die großen Hotels und Appartementanlagen. Die Galicanos besaßen ein schönes Haus in La Laguna – und sie hatten zwei Pferde. Außerdem einen fünfzehnjährigen Sohn, der seine deutsche Cousine zuletzt vor vier Jahren bei einem Familientreffen in Hamburg gesehen hatte. Pats Mutter schilderte am Telefon kurz die Sachlage. »Brigitte, du musst mir helfen. Ich werde verrückt mit dem Mädchen. Sie hängt auf der Terrasse herum und mault den ganzen Tag. Sie vermisst ihre Freunde und ist unleidlich. Seit Jahren sagst du, Pat sollte dich für ein paar Wochen besuchen, und sie könnte gern ein oder zwei Freundinnen mitbringen. Jetzt wäre es so weit. Darf Pat kommen? Und darf sie ihre Freundinnen Angie und Diane Heller mitbringen, wenn deren Eltern es erlauben?«

Brigitte Galicano, die es liebte, das Haus voller Gäste zu haben, sagte sofort zu. Auch die Eltern von Angie und Diane hatten nichts dagegen, zumal die Flüge ihrer Töchter nur unwesentlich teurer waren, als es der Aufenthalt in der Eulenburg gewesen wäre.

Pat erklärte, sie habe größte Lust, nach Teneriffa zu fliegen, aber nur unter zwei Bedingungen: Erstens müsste auch der arme Chris mitkommen, der sich in der Pension seiner Eltern sicher tödlich langweile, und zweitens könnte sie natürlich auch nicht ohne Tobi verreisen. Ihre Mutter geriet ganz außer sich. »Es ist nett genug von Tante Brigitte, dich und Angie und Diane einzuladen. Du kannst jetzt nicht auch noch Ansprüche stellen!«

»Mami, das verstehst du nicht. Chris ist unser bester Freund. Er hat sich genauso auf uns gefreut wie wir uns auf ihn. Und jetzt sollen wir anderen munter nach Teneriffa abdampfen, und er sitzt mutterseelenallein da oben in der Einsamkeit herum!«

»So schlimm wird es nicht sein!«

»Mami … schau mal, ich bin schon traurig genug wegen Tom …« Seit dem letzten Winter war die Freundschaft zwischen Pat und Tom immer enger geworden. »Und wenn ich ihn schon nicht sehen kann, dann wäre es doch furchtbar, wenn noch einer fehlt!«

Ihre Mutter seufzte. »Also gut, ich spreche mit Tante Brigitte. Aber was den Hund angeht …«

»Mami, ich kann unmöglich irgendwohin ohne Tobi gehen. Du weißt, wie er an mir hängt. Wahrscheinlich würde er während meiner Abwesenheit ununterbrochen bellen und weinen. Überleg mal, was die Nachbarn da sagen!«

Die Mutter konnte nicht ausschließen, dass Pat da recht hatte, und rief seufzend in Teneriffa an. Ob eventuell ein weiterer Gast, ein »sehr netter Junge«, und ein Kalb von einem Hund mitkommen dürften …?«

»Klar!«, entgegnete ihre Schwester fröhlich. »Pack sie alle ins Flugzeug, und schick sie hierher. Mein Manuel kann es schon gar nicht mehr erwarten!«

Damit war das geklärt. Chris’